Luises Vermächtnis - Ruben Schwarz - E-Book

Luises Vermächtnis E-Book

Ruben Schwarz

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Beschreibung

Schon als Kind wurde Luise von ihrem Ziehvater regelmäßig missbraucht. Als sich später auch ihre erste große Liebe als herbe Enttäuschung entpuppt, ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, und sie setzt sich auf drastische Weise zur Wehr. Schwer traumatisiert verläuft ihr Leben über Jahrzehnte hinweg ohne Beziehungen, bis sie schließlich, als ältere Dame, die es zu einigem Wohlstand gebracht hat, den viel jüngeren Familienvater Sebastian Stalter in ihren Bann zieht und damit in einen für ihn unlösbaren Konflikt stürzt. In einem Strudel aus Bedrohung und Verlangen verändert sich das Wesen des ehemals fürsorglichen Ehemanns und Vaters, und er mutiert zu einem getriebenen Psychopathen, der für die Menschen in seiner Umgebung zu einer tödlichen Gefahr wird, der auch die Polizei ratlos gegenübersteht. "Luises Vermächtnis" ist der zweite Roman von Ruben Schwarz und erzählt von ganz normalen Menschen, in deren Alltag unvermittelt das Grauen einbricht.

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Ruben Schwarz

Luises Vermächtnis

Mörderische Liebe

© 2019 Ruben Schwarz

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-8418-6

Hardcover:

978-3-7469-8419-3

e-Book:

978-3-7469-8420-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

LUISES VERMÄCHTNIS

Teil 1

1.

Glückauf!

Die Seilfahrt nach Übertage war wie immer ein Gefühl der Befreiung. Der Förderkorb ratterte und schüttelte sich unablässig, während er mit hohem Tempo der Oberfläche entgegenstrebte. Es war gleichzeitig eine Zeitreise, durchquerte man doch in wenigen Minuten Gesteinsschichten, die sich im Verlaufe von Jahrhundertausenden und Jahrmillionen übereinander abgelagert und verpresst hatten. Die rasende Fahrt an die Oberfläche verursachte Druck auf den Ohren. Längere Phasen der Dunkelheit wechselten mit kurzem, hellem Aufflackern, wenn der metallene Käfig die Füllorte der einzelnen Sohlen passierte. In diesen kurzen Momenten sah Wilhelm die glänzenden, vom Kohlenstaub geschwärzten Gesichter der Kumpel, in denen Augen und Zähne helle, verwischte Lichtflecke bildeten. Der Luftzug, der durch die Vergitterung des Korbes wehte, reizte die Augen. Der Anblick der Männer in ihren rußigen Arbeitsanzügen und den Grubenhelmen war ein gewohnter und auch ein beglückender, denn er stand dafür, dass er, Wilhelm, nun endlich wieder in Arbeit und Brot stand und seiner jungen Familie mehr Sicherheit bieten konnte als bisher.

Wilhelms Helm aus hartem Leder trug an seiner Vorderseite eine metallene Halterung für eine Helmlampe, die er jedoch nicht besaß. Dafür trug er in seiner knochigen Faust ein eckiges, von einer Flachbatterie betriebenes Geleucht aus mattem, verbeultem Stahlblech mit einem trichterförmigen Reflektor an der Vorderseite. Die Brotdose und die blecherne Feldflasche, die noch aus Wehrmachtsbeständen stammte, hatte er an seinen Gürtel gehängt.

Die Männer waren schweigsam. Wilhelm kannte fast alle von Ihnen, die meisten jedoch nur vom Sehen. Außerhalb der Zeche pflegte er mit ganz wenigen von ihnen Kontakt. Sie waren keine Freunde. Aber auf eine bestimmte, unausgesprochene Weise waren sie mehr als das, sie waren Kumpel. Wilhelm konnte sicher sein, dass jeder Einzelne von ihnen, Obersteiger und Betriebsführer nicht ausgenommen, bei Gefahr im Berg für den Anderen sein Leben aufs Spiel setzen würde.

Die Arbeit vor Kohle war keine leichte. Die 12. Sohle lag in einer Teufe von etwa 610 Metern. Um seinen aktuellen Arbeitsplatz am Stoß im Flöz Rauensiepen zu erreichen, war Wilhelm vom Füllort aus über Richtstrecke und Querschlag mehr als zwanzig Minuten unterwegs. Und das Flöz Rauensiepen war ein steil ansteigendes Flöz, das zähe Klettereigenschaften erforderte. Trotzdem wusste Wilhelm, dass seine Arbeit bei der heutigen modernen Wetterführung keinem Vergleich mit der seines Großvaters und seines Onkels Otto standhalten würde, die nun beide schon seit Jahren tot waren.

Als Junge hatte er gerne den Erzählungen der alten Männer gelauscht, wenn sie mit vor Begeisterung glänzenden Augen davon berichteten, wie sie damals auf der achten Sohle mit ihrer Kameradschaft das Flöz Finefrau aufgehauen hatten. Bei matten Wettern, die ihnen die Luft zum Atmen raubten und ihnen den Schweiß in die Augen trieb, hatten sie mit nacktem Oberkörper im streckenweise kaum einen Meter mächtigen Flöz gelegen, das Hangende dicht über ihren Köpfen mit Rundhölzern abgestützt, und mit Keilhaue, Schlägel und Eisen den Stoß verhauen. Das größte Vergnügen hatte es den beiden alten Männern immer gemacht, wenn sie auf die Bierschichten zu sprechen kamen, die sie nach der eigentlichen Schicht bei der dicken Erna Schablonski an der Theke im Knappeneck gefahren hatten, einer gemütlichen Eckkneipe im Drostenbusch, wo man sich mit einem frisch gezapften Hellen in Verbindung mit einem eiskalten Weizenkorn für zusammen vierzig Pfennige den Kohlestaub aus der Kehle spülen konnte. Bei ihren Erinnerungen konnten die Alten lachen, bis ihnen die Tränen kamen, wenn sie sich zum hunderttausendsten Mal erzählten, wie sie den dürren und sternhagelvollen Reviersteiger Hufnagel, der die Gewohnheit hatte, regelmäßig am Zahltag einen großen Teil seines Gedinges in Schnaps und Bier anzulegen, mit der Schubkarre nachhause gefahren, und seiner Ollen unter dem Küchenfenster, gegenüber vom Hühnerstall, abgekippt hatten.

Opa August hatte damals als junger Kerl von kaum fünfzehn Jahren zuerst als Pferdejunge auf Zollverein angelegt, und sich um die durch die langen Jahre im Berg blind gewordenen Grubenpferde gekümmert, die die vollen Kohlewagen von der Richtstrecke bis zum Schacht zu ziehen hatten, stoisch und schicksalsergeben, bis sie eines Tages ihre letzte Schicht beendeten und einfach umfielen. Später hatte Opa August mehrere Jahre als Schlepper gearbeitet, bevor er Hauer geworden war. Fast vierzig Jahre war er in den Berg eingefahren bis eine Silikose ihn in den Ruhestand zwang. Danach hatte er noch fast zwanzig Jahre lang fröhlich seine filterlosen, selbst gedrehten Glimmstengel gepafft, bevor er an einem verregneten Sonntagabend sanft eingeschlafen war. Wilhelm konnte sich noch gut an die Kippen erinnern, die der Opa zwischen seinen knotigen Fingern gehalten hatte, deren Kuppen gelb vom Nikotin verfärbt gewesen waren. Von ihm hatte Wilhelm an seinem zwölften Geburtstag auch die erste Zigarette mit dem Hinweis erhalten, dass er nun ja so langsam ein Mann würde.

Der Korb wurde langsamer und kam mit einem Ruck zum Stehen. Das kräftige Glockensignal des Anschlägers ertönte, das Wetterleder wurde zur Seite geschlagen, und die Gittertür des Korbes öffnete sich rasselnd. Der feste Tritt der schweren Bergmannsschuhe und das Raunen aus den Männerkehlen, die allesamt froh waren, die Schicht unter Tage hinter sich gebracht zu haben, erfüllte die Maschinenhalle. Der Weg führte die Kumpel die Metalltreppe der Hängebank hinunter zur Kaue, wo man sich in der Gemeinschaftsdusche die schmierige Verbindung aus Schweiß und Kohlenstaub vom Körper wusch. Besonders hartnäckig pflegte sich dieses Gemisch in Nasenlöchern, Ohren und unter den Fingernägeln festzusetzen. Nicht selten kamen die Männer nach Hause zu ihren Familien als hätten sie sich die Augen mit Kajal geschminkt. An der hohen Decke der Kaue hingen die Zivilkleider der Leute, die dort mit Ketten aufgezogen waren. Jeder Bergmann hatte den Schlüssel zu seinem Schloss, mit dem er den Metallkorb mit seinen Sachen herablassen konnte.

Neben vielfältigen Gesprächen zwischen den Bergleuten ertönte immer wieder der Gruß „Glückauf“ in verschiedenen Stimmlagen, mit dem sich die Kumpel voneinander verabschiedeten oder Männer der Mittagsschicht begrüßten, die sich auf ihre Grubenfahrt vorbereiteten. Meist war von dem traditionellen Bergmannsgruß nur die Endsilbe „… auf“ zu hören. In der sparsamen Sprache des Reviers war das völlig ausreichend. Alles Weitere lief Gefahr, als geschwätzig zu gelten.

Da Wilhelm in dieser Woche Frühschicht hatte, war es heller Nachmittag, als er zusammen mit anderen von der Markenkontrolle zum Zechentor ging. Auch hier war ein gemurmeltes „Auf“ zusammen mit einer lässig gehobenen Hand der Gruß an den Pförtner. Ein Blick zurück zum mächtigen Doppelbock zeigte, dass die Seilscheiben der Förderanlage zum Stehen gekommen waren. Die Mittagsschicht war also bereits eingefahren und hatte die 12. Sohle erreicht.

Vor ein paar Jahren, 1941, hatte es auf Zollverein eine schlimme Schlagwetterexplosion gegeben, bei der neunundzwanzig Kumpel ums Leben gekommen, und viele verletzt worden waren. Zu dieser Zeit war Wilhelm allerdings schon in Frankreich gewesen.

Wilhelm trug seine ausgetretenen Halbschuhe und den braunen Anzug, den er irgendwann einmal vor dem Krieg erworben hatte. Seine hagere Gestalt und die eingefallenen Wangen zeugten noch jetzt vom überstandenen Hungerwinter 1946/47. Noch frisch war die Erinnerung an die Verzweiflung und die Sorge darüber, ob man die Kleine würde durchbringen können, die damals erst wenige Monate alt gewesen war.

Die abgeschabte Aktentasche, in der er üblicherweise seine Brote und die Feldflasche transportierte, hielt er in der rechten Hand.

Jetzt erst mal ne Kippe, dachte er, stellte die Tasche kurz ab, zündete sich die erste Selbstgedrehte nach der Schicht mit einem Streichholz an und sog genussvoll den Rauch tief ein. Unter Tage und auf dem gesamten Zechengelände herrschte strengstes Rauchverbot.

Die Pflastersteine waren nass, es musste also eben noch geregnet haben. Einige Kumpel bestiegen ihre Räder, die sie vor der Schicht an den Fahrradständern in der Nähe des Werkstores deponiert hatten und fuhren davon. Wilhelm gehörte zur Mehrheit derer, die kein Rad besaßen und musste zu Fuß gehen. Das war aber nicht weiter schlimm, denn er wohnte mit Martha und der Kleinen nur wenige Straßen entfernt. Die Knochen taten ihm weh, wie jeden Tag nach der Schicht und er war müde. Die Arbeit mit dem Presslufthammer vor Kohle, teilweise in gebückter oder kniender Haltung war hart, wurde aber besser bezahlt, als die eines durchschnittlichen Facharbeiters über Tage.

Nun freute er sich nur noch auf seine Frau und sein Kind. Zum Glück hatte die Zeche Zollverein im Gegensatz zu den Krupp-Werken in Essen nur relativ geringe Schäden durch die alliierten Bomber davongetragen. Auch mit der Demontage war man hier zurückhaltender vorgegangen, weil die britische Administration Wert darauflegte, dass hier bald wieder Kohle gefördert wurde. Jetzt, 1948, betrug die Belegschaft von Zollverein mit der angrenzenden Kokerei schon wieder über viertausend Mann. Es ging voran, langsam zwar, aber Gott sei Dank war das Elend mit den Lebensmittelkarten und der Rationierung vorbei, die zum Sterben zu viel, zum Leben aber zu wenig boten. Seit dem Juni hatte die Zigarette ihre Bedeutung als Währung eingebüßt, und es gab wieder richtiges Geld. Mit Grausen dachte Wilhelm, der gelernter Elektriker war, an die Zeit, als er unter zugigen Torbögen und auf Hinterhöfen der zerbombten Innenstadt gezwungen gewesen war, sich mit Schwarzhändlern herumzuschlagen. Eine „Kippe“ hatte den Gegenwert von ungefähr zehn Reichsmark gehabt, für ein Kilo Brot hatte man fünfundzwanzig Reichsmark berappen müssen und für ein Pfund Butter sogar zweihundertfünfundzwanzig.

Seinen Gedanken nachhängend lief Wilhelm die Gelsenkirchener Straße entlang in deren Straßenbahnschienen jetzt meterhohes Unkraut wucherte, weil schon lange keine Bahn mehr diese Strecke befuhr. Konsequent nutzte die Natur jede Nische, die der Mensch ihr ließ.

Der alte Heinrich Bremecke zog auf der gegenüberliegenden Straßenseite seinen hölzernen Handkarren mit Brennholz über das Kopfsteinpflaster hinter sich her. Wilhelm und er nickten sich kurz zu.

„Wie isset, Heinrich?“ rief Wilhelm über die Straße.

„Ach, muss!“ rief Bremecke zurück und zog hustend weiter. Der alte Mann war mit seinen damals dreiundsiebzig Lenzen tatsächlich kurz vor Kriegsende noch zum Volkssturm eingezogen worden, zu seinem Glück jedoch nicht mehr zum Einsatz gekommen.

Auf der anderen Straßenseite fuhr mit hohem Tempo ein britischer Militärjeep vorbei. Der Fahrer, den Abzeichen nach ein Lance Corporal, legte jovial die rechte Hand an den Schirm seiner Mütze und nickte Wilhelm über die ansonsten menschenleere Straße zu. Der Beifahrer schien ein Lieutenant oder ein Captain zu sein. Die lange Funkantenne federte peitschend hin und her, während der offene Wagen über das marode Kopfsteinpflaster ratterte. Durch das Motorgeräusch drangen für kurze Zeit Fetzen irgendeines englischen Schlagers herüber.

Die Zerstörungen durch die Bombenangriffe waren hier im Vorort nicht ganz so schlimm gewesen wie im Stadtkern, aber dort, wie auch hier, gingen die Aufräumarbeiten gut voran.

Wilhelm schnippte seine Kippe im hohen Bogen auf die Straße und zündete sich gleich die nächste an.

Er war schon im Frühjahr 46 wieder aus der französischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Als Obergefreiter der Wehrmacht war er Angehöriger der 47. Artillerie-Division gewesen, die 1945 beim Rückzug von der Westfront von den vorrückenden Alliierten in der Nähe des belgischen Mons aufgerieben worden war. Mit Glück im Unglück hatte es ihn zu einer Bauern- und Winzerfamilie in der Nähe von Mulhouse im Elsass verschlagen, die ihn relativ freundlich und fast wie ein Familienmitglied behandelt hatte. Zurück in der Heimat, hatte er sich dann eine Zeitlang mit Gelegenheitsarbeiten mehr schlecht als recht über Wasser gehalten und feststellen müssen, dass in seinem Elternhaus in Altendorf inzwischen die Familie eines britischen Colonels wohnte. Wohnraum war in diesen Zeiten fast noch knapper als Nahrung gewesen.

Bei der Wohnungssuche hatte er dann Martha kennen gelernt, die etwas pummelige, aber sehr liebenswerte Haushälterin und Tochter eines SS- Offiziers, der seit Kriegsende irgendwo in Ostpreußen verschollen war. Seinen letzten Feldpostbriefen zufolge muss es ihn bei der Schlacht um Königsberg erwischt haben, aber Genaues wusste man darüber nicht.

Martha mit ihren rosigen Wangen und ihrer liebenswerten Herzlichkeit hatte Wilhelms Herz schnell gewonnen. Ihr hingegen hatte der schlanke, junge Mann mit den braunen Haaren gut gefallen. Sein jungenhaftes und draufgängerisches Lächeln, immer eine Zigarette lässig im Mundwinkel, war für sie unwiderstehlich gewesen, eine jugendliche Version von Carl Raddatz vielleicht, einem Schauspieler, den sie damals sehr verehrte.

Sie hatten geheiratet nachdem sie sich kaum neun Wochen kannten. Immerhin war damals schon Nachwuchs unterwegs gewesen, und ein uneheliches Kind lag in der Beurteilung durch die damalige Gesellschaft irgendwo zwischen Bankraub und Gattenmord.

Die zweieinhalb Zimmer in Essen-Stoppenberg teilten sie sich mit einem netten älteren Ehepaar. Jede der beiden Familien hatte ein Zimmer für sich, Bad (wenn man die unverputzte Kammer mit Zinkwanne und Holzofen so nennen mochte) und Küche wurden gemeinsam benutzt.

Das zweistöckige Wohnhaus, das Wilhelm nun erreichte, war trotz des brüchigen und schmutziggrauen Mauerputzes das einzige halbwegs intakte Gebäude zwischen zwei völlig zertrümmerten Ruinen. Gespenstisch ragten in der direkten Umgebung verbrannte Mauergerippe in den grauen Himmel. Bei einem der zerstörten Häuser waren zwei der vier Außenwände verschwunden und man konnte noch Deckenlampen und Tapeten der ehemaligen Bewohner sehen. In einem der Badezimmer sah man ein fast freischwebendes Klosett, das lediglich von einem Fallrohr vor dem Absturz bewahrt wurde.

Wilhelm öffnete die Haustür, die früher einmal die Tür zu einem Schweinestall gewesen, und mit zwei groben rostigen Scharnieren an der Fassade befestigt war. Nachts pflegten die Bewohner die Tür von innen mit einem Vorhängeschloss zu sichern. Wilhelm erklomm die hölzernen Stiegen und klopfte mit zwei Fingerknöcheln an die Wohnungstür. Die alte Frau Merseburger öffnete und begrüßte ihn freundlich:

„Ach, Herr Siepmann, kommse rein, Ihre Frau stillt jerade“, Frau Merseburger hatte einen schlesischen Akzent, war klein und mollig und trug wie immer ihre schon viel zu oft gewaschene Kittelschürze, die früher einmal kobaltblau gewesen sein mochte. Mit ihrem Mann zusammen war sie vor gut drei Jahren aus Bunzlau bei Liegnitz vor dem Russen geflohen.

„Danke“, sagte Wilhelm und drückte leise die Türklinke zu ihrem Zimmer herunter. Martha saß auf dem einzigen zerschlissenen Sessel und hatte die Kleine an ihren üppigen Busen gelegt, die dort selig nuckelte. Marthas Augen leuchteten, als sie Wilhelm sah. Der ging zu ihr und gab ihr einen hörbaren Kuss. Die Kleine ließ sich nicht stören und saugte mit halb geschlossenen Augen weiter, wobei sie hin und wieder ein leises Seufzen vernehmen ließ.

Wilhelm liebte seine kleine Familie, und wenn sie erst das Haus in Altendorf wieder beziehen könnten, würde ein neues Leben beginnen. Vielleicht würden sie aber auch ihr Glück im Osten, in der Sowjetzone versuchen. Dort hatten die Kommunisten zusammen mit den Sozialdemokraten eine neue Partei gegründet. Wie man jetzt überall hörte, wollten sie dort eine ganz neue, gerechtere Gesellschaft aufbauen, in der Jedermann gleiche Chancen hatte. Wäre er nur für sich allein verantwortlich gewesen, Wilhelm hätte es wahrscheinlich gewagt, aber mit Martha und dem Kind schien ihm das Risiko der Übersiedlung im Moment noch zu groß. Vielleicht später einmal, wenn die Kleine aus dem Gröbsten raus war.

Diese schien jetzt satt zu sein und ihre Augenlider waren offensichtlich zu schwer geworden, um sie noch länger geöffnet zu halten. Sie war jetzt auch schon zwei Jahre alt, konnte laufen und brabbelte mit großem Vergnügen die acht bis zehn Worte, die sie beherrschte, zusammen mit einer Vielzahl an Lauten, die keinen Sinn, ihr selbst aber viel Freude machten.

„Gib sie mir mal“, bat Wilhelm seine Martha. Die fasste das kleine dunkelhaarige Mädchen mit beiden Händen unter den Achseln und reichte es ihm hoch. Von der Warze der freigelegten Brust fiel ein Tropfen ihrer Milch auf das Tuch, dass in ihrem Schoß lag.

Wilhelm nahm seine Tochter, die jetzt die Augen wieder weit geöffnet hatte und ihn fröhlich und neugierig musterte.

„Da isse ja, meine kleine Luise“, lachte Wilhelm ihr freundlich ins Gesicht und nickte dabei aufmunternd, „da isse ja.“

Die kleine Luise blinzelte und besah sich staunend die halb abgebrannte Zigarette im Mundwinkel ihres Vaters, von der ein lustiges, weißes Rauchfähnchen aufstieg. Dann wurde ihr Gesicht ernster und zeigte Anzeichen einer Anspannung, fast so als wäre ihr klar geworden, dass dieses Rauchfähnchen wahrscheinlich einer der Gründe dafür war, dass sie ihren Vater früh verlieren würde. Die kleinen Mundwinkel zuckten leicht nach unten und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. Endlich entlud sich die Blähung mit einer dichten Folge von knatternden Geräuschen in ihrer Windel. Ein Lachen zeigte sich in Baby Luises Gesicht. Sie gluckste fröhlich und begann unternehmungslustig mit ihren Beinchen zu strampeln.

2.

Rote Lippen soll man küssen.

Wenn jemand den Zustand beschreiben wollte, in dem sie sich derzeit befand, so lag er mit dem Begriff Glück sicher nicht falsch. Wenn Luise recht überlegte, hatte es in ihrem jungen Leben nicht besonders viele Momente gegeben, die ihrer jetzigen Situation in Bezug auf Hochgefühl und Zufriedenheit nahegekommen wären. Der warme Schauer der Dusche regnete sanft auf ihr Gesicht und schmeichelte ihrer Haut während er in perlenden Bächen an ihrem Körper hinab lief. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und strich sich mit geschlossenen Augen die langen dunklen Haare mit beiden Händen über die Ohren nach hinten auf den Rücken. Obwohl sie Gerd glühend vermisste, konnte Luise es dennoch sehr wohl genießen, die Wohnung ganz für sich allein zu haben. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und gab sich dem warmen, massierenden Strom hin.

Gerd hatte sie herausgeholt. Gerettet aus diesem Elternhaus, das für sie, etwa seit sie ins Schulalter gekommen war, kein behütetes Heim mehr gewesen war. Ein toller Typ war Gerd! Viele Freunde hatte er, einen schicken Sportwagen, war beruflich erfolgreich, unfassbar zärtlich und einfühlsam. Alles war noch schöner als sie es sich in den kühnsten Mädchenträumen in ihrer Dachkammer in der Altendorfer Straße jemals ausgemalt hatte.

Ganz kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag (Mutti und Karl hatten nicht einmal daran gedacht) hatte sie Gerd kennen gelernt, einen gut gekleideten, immer charmanten Mann, eine ganze Reihe von Jahren älter als sie. Schon wenige Wochen später war sie bei ihm eingezogen. Luise drehte das Wasser ab und zog den Duschvorhang zur Seite. Sie griff nach ihrem Badetuch, das sorgfältig gefaltet auf dem kleinen Hocker gelegen hatte, und legte es sich um die Schultern. Sie machte einen Schritt aus der Dusche und trat auf die beigefarbene Badematte, wo ihre Füße nasse Abdrücke hinterließen. Während sie sich abtrocknete, betrachtete sie sich selbst nicht ohne Zufriedenheit in dem leicht beschlagenen wandhohen Spiegel, der ihre langen Beine wiedergab, ihre kleinen festen Brüste und die langen Haare, die die gleiche dunkelbraune Farbe hatten, wie die unter ihren Achseln und in ihrer Scham. Nicht zum ersten Mal kam sie zu dem Schluss, dass schließlich auch Gerd über seine Eroberung froh sein konnte. Sie war durchaus eine junge Frau, nach der sich die Kerle umdrehten. Allerdings hatte es bisher in ihrem Leben kaum Gelegenheiten gegeben, bei denen sie ihre Wirkung als Frau auf freier Wildbahn hatte erproben können. Schuld daran war Karl, dieses Schwein. Es war wirklich eine Erlösung, von zuhause weg zu sein. Bestimmt hatten Mutti und Karl inzwischen die Polizei alarmiert. Seit fast zwei Wochen war sie immerhin nun schon bei Gerd, und volljährig würde sie erst in drei Jahren werden, an ihrem 21. Geburtstag. Ob Mutti sich Sorgen machte, konnte sie nicht einmal mit Gewissheit sagen. Wenn die ihren Kirschlikör hatte, dann war das auch schon alles was sie brauchte. Und Karl würde bestenfalls wütend sein, dass ihm sein „kleines Mädchen“ abhandengekommen war.

Mit nackten Füßen lief Luise ins Wohnzimmer und schaltete das Radiogerät ein. Fast hätte sie ihre Lieblingsmusiksendung verpasst. Gerade trällerte Siw Malmquist ihren aktuellen Hit „Liebeskummer lohnt sich nicht“. Luise drehte den Ton lauter und tanzte nackt ins Schlafzimmer. Nachdem sie sich ein Handtuch um den Kopf geschlungen, und sich einen frischen Slip und den blauweißen Ringelpulli übergestreift hatte, gab im Wohnzimmer Cliff Richard die musikalische Empfehlung „Rote Lippen soll man küssen“.

Draußen war es schon dunkel geworden. Der Oktoberabend war kühl und klar. Von der luxuriösen Dachgeschosswohnung in der Bredeneyer Straße hatte man bei Tag einen guten Blick auf die gegenüber liegenden Felder. Vor dem Haus fuhren Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern vorbei. Luises wandte sich vom Fenster ab, und ihr Blick fiel auf das breite Doppelbett mit den seidenen, dunkelblauen Bezügen. Wie sehr sie jetzt Gerd vermisste! Er hatte sie zur Frau gemacht, endlich richtig zur Frau. Gerd arbeitete bei einer großen Bank, war dort offensichtlich ein hohes Tier und sehr erfolgreich. Irgendetwas mit Wertpapieren, sie verstand ja nichts von solchen Dingen. Sie bewunderte ihn, weil er so klug war. Luise spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihrem Schoß einstellte und fasste sich unwillkürlich dort an. Mit einem Seufzer ließ sie sich aufs Bett fallen und zog die Knie an. Wenn Gerd jetzt hier wäre, würde sie ihn mit Küssen überschütten und ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Im Wohnzimmer beteuerten jetzt die Beatles „I want to hold your hand“. Elastisch sprang sie wieder vom Bett auf. Sei nicht so gierig Lois! schimpfte sie lautlos mit sich selbst. Du wirst es wohl erwarten können! Lois Lane war die Freundin von Superman aus dem gleichnamigen amerikanischen Comic, den sie früher eine Zeitlang regelmäßig gelesen hatte. Ein bisschen so fühlte sie sich – wie die Freundin von Superman.

Ihr Superman hatte wieder einmal nach Frankfurt fahren müssen. Leider musste er sehr oft verreisen und war auch abends häufig außer Haus. In Frankfurt waren die Zentralen der meisten Banken, ebenso wie die Börse.

Davon verstehst du nichts Baby, sagte er immer mit seinem gewinnenden Lächeln, wenn sie ihn nach seiner Arbeit fragte, aber die Geschäftspartner erwarten, dass ich mich persönlich kümmere.

Lieber wäre sie Tag und Nacht mit ihm zusammen gewesen, aber sie verstand auch, dass er das Geld für die tolle Wohnung und das Auto irgendwie verdienen musste. Gerd trug teure Anzüge, Maßhemden und eine goldene Uhr. Er konnte es sich leisten, morgens oft lange zu schlafen und ging manchmal erst am Nachmittag zur Arbeit.

Luise schraubte sich in der Küche die Wasserflasche auf und trank ein paar Schlucke daraus. Dann schaltete sie im Wohnzimmer das Radio aus und verhinderte damit, dass Drafi Deutscher sein „Shake hands“ zu Gehör brachte. Im Badezimmer putzte sie sich die Zähne. Anschließend warf sie sich wieder aufs Bett und zog sich die nachtblaue Seide bis zum Kinn. Leise die Melodie I want to hold your hand summend drückte sie ihr Gesicht in Gerds Kopfkissen und dachte daran wie sie sich kennengelernt hatten.

Eines Tages, als es zuhause wieder einmal unerträglich geworden war, war sie verzweifelt aus dem Elternhaus geflohen und ziellos durch die Straßen der Stadt gelaufen. So hatte Luise, viel zu dünn bekleidet mit ihrem Faltenrock und der kurzen, ungefütterten Jacke aus Kunstleder, die Essener Innenstadt erreicht. Sie hatte Gerd, der zufällig aus dem Café Overbeck in der Nähe des Hauptbahnhofes geschlendert kam, fast umgerannt. Der hatte überrascht gelacht, sie angesprochen und gefragt, ob er ihr helfen könne. Luise war völlig verheult gewesen und er war ihr, obwohl gänzlich fremd, durch ihren Tränenschleier hindurch erschienen wie der edle Ritter in der silbernen Rüstung. Gerd hatte sie in eine Bar eingeladen, ihre Tränen mit seinem Taschentuch getrocknet und war einfach umwerfend gewesen. Er hatte ihr viele Fragen gestellt, hatte Verständnis für sie gehabt und dabei ihre Hände gehalten bis sie sich beruhigt hatte.

Mit Gerd konnte sie über wirklich alles sprechen was sie beschäftigte. Zum Beispiel über ihre Mutter, eine mollige und warmherzige Frau, die sie sehr liebte und mit der sie ein inniges Verhältnis gehabt hatte, bis der Vater viel zu früh an Lungenkrebs gestorben war und Mutti sich dem Seelentröster Alkohol an den Hals geworfen hatte. Die Sache mit dem Likör war dann zwar für kurze Zeit etwas besser geworden, als die Mutti Karl kennengelernt hatte, aber nur für ein paar Monate. Dann hatte sie sich mehr und mehr abgeschottet, war kaum noch ansprechbar gewesen und hatte ganze Tage im Dämmerzustand auf dem Sofa oder im Bett verbracht.

Selbst über Karl hatte Luise mit Gerd reden können, und über die unaussprechlichen Dinge, die zuhause passiert waren. Gerd hatte entrüstet reagiert. Er meinte, sie müsse da unbedingt weg, und er würde sich schon um sie kümmern. Seitdem hatte sich alles für Luise um hundertachtzig Grad zum Besseren gewendet.

Luise lag unter der blauen Seidendecke, hatte die Augen geschlossen und ihr Atem wurde regelmäßig und flach. Die Lippen hatte sie leicht geöffnet.

3.

Musst keine Angst haben, Kleines.

Das Plakat an der Wand mit dem lachenden Peter Kraus und der Gitarre in seinen Händen war im spärlichen Licht der Straßenlaterne, das durch das kleine Dachfenster fiel, nur zu erahnen. Das Kinderzimmer im Dachgeschoss war recht klein und Luise lag seit über einer Stunde wach im Bett. Die Decke hatte sie bis zum Kinn hochgezogen, und ihr Blick fixierte die gelbliche Raute, die von der Laterne vor dem Haus an ihre Zimmerdecke geworfen wurde. Sie hatte es wie so oft beim Zubettgehen seinem Blick angesehen. Da war dieser feuchte Glanz in seinen Augen gewesen und dieser Zug um die Mundwinkel, den sie so fürchtete. Es war Freitag – Badetag. Seine Blicke waren ihr gefolgt, als sie ins Badezimmer gegangen war, nachdem sie mit ihm allein schweigend zu Abend gegessen hatte. Mutter hatte an dem Tag schon seit dem Mittag im Bett gelegen. Luise hatte sich selbst ein heißes Bad eingelassen und sich sehr viel Zeit damit gelassen. Als sie dann mit dem Nachthemd bekleidet aus dem Badezimmer gekommen war, um ins Bett zu gehen, war da dieser gefürchtete Blick gewesen.

„Gute Nacht Engelchen“, hatte Karl freundlich gesagt. „Nacht Karl“ hatte sie mit brüchiger Stimme geantwortet. Dann war sie die Treppen hinaufgestiegen, hatte sich in ihr Bett gelegt und lag nun dort wach, ohne Hoffnung auf einen erlösenden Schlaf. Es war lange still im Haus, während sich ihre Nerven im Alarmzustand befanden und ihre Augen ziellos die Zimmerdecke absuchten. Irgendwann begann sie zu hoffen, dass sie sich dieses Mal geirrt hatte, dass es dieses Mal nur falscher Alarm gewesen war, als sie im Untergeschoss das Knarren der Dielen hörte. Kurz darauf hörte sie leise Schritte auf der Holztreppe bis vor ihre Tür. Dann Stille. Luise starrte auf die Tür und hielt, ohne es zu wissen so lange die Luft an bis das Zimmer begann, vor ihren Augen zu verschwimmen. Der Türöffner wurde nach unten gedrückt und dann fiel schwaches Licht aus der Diele in ihr Zimmer. Davor trat der Umriss von Karl ins Blickfeld.

„Hallo Engelchen“, raunte er heiser. Sie wollte es unterdrücken, trotzdem füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Kleines“, flüsterte er, als er sich dem Bett näherte.

Karl war ein hagerer Mann Mitte der Fünfziger, relativ groß, mit kleinen Ohren und einer großen Nase. Darunter trug er einen Schnauzbart, der die Oberlippe vollständig verdeckte. Die graumelierten Haare waren an der Stirn schon stark zurückgewichen. Alles in Allem war Karl kein hässlicher Mann, wenn auch sein Lächeln Luise vom ersten Tag an abgestoßen hatte.

Die Sprungfedern quietschten leise, als er sich auf den Rand des Bettes setzte. Er begann, die Bettdecke von ihrem Körper zu ziehen. „Pssst“, zischte er leise, als sie ungewollt einen Seufzer ausstieß. „Musst keine Angst haben, Kleines, bist doch mein Engelchen“, wisperte er mit hörbarer Erregung in der Stimme, „du weißt doch wie lieb ich dich hab.“ Seine Hände legten sich auf ihre kleinen knospenden Brüste und streichelten sie durch den Stoff ihres Nachthemdes. Luise lag wie erstarrt. Oft schon hatte sie das ertragen müssen. Karl grinste sie frech an. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln. War es Blut? Ja, auf einmal war es Blut, das da aus beiden Mundwinkeln auf ihr weißes gestärktes Laken tropfte. Auch seine Augen leuchteten mit einem Mal rot und tauchten das ganze Zimmer in ein unwirkliches Höllenlicht. Er öffnete einen riesigen Mund und entblößte ein Gebiss mit gewaltigen spitzen Reißzähnen. Tief aus seiner Kehle drang ein dumpfes Gurgeln, das anschwoll und zu einem lauten Klirren wurde, wie das Rasseln von Ketten, das Klingeln eines Telefons.

Luise schlug die Augen auf. Durch die Vorhänge des Schlafzimmerfensters drang das erste Licht der Morgendämmerung herein. Sie fühlte sich benommen. Eilig sprang sie aus dem Bett. Das Telefon klingelte noch immer. Es hing an der Wand in der Diele. Das musste Gerd sein. Die Bedrängnis des Traumes war verschwunden. Nach wenigen Schritten nahm sie den Hörer ab und rief hinein: „Hallo?“

„Baby.“ Es war Gerds Stimme, männlich markant und trotzdem zärtlich. „Entschuldige, ich hab dich geweckt.“ „Das macht nichts Liebling. Wo bist du?“ „Ich bin in zwei Stunden da. Bringe zwei gute Geschäftsfreunde mit. Mach dich zurecht, zieh dir was Hübsches an. Die beiden sind wichtig für mich. Wir wollen einen guten Eindruck machen.“ „Ja Liebling, klar, ich freu mich.“

Luise war verwirrt, zum Teil noch von dem beängstigenden Traum und weil Gerd noch nie Besuch mitgebracht hatte, solange sie bei ihm wohnte. Sie war nervös. „Baby, wir frühstücken hier noch im Hotel und kommen dann rüber. Gib dir Mühe, ich liebe dich.“ Gerd klang fröhlich und wie ein großer Junge. Schon hatte er aufgelegt. Luise stand noch eine Weile mit dem Hörer in der Hand und war sehr verliebt.

4.

Chivas Regal

Zum Frühstücken war sie zu aufgeregt obwohl der große Kühlschrank mit frischen Leckereien vom Feinkosthändler gefüllt war. Sie trank lediglich ein kaltes Glas Orangensaft, bevor sie sich im Bad das Gesicht wusch und die Zähne putzte.

Gerd war mit Luise in die besten Fachgeschäfte für Damenoberbekleidung gegangen und hatte für sie Kleider, Schuhe und Handtaschen gekauft. Sie selbst hatte sich gar nicht so besonders gut darin ausgekannt, was die Dame von heute so trug, und so hatte sie sich weitgehend auf Gerds Geschmack verlassen. Besonders auf schöne Unterwäsche in weiß oder schwarz hatte er Wert gelegt. Abends war er mit ihr in seinem leuchtend roten 64er Ford Mustang mit dem V8-Motor und weißen Sitzbezügen, den er brandneu über das Autohaus Dehner aus den USA hatte importieren lassen, in die Stadt gefahren und sie hatten die besten Lokale von Essen und Düsseldorf besucht. Das Parkhaus Hügel war Gerds Lieblingslokal, wo er auch oft Geschäftsfreunde traf. Später waren sie dann in Nachtclubs eingekehrt. Gerd kannte hier sehr viele Leute, auch die Kellner und Tänzerinnen. Meistens wurde reichlich Sekt getrunken. Gerd trug immer ein Bündel aus Geldscheinen in seiner Jacketttasche und sparte nicht mit Trinkgeldern. Unbehagen bereitete es ihr zwar, wenn die grell geschminkten Damen mit ihren tiefen Dekolletés ihren Gerd mit einem Küsschen begrüßten, aber es machte sie auch stolz, dass dieser Mann sich für sie entschieden hatte und nur sie allein liebte, sie, die sich eigentlich im Vergleich zu den meisten anderen Frauen hier, als eher unscheinbar empfand.

"Du bist meine Prinzessin“, pflegte Gerd manchmal zu sagen. Er küsste dann ihre Hand und blickte sie von unten herauf an, dass ihr schwindelig wurde.

Inzwischen war es neun Uhr am Morgen. Luise hatte sich in Sachen Kleidung schwer entscheiden können. Zuerst hatte sie es mit dem schmal geschnittenen Hosenanzug probiert, der ihr jedoch zu streng vorgekommen war. Den elastischen Rollkragenpulli, der ihre Formen allzu deutlich betonte, und dazu den Minirock, den letzten Schrei aus London, hatte sie wiederum zu gewagt gefunden für Gerds Geschäftspartner. Also hatte Luise sich für die hellbeige ärmellose Bluse mit dem Reißverschluss im Nacken und den dunkelblauen Faltenrock entschieden, der leicht die Knie umspielte. Die Haare hatte sie, wie sie es tagsüber oft tat, am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden, wobei auf beiden Seiten vor ihren Ohren ungebändigte Strähnen herabhingen. Dazu hatte sie schwarze Seidenstrümpfe ausgewählt. Gerd gefielen Strümpfe besser als Strumpfhosen. Und der Grund dafür war sehr praktischer Natur, wie sie sehr bald und zum beiderseitigen Vergnügen herausgefunden hatte. Zufrieden betrachtete sie im Spiegel das Gesamtergebnis inklusive blauem Lidschatten und blutrotem Lippenstift. Auf schwarzen Schuhen mit hohen Absätzen klapperte sie über den Parkettboden zum Wohnzimmerfenster, und schaute auf die Straße hinaus.

Dieser Teil der Bredeneyer Straße und die nähere Umgebung war eine reine Wohngegend, in der die wohlhabenden Essener Familien unter sich waren. Draußen war relativ wenig Verkehr und die Felder gegenüber waren von einer Schicht aus Raureif bedeckt. Bald müssten die Männer kommen. Luise war gespannt und nervös, wen Gerd da wohl anschleppte. Die besseren Kreise, in denen Gerd verkehrte, war sie aus ihrem bisherigen Leben nicht gewohnt. Ihr verstorbener Vater Wilhelm und ihre Mutter Martha waren zwar Eigentümer des alten Einfamilienhauses in Altendorf gewesen, und Karl, der nach Papas Tod bei ihnen eingezogen war, besaß ein Mehrfamilienhaus in Borbeck mit einem kleinen Lebensmittelgeschäft im Erdgeschoss, dass ihm, zusätzlich zu seinem Gehalt als Versandsachbearbeiter bei der Goldschmidt AG, regelmäßige und auskömmliche Mieteinnahmen sicherte. Trotzdem wurde daheim, solange sie denken konnte, auf die Mark geschaut und jeglicher Luxus war verpönt. Beide, Karl und Luises Mutter hatten den Krieg und die schwierige Nachkriegszeit erlebt. Karl, der vor dem Krieg in der Verwaltung bei Krupp gearbeitet hatte, war vor achtzehn Jahren aus französischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen.

Luises Vater hatte nach dem Krieg zuerst als Hauer, und später als Bergelektriker unter Tage gearbeitet, war aber früh an Lungenkrebs verstorben. Als er Martha kurz nach dem Krieg kennen gelernt hatte, war diese als Haushaltshilfe bei Doktor Zürn in Schonnebeck angestellt gewesen. Schon vor der Hochzeit war sie mit Luise schwanger geworden und seitdem ausschließlich Hausfrau und Mutter gewesen.

Luise hatte die Gardine zur Seite gezogen und konnte sehen, wie Gerds Mustang die Straße entlang gefahren kam. Das Verdeck hatte er wegen der morgendlichen Kühle geschlossen. Direkt hinter dem Mustang folgte eine schwarze Mercedeslimousine. Luise fühlte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Beide Fahrzeuge wurden auf den mit Kies bestreuten Stellplätzen vor dem Haus geparkt. Gerd sprang aus dem Mustang und warf Luise eine Kusshand herauf zum Fenster. Sie winkte freudig zurück. Er trug zu seiner marineblauen Clubjacke ein blauweißes Halstuch und eine cremefarbene Hose.

Wie froh sie immer wieder war, wenn sie diesen Mann sah!

Aus den geöffneten Türen des Mercedes stiegen zwei Männer, offenbar beide wie Gerd Mitte bis Ende Dreißig. Gerd zeigte mit dem Finger zum Fenster, an dem Luise noch stand, und die beiden grinsten freundlich herauf. Luise eilte unsicher auf ihren hohen Absätzen zur Wohnungstür. Gerd hatte unten schon aufgeschlossen und lief die Treppe hinauf zu ihr, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Sie flog im Hausflur in seine Arme, er hob sie kurz vom Boden hoch und sie küsste ihn auf Mund und beide Wangen. Die beiden Besucher folgten langsamer und alle gingen zusammen in die Wohnung.

„Das sind Peter und Wolle“, erklärte Gerd und wies auf seine beiden Besucher, „gute Freunde und Geschäftspartner.“ Peter war schlank wie Gerd, trug eine schwarze Lederjacke und eine Sonnenbrille, die er sich mangels Sonne auf den Kopf gesetzt hatte. „Wolle“ hingegen war relativ dick, trug einen schwarzen Pullover und eine weite schwarze Anzugjacke darüber. Besonders fielen Luise die großen goldenen Ringe auf, die er an beiden Händen trug.

Luise begrüßte beide freundlich mit einem Händedruck. Die Männer musterten sie anerkennend.

„Ne hübsche Forelle haste dir da geangelt“, bemerkte Peter zu Gerd. Der Ton gefiel Luise überhaupt nicht, aber Gerd ergriff lachend ihre Hand, hob diese hoch und brachte sie dazu, sich in einer Pirouette einmal um sich selbst zu drehen.

„Macht´s euch bequem Leute“, schlug Gerd aufgeräumt vor und die beiden Männer ließen sich in die schweren braunen Plüschsessel fallen. „Wolles“ Sessel ächzte dabei gequält auf. „Whisky?“ „Klar!“

„Machst du uns vier von dem Chivas, Baby?“ Gerds Frage klang wie eine Bestellung, fast wie ein Befehl. Luise aber machte das nichts aus. Für Gerd wäre sie aus Liebe zu Fuß bis ans Ende der Welt gelaufen. Die drei Männer beobachteten sie schweigend, wie sie zum Barfach ging, welches in die Schrankwand eingebaut war, und vier Whiskygläser jeweils etwa zu einem Drittel mit dem 12 Jahre alten Destillat befüllte. Dann ging sie kurz in die Küche, sorgte für eine Schale mit Eis und stellte alles zusammen auf den ovalen Mahagonitisch. Auf diesen hatte Peter auch inzwischen seine Füße gelegt, die in teuren italienischen Schuhen steckten.

„Komm her Baby“, forderte Gerd Luise auf und zog sie auf seinen Schoß. „Auf uns!“ Alle ergriffen ihre Gläser, nur „Wolle“ hatte seinen Whisky mit Eis versetzt, Gerd fasste mit der linken Hand Luises Hintern und stieß mit seinem Glas in der rechten mit ihr an. Die Männer nahmen einen kräftigen Schluck, Luise einen etwas kleineren, der jedoch trotzdem bewirkte, dass ihr spontan Tränen in die Augen traten. Das warme Gefühl, das ihre Speiseröhre hinab lief, tat jedoch gut.

„So, ihr entschuldigt uns dann ´n Augenblick“, sprach Gerd die beiden anderen an, „schenkt euch gerne ein, wir sind bald wieder da.“ Er schob Luise von seinem Schoß, stand auf und zog sie hinter sich her ins Schlafzimmer. Hinter ihnen schloss er die Tür und bedeutete ihr, sich aufs Bett zu setzen. Luise sah ihn erstaunt mit großen Augen an und setzte sich.

„Pass auf, Baby“. Gerd machte ein ernstes Gesicht und setzte sich neben sie. „Peter und Wolle sind Freunde. Sie sind aber auch knallharte Geschäftsleute. Und sie sind sehr wichtig für mich. Verstehst du?“ Luise sah ihn ernst und verständig an. Er fuhr fort: „Ich muss investieren, viel Geld, für die Zukunft, unser, beider Zukunft.“ Er nahm ihre beiden Hände.

„Ich brauche deine Hilfe Baby. Mein Geld steckt in einem großen Börsengeschäft. Wenn die beiden nicht mit investieren, platzt das Geschäft und wir sind arm. Verstehst du das?“ Gerds blaue Augen fixierten die ihren, schienen sie hypnotisch zu bannen. Luise nickte langsam und kaum merklich. Sie war beunruhigt und wusste nicht warum.

„Sie sind fast entschieden, aber zögern noch“, führte Gerd aus. „Wir müssen sie behandeln wie rohe Eier, das ist so im Geschäftsleben. Wir müssen nett zu ihnen sein, sehr nett. Du musst auch nett zu ihnen sein.“

Luise nickte immer noch, obwohl sie kein Wort verstand. „Ja Gerd“, flüsterte sie kaum hörbar.

„Baby“, sprach er weiter, „du hast mit mir ein schönes Leben, du hast teure Kleider und Schmuck. Ich liebe dich, das weißt du.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Aber jetzt musst Du was für mich tun, verstehst du?“ Seine Stimme war weniger sanft geworden, härter und drängender. Luise erstarrte, begann tief in ihrem Inneren zu ahnen, zu begreifen. Sie sah ein undefiniertes Unheil auf sich zukommen.

„Wenn du tust was ich sage, sind wir aus allem raus, dann haben wir es geschafft, dann führst du ein Leben wie eine Königin. Vertraust du mir?“

„Ja Gerd“, wiederholte sie noch leiser. Was hatte Gerd nicht alles für sie getan. War es nicht wirklich an der Zeit, dass sie sich revanchierte, etwas für ihn opferte? Aber er sagt, dass er mich liebt und dann verlangt er…

„Nur einmal Baby, wirklich nur einmal“, flüsterte er eindringlich. Schließ die Augen und denk an was Schönes. Dann ist schon alles schnell wieder vorbei.“ Luise kämpfte gegen aufkommende Tränen an, zum Glück mit Erfolg. „Gerd, du liebst mich, und dann willst du, dass ich mit diesen Männern…“, brach es aus ihr heraus. Den Satz zu Ende zu bringen, brachte sie nicht über die Lippen.

„Es muss sein, leider“, seufzte er, wobei er sich etwas zurücklehnte, sein Gesicht von ihrem entfernte. Es drückte ehrliches Bedauern aus. Sein Blick war offen und liebevoll. „Wenn es einen anderen Weg gäbe, ich würde dich nicht bitten. Vertrau mir bitte, Baby.“ Luise sah in seine blauen Augen mit den langen Wimpern, sah seine vollen Lippen, die so weich waren und so gut küssen konnten. Sie würde ihm ihre Hilfe nicht verweigern können.

Bereitwillig folgte sie seiner Bitte, zog sich Rock und Bluse aus und stand dann nur mit schwarzer Unterwäsche, Strümpfen und Schuhen bekleidet im Schlafzimmer. Gerd hatte sie schon oft so gesehen. Ihre anfängliche Scham ihm gegenüber hatte sie schnell verloren. Das machte ihr inzwischen nichts mehr aus. Aber dieses Mal empfand sie es anders. Sie fühlte sich verletzlich und zur Schau gestellt, und sie fror plötzlich. Gerd stand vom Bett auf, nahm sie wortlos an der Hand, öffnete die Tür und führte sie ins Wohnzimmer zurück. Luise hatte den Blick zum Boden gewandt und ließ die Arme hängen. Gerd küsste sie aufmunternd auf den Hals und gab ihr einen Klaps auf den Po. „Viel Spaß“, flüsterte er ihr zu „genieß es einfach“. Sein Augenzwinkern zu Peter und „Wolle“ konnte sie dabei nicht sehen.

„Komm Kleine, lass uns deine Titten sehen“, feixte Peter. „Na los“, flüsterte Gerd ihr mit Verschwörerstimme ins Ohr. Er öffnete den Verschluss Ihres Büstenhalters, schob die Träger von ihren Schultern und ließ ihn zu Boden fallen. Dann schob er sie zu Peter, der immer noch auf dem Sessel saß. Dieser zog sie zu sich auf den Schoß, drückte ihr seinen Mund auf die Lippen und drängte seine Zunge dazwischen während er grob ihre rechte Brust in die Hand nahm und drückte. Luise nahm ihre Umgebung wie durch einen Nebel wahr. Sie bemerkte nicht, wie Gerd den Raum verließ. Ihr Gehirn hatte aufgehört zu denken. Sie spürte die fremde Zunge in ihrem Mund und den leichten Schmerz, als dieser Peter ihre Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger zusammenpresste. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass „Wolle“ herangekommen war und nun ihre andere Brust massierte. Peter indessen ließ seine Finger über ihren Rücken nach unten auf ihre Pobacken wandern und rückte sie auf seinem Schoß zurecht, wo sie deutlich seine Erregung spüren konnte.

Luise hatte die Augen geschlossen und hoffte, dass es bald vorbei sein würde. Sie leistete keinen Widerstand, als beide Männer sie zum Sofa trugen, ihr den Schlüpfer auszogen und sie abwechselnd mit Küssen bedrängten.

Dann war Peter in sie eingedrungen. Zuerst langsam und vorsichtig, dann immer heftiger und brutaler. Die Schmerzen im Unterleib waren erträglich, aber das zu einem wollüstigen Grinsen verzerrte Gesicht des Mannes, der seine Finger in ihre Brüste krallte, widerte sie an. Dann nahm sie wahr, wie „Wolle“ seitlich an sie herantrat. Mit heruntergelassener Hose stand er dicht vor ihrem Gesicht. Grinsend sah er zu ihr herunter und sagte leise und im Tonfall eines verführerischen Mephisto: „Na los, Mädchen, lass es dir schmecken.“ Luise drehte ihr Gesicht weg. Peter umklammerte ihre Handgelenke. Der andere Kerl riss ihren Kopf an den Haaren herum. Das letzte, an das sie sich später bewusst erinnern konnte, war der Ekel, als dieser „Wolle“ ihr sein Ding in den Mund schob. Sie hatte sich übergeben müssen, was die Männer aber nicht veranlasst hatte, von ihr abzulassen.

Luise hatte danach kaum noch mitbekommen, dass die Kerle ihre Positionen getauscht und sie auf den Bauch gedreht hatten. Irgendwann waren wie aus der Ferne Sätze an Ihre Ohren gedrungen wie „Na also Kleine, fürs erste Mal doch gar nicht so übel“ oder „Wenn sie erst einmal zugeritten sind, macht´s ihnen auch Spaß.“ In ihrem Kopf war ein hohles Rauschen gewesen, so als befände sie sich unter Wasser. Dann war es endgültig schwarz um sie herum geworden.

5.

Nur für ein paar Wochen.

Sie lag in seinen Armen. Das war das erste, was Luise bemerkte, als sie zu sich kam. Sie waren allein und lagen beide nackt im Bett. Es war noch heller Tag. Draußen regnete es in Strömen.

„Danke, Baby“, flüsterte Gerd und streichelte ihr über das Haar. „Du musst jetzt für eine Weile nach Frankfurt, hörst du?“ fügte er hinzu. Sofort war Luise wieder im wachen Alarmzustand. „Wolle und Peter haben da eine große Firma, da musst du für ein paar Wochen arbeiten, Baby. Nur ein paar Wochen, dann machen wir es uns hier richtig schön. Sie nehmen dich morgen früh mit, okay?“

Sie sprang spontan vom Bett auf und rannte ins Badezimmer. Im Spiegel sah sie, dass das Makeup um ihre Augen und ihr Lippenstift grotesk verschmiert waren. Ihr Spiegelbild erschien ihr wie das Antlitz eines irren Clowns, der sie höhnisch angrinste. Mechanisch schminkte sie sich ab. Dann setzte sie sich aufs Klo. Es brannte beim Pinkeln. Verdammt, dachte sie bei sich, verdammt. Dann brach sie unvermittelt in Tränen aus.

„Komm ins Bett, Baby“, hörte sie von nebenan Gerds ungeduldige Stimme. Sie tupfte sich ab, wusch sich die Hände, löschte das Licht und legte sich neben Gerd ins Bett aber von ihm abgewandt. Der rückte an sie heran und legte sich hinter sie. Seine Hände umfassten sie und sein Becken drängte sich von hinten an ihres. Sie schob seine Hände weg. Er ließ nicht locker. Sie stieß ihn von sich weg und fauchte: „Lass mich in Ruhe!“ Seine Griffe wurden grober. „Ich will nicht!“ schrie sie ihn an. Dann vergewaltigte er sie.

Danach, er war kurz nach seinem Erguss eingeschlafen, saß sie lange aufrecht und reglos auf der Bettkante. Ihre Füße fühlten sich auf dem glatten Parkett an wie zwei Eisklumpen. Draußen wurde es langsam dunkel. Im Zimmer war es kühl und sie hatte eine Gänsehaut. Mit starrem Gesicht und mit Augen, die, ohne zu blinzeln, einen imaginären Punkt irgendwo zwischen der Wanduhr und der Kristallvase auf dem Sekretär fixierten, saß sie unbeweglich da, während seine Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln trocknete. In ihrem Kopf wirbelte ein Strudel. Sehr langsam ordneten sich ihre Gedanken, reifte ihr Entschluss, während gleichzeitig die Kälte von ihren Füßen langsam aufwärts kroch, bis sie ihr Herz erreichte.

6.

Da muss eine alte Frau lange für stricken.

Der Nachtportier hatte sie forschend von oben bis unten gemustert. Er hatte schon zu viele unterschiedliche Typen von Gästen ein- und wieder auschecken sehen, als dass er sich noch viele Gedanken über sie machte. Trotzdem hatte er sich über die junge Frau gewundert, die um vier Uhr in der Nacht an seinem Tresen aufgetaucht war und nach einem Einzelzimmer gefragt hatte. Ein Großteil seiner Kundschaft waren Vertreter, die ihre Geschäfte für eine oder zwei Nächte nach Essen verschlugen oder Nutten, die hierher ihre Freier mitbrachten und nach einer oder zwei Stunden schon wieder verschwanden. Aber diese Frau war anders. Sie hatte dunkle Haare, streng zu einem Knoten zusammengebunden, und trug einen offensichtlich ebenso echten wie kostspieligen Pelzmantel. Er tippte auf Nerz. Auch die braunen Stiefel und der Reisekoffer, beides aus hochwertigem Leder, sahen nicht gerade aus wie vom Wühltisch. Die Frau hatte ein hübsches Gesicht und war geschminkt wie ein Filmstar, nicht gerade dezent, aber auch nicht zu grell. Ihr Blick war offen und freundlich, mit einem leicht spöttischen Zug um die Mundwinkel, so als wäre sie es gewohnt, dass man ihren Wünschen nachkommt. Und so, als würde sie mit selbstverständlicher, angeborener Noblesse auf ihre Mitmenschen herabsehen können, selbst wenn diese von größerem Wuchs waren als sie. Die junge Frau wäre sicherlich besser im Hotel Handelshof aufgehoben gewesen, kaum mehr als dreihundert Meter von hier entfernt, als in diesem einfachen Garni. Wie auch immer, sie hatte Zimmer 8 im zweiten Stock mit Blick auf die Straße bekommen, und er hatte ihr, entgegen seiner eigentlichen Gewohnheit, sogar den Koffer hinaufgetragen, der eigentlich viel zu schwer für sie schien.

Luise packte ihre Sachen aus. Noch hatte sie keine Ahnung, ob sie morgen schon wieder das Hotel verlassen würde, um zu Karl und Martha zurückzukehren, oder ob sie sich dazu entschließen würde, hier für längere Zeit zu logieren. Geld spielte keine Rolle. Sie hatte in Gerds Wohnung noch in der Nacht lange geduscht, sich eingecremt und geschminkt. Sie hatte in aller Ruhe Ihren Koffer gepackt und das Geldbündel aus der Kommode genommen, das Gerd dort immer aufbewahrte. Sie hatte es kurz durchgezählt, es waren rund sechzehntausend Mark gewesen. Da muss eine alte Frau lange für stricken – der Lieblingsspruch ihrer ehemaligen Handarbeitslehrerin war ihr in den Sinn gekommen. Sie hatte still vor sich hin lächeln müssen als sie an Fräulein Steinberg dachte.

Gerd hatte regungslos auf dem Bett gelegen, obwohl sie alle Lampen in der Wohnung eingeschaltet hatte und nicht gerade leise gewesen war. Gerd hatte sie nicht gestört. Dazu war er nicht mehr in der Lage gewesen. Er würde nie mehr jemanden bei irgendetwas stören.

Nachdem sie ihre besten Kleider, Wäsche, Schuhe, den Schmuck und natürlich das Geld im Koffer verstaut hatte, war sie aus der Wohnung getreten, hatte abgeschlossen und die Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Dann war sie auf die Straße gegangen. Der Koffer war viel zu schwer für sie gewesen, aber sie war eine ganze Weile damit die Straße entlanggelaufen, bis ein Taxi, ein schwarzer Mercedes, direkt neben ihr angehalten hatte. Mit diesem war sie dann in die Innenstadt gefahren.

Eigentlich war Luise ganz zufrieden mit der Situation. Sie zog den Vorhang zur Seite und sah hinunter auf die Kettwiger Straße. Tagsüber war das hier eine belebte Einkaufsmeile, jetzt in der Nacht war alles wie ausgestorben. Nicht einmal späte Zecher, die schwankend ihren Weg nach Hause suchten, waren zu sehen.

Luise zog sich aus, ging ins Bad und machte sich bettfein. Morgen würde sie spazieren gehen, sich vielleicht in ein Café setzen, vielleicht sogar ins Café Overbeck, schauen ob sie bekannte Gesichter entdeckte und in Ruhe überlegen, ob sie überhaupt noch mal in die Altendorfer Straße zurückgehen sollte. In jedem Fall wusste sie, dass sie Karl ab jetzt anders gegenübertreten würde. Dieses elende Schwein würde sich sicher noch wundern über sein neues „Engelchen“.

Gleich am nächsten Tag fanden zwei Streifenpolizisten etwa gegen Mittag in Essen-Bredeney den aktenkundigen Zuhälter Gerd B. auf dem Rücken liegend auf seinem Bett vor. Er war vollständig nackt, kalkweiß, seine Arme waren ausgestreckt wie die, des gekreuzigten Christus, sein Glied lag schlaff auf seinem linken Oberschenkel und in seiner Brust steckte zu fast zwei Dritteln ein großes Küchenmesser mit schwarz lackiertem Holzgriff. Die Matratze war komplett von seinem Blut durchtränkt.

Nachbarn hatten die Polizei alarmiert, weil sie die Wohnungstür aufgebrochen vorgefunden hatten, nachdem sich am Morgen zwei Männer im Hausflur zu schaffen gemacht hatten. Von den Männern fehlte jede Spur.

Die Obduktion am Abend desselben Tages ergab allerdings, dass der Tod schon in der Nacht zwischen ein und zwei Uhr eingetreten sein musste.

7.

Mandy hat Neuigkeiten.

Fünfzehntausend Euro hatte er anzulegen. Keine Aktien, keine Derivate, kein Risiko, aber trotzdem die größtmögliche Rendite. Komischerweise wollten sie das alle. Normalerweise wäre das eine Sache von zehn Minuten gewesen, aber seit es der Gesetzgeber vorgeschrieben hatte, für jedes Anlagegeschäft ein Beratungsprotokoll von der Stärke einer Enzyklopädie zu erstellen, war die Sache äußerst zeitintensiv geworden.

Eigentlich war das Bankfach für Sebastian Stalter nicht die übelste Option für seinen beruflichen Werdegang. Er hatte schon immer gut mit Zahlen umgehen können, war in seinem Wesen gewissenhaft und hatte gute Umgangsformen. Allerdings ermangelte es ihm sowohl am nötigen Ehrgeiz, als auch am Talent, seine durchaus gute Arbeit bei Vorgesetzten ins rechte Licht zu setzen. Daher sah er mit seinen siebenunddreißig Lenzen auch in nächster Zeit kaum eine Chance, beruflich weiter zu kommen. Was ihn jedoch nicht sonderlich störte, denn die Arbeit in der kleinen Rüttenscheider Filiale gefiel ihm ganz gut, und die geringe Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz war auch nicht zu verachten. Im Gegensatz zum Klischee eines Bankers war er irgendwie ein Freigeist geblieben. Er las gerne Krimis und Sciencefiction, ging ins Theater, liebte Rockkonzerte und Museumsbesuche mit seiner Frau Mandy. Der typische Dresscode in der Bank, dunkler Anzug, ebensolche Krawatte, weißes Oberhemd und der ordentliche Fassonschnitt war für ihn immer Verkleidung geblieben, derer er sich nach Feierabend so schnell als möglich entledigte.

Der Kunde ihm gegenüber beantwortete geduldig Fragen nach seiner Risikobereitschaft bei Geldanlagen auf einer Skala zwischen eins und fünf. Der Fragenkatalog war im Detail sehr umfangreich und schließlich einigte man sich auf das Anlagepaket Vermögensmanagement Substanz Plus, bei dem das Kapital nach einem bewährten Schlüssel auf nationale und internationale Anleihen, Immobilienfondanteile sowie zu einem geringen Prozentsatz in DAX-Papieren und als sicher geltenden Auslandsaktien gestreut wurde. Alles in Allem eine relativ sichere Sache. In den letzten Jahren hatte der Fondmanager das Paket nie unter einem Renditewert von drei Prozent abgeschlossen, die Delle nach unten während der Finanzkrise 2008 einmal ausgeklammert. Der Kunde hatte ungefähr dreißigtausend Euro geerbt und wollte die Hälfte verjubeln (vermutlich Pauschalreise, Flachbildschirm, Auto, was man so braucht) und die andere Hälfte suchte er mit möglichst großer Rendite anlegen. Gesagt – getan.

Sebastian bedankte sich bei seinem Kunden, wobei er ihm die Unterlagen säuberlich in einem bankeigenen Ordner zusammenheftete. Der Kunde hatte erstaunlich oft genickt, aber der Bankberater war sich sicher, dass er kaum die Hälfte seines Vortrages verstanden hatte.

Nach einem Händedruck trat der Kunde mit dem Hefter unter dem Arm den Rückzug an, mit dem guten Gefühl, etwas Richtiges getan zu haben. Es war schon fast 17.30 Uhr, und damit hatte es sich wieder einmal gezeigt, dass man keine Chance hatte, hier jemals pünktlich raus zu kommen.

Sebastian Stalter warf einen Blick hinüber zu Cleos Schreibtisch. Die junge Kollegin hatte sich verbissen in ihre Unterlagen vertieft und würdigte ihn keines Blickes, obwohl sie eben noch Sebastians Kunden, als dieser ihren Tisch passierte, mit einem hollywoodreifen Lächeln beglückt hatte. Cleo war gewohnheitsmäßig schlecht gelaunt, weil Sebastian ihre Avancen heroisch überging. Auch als sie ihm während seines Beratungsgespräches missmutig das fehlende Merkblatt auf den Schreibtisch gelegt hatte und dann in ihrem engen dunkelblauen Bankeroutfit - die Figur war aber auch wirklich nicht von schlechten Eltern - zurück zu ihrem Arbeitsplatz stolziert war, hatte er so getan, als würde er ihre schlechte Stimmung nicht bemerken. Cleos Augen schienen fähig zu sein, vergiftete Pfeile zu verschießen.

Für Sebastian kam so etwas nicht in Frage. Nicht die langen Beine, nicht die Wespentaille und nicht die langen blonden Haare, die Cleo in einem Pferdeschwanz bis weit auf den Rücken fielen.

Er liebte Mandy über alles. Vor ungefähr fünf Jahren hatte er die junge Frau aus Erfurt in der Villa Au in Velbert-Langenberg geheiratet. Es war möglicherweise Liebe auf den ersten, ganz sicher aber mindestens auf den zweiten Blick gewesen. Der Sohn Julian war dieser Heirat zuvorgekommen, damals vor sechs Jahren noch nicht unbedingt geplant aber im Nachhinein absolut willkommen.

Sebastian Stalter schloss alle Programme, fuhr seinen PC herunter und packte seine Umhängetasche. Er freute sich auf zuhause. Nach all der Zeit war es immer noch ein schönes Gefühl nachhause zu kommen und Mandy zu sehen. Er stand auf und fragte Cleo, ob Sie nicht auch fertig sei. Sie müsse noch irgendetwas Dringendes faxen, murmelte sie vor sich hin. So eine hübsche Person sollte eigentlich mindestens eine Handvoll Verehrer haben, wunderte sich Sebastian. Selbst ihre finstere Miene kleidete sie gut. Wie auch immer. „Tschüss dann bis morgen“, rief er freundlich und verließ die Filiale. Die schwarze Tasche hatte er sich um die Schulter gehängt.