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Eine kleine präindustrielle Gesellschaft mit autoritären Strukturen. Sie leben von der Jagd und vom Ackerbau. Chiaraner und Agrianer stehen sich mit Misstrauen und Ablehnung gegenüber. In ihrer Welt geht die Sonne niemals unter, allerdings auch nie richtig auf. Eines Tages entdecken sie, dass sie in der Morgenwelt nicht allein sind. Und sie finden ein riesiges Artefakt, das ihnen zu lange verschütteten Erinnerungen verhilft. Erinnerungen an eine andere Zeit und eine andere Welt, aus der sie ursprünglich stammen.
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Eine kleine präindustrielle Gesellschaft mit autoritären Strukturen. Sie leben von der Jagd und vom Ackerbau. Chiaraner und Agrianer stehen sich mit Misstrauen und Ablehnung gegenüber. In ihrer Welt geht die Sonne niemals unter, allerdings auch nie richtig auf. Eines Tages entdecken sie, dass sie in der Morgenwelt nicht allein sind. Und sie finden ein riesiges Artefakt, das ihnen zu lange verschütteten Erinnerungen verhilft. Erinnerungen an eine andere Zeit und eine andere Welt, aus der sie ursprünglich stammen.
Copyright © 2021 Ruben Schwarz – publiziert von telegonos-publishing
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ISBN der Printversion: 978-3-946762-59-1
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„Wir sind nur eine fortgeschrittene Affenrasse auf einem kleinen Planeten eines sehr durchschnittlichen Sterns. Aber wir können das Universum verstehen. Das macht uns zu etwas ganz Besonderem.“
Stephen Hawking
Als Tilly ihre Lippen von denen ihrer Freundin Ulianna löste, bildete sich für einen kurzen Moment ein hauchdünner Speichelfaden zwischen ihnen, der sie weiterhin miteinander verband und in der tiefstehenden Sonne flüchtig schillerte, bevor er riss und verschwand.
„Zusammen auf ewig“, sagte Ulianna.
„Zusammen auf ewig“, sagte auch Tilly. Uliannas bronzefarbenes Gesicht, die langen, seidigen Wimpern und die Augen, die aussahen wie feuchte Murmeln aus Bernstein, waren ganz nah bei ihr, ebenso wie der liebliche Duft, der an die reifen Blüten des Zirbelkrauts erinnerte, das man in üppiger Fülle auf dem Lymbianischen Hochplateau oberhalb der Stadt fand.
„Komm, weiter“, sagte dann Ulianna, und beide Mädchen machten sich wieder auf den Weg. Beide trugen die für ihre Altersgruppe üblichen braunen Jagdröcke aus dem weichen Leder des Feldgrindels. Außer ihren großen Tourenrucksäcken hatten sie die Langbogen geschultert, und an den Hüftgürteln baumelten, neben kleinen Leinensäckchen mit haltbarem Hartbrot, unterarmlange Jagdmesser in braunen Lederfutteralen.
Sie liefen mit großen Schritten, aber ohne Hast den flachen Hang der mit farnähnlichen Pflanzen bewachsenen Hügelkette hinunter, und vor ihnen breitete sich die ausgedehnte Harunebene mit einzelnen Baumgruppen aus.
„Wenn wir den Lorrbach erreichen, bevor der Große Horas aufgeht, können wir gut unsere Spuren verwischen“, sagte Tilly, die von den beiden die Anführerin war. Sie trug ihre rotblonden Haare zu mehreren Zöpfen geflochten, die hinter dem Kopf miteinander verknotet waren.
Am Fuß des Hangs angekommen fielen die beiden Mädchen in einen lockeren Laufschritt, der sie im Slalom um verschiedene Gruppen von Kamisiobüschen und Tholabäumen herumführte. Als Ulianna ein wenig hinter ihr zurückblieb, drehte Tilly sich kurz zu ihr um.
„Bist du müde?“
Ulianna schüttelte den Kopf. Die langen, fast schwarzen Haare wurden von einer warmen Windbö aus Osten verwirbelt. Ihr Gesicht wirkte mutlos und zweifelnd.
„Was ist los mit dir, Liebste?“, fragte Tilly. Sie verlangsamte ihre Schritte, bis Ulianna aufholte. „Machst du dir Sorgen?“
Ulianna schüttelte wieder den Kopf, sagte aber dann: „Wie stellst du dir das denn in Zukunft vor? Wo sollen wir wohnen? Was sollen wir essen?“
Die beiden erreichten jetzt den baumlosen Teil der Harunebene, die sich fast bis zum Horizont erstreckte. Im fernen Dunst erhoben sich die Ausläufer des Kesharrgebirges.
„Ich dachte, das hätten wir besprochen, Ulianna“, sagte Tilly erstaunt. „Bist du nicht mehr sicher? Was haben wir für eine Wahl?“ Die Atemfrequenz der beiden Mädchen hatte sich mittlerweile erhöht. Sie waren geübte Läuferinnen, waren aber schon seit Stunden unterwegs.
Tilly blieb abrupt stehen. Ulianna lief noch ein paar Schritte und drehte sich dann zu ihrer Freundin um. Schwer atmend schaute sie Tilly aus tiefgründigen, feucht schimmernden Augen an.
„Liebste“, sagte Tilly und ging langsam auf Ulianna zu. „Welche Alternative haben wir denn? Wie können wir sonst zusammen sein? Der Kodex macht uns unglücklich. Das weißt du.“
„Ja, das weiß ich“, entgegnete Ulianna und legte ihre Hände auf Tillys Schultern. „Sei nicht böse, ich will nur dich. Lass uns weitergehen. Der Große Horas geht bald auf.“
Tilly drückte Ulianna an sich und küsste sie auf beide Wangen. „Dann komm“, sagte sie und lief los. Nach einiger Zeit erreichten sie das Bett des Lorrbachs, der sich in vielen Windungen durch die Ebene schlängelte. Der Bachlauf war an dieser Stelle drei Mannslängen breit und hatte eine starke Strömung. Dafür war er aber kaum knietief. Die beiden Mädchen kletterten über große, runde Steine und stiegen vorsichtig mit ihren Stiefeln ins Bachbett. Der Untergrund war eben und bestand aus kleinen Kieseln, und da das Wasser nicht einmal bis an den oberen Rand ihrer Schaftstiefel reichte, konnten die beiden bequem hindurch waten, ohne dass die Strömung ihnen etwas anhaben konnte. Sie folgten dem Bach für etwa vierhundert oder fünfhundert Mannslängen und kletterten dann ans gegenüberliegende Ufer.
Tilly lächelte erleichtert, als sie sich umdrehte und in der Richtung, aus der sie gekommen waren, keine Wächter ausmachen konnte.
„Wir schaffen es“, sagte sie zuversichtlich und ergriff Uliannas Hand. Die lächelte zurück und nickte dabei.
„Da, schau“, sagte sie. Über den Horizont erhob sich die mächtige Wölbung des Großen Horas, der von breiten orangeroten und gelben Streifen überzogen war. Die mächtige Scheibe würde in kurzer Zeit höher steigen und dann für eine Weile die Sonne verdecken, die stets reglos zwei bis drei Handbreit über dem Horizont verharrte. Schon immer. Dann würde es etwas dunkler werden, aber nicht sehr. Wirkliche Dunkelheit gab es in Orbis nie. Orbis war die Welt, in der sie lebten und die sie nährte. Und Tilly hoffte von Herzen, dass Orbis das auch für sie beide tun würde. Wenn sie ganz allein waren, ganz auf sich gestellt.
„Wenn wir da hinten …“, Tilly deutete in Richtung der Berge. In einiger Entfernung endete die baumlose Ebene und es begann lichter Wald, „… die Bäume erreichen, werden sie uns nicht mehr finden. Dann sind wir frei.“ Sie wollte Ulianna umarmen, aber die drängte: „Los jetzt, wir wollen keine Zeit verlieren.“ Sie rannte los, und zwar so schnell, dass Tilly kaum Schritt halten konnte. Sie folgte ihr und beobachtete verzückt, wie die wilde dunkle Mähne der Freundin bei jedem Schritt hin- und herpendelte.
Es gab nicht viele wie sie im Clan der Agrianer. Clive, der Hohe Rat, bestrafte zwar die Liebe unter Angehörigen des gleichen Geschlechts nicht, aber die Gesellschaft machte es ihnen nicht leicht und die Auswirkungen der Ausgrenzung waren auf Dauer kaum zu ertragen. Tilly und Ulianna hatten das lange gewusst, und ihre Zuneigung deshalb auch vor den eigenen Familien geheim gehalten. Sonst hätte man sie bestimmt genauer beobachtet, und die Flucht wäre sicher schwieriger geworden, wenn nicht gar unmöglich. Und als junge Frauen, die ihre körperliche Reife erreicht hatten, wären sie sehr bald adäquaten jungen Männern zugeführt worden.
Der Ausbau der Population war eines der höchsten Ziele des Hohen Rats. Sie waren zu wenige, und sie konnten nur überleben, wenn sie mehr waren. So viele wie irgend möglich. Deshalb war der größte Teil der Frauen des Agrianischen Clans meistens schwanger. Und die zeugungsfähigen Männer - Wächter, Jäger, Bauern und Baumeister - sprangen überall da ein, wo eine Frau im gebärfähigen Alter die Schonung beendet hatte.
Der Gedanke daran, mit einem Mann zusammenzusein, auch wenn er gutaussehend war, war für Tilly schon als kleines Mädchen beunruhigend gewesen, schon als sie Ulianna nur als Spielkameradin betrachtet hatte. Die latente Bedrohung, irgendwann reif zu werden, hatte sie von der Kindheit bis in die Pubertät begleitet.
In einer Hinsicht sah Tilly den Sinn der Reproduktion ein. Sie mussten viele sein, brauchten viele Wächter, wenn es eines Tages zum großen Krieg kam. Die Bedrohung durch den Clan der Chiaraner war groß. Die Feinde besaßen mächtige Waffen und wenn sie einen Agrianer zu fassen bekamen, häuteten sie ihn und tranken sein Blut. Die Schulmeisterin und ihre Gehilfen hatten sie im Lernforum in Geschichte unterrichtet. Und die Liste der Gräueltaten, die in früheren Zeiten durch Chiaraner an den ersten Mitgliedern der Agrianischen Bewegung begangen worden waren, schien endlos zu sein.
Man wusste nicht, wo diese Leute lebten, zumindest wussten Tilly und Ulianna nichts darüber, aber ihre Festung schien weit weg zu sein. Vielleicht im Land der ewigen Nacht. Das konnte Tilly sich gut vorstellen. Lichtscheue Ungeheuer mit glühenden Augen, die über ahnungslose Menschen herfielen, ihnen die Haut vom Körper rissen und die spitzen Zähne in ihr rohes Fleisch gruben …
Keuchend schloss Tilly zu Ulianna auf und erschauerte bei ihren eigenen Gedanken. Allerdings verspürte sie auch einen winzigen Zipfel Vergnügen an diesem wohligen Grusel. Etwas tief in ihrem Inneren versuchte ihr klarzumachen, dass die Berichte über die Chiaraner dem Reich der Sagen und Mythen entstammten. Aber das konnte eigentlich nicht sein, denn im Lernforum wurde sachliches Wissen vermittelt. Grundkenntnisse in Baukunst, Jagd, Pflanzenkunde, Geologie und viele andere Fachbereiche standen dort auf dem Lehrplan. Sagen und Mythen gehörten nicht dazu. Es war bestenfalls denkbar, dass Thoronia, die Schulmeisterin, manche Details ein bisschen ausgeschmückt hatte.
Als Tilly und Ulianna die erste Baumreihe erreichten, blieben sie im Schatten der Zweige und Blätter stehen und rangen nach Luft. Tilly zog den Wasserschlauch aus dem Seitenfach ihres Rucksacks und trank gierig ein paar Schlucke. Ulianna tat es ihr gleich. Durch Lücken zwischen den Baumwipfeln war zu sehen, dass der Große Horas sich mit seiner mächtigen Wölbung über den unteren Teil der Sonnenscheibe schob.
Ulianna setzte sich auf den weichen, mit moosähnlichen Pflanzen bewachsenen Boden des Waldrandes und schob sich den Rucksack als Stütze hinter den Rücken. Tilly legte die flache Hand an ihre Augenbrauchen und suchte den Horizont in der Richtung ab, aus der sie gekommen waren.
„Da“, sagte sie ohne Aufregung in der Stimme, „da hinten die Staubwolke …“ Ulianna stand auf und folgte mit ihrem Blick Tillys ausgestrecktem Arm. In weiter Ferne, jenseits des Lorrbachs war eine winzige Staubwolke zu sehen. Sie selbst waren die ganze Zeit über eine begrünte Fläche gelaufen. Statt Gras hatte es sich aber um niedrige bodendeckende Pflanzen mit winzigen runden Blättern gehandelt.
„Wenn das Wächter sind“, sagte Ulianna, „dann laufen sie in die ganz falsche Richtung. Sonst würden sie keinen Staub aufwirbeln. Dann laufen sie durch die Sandheide.“
„Richtig“, sagte Tilly und grinste frech. Sie gab Ulianna einen schnellen Kuss auf die Wange. „Gehen wir noch ein Stück in den Wald und machen dann Rast?“
Ulianna nickte. Es wurde ein bisschen dämmrig. Der Große Horas verdeckte inzwischen den größten Teil der Sonne. Langsam spazierten die beiden Mädchen zwischen dünneren und dickeren Baumstämmen hindurch und kletterten über abgestorbene Wurzeln und Steine. Nach ein paar hundert Mannslängen kamen sie an eine kleine Lichtung mit einer sanften Mulde, die von einem grünen Pflanzenteppich bedeckt war.
„Das wär doch gut, oder?“, sagte Tilly.
„Einverstanden“, sagte Ulianna und ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten. „Ich hab jetzt richtig Hunger. Hast du vor, dich mit Wasser und Brot zu begnügen, oder jagen wir was?“
Tilly grinste. „Ich hab eben in den Bäumen ein paar Kletterhasen gesehen. Ich denke, ein schöner Braten wäre genau das Richtige für uns.“
In diesem Moment krachte und knisterte es überall im Dickicht um sie herum und der Wald schien lebendig zu werden. Eine Gruppe in blaue Anzüge gekleideter Menschen brach zwischen den Bäumen und Büschen hervor und bildete einen Kreis um die beiden Mädchen. In den Händen hielten sie schussbereite Spics.
„Waffen fallen lassen!“, rief einer der Angreifer.
Weder Tilly noch Ulianna hatten Gelegenheit gehabt, nach ihren Bogen zu greifen, die sie noch immer geschultert hatten. Tilly hob einen Arm.
„Langsam, mach keinen Fehler, Mädchen!“, kommandierte der Mann, der offenbar der Anführer war. Sein rundes Gesicht wurde von einem schwarzen Bart eingerahmt.
Chiaraner, dachte Tilly verzagt. Der Schreck hatte sich gelegt und machte lähmender Angst Platz. Sie waren ihnen direkt in die Arme gelaufen. Das war´s dann wohl. Der Seufzer, der aus Uliannas Mund kam, direkt neben ihr, machte es nicht besser. Beide nahmen mit spitzen Fingern ihre Bögen vom Rücken und ließen sie auf den mit farnähnlichen Pflanzen bewachsenen Boden der Lichtung fallen.
Der Anführer gab ein Handzeichen und zwei der Chiaraner (es waren insgesamt acht) kamen näher und nahmen die Bögen an sich. Beunruhigt blickte Tilly auf die gespannte Sehne des Spics und den kurzen Pfeil, der im Schusskanal ruhte. Das Spicutelum war eine effektive Waffe, die deutlich weiter reichte als ein Pfeil, der mit einem normalen Langbogen abgeschossen wurde. Und seine Durchschlagskraft war enorm. Darüber hatten sie eine Menge im Lernforum erfahren. Die Wächter waren dabei, etwas Ähnliches zu konstruieren, aber es fehlten ein paar Details, wie zum Beispiel ein Verfahren, das die Sehnen entsprechend elastisch machte. Die der Sumpfschweine waren zu dick und wurden nach wenigen Tagen brüchig.
Aber die Chiaraner würden sie nicht hier töten. Sie würden sie mitnehmen in ihre Festung. Und weiter wagte Tilly nicht zu denken.
Der Mann, der jetzt ihren Bogen in der Hand hielt, deutete auf ihr Messer, das sie am Jagdgürtel trug. Als Tilly Anstalten machte, danach zu greifen, packte er sie grob am Arm und riss mit der anderen Hand das Messer aus dem Futteral.
„Sie gehören zu den Ungläubigen, Kommandant“, richtete der Mann das Wort an den Anführer. „Was sollen wir mit ihnen anstellen?“
Alle acht Chiaraner blickten sie mit düsteren Mienen an. Es war eine gemischte Gruppe aus Frauen und Männern.
„Was habt ihr hier zu suchen?“, fragte der Kommandant. „Ihr seid weit weg von eurem Lager.“
Tilly empfand für einen Augenblick Ärger darüber, dass dieses Ungeheuer es wagte, die Stadt des Agrianischen Clans als Lager zu bezeichnen.
„Wir sind …“, begann Ulianna. Tilly fiel ihr ins Wort.
„Wir sind auf der Jagd.“
Der Bärtige grinste. „Aha, auf der Jagd. Gibt´s keine Baumhasen mehr jenseits der Hügel? Ihr kommt jetzt erst mal mit. Bindet sie!“ Er gab seinen Leuten ein Zeichen, und Sekunden später wurden Tilly und Ulianna auf den Boden geworfen und mit Stricken an den Händen gefesselt. Dann zog man ihnen Säcke aus grobem Stoff über die Köpfe.
„Ladet sie auf den Wagen“, kommandierte jemand. Es war die Stimme des Anführers. „Die Patrouille ist beendet. Wir fahren zur Basis.“
Norgith war eine von vier Angehörigen des Chiaranischen Rates, und als sie an die Tür des Büros klopfte, die neben dem Eingang zum Ratssaal lag, roch es im Inneren des niedrigen Gebäudes angenehm nach altem Tholaholz. Sie trat ein und fand Osana, die Vorsitzende, an ihrem groben Holztisch sitzend vor, die mit einem Kohlestift etwas in eine Schriftrolle eintrug. Osana hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Gebilde geformt, das einem Turban nicht unähnlich war.
„Osana, die Patrouille hat zwei Ungläubige aufgegriffen“, sagte Norgith. Sie legte ihre Stirn in Falten, wobei die buschigen grauen Augenbrauen dramatisch nach oben wanderten. „Sie waren im Nebelwald, unten in der Tiefebene.“
Osana blickte von ihrer Schreibarbeit auf und runzelte die Stirn. „So weit außerhalb ihres Territoriums haben wir schon lange keine Ungläubigen mehr gesehen. Was glaubst du, was sie vorhatten?“
„Es sind zwei ganz junge Mädchen. Sicher kurz nach der Reife, wenn überhaupt. Ich glaube nicht, dass von ihnen Gefahr ausgeht. Und sie waren allein.“
„Wer hat die Patrouille angeführt?“, fragte Osana.
„Rustad.“
„Waren die Mädchen bewaffnet?“
„Was man für die Jagd benötigt.“
„Es ist ungewöhnlich, zwei Mädchen allein so weit in die Nähe der Chiaranischen Festung zu schicken. Ich glaube, die Hüterin sollte davon erfahren. Wenn das eine List ist, sollten wir vorbereitet sein. Rena hat ohnehin darum gebeten, informiert zu werden, wenn eine Patrouille zurückkommt. Ich glaube, sie wartet auf Thorwald.“
Die Vorsitzende des Rates schob ihren hölzernen Stuhl zurück und stand langsam auf. „Ich schlage vor“, sagte sie, „du rufst Rustad dazu und lässt die Gefangenen vorführen. Wir bringen sie zur Hüterin. Sie muss entscheiden, was wir mit ihnen machen.“
Kurze Zeit später trat Norgith neben Osana vor das Haus der Hüterin. Es war aus Ziegelsteinen gebaut, im Gegensatz zu den meisten anderen Gebäuden in der Festung, die aus Holz und Lehm bestanden. Renas Haus war nicht sehr hoch, aber stabil und wetterbeständig. Hinter Norgith und Osana, der Ratsvorsitzenden, folgten Rustad, der Anführer der Patrouille, und einer seiner Kameraden. Jeder der beiden Sicherheitsleute hielt eine der gefesselten Gefangenen mit festem Griff an den Armen.
Die Wachfrau, die vor dem Haus auf einem Schemel saß und dabei war, Pfeile zu schnitzen, nickte nur, als sie die Besucher erkannte. Osana klopfte dreimal an die schwere Tür aus Holz mit Eisenbeschlägen. Danach ging sie hinein, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Beim Eintreten mussten die Besucher den Kopf einziehen, denn auch die Decke im Innenraum des Hauses war nicht sehr hoch. Auf mehreren steinernen Podesten hatte man massive Schalen aus Kupfer aufgestellt, in denen Holzfeuer brannten, um Licht zu spenden und den Raum zu wärmen.
Rena selbst, das Oberhaupt des Clans, lag auf einem opulenten Diwan und blickte erwartungsvoll zum Eingang. Langsam und mit etwas Mühe richtete sie sich auf, schob ihre Füße in flache Schuhe aus Fell und ging mit kleinen Schritten zu einem wuchtigen, hölzernen Lehnstuhl, der an der rückseitigen Wand des Raums stand und an einen Thron erinnerte. Mit leisem Ächzen nahm sie Platz und legte ihre knotigen Hände auf die Armlehnen.
Osana und Norgith deuteten eine Verbeugung an.
„Hüterin, wir bringen hier zwei gefangene Ungläubige, die unsere Leute im Nebelwald aufgegriffen haben“, sagte Osana.
Rena sprach zunächst kein Wort, sondern ließ ihren Blick von einem zum anderen schweifen, wobei sie die beiden Mädchen besonders lange musterte.
Die Hüterin war sehr alt. Wie alt genau, wusste angeblich nicht einmal sie selbst. Diese Behauptung war allerdings schon deshalb glaubwürdig, weil es vielen anderen Mitgliedern des Chiaranischen Clans ähnlich ging. Das schmale, feingeschnittene Gesicht mit zwei leuchtenden grünen Augen, die interessiert und wissend auf die Besucher blickten und von unzähligen winzigen Fältchen umrahmt wurden, wies eine sehr helle Hautfarbe auf und dort, wo keine Falten zu sehen waren, zeigten sich Sommersprossen. Das schneeweiße, lockige Haar fiel lang auf Schultern und Rücken. Rena trug ein einfaches und langes Kleid aus hellgrüner Naturfaser. Ihr einziger Schmuck war eine kurze Kette aus bunt bemalten Steinen.
„Das sind ja Kinder“, sagte sie. Ihre Stimme war die einer alten Frau, aber sie klang fest und selbstsicher.
„Ja, Curatrix“, antwortete Rustad, der Kommandant, der mit einem der Mädchen schräg hinter den Rätinnen stand. Norgith blickte sich um und sah, dass Osana dem Mann einen finsteren Blick zuwarf, denn ihr oblag die Wortführung vor der Hüterin. Sie sah auch, dass eins der Mädchen, das mit der wilden schwarzen Haarmähne, am ganzen Körper zitterte. Ihre Wangen waren tränennass. Die mit der rotblonden Zopffrisur blickte hingegen ernst und fast trotzig drein.
„Sie waren nur leicht bewaffnet und trieben sich allein im Nebelwald herum“, erklärte Osana. „Wir wissen nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Wir hatten schon so lange keine agrianischen Gefangenen mehr.“
„Lasst sie los“, befahl Rena den Sicherheitsmännern. Nur zögernd folgten sie der Anordnung.
„Du, komm näher“, sagte die Hüterin und winkte die Rotblonde mit einer Handbewegung zu sich. „Na, los schon.“
Das Mädchen warf ihrer Mitgefangenen einen unsicheren Blick zu und trat dann zögernd ein paar Schritte nach vorn. Etwas mehr als eine Mannslänge vor dem Stuhl der Hüterin blieb sie stehen. Ihre Arme waren auf den Rücken gebunden. Trotzig reckte sie das Kinn vor. „Von uns werdet ihr kein Geschrei hören“, sagte sie angriffslustig. „Wir sind Agrianer.“ Danach presste sie die Lippen zusammen, als würde sie eine spontane und drakonische Bestrafung erwarten. Die Hüterin sah das Mädchen lange an, ohne etwas zu sagen. Ihr Gesicht verriet keine Gemütsregung. Das andere Mädchen, das noch immer neben dem anderen Sicherheitsmann hinter den beiden Rätinnen stand, wimmerte leise.
„Warum solltest du schreien?“, fragte Rena verwundert. „Wie heißt du?“
„Tilly.“ Das Mädchen sprach ihren Namen aus, als würde sie einen Speer auf ihr Gegenüber werfen.
Die Hüterin wandte sie sich an Osana und Norgith. „Habt ihr unseren Gästen schon etwas zum Essen und zum Trinken gegeben?“
Norgith klappte den Mund auf und sah, dass auch Osana ein erstauntes Gesicht machte. Die Vorsitzende sagte: „Es sind Ungläubige. Nein, wir haben …“ Sie ließ ihren Satz unvollendet.
Rena lächelte kaum merklich. „Natürlich“, sagte sie, „sie glauben nicht an Chiaras Rückkehr. Aber es sind dennoch Menschen. Kinder.“
An die beiden Sicherheitsleute gewandt sagte sie: „Nehmt ihnen die Fesseln ab. Dann könnt ihr gehen.“ Die Männer sahen sich erstaunt an, bewegten sich aber nicht vom Fleck. Auch die beiden Rätinnen schauten die Hüterin fragend an.
„Ja, macht schon“, sagte Rena, „von den beiden geht keine Gefahr aus. Das kann ich in ihren Augen sehen.“
Rustad, der Patrouillenführer, scharrte hinter Norgith unruhig mit den Füßen. Aber als weder von Osana noch von Rena weitere Anweisungen kamen, machte er sich mit seinem Jagdmesser an den Fesseln des schwarzhaarigen Mädchens zu schaffen. Der andere ging zu der rotblonden Gefangenen und schnitt ihre Handfesseln entzwei. Dann verbeugten sich beide Sicherheitsleute, machten kehrt und verließen den Raum.
„So“, sagte Rena zufrieden und lächelte. Dabei war zu erahnen, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Sie lehnte sich entspannt zurück und sagte: „Und ihr anderen setzt euch bitte. Nehmt euch Hocker.“ Sei deutete auf eine dunklere Ecke des Raums, wo niedrige mit Fell bespannte Sitzgelegenheiten aufgereiht standen, die Trommeln ähnelten.
Norgith holte sich zusammen mit Osana jeweils einen der Hocker. Die beiden Mädchen machten es ihnen nach. Immerhin weinte die Schwarzhaarige inzwischen nicht mehr. Kurze Zeit später saßen die vier Besucher dem Lehnstuhl der Hüterin in einem lockeren Halbkreis gegenüber.
„Berichtet mir, warum ihr euch so weit von eurem Clan entfernt habt“, verlangte Rena, und ihre Stimme klang jetzt scharf und fordernd. Sogar drohend, fand Norgith. „Und nur die Wahrheit. Ich würde es merken, wenn ihr lügt, glaubt mir.“
Ihre grünen Augen ruhten abwechselnd auf den Mädchen, ohne zu blinzeln. Der eben noch freundliche Zug in ihrem Gesicht war verschwunden. Norgith selbst hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass es wahrscheinlich unmöglich war, in Gegenwart der alten Hüterin die Unwahrheit zu sagen. Gespannt sah auch sie die beiden Mädchen an, die stumme Blicke tauschten. Etwas Besonderes war zwischen ihnen. Die Schwarzhaarige sah ihre Kameradin an, die sich Tilly nannte, und nickte kaum merklich.
In diesem Moment ertönte das beunruhigende Heulen eines Signalhorns, das mühelos die Türen und Steinmauern durchdrang. Norgith und Osana sprangen beinahe gleichzeitig von ihren Hockern auf und liefen zur Tür. Die beiden Mädchen sahen sich nur erschrocken um, und als sie bemerkten, dass auch die alte Hüterin sich von ihrem Stuhl erhob, standen sie ebenfalls auf.
Draußen vor Renas Haus sah Norgith, dass weitere Chiaraner aus ihren Häusern kamen und sich auf dem Innenhof versammelten. Ein Wächter kam eilig die Steintreppe des Wehrgangs heruntergelaufen und wandte sich an Osana.
„Sie sind verschwunden! Alle verschwunden!“, rief er keuchend.
„Wer ist verschwunden, Mann“, herrschte Osana ihn an. „Korrekte Meldung, bitte.“
„Die Wächter der zweiten Tagwache, alle“, schnaufte der Mann und blieb vor Norgith und Osana stehen. „Eben hatte ich noch mit Ronan geredet, und dann hat er sich vor meinen Augen aufgelöst. Genauso wie die anderen sechs. Einfach weg.“
„Unsinn, aufgelöst“, sagte Osana, „was soll das denn bedeuten? Haben sie die Festung verlassen?“
Der Mann zuckte nur hilflos mit den Schultern.
„Lass ihn“, sagte Renas ruhige Stimme hinter ihnen. Sie hatte etwas länger gebraucht, um ihnen zu folgen. „Er kann es nicht wissen. Aber es ist nicht das erste Mal. Wir können nur hoffen, dass sie zurückkommen.“
Norgith wusste, dass die Hüterin recht hatte. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass Leute verschwanden. Immer waren sie nach einigen Stunden, oder erst nach Tagen wieder aufgetaucht. Erst vor vier oder fünf Tagen hatte Lilith, eine der Weberinnen, gemeldet, dass zwei Kolleginnen vor ihren Augen verschwunden waren. Sie waren mehrere Stunden später wieder in der Weberei erschienen, und hatten sich nicht erinnern können, was mit ihnen passiert war.
Die Hüterin hatte sowohl von Lilith und ihren Kolleginnen als auch von den Ratsmitgliedern absolutes Stillschweigen über den Vorfall verlangt, um eine Panik zu vermeiden. Rena hatte versprochen, der Sache auf den Grund zu gehen. Aber dieses Mal hatten zu viele Bewohner der Festung mitbekommen, was passiert war.
Rena wusste Dinge, die den meisten anderen Chiaranern verborgen waren, das war Norgith bekannt. Die Hüterin gehörte zu den wenigen Traumweisen des Clans. Auch Bent gehörte zu ihnen, Renas Bruder, der ebenfalls sehr alt war. Sie sahen Dinge in ihren Träumen, die ihren Ursprung in einem Bereich zwischen der mystischen Welt und der Realität hatten, und diesen Träumen verdankten alle Chiaraner viele Erkenntnisse und technische Errungenschaften.
„Ich danke euch, Osana und Norgith“, sagte die alte Hüterin. „Ich danke auch dir, Thuroc.“ Sie wandte sich dabei an den einzigen verbliebenen Wächter, der noch immer unschlüssig herumstand. „Stellt eine neue Wache zusammen und nehmt eure Posten wieder ein. Und ihr zwei kommt mit mir.“ Rena schaute die beiden agrianischen Mädchen an. „Wir haben viel zu besprechen.“
Dann ging sie zu ihrem Haus. Tilly und die andere folgten ihr. Offensichtlich hatten sie inzwischen ihre Scheu überwunden. Norgith sah Osana an und zuckte mit den Schultern.
„Gehen wir“, sagte sie. Sie blickte hinauf zum Himmel, wo der Große Horas mit seinen farbigen Streifen wie eine mächtige Scheibe über ihnen hing. Norgith wusste jedoch, dass es sich in Wahrheit um eine unfassbar große Kugel handelte. Eine Kugel, die um ein Vielfaches größer war als die Morgenwelt, auf der sie lebten. Solche Dinge wusste man. Es waren Dinge, die die Traumweisen herausfanden. Die Kugel war so mächtig, dass sie alles Leben in ihrer Welt vernichten würde, sollte sie auf sie herabstürzen.
Auf dem Kamm der flachen Hügelkette ließ Bent den Fahrer des Motorwagens halten. Von hier aus hatte man eine gute Sicht bis weit hinein in die Todeszone. Bis zum Horizont erstreckte sich eine flache Ebene, in der sich weit verstreut vereinzelte, scharf gezackte Felsnasen aus dem trüben orangegelben Dunst erhoben. Eine ungesunde Wärme stieg aus der Ebene empor und Bent wusste, dass dies nur eine vage Ahnung von dem war, was denjenigen erwartete, der sich über die Hügelkette hinaus in die Ebene wagte. Die Sonne blickte in der Richtung, aus der sie gekommen waren und wo sich die Festung befand, nur noch zur Hälfte über den Horizont. In der Richtung, in die sie gefahren waren, lag die Nachtseite der Morgenwelt. Dort herrschte ewige Dunkelheit, und nach menschlichem Ermessen müsste dort auch eisige Kälte herrschen. In der Todeszone, direkt unter ihnen, war es jedoch so heiß, dass das Blut in den Adern gekocht und verdampft würde, sollte man straucheln und den Hang hinunterstürzen. Außerdem war die Luft dort so giftig, dass ein einziger Atemzug zum Tod führen würde.
„Hier stellen wir die Detektoren auf“, bestimmte Bent und kletterte stöhnend aus seinem Sitz. Der Wagen war eine offene Konstruktion aus Eisen und Holz, mit klobigen Rädern aus hartem Kautschuk und vier Sitzen. Angetrieben wurde er von einem galvanischen Element, das elektrische Energie auf elektrochemischer Basis speicherte. Die Fahrt durch das unwegsame Gelände war eine Tortur für Bents alte Knochen gewesen. Auch Kalekh, der Fahrer und die beiden weiblichen Teilnehmer der Expedition stiegen vom Wagen.
Im Consilium Somnium, der Zusammenkunft der Traumweisen, hatten sie viele Berechnungen angestellt und Theorien entwickelt. Gelänge es einem Forschungsteam, die Todeszone zu durchqueren, den Bereich der Dämmerung, dann musste es dahinter auf der Nachtseite die ewige Kälte geben. Ein Land ohne Leben. Alles andere würde jeder physikalischen Logik widersprechen. Aber eine Reise zur Nachtseite würde bedeuten, dass es eine Strecke von mindestens fünfzigtausend Mannslängen durch die giftige Todeszone zu überwinden galt. Es gab zwar die Möglichkeit atembare Luft in Behältern zu komprimieren und sich gegen Giftgase zu schützen. Gegen den hohen Atmosphärendruck, der gegen jedes Naturgesetz dort herrschte, würde es jedoch nicht helfen. Außerdem war nicht klar, was am Ende der Todeszone auf sie wartete. Würde man dort keine atembare Atmosphäre vorfinden, wäre es das Ende der Forscher. Abgesehen von den zu erwartenden Minustemperaturen, denen die verfügbaren Schutzanzüge sicher nicht lange standhalten würden.
Es blieb ihnen also im Moment kaum mehr übrig, als das Wesen der Todeszone weiter auszuforschen und so viele Erkenntnisse wie möglich zu sammeln. Während seine drei Begleiter damit begannen, Detektoren, Strahlenmessgeräte und Partikelsammler aus der Gepäckkiste des Wagens zu entladen, reckte der alte Bent seine Glieder und blickte hinauf zum Großen Horas. In der klaren Luft hatte man das Gefühl, man müsse nur hinauflangen, um ihn zu berühren. Bent war wie Rena der Ansicht, dass es sich dabei um einen Planeten handelte, vermutlich einen sogenannten Gasriesen. Die Morgenwelt, auf der sie lebten, hielten nicht nur die Traumweisen für einen Mond des Großen Horas. Die meisten Chiaraner jedoch glaubten nicht an diese Interpretation ihrer Welt. Für sie stellte der Planet eine Art göttliches Phänomen dar. Eine Verheißung, ein Zeichen dafür, dass eines Tages Chiara zurück zu ihnen auf die Morgenwelt kommen würde, um sie in die alte Heimat zu führen. Wo immer die sich auch befinden mochte.
Ein angenehmer Wind wehte aus der Richtung der Sonne, wo auch die Festung lag, über sie hinweg und kräuselte die trübe Gassuppe in der vor ihnen liegenden Ebene. Ein gellender Schrei riss Bent aus seinen Gedanken. Erschrocken sah er seinen Fahrer Kalekh an, der mit aufgerissenen Augen seine Arme anstarrte. Die hatten damit begonnen, sich vor seinen Augen aufzulösen. Die Hände waren schon verschwunden, und die verbliebenen Stümpfe der Oberarme wichen zusehends zurück. Dann stürzte er zu Boden, denn auch die Füße des Mannes waren nicht mehr da. Entsetzt sahen Kalekh und Bent sich an, dann war der Fahrer ganz verschwunden. Nur sein Jagdmesser und ein kleines Handschweißgerät blieben von ihm übrig. Mit aufgeklapptem Mund stand Bent neben dem Motorwagen auf dem Hügel und starrte auf die Stelle, an der noch kurz vorher Kalekh gestanden hatte. Dort waren nur noch Sand und ein paar stachelige Sträucher.
Mit einer düsteren Vorahnung wandte Bent sich um und sah, dass er allein war. Auch Karlah und Otranga waren fort. Der Akkumulator des Motorwagens summte leise. Ihm wurde heiß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass die plötzliche Hitze nicht auf seinen Schreck zurückzuführen war, sondern dass tatsächlich eine ungesunde Hitze aus der Todeszone zu ihm heraufstrahlte. Gleichzeitig krochen gelbliche Nebenschwaden träge den Hang hinauf. Unsicher sah Bent sich um. Der Wind wehte noch immer in Richtung Nachtseite. Das bedeutete, die Schwaden wurden nicht vom Wind herübergeweht, sondern der höhere Atmosphärendruck in der Ebene schob sie herauf.
Hastig lief Bent zur Transportkiste am Heck des Wagens und kramte darin herum. Endlich fand er die Atemmasken. Umständlich stülpe er sich eine davon über den Kopf, öffnete die Sauerstoffpatrone und schloss das Ventil. Es war jetzt beinahe unerträglich heiß und seine Gesichtshaut begann unverzüglich zu schwitzen. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte.