Engel der Verdammten - Ulrike Schweikert - E-Book

Engel der Verdammten E-Book

Ulrike Schweikert

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Beschreibung

Hamburg wird von einer geheimnisvollen Mordserie erschüttert. Die Opfer sind allesamt junge Frauen, die illegal ins Land geschmuggelt wurden. Die Kommissarin Sabine Berner wird von dem Vampir Peter von Borgo auf die Taten aufmerksam gemacht. Doch er scheint mehr über die Fälle zu wissen, als er verraten will.

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ULRIKE SCHWEIKERT

ENGEL DER VERDAMMTEN

Roman

Für meine liebe Schwester Renate und

ihren Mann Dietmar Jaxt

und für meinen geliebten Mann

Peter Speemann

Prolog

Verlangen

Die Nacht erwachte. Eine herrliche Spätsommernacht, in der die feuchte Schwüle des Tages einem klaren Abend wich. Die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden und sandte nur noch ein letztes rosa Glühen aus, ehe auch dieses erlosch und der Mond seinen Platz am Himmel einnahm.

Peter von Borgo erhob sich aus seinem Sarg in einem verborgenen Keller seiner Blankeneser Villa. Sorgfältig strich er das schwarze Seidenhemd glatt und schnippte einen hellen Faden von seiner ebenfalls schwarzen Hose. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig, als er in der Halle den großen, mit einem Tuch verhängten Spiegel passierte. Er brauchte kein verspiegeltes Glas, um zu wissen, wie er aussah: genau wie jede Nacht seit Hunderten von Jahren. Von seinem schmal geschnittenen Gesicht mit unnatürlich weißer Haut hoben sich die dunklen Brauen und das schwarze, schulterlange Haar ab. Seine Nase konnte man durchaus als aristokratisch bezeichnen. Er war groß und sehnig gebaut und ganz sicher ein Mann, der ins Auge fiel und den man nicht so schnell wieder vergaß – wenn er dies wollte. Ja, er war attraktiv, ein Mann, nach dem sich die Frauen umwandten.

Nachdenklich blieb der Vampir in der Tür stehen und drehte an dem auffälligen Smaragdring an seiner linken Hand. Warum machte er sich heute bloß so viele Gedanken über sein Äußeres? War das nicht völlig unwichtig? Eine Nacht folgte der anderen in ewig gleichem Reigen.

Und doch war in dieser Nacht etwas anders. Er konnte die Spannung spüren, die ihn umgab. Vielleicht hätte sich sein Pulsschlag beschleunigt, wenn er noch ein lebendiges Herz in seiner Brust tragen würde.

Beschwingt machte er sich auf den Weg. Zwar wählte er einen Umweg über den Kanonenberg und zwang sich, am Fuß des Leuchtfeuers für einige Augenblicke den Ausblick über die Elbe zu genießen, doch dann zog es ihn zur Uferpromenade hinunter. Er merkte, wie er immer schneller lief, bis er über das duftende Gras zu fliegen schien. Nein!

Der Vampir hielt inne. Er befahl sich einen schlendernden Schritt und eine ausdruckslose Miene, die sein aufgewühltes Gefühl verbargen.

Peter von Borgo wunderte sich ein wenig über sich selbst. Darüber, dass ihn dieses Treffen so in Aufruhr versetzte. Er hatte gedacht, er habe schon alles erlebt und würde sich mit einer immerwährenden Langeweile arrangieren müssen. Schon seit Ewigkeiten hatte nichts mehr sein Blut in Wallung bringen können – außer vielleicht Sabine.

Aber an sie wollte er im Moment nicht denken. Es kam ihm unpassend vor. Er wusste, dass sie es nicht gutheißen würde. Doch welches Recht hatte sie, ihn zu maßregeln? War sie es nicht, die ihre Entscheidung immer wieder hinausschob? Das hier hatte nichts mit ihr zu tun und es ging sie nichts an. Nein, an diesem Abend wollte er nicht an Sabine denken, die ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie in den kommenden Nächten ihren Schlaf brauchte.

Der Vampir richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Ziel. Gleich würde die Bank hinter der Biegung auftauchen. Er ahnte, dass sie schon da war. Sie wartete auf ihn. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er sie endlich sah. Er blieb stehen und sog ihren Anblick in sich auf.

Das Mondlicht strich ihr schmeichelnd über das schwarze Haar, die zarte, milchige Haut, die vollen Lippen. Sie war noch jung, doch nicht unschuldig. Sie war entschlossen und mutig, sie war neugierig und bereit, jedes Abenteuer zu wagen. Sie war perfekt!

Der Abendwind trug ihm einen Hauch ihres Dufts zu, den er genussvoll in sich einsog. Eine wilde Freude wallte in ihm auf. Es würde eine herrliche Nacht werden. Etwas Besonderes.

Sie hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Hatte sie ihn entdeckt? Konnte sie ihn sehen? Die freudige Erwartung trieb ihn an. Mit wenigen schnellen Schritten erreichte er die Bank, auf der sie sich niedergelassen hatte. Sie lächelte ein wenig schelmisch.

»Welch Überraschung! Herr von Borgo, wer hätte gedacht, Sie heute Nacht hier anzutreffen?«

Sie heuchelte ein so entzückend mädchenhaftes Erschrecken, dass er gar nicht anders konnte, als sich herabzubeugen und nach ihren Händen zu greifen. Er küsste sie zart. Sie lächelte und zog ihn neben sich auf die Bank.

»Was werden wir heute Nacht tun? Was wirst du mir zeigen?«

»Was möchtest du denn sehen?«, gab er die Frage zurück, während er sie mit seinem Blick liebkoste.

»Ich weiß nicht. Mit dir ist alles so anders. Du schenkst mir eine neue Welt und es gibt noch so vieles zu entdecken.« Nun war ihr Blick geradezu mutwillig.

Er erwiderte ihr Lächeln. »Ja, das ist richtig. Die Nacht birgt noch viele Geheimnisse.«

»Dann komm!« Sie sprang auf und zog an seiner Hand. »Lassen wir die Zeit nicht ungenutzt verstreichen!«

Ihre Neugier und ihr Tatendrang gefielen ihm. Er gab ihrem Drängen nach und erhob sich ebenfalls.

»Gut, dann lass uns eine kleine Reise machen.«

»Wohin? Ach, verrate mir wohin!«, drängte sie und hüpfte wie ein Mädchen vor Aufregung neben ihm her.

»Nein, das ist eine Überraschung«, gab er amüsiert zurück. Sie gingen nebeneinander durch den nächtlichen Park. Ihre Schritte fanden harmonisch zueinander. Er schwieg, während sie sich staunend umsah. Als sie den Leuchtturm erreichten, blieb sie stehen und wandte sich ihrem Begleiter zu.

»Es ist alles so aufregend und so wunderschön. Bitte, sieh mir in die Augen und schwöre mir, dass das immer so bleiben wird. Peter? Sag es mir! Du gehörst zu mir und wirst von nun an immer bei mir sein, nicht wahr?«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Er nahm die Einladung an und küsste sie, vielleicht auch, um ihre Frage nicht beantworten zu müssen. Was hätte er ihr sagen sollen? Er wollte sie nicht enttäuschen, und doch spürte er, dass ihre gemeinsamen Stunden gezählt waren. Die Nacht war nicht lieblich und schön. Sie war wild und grausam, und das würde sie bald erfahren müssen.

Kapitel 1

Verloren

Das kleine Mädchen tappte unverdrossen vor sich hin. Den Kopf gesenkt, setzte es einen Schritt vor den anderen, ohne seine Umgebung zu beachten oder auch nur einmal nach rechts oder links zu sehen. Längst war die Nacht über Hamburg hereingebrochen. Die Straßenlaternen verbreiteten einen milchigen Schein und färbten die aufsteigenden Nebelschwaden in ein mattes Orange. Ein Hauch von Herbst lag in der feuchten Luft, und es wurde mit jeder Stunde kälter. Das Kind zitterte in seinem dünnen Kleidchen und den Sommersandalen an den Füßen, doch es folgte der Straße, die sich mit dem im Nebel schwächer werdenden Lampenschein in der finsteren Unendlichkeit verlor. Die Häuser zu beiden Seiten waren hinter Mauern und hohen Hecken verborgen. Nur die verschlossenen Tore mit ihren blanken Klingelknöpfen und Briefschlitzen verrieten, dass hinter diesen Schutzwällen Menschen wohnen mussten.

Die Straße war leer, nur ab und zu näherte sich ein Lichtschein und Reifen rauschten über den nassen Asphalt vorbei. Niemand sah das kleine Mädchen. Zumindest hielt niemand an und fragte, was es um diese Stunde allein hier zu suchen hatte.

Da öffnete sich plötzlich eines der Tore, kaum ein paar Schritte von ihm entfernt. Wie versteinert blieb das Mädchen stehen und starrte in die von herbstlichen Blumenbeeten gesäumte Auffahrt, die von zwei Scheinwerfern unvermittelt in helles Licht getaucht wurde. Ein großer schwarzer Wagen näherte sich von der Straße her und verlangsamte seine Fahrt. Das zuckende Licht des Blinkers spiegelte sich auf der regennassen Straße. Der Wagen schien direkt auf sie zuzuhalten. Die dunklen Augen in panischem Schrecken weit aufgerissen, taumelte das Mädchen zurück und drückte sich in die Zweige der Büsche, die das Grundstück umgaben. Erstarrt blieb es stehen, den Blick auf den Wagen gerichtet, der zwischen den Torflügeln verschwand. Kurz darauf erlosch das Licht, und das Tor begann, sich mit einem leisen Knarren wieder zu schließen. Dann lag die nächtliche Straße wieder still und verloren da. Das Mädchen rührte sich noch immer nicht, obwohl die nassen Zweige Strickjacke und Kleidchen längst durchweicht hatten und Kälte den mageren Körper zu schütteln begann. Vielleicht hatte es der Mut verlassen oder die Kraft. Jedenfalls schien es nicht mehr in der Lage zu sein, seinen Weg fortzusetzen. So stand es einfach da, von den Zweigen fast völlig verborgen, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht.

Ein Motorengeräusch zerschnitt die nächtliche Stille. Es war der Klang eines schweren Motorrads, das offensichtlich viel zu schnell fuhr. Nur Augenblicke später kam es in Sicht. Es war schwarz, wie die Kleider und das lange Haar des Mannes, das im Fahrtwind flatterte. Er trug weder eine Lederjacke noch einen Helm. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen.

Mit aufheulendem Motor schoss er an dem kleinen Mädchen vorbei, das sich in den Büschen verborgen hielt, dann aber kreischten die Bremsen. Das Hinterrad schlitterte über den Asphalt, als das Motorrad herumschwang und immer langsamer werdend auf das geschlossene Tor zusteuerte, vor dem der Fahrer die Maschine zum Halten brachte. Der Motor erstarb, und die eintretende Stille schien plötzlich so dicht wie der schwere Nebel über der Straße zu liegen. Bedächtig stieg der Mann von seiner Maschine. Er hob ein wenig den Kopf und schien wie ein Tier in die Nacht zu wittern. Rote Augen leuchteten auf und tasteten die Hecke ab. Falls das Mädchen dachte, in der Dunkelheit seines Verstecks unsichtbar zu sein, wurde es eines Besseren belehrt.

Der Mann kam langsam näher, bis kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass er das Kind entdeckt hatte. Langsam ging er in die Knie, bis sein Gesicht auf Kopfhöhe mit dem Mädchen war. Vermutlich bemerkte das Kind nicht, dass der Mann vor ihr keinen Schatten warf, und es machte sich auch keine Gedanken über die rot glühenden Augen, aus denen er es aufmerksam musterte. Für das Mädchen war er nur ein Fremder. Die Angst ließ es noch stärker zittern als die Kälte.

»Guten Abend«, sagte seine weiche, samtene Stimme.

Das Kind rührte sich nicht. Es starrte ihn nur an, ohne auch nur zu blinzeln.

»Ist es nicht ein wenig zu spät für so eine junge Dame wie dich?«

Wieder reagierte die Kleine nicht.

»Wie heißt du?«

Keine Reaktion – und so verzichtete Peter von Borgo darauf, weiter nach den Namen ihrer Eltern und ihrer Adresse zu fragen. Vermutlich wusste sie das in ihrem Alter noch nicht einmal. Er war sich nicht sicher. So genau kannte er sich mit Kindern nicht aus.

Das kleine Mädchen roch verführerisch. Es war ihm, als könne er den herrlichen Geschmack seiner Unschuld bereits auf der Zunge spüren. Sein Blut war noch so süß und rein. Seine Zähne stießen drängend hervor und wuchsen, dass ihre scharfen Spitzen zwischen seinen blassen Lippen erschienen.

Du willst dich an diesem unschuldigen Ding vergreifen?, erklang plötzlich eine scharfe Stimme in seinem Kopf, die sich in letzter Zeit öfters meldete, wenn er seinem ganz natürlichen nächtlichen Drang folgte.

Das darfst du nicht! Hast du denn überhaupt kein Gewissen?

Nein! Er war ein Vampir, kein Mensch. Was gingen ihn die Regeln und die Moral der Menschen an? Was ihre Gesetze? Noch dazu, wo so viele von ihnen ohne auch nur einen Hauch von Schuldgefühl gegen sie verstießen, gerade hier in Hamburg. Und doch mischte sich die Stimme der Kommissarin immer wieder ungefragt ein.

Peter von Borgo spürte, wie sich seine Zähne wieder zurückzogen. Der Appetit war ihm vergangen. Verdammt! Der Vampir unterdrückte einen Seufzer. Was sollte er jetzt tun? Einfach weiterfahren, das Kind vergessen und nach einer geeigneteren Beute Ausschau halten?

Er wusste, was Sabine sagen würde. Und außerdem war seine Neugier geweckt. Normal war das nicht. Vielleicht ein Geheimnis, das seine Langeweile vertreiben würde?

»Komm!«, sagte er sanft und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.

Es konnte dieser Stimme nicht widerstehen. Kein Mensch konnte das. Nun ja, fast keiner, korrigierte sich der Vampir im Stillen und dachte an die wenigen Menschen, die ihm während seiner mehr als dreihundert Jahre währenden Existenz als ein Wesen der Nacht erfolgreich Widerstand geleistet hatten. Die Letzte war Aletta gewesen, eine bemerkenswerte junge Frau aus Blankenese, die schon als Mädchen seine nicht menschliche Aura hatte erspüren können. Aletta, deren Hexencoven ihr den Namen Artemis gegeben und die sich für ihre Freundinnen geopfert hatte. Aletta, die ihren letzten Atemzug in seinen Armen ausgehaucht hatte.

Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf, das er so nicht kannte. Er ignorierte es und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, das auf ihn zutrat und die kleine, eisige Hand in die seine schob.

Das war unsinnig! Völlig verrückt und vielleicht sogar gefährlich für ihn, dennoch führte er das Mädchen zu seinem Motorrad, hob es auf den Sitz und schwang sich hinter ihm auf die schwere Maschine. Das Motorengeräusch zerriss die nächtliche Stille, dann raste die Hayabusa nach Blankenese zurück.

In seiner Blankeneser Villa auf dem Geesthang über der Elbe schob der Vampir das Motorrad in die Garage. Lautlos schloss sich das schmiedeeiserne Tor zur Einfahrt hinter ihm. Er führte das Mädchen zum Haus und ließ es in die Halle treten. Noch immer hatte es keinen Laut von sich gegeben und sah sich auch jetzt nur stumm in der düsteren Halle um, von der aus zwei geschwungene Treppen zu beiden Seiten in den oberen Stock führten.

»Wie heißt du?«, versuchte er es noch einmal, doch selbst unter dem hypnotischen Zwang seines Blicks blieb das Mädchen stumm.

Der Vampir zog das Mädchen hinter sich her in den Musiksalon, dessen hohe Sprossenfenster den Blick auf die Elbe freigaben. Bücherregale erstreckten sich an den Wänden bis zur Decke, doch beherrscht wurde der Raum von einem schwarz glänzenden Konzertflügel. Normalerweise hatte man durch die Flügeltüren und von der Terrasse einen atemberaubenden Blick über den Fluss und das Alte Land, das sich im Süden am anderen Ufer erstreckte, doch heute verhüllte der Nebel die Sicht.

Peter von Borgo führte das Kind in die Mitte des Raums, ließ seine Hand los und trat einige Schritte zurück, um es zu betrachten. Da stand es in seinem dünnen, durchnässten Kleid und der schmutzigen Strickjacke, zitternd vor Angst und vor Kälte, doch es hielt den Blick unverwandt auf den Vampir gerichtet, der es nachdenklich musterte.

Das Mädchen war vielleicht fünf Jahre alt und, soweit er das beurteilen konnte, selbst dafür recht klein. Und dünn. Seine Rippen waren unter dem nassen Stoff zu erahnen. Das Haar war schwarz und hing ihm glatt bis auf die Schultern. Die großen, dunklen Augen, aus denen es zu ihm aufsah, verrieten seine asiatische Abstammung, wobei er nicht hätte sagen können, aus welchem Land seine Eltern stammten.

Er wusste noch immer nicht, warum er das Kind mitgenommen hatte und was er jetzt mit ihm anfangen sollte, doch erst einmmal musste es aus den nassen Sachen raus, sonst würde es sich den Tod holen. Peter von Borgos Erinnerung an das Gefühl von Kälte war zwar im Laufe der Jahrhunderte verblasst, doch er wusste um die Empfindlichkeit der Menschen.

»Komm«, sagte er noch einmal und führte das Kind nach oben in das altmodische Badezimmer, das nur noch selten benutzt wurde. Nur Sabine wärmte sich hier ab und zu in der Badewanne mit den bronzefarbenen Klauenfüßen, wenn ihr nach einer flotten Fahrt auf dem Motorrad kalt geworden war.

Peter von Borgo ließ warmes Wasser in die Wanne einlaufen, dann griff er nach dem Arm des Mädchens, um ihm die nasse Jacke auszuziehen, doch zum ersten Mal wich das Kind zurück.

»Komm her! Ich tu dir nichts. Du sollst dich nur aufwärmen. Magst du denn nicht baden? Ich dachte, Kinder lieben das.«

Zögernd kam das Kind wieder näher und ließ sich die Jacke abstreifen. Doch als er ihr das Sommerkleid über den Kopf ziehen wollte, hielt Peter von Borgo mitten in der Bewegung inne und spitzte überrascht die Lippen.

»Ja, was ist denn das?«

Er zog das Kind noch ein Stück näher und beugte sich über seinen Arm. Das Mädchen folgte seinem Blick. Da quollen ihm unvermittelt Tränen aus den Augen und rannen über seine Wangen.

»Schsch«, hauchte der Vampir, obgleich das Mädchen keinen Ton von sich gab. Sein Blick glitt aufmerksam über die schwarzen Schriftzeichen, die den Arm des Kindes bedeckten. Im ersten Moment dachte er, das Kind hätte sich vielleicht selbst mit einem Stift bemalt, so ungelenk wirkten die Zeichen. Aber es war nicht die Kritzelei eines Kindes. Jemand hatte ihm eine Botschaft hastig und drängend auf den Arm geschrieben. In einer Sprache, die ihm nicht geläufig war.

Tief in Gedanken zog Peter von Borgo dem Kind das Kleid über den Kopf, streifte Sandalen und Höschen ab und hob es in die Wanne, ohne den Blick von den seltsamen Zeichen zu wenden. Dann nahm er ein Stück Seife und begann, mit einem Waschlappen sanft die zarte Kinderhaut zu waschen, die in der Wärme des Badewassers ihre rosige Farbe zurückgewann. Der Lappen glitt über die dünnen Arme und ließ die fremdartigen Buchstaben verblassen. Grauer Seifenschaum tropfte in die Wanne, bis auch die letzte Spur der Botschaft getilgt war.

Die Sonne näherte sich dem Horizont. Kommissarin Sabine Berner stand im Garten unter den alten Bäumen und sah von den Höhen des Geestrückens den wandernden Schatten zu, die nur quälend langsam verblassten. Endlich erlosch auch das letzte Glühen über dem Alten Land. Nur die vom stürmischen Nordwind getriebenen Wolken spiegelten noch den Schein des vergangenen Tages wider.

Der Augenblick war gekommen. Jetzt würde er erwachen. Seine Lunge würde beginnen, Luft zu atmen, die er nicht brauchte, denn kein Herz schlug mehr in dieser Brust, kein Leben erfüllte diesen Körper, der Sabine dennoch lebendiger schien als die meisten Menschen, kraftvoll, männlich, verführerisch.

Erwartungsvoll drehte sie sich um und ging auf die Flügeltüren des Musiksalons zu. Das Glas spiegelte die rosafarbenen Wolken wider und ihre Gestalt, die zögerlich näher trat. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie ihr Abbild. Eine schmale Frau mit dunkelblondem, schulterlangem Haar. Sie war groß und in den vergangenen Monaten noch schlanker geworden, was ihr gefiel. Dennoch musste sie sich bei kritischer Betrachtung eingestehen, dass die letzten Monate auch in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen hatten. Ihre Züge waren ernster geworden. Das übermütige Strahlen war verblasst. Sah man ihr die dreiunddreißig Jahre nun deutlich an?

Sabine zog eine Grimasse und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus. Ein wenig Lebenserfahrung stand einer Kriminalkommissarin durchaus zu Gesicht!

Oberkommissarin Berner. Die Worte schmeckten süß wie Schokolade. Ja, sie war wieder Kommissarin im Dienst. Die finsteren Wolken, die so sehr auf ihrer Seele gelastet hatten, waren weitergezogen. Kommissarin Berner würde wieder im Präsidium arbeiten, ihren angestammten Platz in der vierten Mordbereitschaft einnehmen und mit den Kollegen neue Fälle aufklären.

Der Gedanke ließ ein Strahlen über ihr Gesicht huschen, das ihm all die Wärme und die Frische zurückgab, die in den zermürbenden Monaten der Ungewissheit verloren gegangen schienen. Selbst ihr Haar schien golden zu schimmern, und in ihren Augen blitzte es unternehmungslustig.

»Sehr schön«, hauchte eine Stimme in ihr Ohr. Der kühle Hauch ließ sie erschaudern. Sabine unterdrückte den Impuls herumzufahren, und hielt ihren Blick stattdessen noch immer auf das Glas gerichtet, in dem sich nur ihre eigene Gestalt widerspiegelte.

»Musst du dich immer so anschleichen?«, erkundigte sie sich vorwurfsvoll.

»Habe ich dich erschreckt? Ich dachte, du hast auf mich gewartet. Ich spürte mehr als nur einen Hauch von Ungeduld, und ich gab mich der Hoffnung hin, dass deine Erwartung, mich zu sehen, dies wundervolle Lächeln auf dein Gesicht gezaubert hat.«

Er schnurrte selbstzufrieden wie ein Kater. Sabine gelang es nicht, ein Schmunzeln zu unterdrücken, dennoch bemühte sie sich um Strenge in ihrer Stimme, als sie sich umdrehte und zu ihm aufsah.

»Ich muss dich enttäuschen, liebster Peter, meine Vorfreude gilt meiner Arbeit, die ich nun endlich wieder ausüben darf. Morgen ist mein erster Tag!«

Falls er enttäuscht war, so verstand er es gut, dies zu verbergen. Er neigte den Kopf und lächelte. »Ja, ich weiß, und es ist mir nicht entgangen, dass du jeden einzelnen Tag gezählt hast, statt deinen Urlaub zu genießen.«

Sabine schnaubte verächtlich. »Urlaub? Ich war suspendiert wegen psychischer Probleme!«

»Nun, das hört sich natürlich nicht ganz so schön an«, musste der Vampir zugeben. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch da bemerkte Sabine in den Augenwinkeln eine Bewegung und fuhr herum.

Was um alles in der Welt war das? Sie trat noch einen Schritt dichter an das Glas. Während sie sich beinahe die Nase stieß, klappte ihr langsam die Kinnlade herab.

Der Vampir hinter ihr sagte nichts. Keine Erklärung. Keine Rechtfertigung. Sabine starrte das kleine Mädchen an, das barfuß über das Parkett auf sie zutappte. Der kleine Körper wirkte verloren in dem Männerhemd, das ihm bis über die Knie reichte. Die aufgekrempelten Ärmel schlotterten um die dünnen Arme. Die Kommissarin schnappte ein paarmal nach Luft, ehe sie ihre Stimme wiederfand.

»Sag mir, dass mich meine Augen täuschen«, keuchte Sabine. »Wie kommst du zu diesem Kind? Wie kannst du es wagen, so etwas zu tun?«

Der Vampir schwieg und öffnete stattdessen die Türflügel. Sabine stürmte in den Salon und ging vor dem Kind in die Knie. Ängstlich wich es vor ihr zurück, als sie nach seinen Armen griff.

»Jetzt hast du es erschreckt«, kommentierte der Vampir, doch Sabine ignorierte ihn. Sie zwang sich zu einem Lächeln und redete freundlich auf das Mädchen ein, während sie es näher zu sich heranzog. Das Entsetzen im Gesicht des Kindes wich Resignation. Sein Widerstand fiel in sich zusammen.

»Mach Licht!«, herrschte sie den Vampir an, ohne das Mädchen loszulassen.

»Dein Wunsch ist mir Befehl.«

Die einzige Lampe im Raum flammte auf. Sabine drehte das Kind ins Licht und untersuchte seinen Hals. Dann knöpfte sie das Hemd auf und streifte es ab. Aufmerksam wanderte ihr Blick an dem mageren Körper entlang.

»Hast du gefunden, wonach du suchst?«, erkundigte sich der Vampir höflich. »Die Kleine scheint zu frieren«, fügte er noch hinzu. »Vielleicht wäre es besser, ihr wieder etwas anzuziehen.«

»Du hast sie noch nicht gebissen«, stieß Sabine erleichtert aus, als sie dem Kind das Hemd wieder überstreifte und die Knöpfe schloss. »Dein Glück!«, fügte sie schneidend hinzu und erhob sich.

»Mit Glück hat das wenig zu tun«, widersprach der Vampir in spöttischem Ton. »Vielleicht wollte ich es ja gar nicht beißen?«

Sabine fuhr zu ihm herum. »Ach ja? Und zu welchem Zweck hast du es dann hierhergebracht? Weil du Gesellschaft und ein wenig Kindergeplapper um dich haben wolltest?«

Er stand mit dem Rücken gegen den schwarz glänzenden Konzertflügel gelehnt und lächelte sie so ungerührt an, dass sie ihn hätte schlagen mögen.

»Das Kind spricht nicht«, erwiderte er.

»Ja? Warum nicht?« Sabine war für einen Moment irritiert. Sie sah auf das Kind herab. Es war ein wenig unterernährt und hatte an den Armen und auf dem Rücken einige verschieden alte blaue Flecke, doch der Vampir schien sich tatsächlich nicht an ihm vergriffen zu haben. Ihr Blick wanderte zu Peter von Borgo, der mit den Schultern zuckte.

»Ich weiß nicht. Meine Erfahrung mit Kindern ist begrenzt. Ich gebe zu, ich bin ein wenig hilflos.«

»Ja, aber warum hast du es dann hierhergebracht? Wo wohnt das Kind, und wie heißt es?«

»So viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß«, säuselte er und berichtete dann, wie er das Kind in der Nacht in der Elbchaussee aufgelesen hatte.

»Und es kam dir nicht in den Sinn, es zur Polizei zu bringen?«

Der Vampir schüttelte den Kopf. »Mit so etwas kenne ich mich nicht aus. Mir schien, dass meine bescheidene Behausung der nächtlichen Straße vorzuziehen sei. Außerdem war ihm kalt, und es war müde.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich habe es lediglich gebadet und ins Bett gesteckt.«

Sabines Zorn verrauchte. »Ich glaube dir ja. Dennoch ist das Haus eines Vampirs nicht der geeignete Ort für ein Kind. Außerdem suchen seine Eltern bestimmt schon verzweifelt nach ihm.«

Der Vampir zog eine Grimasse. »Erlaube mir, das zu bezweifeln. Es scheint nicht gerade in einem guten Zustand, wenn ich das trotz meiner mangelnden Erfahrung behaupten darf.«

Sabine nickte und wandte sich wieder dem Mädchen zu, das einfach nur dastand, den Blick abwechselnd auf den Vampir und die Kommissarin gerichtet. Sabine ging noch einmal in die Knie und versuchte, dem Mädchen wenigstens seinen Namen zu entlocken, doch es reagierte nicht, und so gab sie es auf.

»Ich werde das Kind mit zu mir nehmen«, sagte sie bestimmt. Sie strich ihm liebevoll über das Haar, doch das Mädchen zuckte zusammen.

»Willst du es behalten, als Ersatz für Julia?«, erkundigte sich Peter von Borgo.

»Nein, natürlich nicht«, rief sie, entsetzt über seinen Gedanken. »Ich kann doch nicht einfach ein fremdes Kind behalten. Was für ein absurder Einfall! Und überhaupt, Julia ist meine Tochter. Wie könnte es dafür einen Ersatz geben? Den ich übrigens auch gar nicht brauche. Sie ist und bleibt mein Kind, auch wenn sie gerade bei meinem geschiedenen Mann und seiner Freundin lebt.«

Sie spürte, wie der Gedanke noch immer schmerzte, doch das waren nicht der Ort und die Zeit, um an die verlorene Schlacht um das Sorgerecht zu denken und den Zorn heraufzubeschwören, der bei dem bloßen Gedanken an ihren Exmann in ihr aufbrodelte. Sie wusste selbst, dass er mit seinen Vorwürfen nicht ganz danebenlag. Sie konnte nicht gleichzeitig eine gute Kommissarin der Mordermittlung und alleinerziehende Mutter sein. Doch hatte er ihr überhaupt eine Wahl gelassen?

Sie riss sich von den Gedanken los und wandte sich wieder an das Mädchen.

»Du kommst jetzt mit mir, und dann koche ich dir erst einmal etwas Schönes. Du hast doch bestimmt Hunger?«

Sie warf dem Vampir einen fragenden Blick zu, doch der hob wieder nur die Schultern. Sabine nahm das Kind bei der Hand und ging zur Tür.

»Du willst jetzt gleich gehen?«, rief er, und zum ersten Mal an diesem Abend verlor er ein wenig seinen Gleichmut. »Ich dachte, wir verbringen noch ein wenig Zeit miteinander. Wir könnten eine Tour mit dem Motorrad machen. Was hältst du davon? Es wird eine herrliche Nacht.«

Sabine schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Nein. Ich muss mich erst um das Kind kümmern, und außerdem will ich nicht völlig übermüdet zu meinem ersten Arbeitstag erscheinen.«

Sie spürte seinen enttäuschten Blick im Rücken, bis sich die Tür hinter ihr schloss.

Langsam fuhr die Kommissarin nach Hamburg zurück. Unterwegs rief sie schon einmal bei der Vermisstenstelle des LKA an und erkundigte sich, ob eine Meldung für das Mädchen vorlag.

»SieistungefährfünfJahrealt,klein,sehrdünn,mitschwarzem,glattemHaarundasiatischenZügen.Ichwürdesagen,mindestenseinElternteilistasiatischerAbstammung«,erklärtesiederBeamtinderVermisstenstelle,dieandiesemAbendÜberstundenschob.

»Wo? In der Elbchaussee in Nienstedten. Nein, ich habe keine Ahnung, wo das Kind hingehört.«

Die Frage, wann sie das Kind dort gefunden habe, beantwortete sie nicht. Wenn sie zugeben würde, dass das Mädchen bereits gestern Nacht dort allein unterwegs gewesen war, müsste sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sich zu spät gemeldet zu haben. Ebenso wenig wollte sie erwähnen, dass sie das Kind im Haus des Vampirs gefunden hatte, der es nicht für notwendig hielt, sich bei den Behörden zu melden. Es würde nicht gut ankommen, wenn der Name Peter von Borgo schon wieder durch das LKA geisterte. Das wäre ganz und gar kein guter Start!

»Hallo?«, meldete sich die Kollegin wieder. »Ich habe nichts gefunden. Es wird weder in Hamburg noch im Zuständigkeitsbereich der Kieler ein Kind vermisst, auf das Ihre Beschreibung passt. Wollen Sie noch vorbeikommen und es herbringen? Dann muss ich zusehen, dass ich jemanden vom Kinder- und Jugendnotdienst erreiche, der sich um die Kleine kümmert.«

Sabine wehrte ab. »Sie kann heute Nacht bei mir bleiben. Ich bringe sie dann morgen vorbei. Wenn sich ihre Eltern melden, erreichen Sie mich auf meinem Handy.«

Sie gab der Beamtin ihre Nummer und legte auf. Bald schon erreichten sie St. Georg, wo es der Kommissarin tatsächlich gelang, in der Nähe ihres Hauses in der Langen Reihe einen Parkplatz zu ergattern. Sie führte das Mädchen hinauf in ihre Wohnung. Es folgte ihr widerstandslos. Schweigend aß es die Brote, die sie ihm auf den Teller legte, und trank ein Glas Saft. Dann zog Sabine ihm einen von Julias alten Schlafanzügen an und führte es zur Schlafcouch im Arbeitszimmer, auf der auch ihre Tochter bei ihren Besuchen schlief. Sie schüttelte das Kissen auf und zog ihm die mit einem bunten Disneymotiv bedruckte Bettdecke bis ans Kinn.

»Schlaf jetzt, Kleines. Es wird alles wieder gut«, sagte sie sanft und streichelte die blassen Wangen, und zum ersten Mal zeigte sich der Hauch eines Lächelns auf dem Kindergesicht.

Peter von Borgo sah der Kommissarin nach, als sie mit dem Kind verschwand. Um seine Mundwinkel zuckte so etwas wie Ärger, oder war es Enttäuschung?

Er nahm sich nicht die Zeit, über seine Gefühle nachzugrübeln. Wenn Sabine diese Nacht nicht mit ihm verbringen wollte, dann würde er sich eben mit etwas anderem beschäftigen. Doch was? Der Gedanke, den Nachtschwärmern auf dem Kiez oder an der Schanze aufzulauern, reizte ihn nicht, obwohl er sich natürlich Blut besorgen musste. Ein Vergnügen würde es heute jedoch nicht sein.

Was dann?

Ihm kam ein Gedanke, bei dem sich seine Miene aufhellte. Er schlüpfte in den Garten. Eine silberne Mondsichel schob sich über die Wipfel der Bäume und übergoss den herbstlichen Garten mit ihrem sanften Schein. Peter von Borgo sog genüsslich die Gerüche ein, die ihn umgaben. Er liebte diese Jahreszeit, wenn die Üppigkeit des Sommers verging und das wechselnde Farbenspiel der Blätter und der zunehmend modrige Geruch der Wiesen an den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens mahnten. Vielleicht gerade weil die Natur dabei einen großen Bogen um ihn schlug.

Die Natur hatte ihn vergessen. Er war kein Teil von ihr. Nicht mehr. Jede Nacht, in der er erwachte, war wie seine erste. Er war gleich alt oder jung, sein Körper glich aufs Haar diesem ersten Augenblick, ganz egal, was in der Nacht zuvor vorgefallen war. Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Er war der ewige Außenseiter, der das Spiel der Kräfte beobachtete, aber kein Teil von ihm war.

Peter von Borgo schüttelte die melancholischen Gedanken ab. Der kühle Herbstwind fuhr ihm durch das Haar. Dies war eine Nacht, das wilde Tier in ihm zu wecken. Er zog seine Gedanken zusammen, bis er nur noch das Bild des Wolfs in sich sah. Schon begann sein Körper sich zu wandeln. Fell brach aus seiner Haut, sein Gesicht zog sich in die Länge. Nur Augenblicke später schlüpfte der graue Wolf durch die Hecke und lief unter alten Bäumen den steilen Hang hinauf. Die Welt flog vorbei, und er bemerkte nur flüchtig, wie er den Leuchtturm passierte. Unerkannt lief er weiter durch den dunklen Park, in dem nur noch vereinzelt Menschen unterwegs waren, meist um ihre Hunde auszuführen. Der eine oder andere Vierbeiner witterte den Wolf, klemmte den Schwanz ein und eilte zu seinem Menschen, der jedoch weder von der Furcht seines Hundes noch von der lauernden Gefahr Notiz nahm, die ganz in ihrer Nähe durch die Büsche schlich.

Der Wolf ließ die Parkanlagen hinter sich, doch es gab noch immer genug Gärten, um ungesehen voranzukommen. Dann lief er durch düstere Höfe, bis ihm wieder der Geruch von feuchtem Gras, von Rosen und Kräutern in die Nase stieg, als er sich dem botanischen Garten Planten un Blomen näherte. Seine Pranken flogen durch den Apothekergarten, über Rasenflächen und durch den von Blütenduft schweren Rosengarten. Es wurde Zeit, sich wieder zu wandeln. Noch eher er die in den Nachthimmel aufragenden Gebäude des Congress Centers erreichte, verließ er den Park. Er überquerte die Bahnlinie und die Straße, über die zu jeder Tages- und Nachtzeit der Verkehr donnerte, und näherte sich dem Gebäude der Staats- und Universitätsbibliothek. Als grünlicher Nebel floss der Vampir durch den Türspalt und nahm auf der anderen Seite wieder seine menschliche Gestalt an. Das Gebäude war leer und nur von Notlichtern matt erleuchtet. Draußen konnte er den Verkehr über die regennasse Straße zischen hören. Nachdem er sich rasch einen Überblick über die Abteilungen verschafft hatte, steuerte er ein Regal an, dessen Bücher jene exotisch wirkenden Schriftzeichen zierten, die er suchte. Er nahm sich drei Wörterbücher mit zu einem Tisch und blätterte sie durch. Sein Blick huschte rasend schnell über die Seiten. Er hatte sich die Schriftzeichen nicht notiert, doch sie standen ihm auch so klar vor Augen. Es dauerte nicht lange, bis er die Botschaft entschlüsselt hatte.

Interessant, sehr interessant!

Peter von Borgo klappte die Bücher zu und verharrte dann reglos auf seinem Platz, den Blick ins Nichts gerichtet. Lange saß er so da. Die Stunden verrannen. Erst kurz bevor die Nacht dem Morgen wich, fasste er einen Entschluss. Er verließ das Bibliotheksgebäude und warf einen Blick in den Himmel, der sich im Osten bereits deutlich aufhellte. Er musste sich beeilen! Der Vampir machte sich auf den Weg. Er lief gegen den immer heller werdenden Morgen an, doch seine Gedanken galten noch immer der Botschaft, die eine Hand hastig auf den Arm eines Kindes gekritzelt hatte.

Kapitel 2

Zurück im Präsidium

Beschwingt lenkte Sabine ihren alten blauen Passat in den Burggraben, wie die Tiefgarage allgemein genannt wurde, die sich unter dem sonnenförmigen Präsidiumsgebäude des LKA mit seinem Rundbau und den zehn ›Strahlen‹ erstreckte. Sie brachte das Kind in die Vermisstenstelle, wo sich noch immer niemand gemeldet hatte, um nach ihm zu suchen. Arme Kleine! Mit einem Gefühl des Bedauerns übergab sie das Mädchen der Mitarbeiterin des Jugendamtes, mit der sie bereits am Morgen telefoniert hatte.

»Machs gut. Keine Angst, hier wird dir nichts geschehen«, sagte sie und lächelte das Mädchen zum Abschied aufmunternd an. Ob das Kind sie verstand, konnte sie nicht sagen. Zumindest folgte es der Frau vom Jugendamt, ohne Widerstand zu leisten.

Wie einsam die Kleine wirkte, wie verloren und verängstigt. Wie sehr musste sie ihre Mutter vermissen, doch vielleicht drang der Schmerz gar nicht bis in die Tiefen ihrer Seele vor? Noch nicht. Sie wirkte innerlich erstarrt.

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