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Ein toter Engel für Lou Parker Privatdetektiv Lou Parker wird von der Vergangenheit eingeholt: ausgerechnet die Ex-Prostituierte Tina, die Mitschuld daran trägt, dass er vor fünf Jahren den Polizeidienst quittieren musste, bittet ihn um Hilfe, weil sie gegen die Rotlichtgröße Stanko aussagen soll. Eher widerwillig lässt sich Parker darauf ein und erhofft sich im Gegenzug die Namen derjenigen, die an der Intrige gegen ihn beteiligt waren. Gleichzeitig ist Parker auf der Suche nach seinem spurlos verschwundenen Freund und Kollegen Winkler. Dabei ermittelt er unter Jugendlichen, die von zu Hause abgehauen sind und nun auf der Straße leben. Als ein obdachloses Mädchen ermordet in einem Auto am Köln-Bonner Flughafen aufgefunden wird, trifft es Parker wie ein Faustschlag: es ist der Wagen seines verschwundenen Freundes Winkler …
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Seitenzahl: 278
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Mathias WünscheEngel und Tod
Mathias Wünsche wurde 1957 in Köln geboren, ist Diplom-Sozialpädagoge und seit über 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Er ist Verfasser zahlreicher Kriminalromane und Kinderkrimis. Neben seiner Autorentätigkeit ist er auch erfolgreich als Musiker und Komponist unterwegs. Wünsche ist Mitglied der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur SYNDIKAT. www.mathiaswuensche.de
Mathias Wünsche
Originalausgabe© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf KrampFoto: © Cirsten GülkerLektorat: Nicola Härms, RheinbachPrint-ISBN 978-3-95441-356-0E-Book-ISBN 978-3-95441-368-3
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
DANKSAGUNG
Entfesselte Urgewalt. Ohne sich anzukündigen, war der Regen da, um sich sogleich zu einer Unheil bringenden Allianz mit Donner und Blitz zu vereinen. In der Vorstellung des Mannes zerfetzten Blitze, die die Form gezackter, scharf geschliffener Schwerter besaßen, die schwarzen Wolken. Unaufhaltsam schossen sie hinab, um sich wild zuckend ins Erdreich zu fressen.
Mit dem ersten Ton des Pianos setzte auch das Hi-Hat des Schlagzeugs ein. Unaufdringlich, und doch treibend und Tempo bestimmend. Der Regen trat etwas in den Hintergrund, ohne dabei nachzulassen, und flankierte Schlagzeug und Piano. Dann das krachende Donnergeräusch und endlich, achtunddreißig Sekunden später, die Stimme, elektrisierend: Riders on the storm. Riders on the storm. Into this house we’re born, into this world we’re thrown. Like a dog without a bone, an actor out on loan. Riders on the storm.
Der Sänger sang von einem Killer auf der Straße, dessen Hirn sich wand wie eine Schlange. Die Doors kamen aus fünf Surround-Lautsprechern, und der MP-3-Player war auf Endlosschleife programmiert. Wie eine Raubkatze schlich sich die Stimme von Jim Morrison an, breitete sich aus und nahm schließlich jeden Winkel der sterilen Räumlichkeit in Besitz.
Zufrieden nickend wandte er sich um und trat, während seine Lippen lautlos Girl ya gotta love your man formten, an den Seziertisch aus Chromnickelstahl.
Der höhenverstellbare Tisch mit dem Organbecken am Fußende stand, einem germanischen Opfertisch gleich, mitten im Raum. Über dem Tisch Neonröhren, unter deren kaltem Licht nichts verborgen blieb.
Für einen kurzen Moment betrachtete er seine Hände. Der Latex ließ die Haut darunter bleich und unnatürlich glatt aussehen. Dann griffen seine Finger zur Rippenschere. Er spürte die Kälte des Instrumentes. Girl ya gotta love your man. Er liebte diese Textzeile.
Seine Nackenhaare stellten sich auf, er schloss die Augen, und seine Fingerspitzen strichen sanft über den nackten Körper.
Sie tanzte. Sie lachte.
Und Morrison sang: Our life will never end. Gotta love your man, yeah.
Wie eine Balletttänzerin hob sie die Arme über den Kopf, drehte eine Pirouette und warf ihm einen Kussmund zu. Die lange tiefschwarze Strähne auf dem ansonsten kahl rasierten Schädel hüpfte ihr dabei frech vor der Nasenspitze herum. Sie verdrehte die Augen, bis sie schielte, und streckte ihm die Zunge heraus. Das brachte ihn zum Lachen. Er rutschte auf dem zerschlissenen grünen Samtsofa ein Stück nach vorne, sodass seine Füße den Boden berührten. Jetzt beugte sie die Knie, senkte sich ab und deutete einen kleinen Plié an. Dann warf sie unvermittelt den Kopf in den Nacken, um sich anschließend mit überkreuzten Beinen und ausladender Armbewegung vor ihm zu verneigen.
»Bravo! Bravo!«, hörte er sich rufen und klatschte dabei so kräftig, dass er das Brennen in seinen Handflächen spürte.
Das letzte Riders on the storm, und sie fiel in sich zusammen.
Die plötzliche Stille fühlte sich unsagbar schwer an, bannte ihn auf seinen Platz, und er wurde von einem bleiernen Gefühl der Einsamkeit gepackt. Jedwedes Geräusch in der Wohnung schien durch diese Stille verstärkt zu werden. Seine Augenlider flatterten, und er hatte Angst, dass er den ausgemergelten Körper vor sich aus dem Blick verlöre.
»Nein, nein«, flüsterte er, wischte sich mit dem Handrücken trotzig über die Augen und zwang sich hinzuschauen. Er sah, wie sich ihr flacher Brustkorb hob und senkte. Hörte ihre unregelmäßigen Atemgeräusche. Den Mund halb offen, wagte er es kaum, Luft zu holen.
»Minusch!«, rief er leise. Er wartete.
»Minusch!«, wiederholte er mit zittriger Stimme. Und wartete. Wartete auf ein Zeichen von ihr. Wartete, dass sie sich wieder aufrichtete. Dass sie weiter für ihn tanzte. Dass das alles zur Vorstellung dazugehörte. Es rauschte in seinem Kopf, und seine Zunge schmeckte die Tränen, die auf seine Lippen trafen.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange er schon so vor sich hinstarrte. Von der einen auf die andere Sekunde waren die Bilder verschwunden. Lou Parker hielt sein Gesicht der Vormittagssonne entgegen. Die Augen hinter der Ray-Ban Wayfarer geschlossen, döste er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen entspannt vor sich hin. Es war Anfang September, und der Sommer, der auch in diesem Jahr keiner gewesen war, hatte sich überraschend zurückgemeldet. Und das tat er mit Temperaturen nahe der Achtundzwanzig-Grad-Marke.
Parker gab ein zufriedenes Grunzen von sich und verschränkte die Arme über der Brust. Er war mit sich und der Welt im Einklang – nein, falsch! Der Detektiv legte die Stirn in Falten – nein, nicht mit der Welt, sondern nur mit sich. Einklang! Wie sich das anhörte! Momentaufnahmen, sicher! Aber lange hatte er nicht mehr daran geglaubt, diese Zufriedenheit in sich spüren zu dürfen. Und er hatte eine Weile gebraucht, um für dieses Gefühl die richtigen Worte zu finden und sie auch auszusprechen. Vor allem auszusprechen. Es hatte eine Zeit gedauert, bis er zu sich wieder Vertrauen hatte fassen können. Doch kam es noch immer vor, dass er sich dabei ertappte, wie er sich misstrauisch im Spiegel betrachtete.
Ihm war klar, dass der innere Fallensteller nicht kapituliert und seine scharfen Waffen nicht für immer niedergelegt hatte. Nein, und er konnte ihn auch nicht aus seinem Ich verbannen, er war noch immer da. Dieser dunkle Gefährte hatte sich bloß zurückgezogen, und manchmal glaubte der Detektiv sein höhnisches Lachen zu hören.
Parker musste über sich selbst grinsen und schüttelte belustigt den Kopf.
Hey, es geht dir gut!, sprach die innere Stimme. Genieße, und hör auf zu grübeln! Es läuft gerade super, dein Leben. Du hast allen Grund, deinen Namen zu tanzen! Sonnenschein, wohin du guckst. Und selbst der FC ist ausnahmsweise mal ein Quell der Freude. Die Saison hat wieder begonnen, und dein Club steht auf dem sensationellen zweiten Tabellenplatz. Okay, die Saison ist gerade mal vierzehn Tage alt. Aber man steht vor den Bayern! Parker schmunzelte. Das alleine reichte aus, um in Kölns Kneipen ungeniert von der Meisterschaft zu sprechen.
Er atmete tief durch. Ein angenehmes Sättigungsgefühl breitete sich in seinem Magen aus, und er spürte, wie er ein wenig schläfrig wurde. Der Burger mit den Steakhouse Fritten war mal wieder fantastisch gewesen. Gute Wahl. Wobei er sich den Blick in die Speisekarte schenken konnte. Wenn er im Maybach war, bestellte er jedes Mal die Nummer 468, behauptete zumindest Alex.
Seit Parker vor gut einem halben Jahr von Köln nach Siegburg gezogen war, waren seine Besuche im Maybach weniger geworden. Ja, er, der eingefleischte Kölner, hatte es tatsächlich getan, hatte seiner Geburtsstadt den Rücken gekehrt, um in die ›Provinz‹ zu ziehen. So sahen es jedenfalls seine Freunde.
»Was?«, hatte ihn sein langjähriger Kumpel und Ex-Kollege Jo Degen ungläubig gefragt. »Du, nach Siegburg? Aufs Land? Warum denn das?«
»Wegen des mittelalterlichen Weihnachtsmarktes«, hatte Parker geantwortet.
»Aber Weihnachten ist nur einmal im Jahr!«
Für diese Feststellung hatte Parker nur ein mildes Lächeln übrig gehabt und seinem Freund erklärt, dass seine Mutter bekanntermaßen ein Mietobjekt in Siegburg besaß. In unmittelbarer Nähe des Marktplatzes, mit Blick auf die Abtei, also beste Lage. Und in eben diesem Haus sei nun eine neunzig Quadratmeter große Wohnung frei geworden. Die langjährige Mieterin sei plötzlich verstorben, was gewiss sehr traurig sei, doch für ihn einen Glücksfall darstelle. Parker musste nicht lange überlegen und nahm das Angebot seiner Mutter an, dort einzuziehen und mietfrei zu wohnen.
»Als Privatschnüffler verfügt man halt nicht über das regelmäßige Einkommen eines Staatsbediensteten«, hatte er seinem Freund abschließend geantwortet. Und Alex, die nach wie vor in Köln wohnte, hatte sich auf der Stelle in die beschauliche Kreisstadt an der Sieg verliebt. Sie mochte die Cafés und Bistros rund um den Marktplatz. Stöberte immer wieder gerne in dem kleinen Buchladen in der Holzgasse und genoss die hervorragenden Tapas beim Spanier gegenüber. Für Alex stellte Siegburg das ideale Kontrastprogramm zur nervösen Domstadt dar.
Alex! Alexandra Pino! Das wohlige Gefühl nahm zu, als er an die zurückliegende Nacht mit ihr dachte. Er fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes Kinn. Die Vorstellung, schon am nächsten Morgen mit Alex nach Zeeland zu fahren, mit ihr bis wann auch immer im Bett zu liegen und dann irgendwann aufzustehen, um sich bei Verdi, seinem Lieblingsitaliener, ein opulentes Frühstück servieren zu lassen, trieb ihn fast in den Wahnsinn vor lauter Vorfreude.
Parker war so berauscht von Glückseligkeit, dass er nicht bemerkte, dass jemand auf ihn zukam und vor seinem Tisch stehen blieb.
»Es freut mich, dich so relaxed zu sehen!« Schnitt! Jäh fielen die Bilder von weißen, zerwühlten Bettlaken und frischem Frühstücksei in sich zusammen, und Parker hätte seine Augen eigentlich gar nicht zu öffnen brauchen. Er wusste auch so, zu wem die Stimme gehörte. Eine Stimme, die man nicht vergessen konnte. Die in seinem Hirn eingebrannt war. Schmeichelnd und fordernd zugleich. Wie ein Musikinstrument. Mal sanft, mal sperrig. Wenn man wusste, mit einer solchen Stimme zu spielen, wenn man sie gezielt einzusetzen wusste, war sie eine Waffe. Manipulativ. Tina Rottländer! Und sofort waren die Erinnerungen wieder da und brachten die dazugehörigen Gefühle mit. Erinnerungen an eine Zeit, die er am liebsten für immer aus seinem Leben gestrichen hätte, und Gefühle, die bei ihm sogleich ein brennendes Rumoren im Magen auslösten.
Parker zwang sich zur Gelassenheit.
Nein, hier werden keine längst vernarbten Wunden gezeigt. Bedächtig nahm er die Sonnenbrille ab, hob den Kopf und verzog die Mundwinkel leicht nach unten, was seinem Gesicht die beabsichtigt spöttische Note verlieh. Auffordernd blickte er geradewegs in die Augen der hochgewachsenen Blondine, die mit einem verunglückten Lächeln vor ihm stand. »Darf ich mich zu dir setzen?«
Nein!, antwortete die innere Stimme schroff, und Parker deutete mit der Hand wortlos auf den freien Stuhl neben sich. Was soll das!, protestierte die Stimme.
Der Detektiv musterte die junge Frau mit unverhohlenem Misstrauen. Ihr langes Haar hatte sie hochgesteckt. Bis auf den dünnen Lidstrich war sie ungeschminkt. In ihren Augen glaubte er Tränen zu sehen, und ihr Teint erschien ihm ziemlich blass. Sie trug ein marineblaues Kostüm, mit seitlich geschlitztem kurzem Rock. Der Stoff ihrer weißen Bluse spannte sich ein wenig über der Brust. Sein Blick blieb kurzzeitig an den gebräunten Füßen hängen, die in Riemchenstilettos steckten.
Muss unbequem sein darauf zu laufen, dachte er. Insbesondere auf diesen grau-braun-beigefarbenen Splittersteinen im Maybach. Parker fasste zusammen: verrucht elegant. Wie alt müsste sie jetzt sein? Neunundzwanzig?
»Ich … ich hab dich gesucht. Hab rumgefragt, du weißt schon, die alten Stammplätze. Aber man hat dich lange nicht mehr gesehen. Du hast dich rargemacht, haben sie gesagt. Dann war ich im Bosporus. Erdem hat gemeint, du seist umgezogen. Würdest nicht mehr in Köln wohnen. Wenn, dann würde man dich am ehesten hier finden. Da habe ich wohl Glück gehabt.«
Parker bemerkte das Zittern ihrer Hände, als sie die weiße Zigarettenschachtel aus ihrer Lederhandtasche holte, und er widerstand dem Impuls, ihr das goldene Feuerzeug aus den Fingern zu nehmen, um für sie die dünne Zigarette in Brand zu setzen. Sie hielt ihm die geöffnete Schachtel hin. Er schüttelte den Kopf.
»Entschuldige«, sagte sie, wandte kurz das Gesicht ab, um den inhalierten Rauch auszuatmen, und fügte dann hinzu: »Wie dumm von mir, du rauchst ja keine Mädchenzigaretten.« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre vollen Lippen.
»Ich hab mit dem Rauchen aufgehört«, entgegnete Parker tonlos.
Sie legte den Kopf zur Seite, schaute ihn an und lächelte müde, als sie sagte: »Ja, du hast dich verändert, Lou.«
Parker zuckte mit den Schultern, atmete geräuschvoll ein. Eine Weile sprach keiner von beiden ein Wort.
»Und«, fragte Parker schließlich und blickte sie prüfend an, »was ist der Grund, weshalb du mich sehen wolltest?«
Warum stellte er diese Frage? Er verfluchte sich im selben Moment dafür. Wieso sagte er ihr nicht, sie solle aufstehen und gehen? Verschwinde! Raus aus meinem Leben! Ja, sie war hübsch! Und ja, sie hatte auch nach all den Jahren nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt!
Plötzlich fiel ihm dieser Sonntagnachmittag vor fünf Jahren wieder ein, als er auf seiner Joggingstrecke am Rheinufer unterwegs gewesen war. Es war ein ungewöhnlich schöner Märztag gewesen, viel zu mild für diese Jahreszeit. Sie war ihm entgegengekommen, mit pinkem Stirnband, die strohblonden Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden, in einem hautengen weißen Oberteil mit rotem Kussmund-Motiv und in knappen, weißen Sportshorts. In sehr knappen weißen Sportshorts. Nein, sie war beileibe nicht zu übersehen gewesen. Er hatte sie schon von Weitem kommen gesehen und innerlich schmunzeln müssen.
Parker wusste noch genau, was er damals gedacht hatte: Jessica Rabbit in blond! Playboy Hugh Hefner hätte seine pure Freude an ihr gehabt. Sie schien geradewegs auf ihn zuzulaufen, auf ihren langen schlanken Beinen. Und als sie nähergekommen war, hatte er sie wiedererkannt. Ihre Blicke hatten sich getroffen, und er war erstaunt gewesen, dass sie ihn angesprochen hatte. Da war er noch Polizist gewesen, im Dienstrang eines Kommissars und zuständig für den Bereich Prostitution, Menschenhandel und Drogendelikte. Und es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihm aufgefallen war.
»Ich hab den Job gewechselt, hab mich selbstständig gemacht und arbeite jetzt als Immobilienmaklerin«, hörte Parker sie sagen, was ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückholte. Dennoch brauchte er einen Moment, bis das Gesagte bei ihm angekommen war, und es verging eine volle Minute, bis er schließlich antwortete: »Oh, du hast die Branche gewechselt! Interessant. Und ich schätze, dein Zuhälter ist direkt mit ins Geschäft eingestiegen. Zur Abschreckung. Die Konkurrenz soll in Köln ja exorbitant sein.«
Tina schnalzte hörbar mit der Zunge, zog dann nervös an ihrer Zigarette und erwiderte: »Manu war nicht mein Zuhälter!« In ihrem Ton lag etwas Trotziges, beinah Zorniges.
»Ach nein?« Parker spürte, wie er wütend wurde, was ihn wiederum ärgerlich auf sich selbst machte. Er schüttelte den Kopf. »Dir ist wirklich nicht zu helfen«, rutschte es ihm unwillkürlich heraus. Der Detektiv erwartete einen mittelschweren Ausbruch, er wusste um ihr Temperament, doch sie zog nur ihre Augenbraue hoch.
»Darf ich schon was bringen?« Die freundliche Bedienung zückte den elektronischen Bestellblock aus dem Gürtelhalfter und schaute Tina an. »Für mich bitte nur einen Milchkaffee.«
»Gerne. Und noch was für Sie?«
»Nein«, antwortete Parker. Die Kellnerin schenkte Parker ein Lächeln, nickte, drehte sich um und ließ die beiden allein.
»Manu ist im Knast. U-Haft. Er ist vor drei Wochen eingefahren. Ich soll als Zeugin gegen ihn aussagen.« Tina drückte schulterzuckend ihre Zigarette aus. »Verdammt, Lou, nicht nur du hast Lehrgeld bezahlt. Und nicht nur du hast dich verändert.« Sie stockte.
Parker bemerkte, wie ihre Wangenknochen arbeiteten. Ihre Augen blitzten auf, als sie fortfuhr: »Ich hatte viel Zeit über das, was damals mit uns passiert ist, nachzudenken. Auch wenn es für dich nicht passt – du bist noch immer ein Freund für mich. Mir ist klar, dass ich von dir nicht erwarten kann, dass du für mich das Gleiche empfindest, nach alldem, was geschehen ist. Du fühlst dich von mir verraten, und ich kann es dir nicht verübeln, dass du mir die Pest an den Hals wünschst.« Tina griff erneut nach den Zigaretten und steckte sich eine an. »Nein, es kann keine Wiedergutmachung, keine Entschuldigung für das, was ich dir angetan habe, geben. Auch wenn ich wirklich nicht wusste, was man mit dir vorhatte. Ich dachte, man wollte dir bloß einen kleinen Denkzettel verpassen. Verdammt, ich war noch so jung! Trotzdem: Es tut mir unendlich leid. Ich traue mich nicht, dich um Verzeihung zu bitten …« Wieder brach sie ab und schüttelte den Kopf, zögerte, ihre Zähne vergruben sich in ihre Unterlippe, »… aber irgendetwas in mir sagt, dass du noch etwas für mich … übrig hast, trotz der Scheiße, die ich gebaut habe. Ja, vielleicht möchte ich es auch nur glauben.«
»Tina, komm zur Sache: Was willst du von mir?«
»Die Polizei … die lassen nicht locker. Dabei habe ich doch schon alles ausgesagt. Aber die glauben, dass ich mit den Geschäften von Manu was zu tun habe. Habe ich aber nicht. Die wollen mir was anhängen …«
Mit einer knappen Handbewegung schnitt Parker ihr das Wort ab und deutete mit dem Blick hinter sie. Tina schaute auf und sah die Kellnerin kommen.
»… ich brauche deine Hilfe!«, beendete sie ihren Satz, nachdem sie den Milchkaffee serviert bekommen hatte.
»Und was will man dir anhängen?«
Wieder schnalzte Tina mit der Zunge. »Mensch, Lou«, stöhnte sie auf, und Parker hörte deutlich die Verzweiflung in ihrer Stimme, »ich bin dabei, mir eine neue Existenz aufzubauen …«
»Was wird dir zur Last gelegt?«, fiel ihr Parker barsch ins Wort.
»Ich soll Mädchen für ihn rekrutiert haben.«
»Und?«
»Minderjährige Mädchen.«
Parker ließ etwas Zeit verstreichen, ehe er wieder das Wort ergriff. »Ich will gar nicht wissen, ob du in diese Schweinereien verstrickt bist oder nicht«, sagte er kühl, »das Einzige, was mich dabei interessiert, ist, was du von mir willst. Deine Beichte hast du ja bereits abgelegt, du kannst jetzt zum Punkt kommen.«
»Du kennst doch sicher noch eine Menge Leute bei der Polizei, hast deine Verbindungen. Ich bitte dich nicht, für mich zu lügen, aber vielleicht kannst du denen sagen, dass ich alles dafür tue, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich hab keine Ahnung, ob das was bringt, aber ich darf in meiner Situation nichts unversucht lassen. Und auch wenn du es nicht hören willst, ich …« Tina brach schluchzend ab, und Parker sah die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Fahrig griff sie in ihre Handtasche, holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich damit durchs Gesicht. Dann sprach sie mit erstickter Stimme weiter: »… ich hab nichts, absolut nichts, mit dieser Art von Geschäften zu tun gehabt. Mir ist wichtig, dass du das weißt.«
Also daher wehte der Wind. Er sollte an der richtigen Stelle ein gutes Wort für sie einlegen.
Tina setzte ein schiefes Grinsen auf, bei dem sich der eine Mundwinkel nach unten, der andere nach oben verzog. Sie zitterte. Die Augen ganz nass. Parker konnte sich nicht dagegen wehren, es überrollte ihn förmlich: In diesem Moment tat sie ihm nur noch leid. Er senkte den Blick, faltete die Hände vors Gesicht und legte beide Zeigefinger nachdenklich auf den Mund. Für eine Weile schwiegen beide. Dann schaute er auf und sah sie an. Die Sonne schien von rechts auf sie, und ihr Profil hob sich deutlich von dem Gebäude des Restaurants hinter ihr ab. Eine schöne Frau.
Parker atmete schwer aus. »Und«, er sprach leise und beugte sich dabei etwas vor, »wirst du gegen ihn aussagen?«
Sie schüttelte den Kopf, wollte etwas erwidern, doch dann griff sie nach ihrer Tasse und trank einen kleinen Schluck vom Milchkaffee. Schließlich stellte sie die Tasse wieder vor sich auf den Tisch, räusperte sich und begann erneut, diesmal mit fester Stimme: »Ich weiß es nicht. Meine Anwältin rät mir dazu – es würde meine Lage vor Gericht verbessern. Aber du kennst das Milieu, die schätzen es überhaupt nicht, wenn man einen der ihren in den Knast bringt. Auch wenn Manu nicht gerade viele Freunde in der Szene hat. Von wegen Zusammenhalt! Ha, die reiben sich doch schon alle insgeheim die Hände. Die stehen bereits in den Startlöchern, um seine Geschäfte zu übernehmen. Allesamt Heuchler. Verfluchte Heuchler.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Parker gedehnt und fügte ehrlich hinzu, »doch versprich dir nicht zu viel davon.«
»Danke!« Sie schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln.
In diesem Moment meldete sich Parkers Mobiltelefon. Ein rascher Blick auf das Display: eine ihm unbekannte Nummer. Er schaute hoch.
»Übernimmst du den Milchkaffee?«, fragte Tina, während sie die Zigarettenschachtel einpackte.
Parker nickte, und sie schenkte ihm abermals ein schmales Lächeln. Bevor sie aufstand, schob sie ihm ihre Visitenkarte rüber.
Der Detektiv sah ihr ins Gesicht. »Eine Frage noch: Warum, denkst du, sollte ich dir helfen?«
»Weil du ein guter Kerl bist.«
Parker schüttelte den Kopf. »Nein! Ich will im Gegenzug einen Namen. Einer reicht mir schon. Überleg es dir. Mein gutes Wort gegen einen Namen!«
Den Blick, den Tina ihm zuwarf, als sie wortlos aufstand, vermochte er nicht zu deuten. Sie schulterte ihre Handtasche, wandte sich ab und ging gekonnt über die Splittersteinchen in Richtung Ausgang, ohne sich noch einmal herumzudrehen. Er folgte ihr mit den Augen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann nahm er das Telefongespräch entgegen.
»Parker.« Schweigen. Atemgeräusche. Parker wartete, nahm die Visitenkarte in die Hand. Betrachtete sie. ›Tina Rottländer – Immobilienmaklerin‹, schwarze Schrift auf weißem Grund. Darunter eine schmale Leiste mit den Kontaktdaten. Weiße Schrift auf schwarzem Grund. Dezent. Er drehte die Karte um. ›Immobilien zum (Er-) Leben‹.
Dann eine gedämpfte, zittrige Frauenstimme: »Spreche ich mit dem Privatdetektiv Lou Parker?«
»Ja.«
Erneutes Schweigen.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Parker freundlich.
»Ich habe Ihre Anzeige im Rhein-Sieg-Anzeiger gelesen.« Die Frau stöhnte kurz auf. Dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, schätzte Parker sie zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig.
»Ja?«
»Ach, jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.«
Wieder wartete der Detektiv, hielt sich zurück.
»Mein … mein Mann betrügt mich …«, Parker hörte, wie die Frau tief Luft holte, dann sprach sie weiter, schneller, hektischer als zuvor: »Also, ich glaube, dass er mich betrügt. Ich hab keine wirklichen Beweise dafür. Es ist dieses Gefühl … Er kommt in letzter Zeit sehr spät von der Arbeit. Erzählt von unvorhersehbaren Einsätzen, erzählt von …«
»Darf ich Ihren Namen erfahren?«, bremste Parker ihren Redefluss.
»Ähm, natürlich! Selbstverständlich. Mein Name. König, Verona König. Und ich möchte Sie gerne engagieren. Können Sie bitte heute schon anfangen? Es soll auch nicht am Geld scheitern. Ich brauche schnellstens Gewissheit, ich …«
Parker konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sie zum zweiten Mal unterbrach: »Frau König, haben Sie recht herzlichen Dank für Ihr Vertrauen, doch ich kann Ihren Auftrag leider nicht annehmen, da ich ab morgen im Urlaub bin.«
Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung. Parker glaubte ein leises Schluchzen zu hören. Die Frau war verzweifelt, keine Frage. Parker verbannte jede Lässigkeit aus seiner Stimme, als er möglichst mitfühlend fortfuhr: »Aber ich kann Ihnen einen guten, einen sehr guten und sehr erfahrenen Kollegen empfehlen. Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen seine Nummer. Eventuell hat er gerade Zeit und kann Ihnen helfen.«
Die Bedienung tauchte vor ihm auf, als er gerade im Begriff war, sein Mobiltelefon zurück in die Brusttasche seines Jeanshemdes zu verstauen. Parker bestellte sich einen doppelten Espresso. Wieder einmal drifteten seine Gedanken ab, ohne dass er sich dagegen wehren konnte, in die Zeit, als er noch Polizist gewesen war. Als er mit seinem besten Kumpel und Kollegen Jo Degen in einem besonders schweren Fall von Kinderpornografie ermittelt hatte. Dabei waren sie einigen hohen Herren der Gesellschaft empfindlich auf die Füße getreten. Und als sie in dem Zusammenhang dann auch noch kurz vor der Überführung eines hochrangigen Kommunalpolitikers standen, hatte man Parker diese Falle gestellt, in die er auch prompt reintappte, was ihn fast sein Leben und in letzter Konsequenz auch den Job gekostet hatte. Parker hatte keine Chance gehabt, sich zu verteidigen. Zu engmaschig war das Geflecht, das Konglomerat aus Partei- und Geschäftsfreunden gewesen. Getreu nach dem Motto: Man kennt sich, man hilft sich. Parker lachte bitter in sich hinein.
Die Kellnerin brachte den Espresso. Parker fragte nach der Rechnung.
Und Tina war der Lockvogel gewesen. Er nahm es ihr sogar ab, dass sie die Tragweite ihrer Rolle damals nicht hatte überblicken können. Was es aber für ihn nicht leichter machte.
»Das sind bei Ihnen siebzehn Euro achtzig. Sie zahlen doch den Milchkaffee der Dame mit?«
Parker hielt ihr einen Zwanzig-Euro-Schein hin. »Ja. Stimmt so!«, antwortete er, und das freundliche Lächeln der jungen Frau wurde noch eine Spur breiter.
Parker betätigte im Gehen den Sensor seines Autoschlüssels, öffnete die Fahrertür des roten 1995er MX5 und zwängte seine Einsfünfundachtzig hinter das Lenkrad. Als er die Zündung betätigte, dröhnte ihm aus den Lautsprechern der Refrain »Atemlos, durch die Nacht …« entgegen, was ihn reflexartig veranlasste, das Radio gleich wieder auszumachen. Er ließ die Scheiben herunterfahren, entriegelte die Halterungen des Verdecks und schob das Stoffdach des Roadsters über seinen Kopf hinweg nach hinten. Grübelnd, mit den Gedanken noch bei Tina und den Ereignissen von damals, ließ er den kleinen Sportwagen aus der Parkbucht rollen und wurde sogleich von einem hysterischen Klingeln aus seinem Tagtraum gerissen. Hart stieg er in die Eisen. Ein schmächtiger Kerl mit Irokesenschnitt und hochrotem Kopf, der drohend die Faust erhob, schmetterte ihm ein »Haste keine Augen im Kopf?« entgegen, während er auf einem Fahrrad im Zebra-Design an ihm vorbeifuhr. Parkers genuscheltes »Sorry!« hatte er sicher nicht mehr gehört, denn er war bereits am Ende der Straße angelangt und bog rechts in Richtung Ritterstraße ab.
Parker wischte sich über das Gesicht, dann ein kurzer Schulterblick, und er setzte den Wagen vollends aus der Parktasche.
Wie kann es nur sein, dass mich diese alte Geschichte wieder so aus dem Tritt bringt, dass mich Tina wieder so aus dem Tritt bringt?, dachte er missmutig und fuhr ebenfalls die Maybachstraße bis zur Ampel durch.
Verflucht, irgendwann muss doch mal Schluss sein!
Zehn Minuten später befand sich Parker auf der Riehler Straße, um von dort seinen Wagen schließlich auf die Autobahn zu lenken. Der übliche A 3-Wahnsinn. Egal zu welcher Uhrzeit, hier war der Verkehr immer zähflüssig. So what! Stur geradeaus. Stop and go. Ab da schaltete sich der innere Autopilot ein, und die Erinnerungen zogen Parker in eine andere Zeit.
Als er von der Aulgasse auf die Mühlenstraße fuhr und den Wagen schließlich in der Herrengartenstraße parkte, waren fünfundzwanzig Minuten vergangen, und Parker wunderte sich, dass er schon zu Hause war.
Verdammt, Alter! Hüte dich davor, den Bogen zu überspannen! Du hast in deinem Leben schon so oft ins Klo gegriffen. Und das mit offenen Augen. Mit Ende dreißig solltest du so langsam aus deinen Fehlern gelernt haben, sinnierte Parker, während er den Sportwagen abschloss und auf die Mühlenstraße zuging. Nein, ich darf und ich will es diesmal nicht verbocken. Manche Chancen im Leben bekommt man nur einmal.
Der Detektiv blieb vor dem Haus aus der Gründerzeit stehen und ließ seinen Blick an der Fassade nach oben schweifen. Alles tipptopp in Schuss. Parker nickte zufrieden – er hatte wirklich Glück mit der Wohnung gehabt. Balkon auf der Rückseite, mit der direkten Aussicht auf die Abtei. Okay, der Balkon war mit Vorsicht zu genießen und wäre bei der Bauaufsichtsbehörde gnadenlos durchgefallen. Die Brüstung war aus Holz und schon reichlich verwittert, daher baufällig. Alex nannte es gefährlich und hatte ihn mehr als ein Dutzend Mal ermahnt, endlich eine Fachfirma zu beauftragen, um das Geländer zu erneuern. Ja, der Balkon stand ganz oben auf seiner Unbedingt-zu-erledigen-Agenda.
Er drehte sich um. Schaute die Straße hoch. Nicht viel Betrieb um diese Tageszeit. Sehr ruhige Gegend, in die er gezogen war. Ganz im Gegensatz zu seinem alten Kiez, dem Kölner Eigelstein. Mit der Hand fuhr er sich übers Gesicht und atmete schwer aus. Das hier war jetzt sein Zuhause. War es das? Er nickte. Jawohl! Mein neues Zuhause. Mein neues Leben.
Immer noch in Gedanken suchte Parker in der Jackentasche nach seinem Hausschlüssel, fand ihn auf Anhieb und schloss die Tür auf. Sofort drängte sich dieser hervorstechende Geruch in seine Nase. Unverkennbar. Parker grinste, Frau Bergsch machte mal wieder Reibekuchen, und das ganze Haus nahm daran teil. Zumindest was die Ausdünstungen anging.
Ein kurzer Blick in den Briefkasten sagte ihm, dass der Postbote an diesem Tag ein Einsehen gehabt hatte. Keine Rechnungen. Auch keine Knöllchen! Er schaute auf die Uhr. Gleich halb zwei.
Ja, der Zuträger müsste seine Runde bereits … Plötzlich erfasste Parker das schlechte Gewissen und ließ ihn mit schnellen Schritten die Treppenstufen emporhasten, bis er schließlich mit klopfendem Herzen im dritten Stock ankam.
Verdammt, er hörte ihn schon schreien. Kläglich! Nein, es war nicht geplant gewesen, dass er erst so spät nach Hause kam. Okay, er hatte die Nacht bei Alex in Köln verbracht. Und auch der Abstecher ins Maybach war einkalkuliert gewesen. Aber Tina, sie hatte ihn … er musste es sich eingestehen, er hatte den alten Knaben doch glatt vergessen. Dabei wohnte er schon seit fast einem Jahr bei ihm, war mit ihm nach Siegburg umgesiedelt … verflucht, ja, er hatte es seiner Mutter versprochen … Mist, jetzt fiel ihm auch noch der Schlüsselbund aus der Hand und schlug hart scheppernd auf den Steinboden auf. Das Schreien hinter seiner Wohnungstür wurde lauter … das würde nicht ohne Folgen bleiben. Da konnte er sich schon mal auf einen feinen Protest der Nachbarn einstellen.
»Sei still!«, hörte Parker sich leise flehen. »Ich bin ja da!« Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er unterdrückte einen Fluch, bückte sich und griff hastig nach den Schlüsseln.
Oh ja, sie würden ihn vierteilen! Teeren und federn! Oder zumindest öffentlich anprangern. »Herr Parker, das geht so nicht! Sie tragen die Verantwortung für diese Kreatur! Sie können sie nicht so oft und so lange alleine lassen! Sind Sie sich eigentlich Ihrer Verantwortung bewusst? Sie führen ein lotterhaftes Leben, Herr Parker!« Weiß ich!
Mit zittrigen Fingern steckte er den Schlüssel ins Schloss, wartete einen kurzen Moment, atmete tief ein, drehte rum und öffnete dann beherzt die Tür. Wenn Blicke vernichten könnten, wäre er jetzt und hier pulverisiert gewesen.
Und der Gestank! Dieser Kerl hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes was geschissen. Und das durchaus dekorativ und formschön mittig im Flur, auf den Terrakottafliesen. Direkt daneben saß er – Watson, der alte Kater! Er stierte Parker regungslos an. Den großen Kopf in den speckigen Nacken gelegt, glotzte der rot-braune Kater dem Detektiv direkt in die Augen.
»Duuu …«, Parker schluckte die Verwünschung herunter, bemüht darum, seine Fassung nicht zu verlieren.
Denk an die Nachbarn!, ermahnte ihn seine innere Stimme, dann machte er einen Schritt in die Wohnung, zog den Schlüssel ab und drückte, ohne dabei seinen Blick von Watson zu nehmen, die Tür hinter sich ins Schloss. Für eine Weile verharrten Mensch und Kater auf der Stelle, und Parker musste unweigerlich an Spiel mir das Lied vom Tod denken. Natürlich war er Bronson. Watson war Fonda und gleich tot! Auf beiden Seiten nicht die geringste Regung. Sekunden vergingen. Dann: Parker verengte die Augen zu Schlitzen, schüttelte sich kurz und stieß ein: »Nee, das ist mir jetzt aber echt zu blöd!« aus und stieg mit einem weiten Ausfallschritt über den Haufen. Im selben Moment kam Leben in den Kater. Er sprintete an Parker vorbei, rannte in die Küche und setzte sich vor seinen Fressnapf. Augen so groß wie Untertassen fixierten Parker, der sich nun schlendernd auf Watson zubewegte. Er ging eine Handbreit vor dem Kater in die Hocke und hob den Zeigefinger. »Du wartest!«, knurrte er, wobei er jede Silbe betonte. »Ich mach jetzt die Fenster auf, wisch deine Scheiße weg – und zwar ganz langsam und gründlich, und erst dann, wenn alles wieder sauber ist, gibt es was ins Schälchen! Und ich will keinen Laut von dir hören, verstanden?«
Begleitet von Watsons Schmatzen ließ Parker sich nach getaner Arbeit mit einem tiefen Seufzer in den samtbezogenen, roten Ohrensessel fallen. Das mit Rosenornamenten bestickte Sitzmöbel hatte ihm seine Mutter vor ihrem Umzug vererbt. Es war einfach zu wuchtig gewesen für das Zwei-Zimmer-Apartment im Seniorenheim. Und so hatte Parker nicht nur den Kater aufgedrückt bekommen, sondern auch dieses für ihn geschichtsträchtige Möbelstück.
Es gab Fotos aus der Zeit Ende der 1970er, darauf war seine Mutter zu sehen, in diesem Sessel, mit ihm als Baby auf dem Arm. Oder diese Aufnahme, die er so liebte, die seinen Vater in dem Sessel zeigte, wie er völlig versunken in einem Buch las. Parkers Vater, Oberst in der Britischen Armee, war vor zweieinhalb Jahren verstorben. Völlig unerwartet. An einem Herzinfarkt. Mit fünfundsiebzig. Das war ein ziemlicher Schlag für Parker gewesen. Sein Vater war für ihn immer ein Paradebeispiel für gesunde Lebensweise gewesen. Er trank nicht. Er rauchte nicht. Spielte seit seiner Jugend Kricket und Fußball. Und er hatte auch noch ein halbes Jahr vor seinem Tod am Köln-Marathon teilgenommen. Parker hätte ihm gerne Alex vorgestellt. Sie hätte ihm gefallen. Ach was, er hätte sie geliebt!
Parker seufzte. Er vermisste seinen Vater. Vermisste die langen, intensiven Gespräche mit ihm. Gespräche über Politik. Über Religion. Sein Vater, ein konservativer, gläubiger Mann, und er, waren wahrhaftig nicht immer einer Meinung gewesen. Doch hatte sich sein alter Herr stets den Fragen des Sohnes gestellt. Und waren sie auch noch so provokativ gewesen. Versonnen starrte Parker vor sich hin.
Die Fressgeräusche aus der Küche waren mittlerweile verstummt, und Parker schloss für einen Moment die Augen.
Eine halbe Stunde später stand Parker im Badezimmer. Den Rasierapparat in der rechten Hand, starrte er sich prüfend im Spiegel an. Tina! Nein, er war nicht auf sie vorbereitet gewesen. Oh verflucht, warum musste sie gerade jetzt, nach all der Zeit, wieder in sein Leben treten? Jetzt, wo er mit Alex so glücklich war. Wo er endlich wieder gut schlafen konnte, weil die Albträume verschwunden waren.