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England, 1864: Im viktorianischen London werden immer wieder Kinder vermisst, die Kinder der Ärmsten. Der Schatten holt sie, sagen die Leute. Die Polizei unternimmt nichts. Auch nicht, als der neugeborene Bruder von Gladys verschwindet. Dann verschwindet der Sohn eines Lords und diesmal wird die Polizei aktiv. Das vorlaute Küchenmädchen Emma gerät in Verdacht und muss fliehen. In den Straßen von London trifft sie Gladys. Keine traut der anderen. Doch als auch der zweite Sohn des Lords vermisst wird und die Polizei alle Schuld bei Emma sucht, müssen sie sich zusammenraufen. Nur gemeinsam können sie den Schatten besiegen und das Kind retten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
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Seitenzahl: 308
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Engel der Themse
Ein viktorianischer Krimi
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Engel der Themse
Epilog
Impressum
Baker Street Bibliothek
Lesetipp
London, November 1864
Die alte Frau kämpfte sich durch den Nebel. Der Wind zerrte an ihren Röcken und jeder Schritt schmerzte, als würden ihre Knochen mit einer stumpfen Klinge abgeschabt. Die Stimme kam aus dem Nichts. Einen Augenblick verschloss sich die Frau gegen die unwiderstehliche Süße. Sie wollte die Stimme nicht hören. Nicht heute. Sie wollte nur noch nach Hause, ihre klammen Röcke am Feuer trocknen und schlafen. Aber sie wusste, es gab kein Entkommen, wenn der Engel der Themse rief. Lauschend hielt sie inne, schaute sich um – vergeblich.
»Wo?«, murmelte sie und der Engel öffnete ihre altersmüden Augen.
Im flackernden Licht einer Öllaterne drängten sich zwei Kinder in einen der schmalen Durchgänge zwischen zwei Häusern. Der Junge warf in schnellem Rhythmus seine Schirmmütze in die Luft und fing sie wieder auf. Neben ihm hockte ein Mädchen. Sie war in eine Decke gehüllt, nur ihr herzförmiges Gesicht war zu sehen.
»Ich hab Hunger, hab ich.« Die Stimme des Jungen hallte durch die Gasse.
»Halt die Klappe!«, antwortete das Mädchen.
Ihre Stimme klang so müde, wie die Frau sich fühlte. Mitleid mit dem unbekannten Kind brannte sich wie ein Schürhaken in ihr Herz. Doch warum rief der Engel sie? Die beiden waren zu alt, sie konnte ihnen nicht helfen.
In diesem Moment streckte das Mädchen mit einem leisen Schmerzenslaut ein Bein aus. Dabei öffnete sich ihr Umhang und für die Dauer eines Atemzuges sah die Frau das Baby und verschmolz mit den Schatten.
»Sie hat gesagt, sie kommt gleich wieder, hat sie«, jammerte der Junge.
»Halt die Klappe!« Das Mädchen hustete und spuckte vor seine Füße.
Trocken Brot macht Wangen rot, dachte die Frau. Erst husten sie, dann spucken sie Blut und dann welken sie dahin.
»Ich geh rein. Soll ich?« Wie milchig trübes Wasser waberte der Nebel um die dünnen Beine des Jungen.
»Traust dich doch nicht.«
»Vielleicht, wenn du das Baby wecken tust?«
»Sie wird’s nicht hören.«
»Auch nicht mit den Titten?« Der Junge setzte sich die Mütze auf den Kopf.
»Red keinen Quatsch!«, sagte das Mädchen. »Kein Mensch hört mit den Titten.«
»Woher willst du das wissen?«, begehrte der Junge auf. »Du hast doch keine. Autsch!« Die Ohrfeige des Mädchens hatte ihm die Mütze vom Kopf gefegt. Er bückte sich danach und sein Kopf tauchte in den Nebel.
»Wenn sie nicht bald kommt, kriegen wir keinen Platz mehr im Nachtasyl in der Whitecross Street.«
»Ich geh rein. Soll ich?«
»Traust dich doch nicht.«
Das Mädchen schien recht zu haben, denn der Junge rührte sich nicht von der Stelle. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, starrte er vor sich hin. Schließlich räusperte er sich.
»Sie kommt bestimmt gleich«, sagte er mit der Zuversicht, die nur Kinder aufbringen.
Die alte Frau seufzte. Egal wie schlecht die Menschen ihre Kinder behandelten, ihre Liebe war ihnen sicher.
»Sie freut sich halt, wegen dem neuen Baby.« Der Junge spuckte aus.
»Ja und flennt, wenn sie’s zum Armengrab bringt.« Das Mädchen war offenbar schon zu alt für die bedingungslose Liebe. Zu oft war sie enttäuscht worden.
In diesem Moment schwang die Tür zum Gin Shop auf und das heisere Lachen einer Frau hallte durch die Gasse.
»Der Schatten holt die Babys. Tut er.«
»’nen Teufel tut er«, fauchte das Mädchen. »Babys sterben, wenn nur Gin in den Titten ist.«
»Aber Mum sagt …«
»Halt die Klappe!«
Der Schatten. Missbilligend kniff die Frau die Lippen zusammen. Was wusste diese Göre schon über den Engel der Themse?
»Ich hab Hunger«, quengelte der Junge. »Vielleicht gibt uns jemand was, wenn wir die Hand ausstrecken?« Unschlüssig trat er einen Schritt vor. »Oder das Baby zeigen?«
»Idiot!«, fuhr das Mädchen ihn an. »Wer hier langgeht, klaut dir die Fingernägel – oder das Baby.«
Die Kälte der Nacht kniff der Frau in die Waden. Sie hüllte sich enger in ihr wollenes Tuch, machte einen Schritt fort von den Kindern, einen zweiten.
Warte, grollte der Engel in ihrem Kopf.
Sie blieb stehen, gottergeben. Wenn der Engel rief, gab es keine Müdigkeit, durfte es nicht geben.
Die Tür zur Schenke wurde wieder aufgestoßen. Zwei Matrosen torkelten die Treppe hinauf und blieben vor den Kindern stehen.
»Willse dir ’nen Penny verdienen?«, fragte der eine das Mädchen und rieb sich den Schritt.
»Einen Penny für jeden«, handelte sie.
»Ich auch, Sire!« Der Junge hüpfte von einem Bein aufs andere.
»Du bleibst hier!« Das Mädchen drückte ihm das Baby in den Arm. »Bin gleich wieder da.«
Die alte Frau schaute ihr nach, bis sie mit den beiden Matrosen zwischen zwei Häuser verschwand. Mitleid fraß sich in ihr Herz. Nicht mehr lange und die Kleine würde ein eigenes Baby tragen, wenn sie nicht vorher von einem betrunkenen Freier erschlagen wurde oder die Polizei sie aufgriff und in die Kolonien verfrachtete. So viel Elend! Die Frau spürte, wie ihr Schatten wuchs und der Engel seine Flügel ausbreitete. Ihr eben noch von Müdigkeit getrübter Blick schärfte sich, sie sah das Baby durch die dünne Jacke hindurch, in die es sein Bruder gehüllt hatte: die zarten Knochen, das noch runde Gesicht, das schon bald gelb und eingefallen sein würde, wenn der Engel sich nicht seiner annähme. Er kümmerte sich um diese Wesen und sie war sein Werkzeug.
Das raue Lachen eines Mannes, dann der Schrei des Mädchens. Der Junge schaute auf, legte das Baby auf die Stufen und trat auf die Straße hinaus. Seine in alle Richtungen abstehenden Haare waren so schmutziggelb wie der Nebel.
»Gladys?«, rief er, erst zögerlich, dann immer lauter. Wie eine in die Enge getriebene Ratte drehte er sich um die eigene Achse. Schließlich folgte er seiner Schwester.
»Jetzt!«, befahl der Engel.
Hastig lief die Frau über die menschenleere Gasse. Das Baby wimmerte.
»Pscht, ist ja gut.« Leise ächzend, das Bücken fiel ihr schwer, beugte sie sich über das Kind, hob es hoch und wickelte es in ihr Umschlagtuch. »Hush little Baby«, sang sie leise. »Alles wird gut.«
1. Kapitel
Gladys wischte sich über den Mund. Der metallische Geschmack von Blut verdrängte den Geschmack von Salz und Fisch, den das Zeug hatte, das Männer verspritzten. Der Matrose hatte gelacht und Gladys eine gescheuert, als sie ihren Penny gewollt hatte. Sein Schlag hatte ihr die Beine weggehauen. Noch ein Tritt in die Rippen, dann hatte der Nebel die beiden verschluckt.
»Fischschwänze!« Vorsichtig fuhr sich Gladys mit der Zunge über die scharfen Kanten des abgebrochenen Zahnes. Aber wenigstens hatte sie den anderen Penny noch.
Sofort abkassieren war die Regel. Für etwas Brot und Zwiebel würde es reichen und vielleicht sogar für einen Teller Suppe, um die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben.
»Gladys?« Plötzlich hockte Tom neben ihr. »Was ist passiert?«
»Nichts.« Vergeblich versuchte Gladys auf die Beine zu kommen. Sie zitterte vor Wut und Enttäuschung über ihre Dummheit. »Hilf mir!« Sie streckte die Hand aus. Ihre Rippen schmerzten so sehr, dass sie kaum genug Luft zum Sprechen hatte. »Was hast du ihr gesagt?«
»Ich?«
»Nein, der Typ hinter dir.«
Tom drehte sich hastig um. Er war so blöd wie rothaarig.
»Idiot!« Gladys war eigentlich nicht wütend auf ihn, aber er war gerade da und die Wut auch. »Also, was hast du Mum gesagt?«
»Du hast geschrien.« Endlich nahm Tom ihre ausgestreckte Hand und zog sie hoch.
»Und da schickt sie dich?« Gladys spuckte Blut und Zahnsplitter aus. Ihr klingelten die Ohren von dem Schlag.
Warum hatte das Arschloch sich nach dem Abspritzen nicht einfach umgedreht und war gegangen? Sie hätte doch sowieso nichts machen können. Wahrscheinlich hatte er nach dem Schlag gleich wieder dicke Eier gehabt und prellte nun das nächste Mädchen um seinen Lohn.
Gladys spürte den Penny in ihrer Hand. Mum würde ihn ihr abnehmen, so wahr sie Gladys Brothers hieß. Sei ein liebes Kind, würde sie sagen und ihre Unterlippe würde zittern und aus ihren Augen würden Tränen rollen. Gladys würde ihr den Penny geben, das war so sicher, wie auf den Morgen der Hunger folgte. Aber wozu hatte man einen kleinen Bruder?
»Kennst du die alte Betty in der Nelson Street?«
»Die wo Pasteten verkauft?«
»Genau. Hier haste den Penny und nun lauf!«
»Aber wenn die Männer zurückkommen?«
»Dann bin ich ohne dich besser dran.«
Gladys haute Tom eine runter, aber nur leicht, damit er sich in Bewegung setzte. Schließlich war er ja noch ein Kind, kaum trocken hinter den Ohren. Sie wusste nicht, wie alt er war. Wie auch? Er war geboren, als sie noch zu klein gewesen war, um auf den Kalender zu achten, und Mum meistens zu betrunken. Ihr eigenes Alter wusste Gladys, weil ihre Mum sich an den Tag ihrer Geburt erinnerte. Sie waren eine richtige kleine Familie gewesen: Mum, Dad und Gladys. Dad war Dachdecker gewesen, der beste, sagte Mum. Aber dann war er vom Dach gefallen. Seitdem waren es Mum, der Gin und Gladys und die vielen Männer, die so schnell wieder aus ihrem Leben verschwanden, wie sie Mum anbufften. Und irgendwann war eben auch Tom dazugekommen.
Typisch Mum, dachte sie. Ich schreie und die Alte schickt den Kleinen, um nach mir zu schauen. Sie wischte sich mit dem Schultertuch das Blut aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg zurück zum Gin House.
Irgendwo sang eine Frau ein Kinderlied: »Hush little Baby …«
Gladys kannte es. Früher hatte ihre Mum auch Kinderlieder für sie gesungen. Heute sang sie nur noch, wenn sie voll war, und bestimmt keine Kinderlieder. Gladys zog den Umhang fester um die Schultern. Seven Dials war eigentlich kein Ort, an dem Kinderlieder gesungen wurden.
Als sie das Gin House erreichte, war ihre Mutter natürlich nicht da. Wahrscheinlich hatte sie einen Typen aufgerissen, der ihr einen Drink spendierte. Baby hin oder her, Mum war gut darin, Typen aufzureißen. Na, wenigstens hatte es das Baby warm.
Gladys hockte sich in den Schatten zwischen den Häusern. Nur einen Moment ausruhen. Jeder Atemzug schmerzte, als bohre sich ein Nagel in ihre Brust.
»Schläfst du?«
Das Herz rutschte Gladys zwischen die Schenkel. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war.
»Hast du das Brot?«, fragte sie.
Tom nickte. »Wo ist das Baby?«
»Wo soll’s sein? Bei Mum.« Gladys griff nach dem Brot, riss sich ein Stück ab und biss hinein.
»War sie böse?«
»Woher soll ich das wissen?« Gladys kaute auf dem Brot herum. Obwohl der Hunger in ihren Eingeweiden wühlte, konnte sie es nur mit Mühe hinunterschlucken. »Wieso fragst du eigentlich so blöd?«
»Na ja …« Tom drehte den Kanten Brot in den Händen.
»Nun red endlich!« Gladys hätte ihn schütteln können, wenn ihre Rippen nicht so geschmerzt hätten.
»Du hast geschrien und da hab ich Angst gekriegt.«
»Und hast Mum geholt?«
Tom schüttelte den Kopf.
»Aber das Baby.«
Tom warf den Kanten Brot wie zuvor seine Mütze in die Luft. Gladys schlug ihm die Hände weg und das Brot landete zwischen seinen Schuhen.
»Du dämlicher Idiot hast das Baby allein gelassen?«
Wenn Gladys’ Mutter nicht so mit Gin abgefüllt gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich die Klappe gehalten. Aber betrunken, wie sie war, schrie sie die ganze Gasse zusammen und es dauerte nicht lange, bis sich ein Constable – er und seine Kollegen wurden von allen wegen der Farbe ihrer Uniformen nur blaue Flaschen« genannt – mit seinem Stock einen Weg durch die Gruppe der Huren und Säufer bahnte, die um Gladys und ihre Familie herumstanden.
»Sei still!« Gladys zerrte an ihrer Mutter.
Aber die riss sich los und kreischte nur noch lauter: »Mein Baby, mein geliebtes Baby! Der Schatten hat es mir geraubt.« Sie klammerte sich an den Blauen wie an eine Ginflasche.
Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sie mit aufs Revier zu nehmen. Und weil Gladys’ Mutter auch dort keine Ruhe gab, landeten sie im Arbeitshaus in Holborn. Damit hatten sie noch Glück – so wie ihre Mum kreischte, hätten die Blauen sie auch ins Irrenhaus nach Bethlem bringen können, und das war schlimmer als die Hölle, sagten die Leute.
Im Vergleich dazu war Holborn nicht der schlechteste Ort, wo man landen konnte. Zwar wurde Gladys der Kopf geschoren und sie wurde von ihrer Familie getrennt, aber das machte ihr nach dieser Nacht nichts aus. Sie war froh, das betrunkene Kreischen ihrer Mum und Toms Flennen nicht mehr hören zu müssen. Schließlich litt sie genug unter der Stimme in ihrem Kopf, die in einer Tour tönte: Alles meine Schuld. Alles meine Schuld.
Hatte man sich erst einmal an den Gestank von ungewaschenen Füßen, Seifenlauge und Kampher gewöhnt, unterschied sich das Leben im Arbeitshaus von dem in Seven Dials nur dadurch, dass man ständig beten sollte, mit blutigen Fingern Werg zupfen oder Wäsche walken musste und jeden Tag Brot und dünne Kohlsuppe bekam. Einen Ort wie Holborn überlebte man nur, wenn man Teil der Masse wurde. Wer eine dicke Lippe riskierte, wurde geschlagen, ins Loch gesteckt oder bekam nichts zu essen.
Doch Gladys wusste sich anzupassen. Es gelang ihr so gut, mit den grauen Wänden zu verschmelzen, dass sie selbst nach ein paar Wochen vergessen hatte, wer Gladys Brothers war.
Erschrocken fuhr sie zusammen, als Mrs Dungeon sie ohrfeigte, weil sie nicht aufgesprungen war, als ihr Name gerufen worden war.
»Kannst du nicht hör’n, du unnützes Aas?«, schimpfte die Wärterin. »Wenn ich rufe, hast du zu kommen!«
»Entschuldigung, Ma’am.« Gladys hielt sich die Wange; Mrs Dungeon hatte einen ordentlichen Schlag.
»Komm mit!« Die Wärterin drehte sich um und rauschte aus der Wäscherei.
Keines der Mädchen schaute auf, als Gladys ihr folgte. Ihre Holzschuhe klapperten über die feuchten Steine. Sie krampfte die Zehen zusammen, um sie nicht zu verlieren. Ihr Herz schlug im Rhythmus ihrer hastigen Schritte und sie fragte sich fieberhaft, was sie ausgefressen hatte – oder schlimmer: wer ihr was anhängen wollte.
Das Leben in Holborn hatte seine eigenen Gesetze. Die Wärterinnen waren zwar schlimm, aber noch schlimmer waren die Mädchen, die sich Vergünstigungen erschleichen wollten, indem sie andere verpetzten. Doch Gladys hatte mit niemandem Streit. Trotzdem fühlte sie sich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde.
»Hier lang!« Mrs Dungeon steuerte den flachen Schuppen an, der genau auf der Grenze zwischen dem Frauen- und dem Männerbereich lag. Gladys rutschte das Herz von der Kehle zwischen die Oberschenkel.
Mrs Dungeon zog am rostigen Griff und knarrend öffnete sich die Tür. Zögernd folgte Gladys der Wärterin. Das flackernde Licht der Paraffinlampen ließ Schatten über die Wände wandern. Gladys blieb stehen. Der Raum stank schlimmer als der Fluss bei Ebbe. Ihr Magen rebellierte. Unwillkürlich presste sie die Hand vor den Mund. Der scharfe Geruch der Ammoniaklauge auf ihrer Haut verhinderte, dass sie auf einen der abgedeckten Körper spuckte, die Schulter an Schulter auf dem Boden lagen.
Am Ende der Reihe stand ein Wärter, zu seinen Füßen kniete eine schmale Kindergestalt. Gladys musste zweimal hinschauen, um ihren Bruder zu erkennen. Sein kahler Schädel war mit Krätze bedeckt.
»Sprich ein Gebet für deine Mutter!« Mrs Dungeon stieß Gladys zu Tom.
Sie sank neben ihm auf die Knie. Während sie die Hände faltete, musterte sie ihn aus den Augenwinkeln. Er sah nicht so aus, als sei es ihm gelungen, mit den Wänden zu verschmelzen. Sein linkes Auge war zugeschwollen und die Oberlippe blutig verkrustet. Rotz lief ihm aus der Nase. Gladys berührte seine Schulter. Tom schaute zu ihr, seine Mundwinkel zuckten.
»Keine Vertraulichkeiten«, brummte der Wärter. »Ihr seid hier, um für das Seelenheil eurer Mutter zu beten.«
»Und am besten auch für eures«, fügte Mrs Dungeon hinzu. »Damit ihr nicht endet wie sie.«
»Oder schlimmer«, sagte der Wärter. Seine Stimme triefte vor Selbstzufriedenheit.
Wut stieg in Gladys auf. Sie hätte ihm in die Eier treten können. Dieser fette Sack hatte kein Recht, so zu reden. Sie wusste doch, was solche Typen mit Mädchen wie ihr machten, wenn sie eins in die Finger kriegten. Dagegen waren die Matrosen, die sie um den Penny geprellt hatten, Chorknaben. Bei dem Gedanken an die zwei überwältigte sie wieder die Schuld. Sie bat Gott darum, dass ihre Mum, wo immer sie war, genügend zu saufen hatte, und bekreuzigte sich.
Ein Tritt gegen die Wade brachte sie auf die Beine, und Minuten später drehte sie wieder die Kurbel der Wäschepresse.
Kurz vor Weihnachten kaufte ein Krämer aus der Oxford Street Gladys frei und sie verließ Holborn. Als sie ihr Bündel schnürte, sagte Mrs Dungeon, sie solle Gott dem Herrn auf Knien danken. So feine Leute.
Nun, zumindest waren es wohlgenährte Leute. Mr Smith war ein Fass auf Stelzen und Mrs Smith musste sich ordentlich einschnüren, um eine Taille zu haben. Sie stopften sich so voll mit Essen, dass für Gladys kaum etwas abfiel. Trotzdem verbrachte sie viel Zeit auf den Knien. Aber nicht, um Gott zu danken, sondern um die Steinfliesen zu schrubben. Sie schlief neben dem Ofen, arbeitete härter als in Holborn und kratzte die angebrannten Reste aus den Töpfen. Trotzdem dachte sie, sie hätte es ganz gut getroffen – bis Mr Smith sie das erste Mal auf den Küchentisch drückte und im Stehen entjungferte. Da wusste sie: Mädchen wie sie trafen es nie gut, es traf nur immer sie.
2. Kapitel
Emma erwachte, als ihr Vater das Haus verließ. Seine tiefe, immer etwas knurrige Stimme fiel in den Chor der Männer ein, die sich Grüße zuriefen. Für einen Moment verwirrt, tastete Emma über die raue Decke. Eben noch hatte sie sich schlaflos in ihrem Bett herumgeworfen, und nun dämmerte schon der Morgen? Ihr Herz machte einen freudigen Satz. Heute war der 4. April 1865. Heute war ihr großer Tag.
Bevor Emma aus dem Bett war, klapperte die Haustür ein zweites Mal. Ihre Mutter machte sich auf den Weg. Eine Nachbarin hatte ihr erstes Kind bekommen. Irgendeine Frau in der Straße bekam immer ein Baby, und wenn die Arbeit der Hebamme getan war, kümmerte sich Emmas Mutter um die Frauen und ihre Neugeborenen. Sie kochte Suppe für die Wöchnerin und fütterte das Baby mit Stutenmilch, wenn keine Amme zur Verfügung stand und die junge Mutter noch keine Milch hatte.
Emma half ihrer Mutter oft und holte Milch vom Stall in der Mare Street, in dem ihre Brüder arbeiteten. Der Stallmeister war ein freundlicher Mann und hatte nichts dagegen, wenn sie einen Krug Stutenmilch abzweigte. Auch heute hätte sie helfen sollen, aber sie hatte gestern einen Husten vorgetäuscht und die Mutter hatte sie ins Bett gesteckt.
Hustenfrei und voller Vorfreude stand Emma auf und sah aus dem Fenster. Die Morgensonne verbarg sich als blassgelbe Scheibe hinter dem schwefelgelben Dunst der vielen Tausend Kamine. Emma rannte die Treppe hinunter und in den Verschlag neben der Wohnküche, in dem sie wuschen und kochten. Ihre nackten Füße klatschten über die Holzdielen.
Wie eine Kröte hockte der Herd im tristen Grau des beginnenden Tages neben der Tür zum Hof. Emma öffnete die Klappe. Auf dem Ofenrost kämpfte die Restglut vergeblich gegen die Morgenkühle an. Zögernd griff Emma nach einem Holzscheit, ließ ihn aber in den Korb zurückfallen. Das heiße Wasser, das für ihren Morgentee im Kessel simmerte, würde genügen müssen. Leise ächzend hob sie die Zinkwanne von der Wand und schüttete es hinein. Es war nicht einmal genug, um den Boden zu bedecken, aber es musste reichen. Sie nahm den Wassereimer, der gefüllt neben dem Herd stand, und goss den Inhalt ebenfalls in die Wanne. Dann zog sie fröstelnd das Hemd über den Kopf.
Ihre Mutter würde ihr eine saftige Ohrfeige verpassen, wenn sie jetzt zur Tür hereinkommen würde. Morgens zu baden, und auch noch an einem Wochentag!
Normalerweise würde Emma so etwas nicht tun, aber heute war kein normaler Tag. Endlich würde sie ihn sehen und vielleicht sogar seine Hand berühren. Bei der Vorstellung, ihm so nah zu sein, wurde ihr ganz warm und in ihrem Kopf drehte sich alles.
Sie blinzelte die schwarzen Schlieren weg, die vor ihren Augen tanzten. Während sie das Hemd an den Herd hängte, sang sie ein Lied, das sie in der Music Hall in der Blackfriars Road gehört hatte, als sie mit ihren Brüdern dort gewesen war: »Heut’ ist ein besonderer Tag, wo ich es wohl wagen mag.«
Schaudernd stieg sie in die Wanne und kniete sich nieder. Wenn sie nur daran dachte, wie viele Eimer heißes Wasser sie täglich in das Boudoir der Gnädigsten geschleppt hatte. Sie blies die Backen auf. Wie schön wäre es, sich zurückzulehnen und ein heißes Bad zu genießen, wie es die Gnädigste getan hatte. Das heißt, eigentlich hatte sie es nie genossen. Jeden Nachmittag das gleiche Lamento: Das Wasser war zu heiß, die Seife zu glitschig, die Tücher zu rau.
Und die zickige Zofe hatte gezwitschert: »Ja, gnädige Frau«, und: »Natürlich, gnädige Frau«, und: »Das Mädchen macht aber auch nichts richtig, gnädige Frau«, und hatte Emma finstere Blicke zugeworfen.
Emma war froh, dass sie den Dienst Hals über Kopf und ohne Zeugnis hatte verlassen müssen. So schnell würde die Hebamme wohl keine neue Stelle für sie finden. Vor allem, weil sie ihrer Mutter das Versprechen abgerungen hatte, nur noch als Hausmädchen anfangen zu müssen und nicht als Küchenmagd.
Lieber Gott, schickte sie ein Stoßgebet in Richtung der niedrigen Holzdecke, lass Mrs Westwood nie wieder eine Stellung für mich finden! Ich will ja arbeiten, fuhr sie fort; Gott sollte nicht denken, sie sei faul. Ich würde nur lieber in einem der Geschäfte bedienen, wo man goldene Knöpfe und feine Spitze kaufen kann und sich nicht Blutblasen an die Hände schrubbt.
Missmutig starrte Emma auf ihre rissigen Finger. Mit solchen Händen würde sie höchstens eine Anstellung in einem Eisenwarengeschäft finden.
Keine trüben Gedanken, ermahnte sie sich. Heut’ ist ein besonderer Tag.
Sie griff nach der Kernseife und seifte sich ein. Schade nur, dass sie sich verkleiden musste. Während sie sich vor Kälte zitternd Wasser über die Brüste goss, malte sie sich aus, wie es sein würde, ihn leibhaftig zu sehen, ihm gegenüberzustehen, in seine sanften Augen zu schauen. Nach all den Wochen des Planens und Auskundschaftens gönnte sie sich diesen Augenblick des Träumens. Wenn schon das Wasser sie nicht wärmte, so taten es wenigstens ihre Gedanken.
Sie hatte alles gut vorbereitet, es konnte einfach nichts schiefgehen. Seit sie wieder bei den Eltern lebte, hatte sie ihrem Vater regelmäßig das Essen gebracht. Den Blick züchtig gesenkt, hatte sie die jungen Kerle ignoriert, die ihr schöne Augen gemacht hatten, um ihm keinen Grund zu geben, sie wegzuschicken. Ihm würde der Bart auf die Füße fallen, wenn er wüsste, dass auch dieser Liebesdienst zu ihrem geheimen Plan gehört hatte.
Emma goss sich Wasser über die Schulter. Sie wollte sich wenigstens einmal einen Traum erfüllen. Vor sich hin summend tauchte sie die Hände ins Wasser und wusch sich das Gesicht. Als sie fertig war, stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab und kleidete sich an. Ihr Haar flocht sie zu einem Zopf. Kurze Zeit später verließ sie das Haus.
Ein Karren stand auf der anderen Straßenseite. Darauf befanden sich ein paar Matratzen und eine Wäschetruhe, auf der drei Kinder wie Hühner auf der Stange saßen. Emma kannte sie. Der alte Fitzgerald, der Vater der Kinder, war bei einer Messerstecherei in einer Schenke ums Leben gekommen. In den Monaten nach seinem Tod hatte seine Frau alles verkauft, was die Familie besessen hatte. Jetzt hatten sie nichts mehr und mussten ihr Haus verlassen. Von ihrem ältesten Sohn gestützt stieg nun auch Mrs Fitzgerald auf den Karren mit den letzten Habseligkeiten.
Die armen Leute! Emma bekreuzigte sich.
Maggie, mit der sie früher gespielt hatte, reichte ihrer Mutter das Baby und kletterte selbst auf den Wagen. Er würde sie nach Seven Dials bringen, wo die Schlafstätten stundenweise vermietet wurden und zwei Familien sich ein Zimmer teilten.
Emma wandte sich ab. Es gab so viele Geschichten über diesen Ort des Schreckens wie Menschen, die dort lebten, und eine war schrecklicher als die andere. Kaum ein Tag verging, an dem dort niemand ermordet wurde oder Babys verschwanden. Emma wusste, dass nur die Arbeit ihres Vaters sie vor dem gleichen Schicksal bewahrte – oder ihrer eigenen Hände Arbeit.
Mit gesenktem Kopf lief sie los. Nach einer Weile bog sie nach Süden auf die Mare Street ab und wich im letzten Augenblick einem Landauer aus, der einen Pferdebus überholte. Das Handpferd wieherte, der Kutscher fluchte. Ohne ihn weiter zu beachten, bahnte sich Emma ihren Weg zwischen Straßenhändlern, bettelnden Kindern und Leiterwagen hindurch.
Ganz außer Atem erreichte sie schließlich den Stall, wo ihre Brüder arbeiteten. Zwei Jungen spannten gerade kräftige Kaltblüter vor einen Bus. Ihre Rufe hallten über den Hof. Der Kutscher lehnte am Stamm der Linde, die mitten auf dem Platz stand, und rauchte sein Pfeifchen. Als Emma an ihm vorbeilief, zog er höflich die Mütze vom Kopf. Jeder kannte sie hier, die kleine Schwester der Zwillinge.
»Bill? Bob?« Emma wich einem Stalljungen aus, der das schmutzige Stroh in dem langen Gang harkte.
Staub tanzte zwischen den Boxen. Auch ihre Brüder hatten hier als Stallburschen angefangen und Bob, der von allen nur »Dumb O’Brian« oder kurz »Dumbo« genannt wurde, weil er immer wiederholte, was andere sagten, schwang noch immer die Forke. Bill hingegen hatte es zum Assistenten des Stallmeisters gebracht.
Der Junge schaute auf. Seine dunklen Wimpern waren gelb vom Staub des Strohs. Hastig riss er sich die Mütze vom Kopf. »Dumbo is mitte Lucy zum Vet, Miss Emma.« Seine Stimme überschlug sich. »Und Mr O’Brian is hinten, issa.«
»Danke.« Emma lief an dem Jungen vorbei. Angesichts seiner Verlegenheit fühlte sie sich ziemlich erwachsen, obwohl der Junge kaum jünger war als sie. Das Gefühl verließ sie allerdings sofort, als Bill ihr mehr kräftig als neckend in die Wange kniff.
»Du willst es also wirklich wagen?«, fragte er.
»Ja. Du lässt mich doch nicht im Stich, oder?« Ängstlich schaute Emma zu ihm auf. Stundenlang hatte sie ihn bearbeiten und ihm schließlich versprechen müssen, Leah jeden Donnerstagabend zum Spaziergang abzuholen, damit er ihr die Sachen besorgte. Bill liebte seine Leah schon lange, aber ihr Vater wollte nicht, dass die beiden sich trafen. Sie solle einen Geschäftsmann heiraten, so wie er einer war, sagte er immer. Dabei hatte er auch nur einen dunklen Kramladen zur Straße hin. In dem Raum dahinter hauste die Familie. Aber weder Leah noch Bill waren bereit, voneinander zu lassen. Also trafen sie sich heimlich und schmiedeten Pläne. Sobald Bill genug für eine Schiffspassage gespart hatte, wollten sie heiraten und in die neue Welt auswandern. Nur Emma wusste von ihren Plänen und sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als etwas zu verraten. Wenn ihre Mutter davon erfuhr, würde sie ihm so lange keine Ruhe lassen, bis er bei allen Heiligen versprach, in London zu bleiben.
»Besser, ich tät’s.« Bill kratzte sich das Kinn. »Nu mach schon!« Er nickte in Richtung seiner Kammer. »Bevor ich’s mir anders überlege.«
»Danke!« Emma seufzte vor Erleichterung; die erste Hürde war genommen. Sie lief in die Kammer.
Bill folgte ihr und schloss die Tür. »Bin ich froh, dass Leah nicht solche Flausen im Kopf hat!« Er zeigte auf das Kleiderbündel, das auf seinem Bett lag.
»Wie sollte sie, bei einem Liebsten wie dir?« Emma musterte ihren Bruder. »In ganz London gibt es keinen Mann, der so gut aussieht wie du«, log sie unverfroren.
Nicht dass Bill schlecht aussah: Seine breiten Schultern, die schmale Taille, schwarze Haare und blaue Augen ließen bestimmt nicht nur Leahs Herz höher schlagen. Aber gegen die vornehme Eleganz eines Prinzen kam er nicht an. Wie auch? Bill war ein Arbeiter, selbst wenn er der Assistent des Stallmeisters war.
»Dad bringt mich um, wenn das rauskommt.«
»Von mir wird er’s nicht erfahren. Du hast doch nicht etwa Bob …?«
»Nein, natürlich nicht!« Bill tippte sich an die Stirn. »Und?«, fragte er. »Was sagst du?«
»Sie ist perfekt.« Emma strich über die Hose, die ausgebreitet auf dem Bett lag.
Der gerippte Samt war abgeschabt und etwas speckig, ebenso die Weste und der Arbeitskittel. Das Kleiderpaket krönte ein Bowler mit eingerissener Hutkante und vor dem Bett standen klobige Schuhe, wie ihr Vater sie trug.
»Und das alles für einen Shilling?« Emma hatte ihre gesamten Ersparnisse für dieses Abenteuer geopfert.
»Sixpence.« Bill trat hinter seine Schwester.
»Wirklich?« Strahlend wirbelte Emma zu ihm herum. »Das ist ja wunderbar! Wo hast du sie her?«
»Woher wohl? Petticoat Lane natürlich«, antwortete Bill. »Aber garantiert läusefrei«, fügte er hinzu, als Emma ihn erschrocken ansah. »Und nun zieh dich um! Sonst ist dein Prinz verschwunden, bevor du am Pumpwerk bist.«
Wenige Minuten später stand Emma als Junge gekleidet vor ihm. Sie war froh, dass Bill ihr den Bowler mitgebracht hatte. Unter einer Mütze hätte sie ihren Zopf nicht verstecken können.
»Und?«, fragte sie.
»Passt«, antwortete Bill und rieb sich das Kinn. »Lauf mal wie ein Junge!«
»Etwa so?« Emma steckte die Fäuste in die Hosentaschen und schlurfte breitbeinig durch den Raum.
Bill schüttelte den Kopf. »Du läufst, als hättest du Leim unter den Sohlen.«
»Geht nicht anders«, entgegnete Emma. »Sonst verlier ich die Schuhe.«
»Stopf sie halt aus.« Brüderlich schlug Bill ihr gegen den Bowler.
»Nicht.« Emma schob sich den Hut aus dem Gesicht.
»Na dann.« Bill öffnete die Tür und sie verließen die Kammer. Auf dem Hof steckte er Zeigefinger und Daumen zwischen die Lippen und pfiff.
Emma beneidete ihn um diese Fähigkeit.
»George«, sagte Bill zu dem Kutscher, der zu ihnen gekommen war, »nimm den Kleinen mit!«
George ließ Emma an der Woolwich-Fähre raus. Während der Überfahrt wehte ihr der Wind den Geruch von Teer und verfaulendem Fisch in die Nase, den der Fluss an guten Tagen ausdünstete. An schlechten Tagen stank die Themse wie der Abort, der sie war.
Emma kannte und fürchtete den Gestank, der sich in die Schleimhäute fraß. Sie war fünf gewesen, als die letzte große Choleraepidemie gewütet hatte. Zwei Kinder hatten ihre Eltern in dem Sommer begraben. Seitdem war sie das einzige Mädchen in der Familie.
So viele Menschen waren damals gestorben. Andererseits hätte ihr Vater ohne die Cholera nie Arbeit gefunden. Und ohne den Bau des Pumpwerks, das dafür sorgen sollte, dass der Fluss duften würde wie ein Jungfernfurz, wären sie auch nicht in eins der neuen Häuser gezogen, die überall in London für die Arbeiter gebaut wurden.
Emma erinnerte sich noch gut an die Enge in ihrer alten Wohnung. Ein Zimmer hatten sie gehabt, einen Abort auf dem Hof für alle Mieter und einen Brunnen am Ende der Straße. Dort hatten sie das Wasser geholt, das den Tod über ihre Familie gebracht hatte. Das Haus hatte viele Zimmer gehabt, und in jedem hatte eine Familie gelebt, alles Iren wie sie. Immer war es laut gewesen, vor allem nachts, wenn Männer und Frauen betrunken aus den Schenken zurückgekehrt waren. Dann hatte Emma sich gefürchtet und Schutz zwischen Bill und Bob gesucht. Ihre Familie hatte zu den ersten gehört, die in die neu errichteten Häuser gezogen waren. Alles hatte sich zum Guten gewendet. Trotzdem vermisste sie ihre Schwestern.
Emma wischte sich die Stirn. Schrecklich warm war ihr. Die Hose rieb im Schritt und die Weste kniff unter den Armen. Männerkleidung war doch unbequemer, als sie gedacht hatte. Sie schob die Hand unter den Bowler und kratzte sich den Scheitel. Hoffentlich war es wirklich nur Schweiß, der ihre Kopfhaut zum Jucken brachte.
Sie schaute sich um. Keiner der hochgewachsenen Polizisten, die mit ihren Hüten aus gefirnisstem Leder jeden Mann überragten, beachtete sie. Endlich erreichte sie die Tür, durch die sie in den letzten Tagen immer gegangen war, um ihrem Vater das Essen zu bringen.
»Verdammt!« Emma fluchte nicht häufig, als überwiegend gehorsame Tochter einer gottesfürchtigen irischen Familie eigentlich gar nicht, aber jetzt konnte sie nicht anders.
Die Tür war verschlossen. Tränen schossen Emma in die Augen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Natürlich war sie verschlossen. Hoher Besuch hatte sich angekündigt und ein Wächter hatte den Riegel vorgeschoben. Jeder normal denkende Mensch hätte das gewusst. Sie schluchzte.
»Na, na.«
Ein Schatten fiel über Emma. Mit tränennassen Augen drehte sie sich um. Vor ihr stand ein Constable, dessen blaue Uniform im Gegenlicht so schwarz wirkte wie sein Hut.
»Was willst du denn hier, Kleiner?« Lässig schlug er sich mit dem Stock, den alle Polizisten trugen, in die Handfläche.
Emma duckte sich. Noch hielt er sie für einen Jungen. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn er ihr auf die Schliche kam. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, vor verschlossener Tür von einem Constable angesprochen zu werden. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, ihr Herzschlag stolperte.
»Ich arbeite hier.« Sie kiekste vor Aufregung, wie ein Junge im Stimmbruch.
»Ach ja?« Der Constable beugte sich vor. Er hatte das breite Gesicht eines Schotten und ein blonder Schnauzbart verbarg seine Oberlippe. Lachfältchen umrandeten seine Augen und neben der Nase blühte ein Pickel zwischen hellen Sommersprossen. »Du bist aber spät dran.« Seine Stimme klang nicht unfreundlich.
Also fasste Emma Mut. »Ich musste meiner Mum helfen.« Diesmal dachte sie daran, wie ein Junge zu sprechen.
Aber was hatte sie nur gesagt? Mädchen halfen ihrer Mutter, nicht Jungen. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie senkte den Kopf. Wenn sie jetzt auch noch flennte, nützte ihr die ganze Verkleidung nichts. All die Mühe und die Hälfte ihrer Ersparnisse für nichts als blutige Fersen und wunde Oberschenkel. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Die glänzende Spur im Stoff bewies, dass Generationen von Vorbesitzern die gleiche Angewohnheit gehabt hatten.
»Heute musst du doch gar nicht arbeiten. Also was willst du da drin?«
»Na, den Prinzen sehen.«
»Soso.« Gönnerhaft tippte der Constable ihr mit dem Stock auf die Schulter. »Dann komm mal mit, Kleiner!«
3. Kapitel
Emma wusste überhaupt nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. So viele Herren mit modisch gezwirbelten Bärten und feinen Anzügen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Immer in Sorge, plötzlich ihrem Vater gegenüberzustehen, zwängte sie sich in Richtung der Absperrung.
Obwohl die großen Pumpen noch nicht liefen, vibrierte die Luft in der Halle von den Stimmen der Männer. Erst jetzt wurde Emma das Ungeheuerliche ihres Abenteuers bewusst. Wenn sie ihrem Vater das Essen gebracht hatte, waren noch andere Frauen hier gewesen. Doch jetzt war sie das einzige weibliche Wesen unter Hunderten von Männern. Sie fühlte sich wie in einer fremden Welt.
»Na, drängel mal nicht so!«
Eine Hand fiel schwer auf ihre Schulter. Emma stockte der Atem.
»Hab dich nicht so, Alter, und lass ihn durch!«, mischte sich der Constable ein, der sie hineingeschmuggelt hatte. »Dem kannst du doch locker über den Kopf spucken. Stell dich da rüber, Junge!« Er schob sie in Richtung einer Eisentreppe.
Emma spürte seine feuchte Handfläche im Nacken. Sie griff nach dem Bowler und zog ihn sich tiefer über den Schädel.
»Die Prinzen haben das königliche Schiff verlassen!«
Der Ruf pflanzte sich fort und die Gespräche verstummten. Emma vergaß den Constable und kletterte auf das Treppengeländer. Ihre Füße fanden kaum Halt in den klobigen Schuhen, die schwer an ihren Füßen hingen. Sie reckte den Hals. Trotzdem sah sie nichts als Köpfe.
Plötzlich brandete Jubel auf und wogte wie eine Flutwelle durch die Pumpenhalle. Hüte wurden von Köpfen gerissen, Arme streckten sich in die Luft. Emma hielt es nicht mehr auf dem Geländer. Wenn sie hierblieb, würde sie nichts und niemanden sehen. Sie setzte ihre Ellbogen ein und zwängte sich durch das Meer der nach Schweiß und Zwiebeln stinkenden Leiber. Die Arbeiter johlten und trampelten mit den Füßen.
»Es lebe der Thronfolger! Vivat Prinz Edward!«
Emma fand eine Lücke zwischen zwei Männern und erreichte schließlich die Constables, die sich an den Händen hielten, um die Menge zurückzuhalten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie das lächelnde Gesicht des Thronfolgers. Hinter ihm musste Prinz Alfred sein. Wenn sie ihn doch nur sehen könnte! Sie reckte sich auf die Zehenspitzen.
»Vivat Prinz Alfred!« Ihre Stimme überschlug sich, aber ihre Begeisterung musste einfach hinaus. »Vivat Prinz Alfred!«
Die Arbeiter hinter ihr fielen in ihren Ruf ein. Der Kronprinz drehte sich zu seinem Bruder um, dann schauten beide in ihre Richtung. Huldvoll hob Prinz Alfred die Hand.
Er schaut mich an.
Mit klopfendem Herzen starrte Emma in sein Gesicht. Er war so viel schöner als auf den Bildern. Sie schluckte, Tränen rollten ihr über die Wangen.
Plötzlich runzelte er die Stirn, sagte etwas zu seinem Bruder und zeigte mit dem Finger auf sie. Emmas Herz setzte aus. Der Kronprinz zeigte auf sie, Emma O’Brian.
»Hast du keinen Anstand?«
Bevor Emma wusste, wie ihr geschah, flog ihr der Bowler vom Kopf. Schwer fiel ihr der Zopf auf den Rücken.
»Da brat mir doch einer ’ne Katze mit Sülze!« Mit festem Griff packte der Constable Emmas Arm und zerrte sie hinter sich her.
Sie stolperte, verlor einen Schuh, weinte, jammerte, bat um Vergebung. Vergeblich.
»Hör endlich auf!« Der Constable blieb so abrupt stehen, dass sie gegen ihn prallte. Seine vorher so freundlichen Augen blickten wütend auf sie herab. »Und ich hab dich auch noch reingebracht.«
»Hey, was soll das?« Ein Arbeiter stellte sich ihnen in den Weg. Er schwankte und sein rotes Gesicht war vor Wut verzerrt.
»Gib Ruhe!«, mischte sich ein anderer ein. Sein graues Haar lag ihm mützenplatt um den Schädel. Er reckte sich, um an Emma und dem Constable vorbeisehen zu können.
»Was geht’s dich an, Alter?« Der Jüngere war zu betrunken, um klein beizugeben.