Endstation Siegfriedplatz - Lisa Glauche - E-Book

Endstation Siegfriedplatz E-Book

Lisa Glauche

5,0

  • Herausgeber: Pendragon
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Nach einem sensationellen Sieg der Arminia sitzt Bröker zufrieden auf dem Siegfriedplatz bei einem großen Glas Weizen und genießt den Spätsommer. Doch die lauschige Stimmung wird jäh unterbrochen. Eine in Tränen aufgelöste Mutter vertraut dem wildfremden Bröker ihr Baby an und verschwindet. Als Bröker erfährt, dass der Vater des kleinen Julian ermordet wurde, regt sich der detektivische Spürsinn des eigentlich so gemütlichen Privatiers. Und schon steckt der Mr. Marple von der Sparrenburg wieder mittendrin in einem spannenden Kriminalfall. Bröker im Einsatz: eigenwillig und mit Humor löst er auch seinen neuen Fall!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 362

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (16 Bewertungen)
16
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Glauche · Matthias Löwe Endstation Siegfriedplatz

Als Bröker sich an einem Samstagnachmittag nach einem siegreichen DFB-Pokalspiel der Arminia in Hochstimmung befindet, ahnt er noch nicht, welch dramatischen Verlauf der Tag nehmen wird. Mit sich und der Welt zufrieden sitzt der gemütliche Privatier bei einem großen Glas Weizen im Biergarten auf dem Siegfriedplatz, als ihm plötzlich eine in Tränen aufgelöste Mutter ihr Kleinkind anvertraut. Auch Stunden später ist sie noch nicht zurück und Bröker nimmt den kleinen Julian mit nach Hause. Dort kümmert er sich mithilfe seiner Journalisten-Freundin Charly und seines rebellischen Mitbewohners Gregor um ihn, bis die Mutter doch noch auftaucht. Bröker erfährt, dass der Vater des Kleinen ermordet wurde und die Mutter Drohbriefe erhält. Dadurch wird nicht nur sein detektivischer Spürsinn geweckt, sondern auch sein bekanntermaßen großes Herz gerührt. Er bietet den beiden in seiner kleinen Stadtvilla Unterschlupf und schon nimmt für den Mr. Marple von der Sparrenburg ein neuer Fall seinen Lauf.

Lisa Glauche • Matthias Löwe

END

STATION

SIEGFRIEDPLATZ

PENDRAGON

Kapitel 1Auf ein Neues

„Bielefeld, Bielefeld, Bielefeld!“, schallte es noch lautstark durch die Stadionreihen der Bielefelder Alm, als Bröker sich in den Zuschauerstrom schob, der Richtung Ausgang drängte. Weiter vorne in der Schlange nahm eine Gruppe von Fans den Schlachtruf auf.

„Bielefeld, Bielefeld, Bielefeld!“, echote es von dort zurück. Bröker spürte, wie ihn ein heißes Gefühl durchströmte. Er atmete so tief ein, dass sich sein Stefan-Kuntz-Trikot, das er vor mehr als 15 Jahren erstanden hatte, eng über Brust und Bauch spannte. Ein kehliger Laut stieg tief aus seinem Inneren nach oben und einem Urschrei gleich entlud sich die Spannung, mit der er 90 Minuten lang mitgefiebert hatte.

„Bielefeld, Bielefeld, Bielefeld!“, fiel er in das Triumphgeheul der Fans ein. Einen Moment lang vergaß er alles und jeden um sich herum, den heißen Sommertag, seinen Durst, auch seinen Hunger. Ja, er vergaß sogar, sich selbst zu beobachten. Zusammen mit dem Chor aus Stimmen, die ihn umgaben, schrie er sich in einen Rausch. „Bielefeld, Bielefeld, Bielefeld!“

Endlich, endlich war es wieder so weit. Die Arminia war der fußballerischen Bedeutungslosigkeit, in die sie in Brökers schlaflosen Nächten abzurutschen drohte, entstiegen. 2:1 hatte man in der ersten Runde des DFB-Pokals gesiegt, 2:1 – gegen einen Bundesligisten. So konnte das Fußballjahr beginnen!

Als Bröker im Pulk in die Melanchthonstraße einbog, sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizisten zu ihm herüberblicken. Er kniff die Augen zusammen und erkannte einen ihm wohlbekannten Schnauzbart. Hatte er es doch geahnt, das war sein Freund Mütze, der, obwohl schon vor Jahren zum Kommissar aufgestiegen, noch immer bei den Heimspielen der Arminia Dienst tat. Und das, obschon er vorgab, getreuer Anhänger des VfL Bochum zu sein, dem Verein seiner Heimatstadt. Bröker winkte Mütze begeistert zu, brach jedoch seinen Schlachtgesang ab. Auch wenn Mütze und er schon so manches Spiel in der Wunderbar begossen hatten, ein wenig genierte er sich doch, dass ihn sein Polizistenfreund bei derartigen Begeisterungsstürmen sah.

Ach was, dachte er dann und schüttelte seine Scham ab. Vermutlich würde Mütze ebenso jubeln, wenn der VfL Bochum mal wieder einen Bundesligisten schlüge. Der aber hatte am Tag zuvor zwar auch gewonnen, 3:1 sogar, aber nur gegen einen Oberligisten. Das kam ja beinahe einer Niederlage gleich! Dennoch beschloss Bröker auf weitere Jubelschreie zu verzichten und schob sich zusammen mit den Massen in Richtung Oetkerhalle. Dabei wischte er sich mit seinem Trikot den Schweiß von der Stirn. Heiß war es an diesem Augustnachmittag. Die Spieler hatten sogar eine Trinkpause vom Schiedsrichter verordnet bekommen. Und die vielen Menschen sorgten auch nicht gerade für Abkühlung.

Als er in den Schacht der Stadtbahn hinabstieg, roch es nach Schweiß, Bier und dem öligen Geruch, der U-Bahn-Tunneln unvermeidlich anzuhaften scheint. Unter der Erde schraubten sich die Schlachtrufe des Pulks in die Höhe und wurden nun außerdem tatkräftig von den mitgeführten Drucklufthupen begleitet. Die Akustik der Haltestelle lud dazu regelrecht ein.

„Schalalala, schalalala, heeey DSC!“, hallte das Echo ohrenbetäubend von den Wänden wider, als der Zug der Linie 4 einfuhr. Bröker schätzte, dass mehr als 100 Menschen versuchten, sich in die Waggons der Stadtbahn zu drängen. Er wusste selbst nicht, wie er unter diejenigen geriet, die es ins Wageninnere schafften. Die Freude darüber dauerte jedoch nicht lange an. Wurde er doch von der Masse der anderen Fahrgäste derart zusammengedrückt, dass er kaum Luft bekam. Das lag natürlich auch daran, dass sein Körper nicht gerade wenig Platz verbrauchte. Eigentlich müsste so jemand wie er zwei Fahrkarten kaufen, befand er tadelnd, und wünschte den Tag herbei, an dem die 100-Kilo-Marke wieder in Sicht wäre. Doch weiter kam Bröker mit seinen selbstkritischen Betrachtungen nicht. Der Zug bremste so abrupt, dass die Insassen mit einiger Wucht nach vorne geschleudert wurden. Während er sich Mühe gab, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, gestand er sich zufrieden ein, dass ein kleines Bäuchlein durchaus auch seine Vorteile hatte. Aufgrund seines natürlichen Airbags war ihm nichts passiert.

Kurz hatte der plötzliche Halt das Gehupe und die Fangesänge zum Erliegen gebracht. Doch just als Bröker eine Durchsage zu vernehmen meinte, hoben die Anhänger schon wieder an zu singen: „Oohohoho, Oohohohoho Forza DSC!“, schallte es lautstark durch den Waggon. Bröker konnte nur Wortfetzen der Durchsage verstehen. „Außerplanmäßiger …“, sagte die Stimme. Und dann: „Verlassen … äußerste Vorsicht … Personal …“

Bröker blickte sich fragend um. Was wurde von den Fahrgästen erwartet? Doch niemanden der anderen Insassen schien das zu interessieren. Sie ließen sich in ihrer Feierlaune nicht bremsen und begannen munter hin und her zu schunkeln.

„Bielefeld, Bielefeld, Bielefeld!“, donnerte es schon wieder, als sei man nicht in einem Waggon der Stadtbahn gefangen, sondern noch immer im Stadion, und Bröker schien es, als begänne der Wagen zu wackeln. Ihm war nicht mehr nach Singen zumute. Er fühlte sich mulmig. Am Ende kippte der Waggon noch um. Was, wenn dann eine Panik ausbrach? Und hatte die Ansage nicht etwas von äußerster Vorsicht gesagt? Bröker schwitzte und schloss die Augen. Hoffentlich nahm das hier einen guten Ausgang.

In diesem Moment öffneten sich die Türen der Stadtbahn mit einem lauten Zischen. Im Dunkel des Tunnels stand ein Angestellter von moBiel mit einer Stabtaschenlampe, vermutlich der Fahrer der Bahn.

„Bitte steigen Sie aus und bewahren Sie Ruhe!“, forderte er die Fahrgäste auf. „Und dann folgen Sie bitte meinem Kollegen zur Haltestelle Siegfriedplatz.“

Zu Brökers Erstaunen leistete der Pulk den Anweisungen widerspruchslos Folge. In einem langen Gänsemarsch zogen die Fans durch den U-Bahn-Tunnel zu besagtem Platz, der kaum 200 Meter entfernt lag – ohne allerdings die Gesänge zu unterbrechen. Und schon bald antworteten vom Siegfriedplatz aus andere Fanchöre auf die Schlachtrufe aus dem Tunnel. Ja, als der kleine Trupp die Haltestelle erreicht hatte, sah Bröker, dass dort sogar Anhänger der Arminia auf den Gleisen tanzten. Das also war der Grund für den abrupten Stopp des Zugs gewesen: Die Fans der Arminia waren über den unerwarteten Sieg so aus dem Häuschen geraten, dass sie den Schienenverkehr lahmgelegt hatten.

Bröker drängte sich durch die Menschenmassen und nahm die stillstehende Rolltreppe hinauf ins Freie. Erleichtert atmete er auf. Vor ihm lag der Siegfriedplatz. Er mochte diesen belebten Fleck im Bielefelder Westen seit jeher, aber heute, da er in die Farben der Arminia und des Sommers getaucht war, schien er ihm besonders schön. In den Biergärten drängten sich Gäste, denen man ansah, dass sie wie Bröker noch kurz zuvor im Stadion gewesen waren. Und wer auf den Bänken keinen Platz mehr gefunden hatte, ließ sich einfach auf dem Pflaster nieder. In der Mitte saßen ein paar Jugendliche mit Gitarren und setzten ihre Musik den allmählich abebbenden Bielefeld-Rufen entgegen.

Ja, es war schön hier. Und wenn ihn der außerplanmäßige Stopp der Stadtbahn schon auf diesem Platz ausgespien hatte, so konnte er die Gelegenheit doch nutzen und die sommerliche Atmosphäre einsaugen. Vielleicht kam ja auch noch Mütze vorbei! So manches Mal hatten sie sich in den vergangenen 20 Jahren nach einem Heimspiel der Arminia zusammengesetzt. Zu dumm, dass Bröker mal wieder vergessen hatte, sein Telefon aufzuladen, und seinen Freund daher nicht anrufen konnte.

Aber ein Bier wäre nun trotzdem nicht verkehrt, entschied er. Und ein kleiner Happen zu essen auch nicht. Das Frühstück, das er vor dem Pokalspiel eingenommen hatte, war zwar gewohnt opulent gewesen – Lachs, Rührei, alter Gouda – aber es war eben auch schon wieder fünf Stunden her und in der Halbzeitpause hatte er nur zwei kleine Bratwürstchen vertilgt. Versonnen strich sich Bröker über den Bauch und schaute sich um. Ob vielleicht in einer der Lokalitäten doch noch ein Plätzchen für ihn frei war? Und tatsächlich, als habe er ihm den mentalen Befehl dazu erteilt, erhob sich in diesem Moment ein Pärchen in dem Biergarten, der dank der vor ihm postierten alten Straßenbahn den Namen Supertram trug. In einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, und noch bevor das Pärchen wirklich aufgebrochen war, drängte Bröker sich auf den frei gewordenen Platz auf der Bierbank. Nur um gleich darauf festzustellen, dass es unmöglich war, gleichzeitig den soeben eroberten Sitzplatz zu sichern und eine Bestellung an dem Straßenbahnwagen aufzugeben.

Unruhig blickte er umher. Nicht wenige der Umstehenden schienen auf eine frei werdende Sitzgelegenheit zu spekulieren. Einfach aufstehen und die vielleicht 15 Meter zu der so originell untergebrachten Theke gehen, konnte er also nicht. Eine Jacke, die man auf der Bierbank deponieren konnte, hatte er bei der Hitze natürlich auch nicht dabei. Kurz erwog er, sein schweißnasses Trikot vom Leib zu streifen, um damit sein Anrecht auf den Sitzplatz zu markieren. Er musste sich aber eingestehen, dass vermutlich nur sehr wenige Menschen auf dem Siegfriedplatz gesteigerten Wert darauf legten, einen unverhüllten Blick auf seine Basstrommel zu erhalten. Andererseits hätte er dann vielleicht sogar gänzlich freie Platzwahl. Schließlich gab sich Bröker einen Ruck und stupste seinen Sitznachbarn an. Dieser war jedoch so in eine Unterhaltung mit drei Blondinen vertieft, dass er zunächst nicht reagierte. Bröker stupste noch einmal.

„Ja, was denn?“ Sein Nebenmann wandte sich ihm ungehalten zu. Bröker schaute ihn verlegen an.

„Könnten Sie, ich meine, würden Sie vielleicht kurz ein Auge auf meinen Platz haben? Ich muss mir noch was bestellen und sonst ist er weg.“ Es fiel Bröker nicht leicht, um etwas zu bitten, aber noch schwerer fiel es ihm gerade, auf das Bier zu verzichten, das er schon kühl seine Kehle hinabrinnen spürte.

„Ja, geht in Ordnung“, brummte der Mann und wendete sich wieder seinen Bekanntschaften zu. Bröker hätte maximal die dritten Zähne seiner verstorbenen Mutter darauf verwettet, dass der Mann im Notfall wirklich seinen Platz verteidigen würde. Trotzdem begab er sich in Richtung des alten Straßenbahnwaggons. Immer wieder drehte er sich zu seiner Bank um, während er darauf wartete, dass die Reihe an ihm war, eine Bestellung aufzugeben. Aber anscheinend waren die meisten, die auf eine Sitzgelegenheit warteten, genügsam genug, ihm den Platz zu überlassen. Nur einmal sprang sein Sitznachbar tatsächlich ein und verteidigte Brökers Recht. Innerlich bat dieser ihn um Verzeihung.

„Was kann ich Ihnen Gutes tun, junger Mann?“ Bröker war derart mit der Bewachung seiner Ansprüche beschäftigt, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie die Bedienung inzwischen auf seine Bestellung wartete. Ein kurzer Blick auf sein Gegenüber bestätigte ihm, dass es sich bei der jungen Frau vermutlich um eine Studentin handelte und die Anrede „junger Mann“ pure Ironie gewesen war.

„Ich hätte gerne ein helles Hefeweizen“, orderte Bröker.

Die Frau nickte.

„Ach, und dann würde ich gerne noch eine Kleinigkeit essen.“

„Aber gerne doch! Da hätten wir eine Portion eingelegte Oliven, Kartoffelspalten mit Knoblauchdip oder Aioli mit Brot“, bot die Bedienung routiniert an. Bröker verzog enttäuscht das Gesicht.

„So klein muss die Kleinigkeit nun auch wieder nicht sein“, monierte er.

„Ach, Sie wollen etwas Richtiges essen“, lachte die Frau. „Sagen Sie das doch gleich! Sie können natürlich auch die Gerichte unserer normalen Speisekarte hier draußen bekommen!“

Bröker überlegte kurz. „Haben Sie vielleicht ein schönes Steak, am besten englisch, damit das Fleisch richtig zu schmecken ist, und dazu Kartoffeln und Salat?“

Die Bedienung lächelte. „Ein Filetsteak – wenn es auch Pommes frites statt der Kartoffeln sein dürfen.“

Bröker nickte und zahlte. Zufrieden griff er sich sein Bier. Das Problem seines längst aufgekeimten Hungers schien also gelöst. Als er jedoch zu seinem Platz sah, verfinsterte sich seine Miene. Genau vor dem Platz, auf dem er eben noch gesessen hatte, war eine schwarzhaarige, etwa 30-jährige Frau stehen geblieben. Schlimmer noch: Wenn sie beschließen sollte, sich niederzulassen, würde er sie nicht so einfach vertreiben können, denn in einer Art Rucksack trug sie ein kleines Kind vor dem Bauch, das offensichtlich mit etwas unzufrieden war. Gegenwärtig war die Frau noch damit beschäftigt, ihr Kind zu beruhigen, aber sie konnte sich jeden Moment hinsetzen. Eilig drängte sich Bröker deshalb an der Frau vorbei, ließ sich nieder und bereitete sich innerlich darauf vor, einen bissigen Kommentar an sich abprallen zu lassen. Er würde sich diesen Sommertag mit einem Sieg der Arminia über einen Bundesligisten nicht vermiesen lassen. Doch die befürchtete Schelte blieb aus. Anscheinend hatte die Frau sich gar nicht hinsetzen wollen, sondern war nur stehen geblieben, um nach ihrem Kind zu sehen. Umso besser, befand Bröker und entspannte sich wieder. Gänzlich versöhnt war er, als wenig später sein Teller mit wunderbar zartem Fleisch darauf kam. Er gedachte noch einmal seiner Arminia, nahm einen tiefen Schluck Bier, kaute genussvoll und prostete genüsslich der allmählich tiefer stehenden Sonne zu. Auf ein Neues!

Kapitel 2Vater werden ist nicht schwer

Erst als Bröker die ersten Bissen seines ansehnlichen Steaks verzehrt hatte, war er in der Lage, seine Aufmerksamkeit zwischen der Mahlzeit und etwas anderem zu teilen. Auch wenn er immer noch zwei von drei Blicken liebevoll auf das Fleisch vor ihm richtete, so konnte er doch nicht länger übersehen, dass seine mutmaßliche Platzkonkurrentin sichtbare Schwierigkeiten hatte, ihr Kind zu beruhigen. Obwohl sie es inzwischen aus seiner Trage befreit hatte und ihm gut zuredete, schrie es wie am Spieß. Die Mutter schien den Tränen nah. Vielleicht hat sie das Kind ja entführt, kam es Bröker in den Sinn. Doch im selben Moment musste er schon innerlich über seine Vermutung lachen. Manchmal fragte er sich, ob es ihm wirklich gutgetan hatte, dass er begonnen hatte, sich in die Ermittlungsarbeit der Polizei einzumischen. Seine Fantasie jedenfalls schien seitdem das eine oder andere Mal mit ihm durchzugehen. Versonnen schüttelte er den Kopf und sah auf seinen Teller. Dort lag vereinsamt nur noch ein letztes Stückchen Fleisch. Genüsslich schob er es sich mit der Gabel in den Mund und spülte mit einem kräftigen Schluck Weizen nach. Mit einem tiefen Seufzer beendete er sein Mahl. Das hatte gutgetan!

Der Frau mit dem Kind jedoch ging es weniger gut. Auch wenn das Kind noch sehr klein war – Bröker hatte bei so kleinen Würmern stets Mühe zu schätzen, ob sie ein halbes Jahr alt waren oder schon ein ganzes oder vielleicht doch erst eben geboren – spürte es doch, dass seine Mutter ihm gerade nicht geben konnte, wonach es begehrte. Es schrie nicht nur herzzerreißend, sondern strampelte dazu mit den Beinen und ruckte mit seinem inzwischen krebsroten Köpfchen hin und her.

Schließlich bekam Bröker Mitleid mit dem kleinen Wesen. Wenn er auch keinerlei Erfahrung mit Kindern hatte, so konnte er sich doch sehr gut in ihre Welt hineinversetzen, in der alles entweder ganz und gar oder eben ganz und gar nicht in Ordnung war. Dazwischen gab es auch für Bröker nicht viel. Als das rote Köpfchen sich wieder in seine Richtung drehte, winkte Bröker ihm mit den Händen hinter den Ohren zu. Und tatsächlich weiteten sich die Augen des Kindes und es unterbrach sein Schreien. Bröker stutzte. Sein Vorhaben schien wirklich geklappt zu haben. Aber was nun? Vielleicht sollte er mit dem Kleinen sprechen. Doch wie sprach man mit so einem Winzling? Bröker räusperte sich.

„Buuutzi-butzi-butzi-butzi“, versuchte er sich und blubberte dazu mit den Lippen. Doch diesmal verfehlten seine Versuche ihre Wirkung, mochten sie auch noch so beherzt sein. Das Kind verzog skeptisch das Gesicht und schien bereit, einen neuen Schrei auszustoßen. Bröker gratulierte dem kleinen Wesen innerlich zu seiner Reaktion. Es hatte Recht. Diese idiotische Babysprache! Dass jemand noch nicht sprechen konnte, bedeutete ja nicht, dass er auch nichts verstand. Und wenn das Kind etwas von dem verstanden hatte, was Bröker gerade „gesagt“ hatte, war seine Abneigung nur allzu verständlich.

Das hieß aber auch: Eine andere Lösung musste her und zwar schnell. Es musste doch noch etwas anderes außer debilen Lautäußerungen geben, das man zu einem kleinen Kind sagen konnte. Ach, beschloss er, Reden wurde sowieso überschätzt! Das hatte schließlich auch schon einer der hellsten Sprachphilosophen befunden. Kurzerhand nickte er dem Kind fröhlich zu und stellte sich sein Bierglas auf den Kopf. Die Augen des Kindes weiteten sich erneut. Es holte Luft und Bröker kniff die Augen zusammen. Doch anstelle des erwarteten Schreis ertönte ein gurgelndes Lachen. Vorsichtig öffnete Bröker die Augen wieder. Tatsächlich, das Kind hampelte im Arm seiner Mutter vergnügt auf und ab und quietschte dazu. Angespornt durch diese positive Reaktion stellte Bröker nun auch noch seinen Teller auf das Bierglas. Hoffentlich kennt mich hier keiner, schoss es ihm dabei durch den Kopf. Unangenehm, wenn in diesem Moment etwa Mütze über den Siegfriedplatz spazierte. Dem Kind aber gefielen Brökers Einfälle. Es kreischte nun so begeistert auf, dass auch seine Mutter auf Brökers Treiben aufmerksam wurde. Sie lachte und war sichtlich erleichtert.

„Danke, Sie haben mir gerade wirklich geholfen. Sie haben wohl auch Kinder?“

„Ich? Nein, Gott bewahre!“, entfuhr es Bröker, wobei er schnell mit einer Hand den Teller auf seinem Kopf festhielt. Er wurde rot, als ihm klar wurde, dass diese Bemerkung gegenüber einer jungen Mutter wohl eher unpassend war. „Also, ich meine: Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte“, korrigierte er sich schnell.

Die Frau musste wieder lachen.

Gottverdammt, dachte Bröker und stellte endgültig Glas und Teller wieder auf den Tisch.

„Also, ich lebe allein“, versuchte er sich zu verbessern. Doch dann fiel ihm ein, dass dies ja auch nicht ganz der Wahrheit entsprach. „Um genau zu sein, nicht allein, aber eben mit keiner Frau“, korrigierte er daher erneut, „sondern mit einem guten Freund von mir am Sparrenberg.“

„Sie wohnen am Sparrenberg?“ Die Frau sah ihn prüfend an.

„Genau da“, nickte Bröker.

Noch immer schien die Frau ihn zweifelnd zu mustern.

„Sagen Sie, kenne ich Sie vielleicht?“, fragte sie dann plötzlich mit einem Lächeln und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Dabei wurde ein Feuermal auf ihrer linken Wange sichtbar, das, wie Bröker fand, aussah wie ein geschlossener Regenschirm.

Erneut wurde Bröker rot. Er hatte natürlich schon gehört, dass dieser Satz eine beliebte, wenn auch nicht gerade originelle Art war, durch die Männer und Frauen miteinander ins Gespräch kamen. Er selbst allerdings war noch nie auf diese Weise mit jemandem bekannt geworden.

„Ich … ich wüsste nicht, woher“, stotterte er verunsichert. Wie sollte er der Frau nur klar machen, dass sich sein Interesse an jungen Müttern in Grenzen hielt? „Ich … also ich bin Bröker!“, stellte er sich dann kurz entschlossen vor und reichte der Frau vom Biertisch aus die Hand.

„Und wir sind Judith und Julian“, antwortete diese und ihre Skepsis schien nun verflogen. „Aber noch mal zu eben. Also verstehen Sie … versteh mich nicht falsch“, wechselte sie zum Du. Bröker nickte. „Ich dachte gerade nur, ob ich nicht vielleicht schon mal etwas von dir gehört oder vielmehr über dich gelesen habe. Bist du nicht so eine Art Detektiv? Genau, jetzt weiß ich es wieder, der Mr. Marple von der Sparrenburg!“

Bröker atmete erleichtert auf. Darum ging es also. Ja, unter diesem Spitznamen hatte ihn Charly, eine befreundete Journalistin, die er schon seit Studienzeiten kannte, nach seinem ersten Fall bekannt gemacht. Und seine Popularität war nach der Aufklärung des zweiten Falles vor gut anderthalb Jahren sogar noch gestiegen. Bröker kam damit nicht sonderlich gut zurecht, es war ihm peinlich, auf der Straße angesprochen zu werden.

„Es kann schon sein, dass du mal etwas über mich gelesen hast“, gab er leicht beschämt zu. „Aber das ist ja schon eine Weile her.“ Um über seine Verlegenheit hinwegzutäuschen, wandte er sich noch einmal dem Kind zu.

„Und du bist also der kleine Julian!“ Das Kind lächelte ihn an.

Seine Mutter jedoch ließ sich nicht ablenken.

„Also, wenn du wirklich dieser Detektiv bist …“, begann sie das vorherige Thema wieder aufzugreifen.

„Ach was, ich bin doch kein Detektiv“, widersprach Bröker vielleicht etwas heftiger, als es notwendig gewesen wäre. „Ich bin irgendwie in die Fälle hineinge rutscht. Einmal ist mein Nachbar ermordet worden und ein zweites Mal war ich zufällig anwesend, als eine Leiche entdeckt wurde. Und beide Male hatte ich bloß ziemliches Glück, dass ich zur Aufklärung beitragen konnte.“

Dass da noch etwas mehr war, so dass selbst Mütze ihm schon einmal gesagt hatte, er wisse zwar nicht genau, wie Bröker das hinbekomme, aber anscheinend habe dieser die Gabe, in manchen Augenblicken genau das Richtige zu tun, obwohl es genau nach dem Gegenteil aussähe, verschwieg er. Wenn er das laut ausspräche, so fühlte er, könnte er es nicht mehr glauben.

„Jedenfalls“, unterbrach die Frau Brökers Gedanken, „könnte ich gerade wirklich gut so jemanden wie dich gebrauchen.“ Sie seufzte hörbar.

„Worum geht es denn?“, fragte Bröker vorsichtig interessiert nach. Die ersten Male, die er nach dem Lösen der Mordfälle von wildfremden Menschen um Hilfe gebeten worden war, hatte er noch offener reagiert. Doch meist hatte sich dann herausgestellt, dass nur ihr Hund oder ihre Katze fortgelaufen war und sie besser einen Kammerjäger oder Veterinär gefragt hätten, auf jeden Fall aber jemanden, der deutlich besser laufen und klettern konnte als Bröker.

„Nun ja“, begann sie und blickte sich unsicher um, als könnten die folgenden Worte den falschen Menschen zu Ohren kommen. „Vor ein paar Tagen ist mein Mann umgebracht worden.“

Bröker schaute Judith entgeistert an. „Was?“, brachte er bloß heraus.

Doch bevor Judith ausführlicher werden konnte, klingelte ihr Mobiltelefon. Sie zögerte einen Moment, doch dann drückte sie dem verdutzten Bröker einfach Julian auf den Schoß und zog ihr Handy hervor.

„Ja, Linnenbrügger?“

Bröker konnte dabei zusehen, wie sich Judiths Gesicht durch die Worte am anderen Ende der Leitung in Sekundenschnelle verfinsterte.

„Was? Das glaube ich einfach nicht“, rief sie dann aufgebracht. Vermutlich ohne es zu bemerken, lenkte sie ihre Schritte von Bröker weg in Richtung einer Gruppe feiernder Arminenfans. Dort würde sie vielleicht reden können, ohne gehört zu werden, aber dafür auch nichts verstehen können, dachte Bröker. Dann spürte er, wie ihm etwas auf den Bauch klopfte. Der Täter war schnell gefunden und schaute ihn von seinen Knien aus vergnügt an.

„Hey, das sieht vielleicht aus wie eine Trommel, aber es ist keine!“, protestierte Bröker lachend. Doch Julian sah das anders und machte munter weiter mit seiner kleinen Musikstunde, bis Judith aufgelöst an Brökers Tisch zurückkehrte.

„Alles in Ordnung?“, fragte dieser, um das Gespräch wieder aufzunehmen. Die junge Mutter schüttelte den Kopf.

„Nein, nichts ist in Ordnung“, sagte sie, „überhaupt nichts!“

„Kann ich helfen?“, fragte Bröker, da er nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen. Niedergeschlagen schüttelte Judith den Kopf. „Ich brauche nur einen Moment, um wieder klarzusehen.“ Dann schien ihr wirklich ein Gedanke zu kommen.

„Willst du wirklich helfen?“, fragte sie.

„Ja!“, antwortete Bröker.

„Okay, es gäbe schon etwas, was du für mich tun könntest“, eröffnete sie ihm. „Es ist wegen des Anrufs eben.“

Bröker nickte.

„Ich müsste kurz weg. Aber ich kann Julian nicht mitnehmen. Und ich habe jetzt so schnell niemanden, der auf ihn aufpassen könnte. Könntest du, ich meine, würdest du vielleicht?“

Bröker schluckte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Mit einem Mal erschien es ihm geradezu eine Verlockung, eine hysterische Katze von einem Baum zu retten.

„Aber …“, begann er leise zu stottern. Dann aber fand er, dass er sein Angebot zu helfen nun auch schlecht zurückziehen konnte. „Ja gut, ich pass auf den Kleinen auf“, stimmte er daher zu. „Aber ich sage gleich, ich habe wenig Erfahrung mit Kindern …“

„Ach, das klappt schon!“, zeigte sich Judith optimistisch. „Ihr seid doch bis jetzt prima miteinander ausgekommen. Und es ist nur für ganz kurz. Geh einfach mit ihm zu dir nach Hause. Wenn er quengelt, gibst du ihm ein bisschen Tee.“ Sie kramte ein Fläschchen aus ihrer Tasche hervor. „Und hier ist auch noch ein Schnuller. Den habe ich vorhin so verzweifelt gesucht.“

Bröker, dem die ganze Situation surreal vorkam, nickte nur.

„Am besten schnallst du ihn dir vor den Bauch wie ich“, fuhr Judith fort.

Na, das wird aussehen, dachte Bröker, blieb aber weiterhin stumm. Ungeschickt wand er sich durch die Halterungen des Babyrucksacks. Erst beim dritten Anlauf war alles in der richtigen Position, da sämtliche Gurte der Tragehilfe auf Brökers Körperumfang, das hieß auf die maximal mögliche Länge eingestellt werden mussten.

Verlegen sah Judith Bröker an. „Du hältst mich jetzt sicher für eine schlechte Mutter. Oder zumindest für ein bisschen verrückt. Aber ich erkläre es dir nachher. Und ich bin natürlich so schnell wie möglich zurück.“

Bröker nickte.

Schnell notierte Judith noch ihre Adresse und Handynummer auf einem Zettel und ließ sich im Gegenzug Brökers geben. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und eilte über den Platz davon. Bröker setzte sich wieder und sah ihr nach. Julian schien das Verschwinden seiner Mutter nicht zu stören. Erwartungsvoll sah er Bröker an, was nun geschehen würde. Doch der hätte das nur allzu gern selbst gewusst.

Kapitel 3Vater sein dagegen

Zur Stärkung leerte Bröker deshalb erst einmal den Rest seines Bierglases in einem Zug. Sogleich fühlte er sich schon etwas mutiger. Doch dass dieser Zustand nie lange anhielt, dafür sorgten Menschen wie die Passantin, die nun an Brökers Tisch vorbeikam und seine soeben gefundene innere Harmonie mit einem spitzen Entsetzensschrei störte, noch bevor er sein Glas wieder abgestellt hatte.

„Sagen Sie, schämen Sie sich denn gar nicht, vor dem Kind zu trinken?“, schimpfte sie ohne Vorwarnung. Bröker blickte sich um. Nein, es war weit und breit niemand anderes zu sehen, der gemeint sein könnte. Die Frau sprach mit ihm. Zögernd blickte er sie an. Konnte es sein, dass es neuerdings Eltern verboten war, im Beisein ihrer Kinder Alkohol zu trinken? Nein, das war zu absurd. Die Frau schien einfach nur eine strikte Alkoholgegnerin zu sein. Ein Wunder, dass sie sich zu dieser Jahreszeit überhaupt auf den Siegfriedplatz traute.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!