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Der finale Teil der Reihe Ausgeliefert! Nach den Ereignissen im Libanon ist Luisa schwer traumatisiert. Mike macht sich deswegen große Vorwürfe .In den Calanques nahe Marseille finden sie zunächst einen sicheren Unterschlupf, doch die Gastgeber haben ihre eigenen Pläne. Als Mike eine folgenschwere Entscheidung trifft, überschlagen sich die Ereignisse ...
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Copyright © Miriam Malik. 1. Auflage 2020. Alle Rechte vorbehalten, das Werk darf (auch auszugsweise) nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden. Coverbild: [email protected]
Lektorat: Anja-Nadine Mayer
Die Frau verdrehte die Augen und brach zusammen. Ein großes Loch klaffte in ihrem Kopf, ein wenig Blut floss heraus.
Luisa drehte sich um und visierte ihr nächstes Ziel an. Ein Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, blickte flehend zu ihr hinauf, sie hielt einen Teddy ohne Augen im Arm.
Luisa schoss erneut, das Kind brach tot zusammen, Blut rann aus dem kreisrunden Loch in ihrer Stirn, viel mehr als bei ihrer Mutter. Es sammelte sich in einer Lache, die sich ausbreitete und unaufhaltsam auf Luisas nackte Füße zuströmte. Sie registrierte es seltsam unbeteiligt.
„Sehr schön“, lächelte Sarah. „Das machst du ganz hervorragend.“
Luisa nickte knapp und blickte zu Mike hin, doch der stand nur steif da und starrte ins Leere.
„Wir können uns nicht ewig hier verstecken!“, brüllte Frances.
Luisa fuhr hoch. Hektisch sah sie sich um. Es war stockdunkel. Panisch tastete sie nach einem Lichtschalter und spürte eine Holzwand unter ihrer Hand. Die Hütte in den Highlands! War sie noch immer dort? Hatte sie etwa alles nur geträumt?
Doch ihr Bein schmerzte, und dann fiel ihr alles wieder ein. Sie befand sich nicht in Schottland, sondern in Albanien. Mike und die anderen hatten sie hier hergebracht. In Montenegro hatten sie Mohammeds Jacht verlassen und sich in einem Lieferwagen versteckt, der sie auf Schleichwegen nach Albanien fuhr. Dort waren sie in einen Geländewagen umgestiegen und mit zahlreichen Umwegen in einer Blockhütte mitten in den Bergen gelandet. Diese war überraschend gut ausgestattet, mit Dieselgenerator und elektrischer Beleuchtung, mit einem Gasherd und sogar fließendem Wasser, das für Luisas Geschmack allerdings noch etwas wärmer hätte sein können. Immerhin war es nicht so kalt wie damals in den Highlands …
„Wow“, hatte Frances gerufen, als sie davor parkten. „Was ist das?“
„Eine Schmugglerhütte“, mutmaßte Danny.
„Oder das Jagdhaus eines Gangsterbosses“, knurrte Frances.
„Beides, vermutlich“, sagte Mike. „Immerhin hat Mohammed es uns empfohlen, er war ja sogar schon einmal hier.“
„Ziemlich umtriebig, der Gute“, stellte Frances fest. „Er macht Import-Export, hast du gesagt. Aber womit genau?“
Mike zuckte die Schultern. „Alles, womit man Geld machen kann, bis auf das, was haram ist, also Alkohol, zum Beispiel. Waffen sind sein Spezialgebiet, so haben wir uns kennengelernt.“
„Interessante Moral“, stellte Frances fest.
Luisa seufzte bei diesem Gedanken. In was war sie da nur hineingeraten!
„Ganz ehrlich“, drang Frances‘ Stimme durch die Holzwand an ihr Ohr. „Wir haben schon lange genug in einer verfluchten Hütte im Nirgendwo festgesessen. Das brauche ich nicht noch einmal.“
Danny antwortete ihr deutlich leiser. Vermutlich beschwor er seine Freundin, nicht so laut zu schreien, denn kurz darauf sprach Frances weiter, aber Luisa konnte sie nicht mehr verstehen. Langsam setzte sie sich auf. Einen Moment lang wünschte sie sich, der ferngesteuerte, gefühllose Zombie aus ihrem Traum zu sein, dem egal war, wie viele Menschen er umgebracht hatte.
Ihr war es nicht egal. Vierundzwanzig Menschen hatte sie getötet, statt selbst in den Tod zu gehen, wie es sich gehört hätte, darunter fünf Frauen und fünf Kinder, und über sechzig waren verletzt worden. Warum hatte sie sich nicht einfach ins Meer gestürzt? Weil Mike und die anderen sie nicht gelassen hatten. Und weil Abu Yusef hatte sterben müssen. Aber hätten sie nicht noch einen anderen Weg finden können? Warum hatten sie ihn nicht einfach erschossen? Dann wären sie vielleicht auch gestorben, aber sie hätten so viele unschuldige Leben retten können … Hätte es nicht ihr höchstes Ziel sein müssen, zivile Opfer zu vermeiden?
Danny konnte noch so viel davon erzählen, dass es gewesen war wie in einem Drohneneinsatz, Frances noch so sehr betonen, dass Abu Yusef zwar tot, aber die Gefahr noch längst nicht gebannt war. Damit hatte sie recht, schließlich hatte Geheimdienstmitarbeiterin Sarah das wohl alles angezettelt und sie lief noch immer frei herum und wer konnte schon sagen, was sie als nächstes vorhatte … Trotzdem. Es war falsch gewesen. Sie hätte … Eigentlich hatte sie nichts anderes tun können. Frances und die anderen hätten jeden Alleingang sicher unterbunden und sie vermutlich eher gefesselt, als sie allein mit einer Bombe in das Hochhaus spazieren zu lassen. Oder ihr zu erlauben, sich ins Meer zu stürzen. Aber sie hätte es zumindest versuchen können. Vierundzwanzig Leben im Tausch gegen ihr eigenes. Das war einfach zu viel.
„Keine Ahnung!“ Frances‘ erregte Stimme riss sie erneut aus ihren Gedanken.
Luisa stand leise auf. Ihr Knöchel protestierte, aber sie ignorierte den Schmerz, schob sich näher an die Wand heran und lauschte.
„Wir können versuchen, sie in die USA zu schaffen“, hörte sie Danny antworten. „Wir müssen allerdings Papiere für sie besorgen, und mein Kontakt sitzt in London.“
„London ist zu gefährlich für uns alle.“ Mikes Stimme versetzte ihr einen kleinen Stich.
„Ja, am besten gehen Frances und ich allein“, schlug Danny vor. „Du bleibst mit Harvey und Luisa hier. Hoffen wir, dass Mohammed recht hat und niemand von der Hütte weiß, und dass es Sarah nicht gelungen ist, uns aufzuspüren. Wir nehmen ein Boot nach Italien, so bleiben wir bestmöglich unter dem Radar und fahren von dort bis Nordfrankreich, wo wir mit einem Schmugglerboot übersetzen.“
„Das wird dauern“, gab Mike zurück. „Was denkst du, Harvey?“
Sie konnte ihn nicht hören, vermutlich antwortete er nicht, wie immer. Stattdessen sprach Frances weiter.
„Ich fürchte, wir haben keine Wahl. Luisa braucht zwingend Papiere. Und ...“
Sie hörte nicht mehr zu. Was hatte Danny vor ein paar Tagen zu ihr gesagt? „Man muss akzeptieren, dass man nicht alle retten kann.“ Er hatte zwar die Leute im Hotel gemeint, doch seine Worte ließen sich auch auf diese Situation anwenden. Sicher war Sarah vor allem hinter ihr her. Wenn sie die drei verließ, müsste Sarah ihre Kapazitäten entweder aufteilen oder sich stattdessen auf eine Gruppe oder auch eine Person konzentrieren … Und dann müssten ihre Freunde wenigstens nicht mehr auf die lästige Terroristin aufpassen, die ständig in Schwierigkeiten geriet, und sich keine Sorgen über Ausweisdokumente und Verstecke machen ...
Ihr Entschluss war gefasst. Sie schnappte sich ein Stück Papier und einen Stift und krakelte darauf: „Ich muss gehen. So ist es besser. Danke für alles. Luisa.“
Lautlos öffnete sie das Fenster und schob sich hinaus. In den Wäldern würde sie sicher leicht Schutz finden. Sie beschloss, eine Weile dem Schotterweg zu folgen und sich dann in die Büsche zu schlagen. Es war angenehm kühl und der Mond beleuchtete sanft den Weg, sodass sie rasch vorankam. Dabei lauschte sie auf Motorengeräusche, doch nichts rührte sich. Vermutlich würden sie erst am Morgen bemerken, dass sie nicht mehr da war ...
Ihr Knöchel protestierte bei jedem Schritt, doch das hatte sie verdient. Sie fühlte sich seltsam frei, als ob eine schwere Last zumindest teilweise von ihr abgefallen war, obwohl sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was genau als nächstes passieren würde. Aber es würde sich etwas finden. Es hatte sich bisher immer etwas gefunden.
Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie verharrte und lauschte. Was war das gewesen? Es hatte sich angehört wie ein knackender Ast ... Und dort vorne, ein Stück die Straße hinunter ... Stand da nicht ein Wagen?
In dem Moment flammte gleißendes Licht auf, das sie voll erfasste.
„Keine Bewegung“, sagte eine tiefe Männerstimme auf Englisch, mit deutlichem, für Luisa jedoch undefinierbarem Akzent.
Sie fuhr herum, konnte aber, geblendet wie sie war, noch immer nichts erkennen.
Schnelle Schritte näherten sich.
„Wen haben wir denn da?“, fragte ein weiterer Mann mit ähnlichem Akzent.
Ein Wortwechsel in einer fremden Sprache folgte. Albanisch, vermutete Luisa. Verdammt, wer waren diese Leute? War sie in irgendeine Übergabe oder Schmuggelaktion geplatzt? So ein Mist ...
„Eine junge Frau, ganz allein im Wald“, schnurrte eine weitere Stimme mit deutlicher britischer Färbung.
Hektisch blickte sie um sich. Langsam konnte sie die Umrisse von drei Männern erkennen, die sie umringten. Einer von ihnen hielt eine Pistole in der Hand und richtete sie auf Luisa. Ein weiterer Wortwechsel in der fremden Sprache.
„Wir werden Englisch sprechen, damit sie uns versteht“, sagte der Mann mit der Pistole. „Schön, dass du uns besuchen kommst. Uns war verdammt langweilig hier, das kannst du uns glauben. Nun, wir werden zusammen Spaß haben, dann wird uns das Warten nicht so lang.“ Die Männer lachten dreckig.
Luisa überlief es kalt.
„Hände nach oben, Schlampe. Geh zum Wagen, aber langsam. Luan, mach ein Video davon“, fuhr der Brite fort.
„Geile Idee, Barker“, grinste dieser.
„Los, Schlampe!“, rief Barker. „Vorwärts! Oder soll ich dir Beine machen?“
Luisa stolperte gehorsam über den Schotterweg auf die Scheinwerfer zu. Furcht hatte sie ergriffen, sie zitterte unkontrolliert und fühlte sich einer Ohnmacht nah. Sie waren zu dritt. Sie hatten Schusswaffen. Das konnte sie nicht unbeschadet überstehen. Sie war ganz allein hier, mitten im Wald, niemand würde ihr helfen, niemand wusste, dass sie hier war … Das war sie, die Situation, aus der es keinen Ausweg gab. „Du kannst trotzdem kämpfen, bis zuletzt“, hörte sie Frances‘ Stimme in ihrem Kopf. „Solange du nicht völlig bewegungsunfähig bist, hast du immer eine Chance. Und wenn du trotzdem stirbst … Naja, dann bist du halt tot.“ Frances würde nicht so leicht aufgeben. Beruhige dich, dachte sie. Ganz ruhig. Es wird sich etwas finden.
Da war der Wagen. Langsam drehte sie sich um.
Die drei waren ihr gefolgt, Luan hielt sein Handy in der Hand und filmte sie damit.
Der Wortführer hatte seine Pistole weitergegeben. „Enis“, sagte er. „Schieß ihr in die Beine, wenn sie versucht, wegzulaufen. So, Schlampe. Zeig mal, was du hast. Zieh dich aus.“
Sie blieb stehen.
„Ich werde dir weh tun, wenn du mir nicht gehorchst. Ist es nicht so?“
„Du solltest ihm glauben“, lachte Enis. „Barker kriegt jede rum.“
„Nun?“, fragte Barker.
Sie starrte ihn stumm an.
„Wie du willst.“ Er trat auf sie zu.
Unwillkürlich wich sie zurück und spürte die Motorhaube in ihrem Rücken. Ihr Herz klopfte viel zu schnell und zu laut. Sie wandte sich ihm zu, er griff grinsend ihren rechten Arm. Im gleichen Moment zog sie mit der rechten Hand das Messer aus dem Gürtel und schwang es mit Kraft von rechts nach links, quer durch seine Kehle. Er stieß ein Gurgeln aus und griff sich an den Hals, ein Schwall Blut ergoss sich über Luisa. Sie legte einen Arm um ihn, er sank gegen ihre Schulter und drückte sie gegen die Motorhaube.
„Barker, was zum Teufel!“ Enis zielte mit der Pistole auf sie.
Barkers Körper war schwer und Luisa keuchte unter seinem Gewicht, doch er gab ein hervorragendes Schutzschild ab. Sie nutzte die Gelegenheit und warf das Messer. Die Klinge bohrte sich in Enis‘ Wange und blieb stecken, er gab einen harmlosen Schuss in die Baumkronen ab, sein Blick wurde trüb und er brach zusammen.
Schritte von rechts, Luan stürmte auf sie zu. Sie stieß Barker von sich und versuchte, Luan auszuweichen, war jedoch zu langsam. Der Mann rammte sie wie ein Panzer, sie taumelte und stürzte auf die Motorhaube und von dort zu Boden. Schon war er über ihr. Er brüllte sie in seiner fremden Sprache an, ließ ihr keine Zeit zum Luftholen. Mit brutaler Wucht schlug er auf sie ein, sie rollte sich zusammen, versuchte, ihren Kopf zu schützen und von ihm wegzukriechen, doch da lag Barker, der sich krümmte und mit grässlichen Lauten nach Luft schnappte.
Ein harter Schlag traf sie in die Rippen. Sie ächzte, presste sich an den Todgeweihten neben sich, spürte etwas Hartes an Barkers Bein, griff danach. Ein Messer. Luan drosch weiter wie rasend auf sie ein, völlig außer sich, ohne darauf zu achten, was sie tat. Sie stieß ihm die Klinge in den Oberschenkel. Er brüllte auf, holte erneut aus, sie stach ihm die Klinge in die Seite, zwischen die Rippen. Er stöhnte, Blut tropfte aus seinem Mund, sie stach erneut zu, wieder und wieder, bis er vornüberkippte, direkt auf sie. Sein schwerer Körper presste ihr die Luft aus den Lungen, ihre Rippen protestierten und Schwärze umfing sie.
Ein Surren weckte sie aus der Ohnmacht. Jede Faser in ihrem Körper schmerzte, ein tonnenschweres Gewicht drückte auf ihre Brust.
Sie zappelte, versuchte sich zu befreien, erst im dritten Anlauf schaffte sie es, den leblosen Körper ein Stück zur Seite zu schieben, und blieb völlig erschöpft liegen. Das Surren verstummte. Das war es dann wohl. Sie würde einfach hier liegenbleiben und sterben, wie die drei Männer. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie zuckte zusammen, als sie direkt neben sich wieder das Surren hörte und gleichzeitig eine Vibration spürte. Sie griff nach dem Handy. Mike, dachte sie und wischte über den Bildschirm. „Hilf mir“, flehte sie.
„Was?“, fragte eine Frauenstimme.
Das war nicht Mike.
„Wer war das? Wer ist da?“
Diese Stimme ... Die kannte sie. Luisa versuchte sich aufzurichten. Schmerz durchfuhr sie, sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
„Luisa?“, fragte Sarah.
Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Gedanken rasten.
„Ich verstehe“, tönte Sarahs Stimme an ihr Ohr. „Barker hat nicht abwarten können. Ich habe ihm gesagt, dass er euch nur beobachten soll, aber nun ... Gehorsam war noch nie seine Stärke, vor allem nicht, wenn Frauen im Spiel sind. Bist du verletzt, Luisa?“
Sie schwieg.
„Du klingst ziemlich außer Atem, meine Liebe? Und habe ich dich richtig verstanden? Was hast du gesagt? Hilf mir? Wer, dachtest du, bin ich? Dein Mike etwa? Was ist passiert? Haben sie dich erwischt und gefickt? Amüsieren sie sich grade mit Frances und sind deswegen zu beschäftigt, um auf dich achtzugeben? Nun, du musst nicht antworten, bald werde ich bei euch sein und selbst sehen. Bis dann.“ Die Verbindung war tot.
Luisa starrte auf das Telefon. Sarah würde hierherkommen? Das hieß, sie hatte diese Männer angeheuert? Dann musste sie die anderen warnen! Noch einmal versuchte sie, sich aufzusetzen. Alles tat weh. Wie sollte sie es nur bis zur Hütte schaffen?
Der Wagen, fiel ihr ein. Die Lichter strahlten noch immer gleichmäßig in die Dunkelheit. Irgendwie schaffte sie es, aufzustehen. Sie war klatschnass von all dem Blut, es stank widerlich nach Metall, und ihr war schlecht, aber sie durfte nicht schlappmachen. Sie lehnte sich an den Jeep und riss die Tür auf, was Wellen von Schmerz durch ihren Körper jagte und sie fast ohnmächtig werden ließ. Keuchend wartete sie, bis das Schlimmste überstanden war, dann quetschte sie sich hinter das Lenkrad und drehte den Schlüssel. Langsam gab sie Gas, doch der Wagen rollte nur ein kleines Stück nach vorne und kam schwankend zum Stehen. Dort lag etwas im Weg ... Was mochte das sein? Oh.
Sie setzte seufzend ein Stück zurück, legte den ersten Gang ein und gab deutlich mehr Gas. Der Wagen hoppelte über die toten Männer, was weitere Wellen aus Schmerz nach sich zog, doch dann hatte sie freie Fahrt. Sie schlug den Schotterweg ein, der sich den Berg hochschraubte. Jede Bewegung, jeder Atemzug jagte Schmerzen durch ihren Körper, Schweiß tropfte von ihrer Stirn.
Endlich tauchte die Hütte vor ihr auf. Sie bremste abrupt, was ihr ebenfalls fast das Bewusstsein raubte. Sie atmete ein paar Mal tief durch, kletterte aus dem Wagen, schwankte auf das Blockhaus zu und stellte fest, dass ihr jemand entgegenkam.
„Was zum Teufel ... Luisa?!“ Das war Mike.
Mit zitternden Händen fingerte sie Luans Telefon aus der Tasche und drückte es ihm ihn die Hand. „Sarah. Sie kommt hierher.“
„Was ist passiert?“ Sie hörte das Entsetzen in seiner Stimme. Er legte einen Arm um ihre Schulter und sie zuckte zusammen vor Schmerz. Er stützte sie und führte sie zum Haus. Sie war froh darüber, sie war sich nicht sicher, ob sie es allein geschafft hätte.
„Luisa, was um Gottes Willen ist passiert?“, fragte er noch einmal.
„Sie … Sie haben mich angegriffen“, keuchte sie.
„Wer hat dich angegriffen?“
„Weiß nicht.“
„Wie viele?“
„Drei.“
„Wo sind sie jetzt?“
„Tot.“
„Sicher, dass es nur die drei waren?“ Seine Stimme klang eindringlich.
„Weiß nicht“, sagte Luisa.
„Heilige Scheiße!“ Frances stand in der Tür. „Was hast du gemacht? Du siehst ja aus, als hättest du in Blut gebadet!“
„Frances, hilf Luisa, sich zu waschen, und sieh nach ihren Verletzungen“, bestimmte Mike. „Ich sehe mich draußen um.“
Harvey erschien, er warf Luisa einen durchdringenden Blick zu und folgte Mike.
Frances hakte sich bei Luisa unter und führte sie in das Badezimmer. „Wo bist du gewesen?“, schimpfte sie. „Was hast du dir nur gedacht? Das hast du jetzt davon.“
Luisa lehnte sich an die Wand und ließ sich völlig erschöpft auf den gefliesten Boden unterhalb der Dusche sinken. Sie wollte, dass diese verdammten Schmerzen aufhörten, und sich hinlegen und vergessen.
„Du darfst noch nicht schlappmachen!“ Frances zog an ihrem Shirt. „Wir müssen dich erst aus diesen Klamotten kriegen. Komm schon, hilf mir.“
Luisa fühlte sich außerstande, die Arme zu heben, sie war zu sehr mit atmen und mit den Schmerzen beschäftigt, die das Atmen mit sich brachte.
„So eine Scheiße!“ Frances schüttelte den Kopf. Sie packte Luisas Arme und zerrte ihr das Shirt und den BH herunter, dann tat sie das gleiche mit ihrer Hose und Unterhose. „O Mann, das ist wirklich verdammt viel Blut.“
Sie stellte die Dusche an. Ein Schwall eiskaltes Wasser klatschte auf Luisa, sie stieß einen Schrei aus und krümmte sich zusammen. Jeder Tropfen, der sie traf, fühlte sich an wie eine Nadel, die sich in ihren geschundenen Körper bohrte.
„Hoppla“, kam es von Frances. „Wird bestimmt gleich wärmer.“
Luisa konnte nicht antworten, sondern nur unkontrolliert zittern. Das Wasser wurde tatsächlich etwas wärmer, aber sie fror trotzdem erbärmlich.
Frances‘ Hand legte sich auf ihre Schulter. „Komm, lass mal sehen.“ Sie half ihr, sich auf den Rücken zu drehen, und zwar so, dass ihr das Wasser nicht mitten ins Gesicht spritzte. „Luisa.“ Sie klang entsetzt. „Hat dich ein Panzer angefahren? Das sieht ja übel aus.“
Luisa machte sich nicht die Mühe zu antworten. Ihr war eiskalt und sie konnte sich nicht vorstellen, je wieder Wärme zu empfinden.
„Sie sind tot, oder?“, grollte Frances. „Sie sollten es hoffen, sonst schneide ich sie langsam in dünne Scheibchen. Okay. Warte hier. Danny soll sich das mal ansehen.“
Luisa hatte nicht vor, irgendwo hinzugehen.
Mike stand vor der Hütte und starrte auf das Handy in seiner Hand. Er wollte sich das Video nicht ansehen, am liebsten hätte er das Gerät auf den Boden geworfen und zertreten, aber er musste wissen, was passiert war. Luisa war verletzt und stand unter Schock, er wollte sie nicht mit Fragen bedrängen. Sie musste sich erfolgreich zur Wehr gesetzt haben, das Blut konnte unmöglich allein von ihr gewesen sein. Aber … Was, wenn … Vorher … Er tippte auf Play und sah auf dem Screen, wie sie langsam auf den Wagen zuging, sich umdrehte und mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera blickte. Ein Mann trat auf sie zu und griff nach ihrem Arm. Mikes Hand zitterte, er zwang sich dazu, den Blick nicht abzuwenden. Dann sah er den Fremden taumeln und Luisa das Messer werfen, das Video verwackelte und er konnte nichts mehr erkennen, nur noch ein gurgelndes Geräusch hören und ein dumpfes Stöhnen …
„Mike!“
Er schrak zusammen und fuhr herum.
Frances kam auf ihn zu und runzelte die Stirn. „Wo ist Danny?“
„Draußen, mit Harvey.“
„Okay. Kommst du mal?“
„Was ist los?“ Er folgte ihr.
„Luisa sieht schlimm aus, vielleicht sind ihre Rippen gebrochen. Oh, da ist Danny ja! Ich komme gleich wieder.“
Mike öffnete die Tür zum Bad und fuhr erneut zusammen. Luisa lag zusammengekrümmt und splitternackt am Boden. Sofort sah er Isabella vor sich, wie sie ihn aus toten Augen vorwurfsvoll anstarrte ...
Reiß dich zusammen, fuhr er sich selbst an. Rasch stellte er das Wasser ab und beugte sich über sie. Ihre linke Seite war geschwollen und hatte bereits begonnen, sich dunkel zu verfärben, sie atmete stoßweise und hatte offensichtlich starke Schmerzen.
„Das wird schon wieder.“ Er drückte ihre Hand.
Sie nickte, öffnete den Mund.
„Nicht sprechen, ganz ruhig. Ich weiß alles, was ich wissen muss.“ Er griff nach einem Handtuch und wickelte sie darin ein. Sie stöhnte leise, als er sie berührte. Vorsichtig nahm er sie in seine Arme und hob sie hoch. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Behutsam trug er sie in ihr Schlafzimmer und legte sie auf das Bett. Sein Blick fiel auf einen Zettel, der auf dem Kopfkissen lag, stirnrunzelnd erfasste er die wenigen Worte.
Sie sah ihn an, aus unglaublich traurigen Augen.
„Alles wird gut.“ Er bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall, doch er hörte selbst, wie rau seine Stimme klang. So sanft wie nur möglich trocknete er sie mit dem Handtuch ab, deckte sie zu und holte die Tasche mit den Schmerzmitteln, die Mohammed ihm mitgegeben hatte. Als er in ihr Zimmer trat, zuckte sie zusammen und riss die Augen auf.
„Keine Angst.“ Er setzte sich auf das Bett, legte einen Arm um sie und half ihr, zwei Tabletten zu schlucken und ein Glas Wasser zu trinken. Sie zitterte stark, ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und sie weinte fast vor Schmerzen. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Behutsam ließ er sie in die Kissen zurücksinken, nahm ihre Hand und wartete darauf, dass die Schmerzmittel Wirkung zeigten.
Frances kam herein. „Wie geht es ihr?“
„Sie hat auf jeden Fall üble Prellungen, vielleicht ist auch etwas gebrochen.“
Frances nickte. „Ich habe es schon befürchtet. Draußen war nichts zu sehen. Wir haben gepackt und können los.“
Mike half Luisa, sich aufzusetzen. „Geht es?“
„Hm“, machte sie.
Er musterte sie eindringlich. Sie war nicht mehr ganz so fahl, die Wirkung der Pillen setzte ein.
Gemeinsam mit Frances zog er ihr frische Kleidung an. Vorsichtig packte er sie in die Decke und trug sie nach draußen zum Wagen, wo er sie auf die Rückbank bettete, mit dem Kopf auf Frances‘ Schoß. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die am Boden liegende, verletzte und zitternde Luisa erschien vor seinem inneren Auge und überlagerte sich erneut mit Isabella. Ich kann das nicht, dachte er. Sie wird genauso enden und das kann ich nicht ertragen. In dem Moment knallte Harvey die Tür zu. Mike fuhr erschrocken zusammen. Harvey warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und startete den Jeep. Der Wagen setzte sich schaukelnd in Bewegung und Luisa stöhnte leise. Mike starrte aus dem Fenster, während sein Herz noch immer raste und sich nicht beruhigen wollte.
Luisa wagte es, den Kopf leicht zu drehen. Die Tabletten zeigten Wirkung, aber es war trotzdem unbequem, zusammengekrümmt zwischen Danny und Frances auf der Rückbank zu liegen. Dazu hatte sie noch immer den Metallgeruch des Blutes in der Nase. Wie Mike sie angesehen hatte … Als wäre sie ein Gespenst. Und dann hatte er sich um sie gekümmert und sie verbunden und getragen und sie war nackt gewesen, fiel ihr ein. Ach du verdammter …
„Wie ist Sarah uns nur auf die Spur gekommen?“, unterbrach Frances ihre Gedanken. „Vielleicht hat Mohammed uns verraten!“
„Das glaube ich nicht. Vermutlich hat sie Tempora auf uns angesetzt und dazu alle Geheimdienste Großbritanniens“, meinte Mike düster.
„Tempora?“
„Das britische Überwachungsprogramm, das Gegenstück zum amerikanischen PRISM, das von Snowden aufgedeckt wurde. Verdammter Abu Yusef. Warum hat er sich auch in diesem Hochhaus verschanzt und uns gezwungen, ihn in die Luft zu jagen? Jetzt hat Sarah eine ganz offizielle Begründung, warum sie hinter uns her ist. Vermutlich hat sie mit Tempora Mohammeds Jacht aufgespürt, darauf gewartet, dass wir aussteigen und uns dann mit Satellitentechnik überwachen lassen.“
„Oder sie hat ganz einfach unsere Handys überwacht“, meinte Danny.
„Super“, schnaubte Frances. „Warum haben wir damit nicht gerechnet?“
„Wir haben damit gerechnet. Aber gegen Tempora haben wir langfristig kaum eine Chance, egal, wo wir uns verstecken. Sarah wird uns damit immer wieder aufspüren.“
„Ganz toll. Und was jetzt?“, fragte Frances.
„Es bleibt nur Marseille“, sagte Danny langsam.
„Nein“, fuhr Frances auf. „Nie im Leben.“
„Ich fürchte, das ist unsere einzige Chance.“
„Nein, das …Auf keinen Fall! Wäre es nicht sowieso am besten, wir bleiben hier in den Bergen, warten auf Sarah und knallen die Schlampe einfach ab?“
„Nein“, gab Danny zurück. „Zu viele Unwägbarkeiten. Was, wenn sie mit Hubschraubern oder Militär anrückt? Und denk an Luisa.“
„Ich fürchte, Dannys Vorschlag ist tatsächlich das einzige, was uns bleibt“, sagte Mike.
„Nur über meine Leiche!“ Frances setzte sich ruckartig auf, Schmerz jagte durch Luisas Rippen und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
„Sorry, Luisa“, knirschte Frances. „Aber das ist Irrsinn! Und es ist ganz furchtbar da. Und ... Wir können niemandem trauen, Danny.“
„Was haben wir für eine Wahl?“, gab er zurück. „Sarah wird uns überall aufspüren. In Marseille sind ihr zumindest die Hände gebunden.“
„Ja, weil wir da ganz andere Probleme haben werden“, schnauzte Frances.
„Das ist unsere einzige Chance“, sagte Mike. „Harvey?“
Keine Reaktion.
„Dann los“, sagte Danny. „Erst einmal Richtung Tirana.“
Frances seufzte. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“
Für Luisa blieb die Reise eine Tortur. Harvey fuhr über holprige Nebenstraßen, deren Unebenheiten den Wagen durchschüttelten. Die Tabletten schafften es nicht, den Schmerz komplett zu dämpfen. Hin und wieder dämmerte sie kurz weg, um wenig später erneut aufzuwachen, weil Harvey durch das nächste Schlagloch donnerte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit machten sie eine kurze Pause. Danny und Mike verließen den Wagen, während Harvey leise schnarchte und Frances versuchte, ihr oder sich selbst Mut zuzureden. „Das wird schon“, hörte Luisa sie murmeln. „Ich werde es schon ertragen.“
„Frances“, sagte Luisa.
„Nicht du, keine Sorge“, seufzte diese. „Nicht du. Ich rede von ... Nun ja. Du wirst sehen. Oh, das wird so furchtbar.“
Irgendwann kehrten Mike und Danny zurück, unter anderem mit Essensvorräten und noch mehr Tabletten.
„Was Stärkeres, gegen die Schmerzen“, meinte Danny, und sie nahm die Pille und fragte nicht nach, ob sie ein Krankenhaus bestohlen hatten oder in eine Arztpraxis eingebrochen waren.
Das Mittel dämpfte die Schmerzen auf ein zumindest halbwegs erträgliches Maß, sodass sie es sogar schaffte, längere Zeit zu schlafen. So bekam sie auch nur am Rande mit, wie Danny sie aus dem Wagen auf ein schwankendes, kleines und extrem dreckiges Fischerboot mit winziger Kabine verfrachtete, wo er sie auf eine Decke am Boden bettete. Harvey warf den Motor an, der schrecklich laut war und den gesamten Kahn vibrieren ließ. Es stank stark nach Diesel und Fisch. Luisa starrte an die rostige Decke der Kabine, von der großflächig die Farbe abblätterte. „Wo sind wir?“, fragte sie müde.
Danny ging neben ihr in die Hocke. „Vor der Küste von Vlora, wir setzen nach Italien über. Ich hoffe, dass wir noch vor Sonnenaufgang Torre Dell'Orso erreichen, ein Städtchen am Stiefelabsatz. Von dort aus schlagen wir uns dann nach Frankreich durch.“
Das klang nach einer langen Reise.
„Es wird schon“, meinte Danny zuversichtlich. „Ich habe noch mehr von den Tabletten, du wirst schlafen und das alles nicht mitbekommen.“
Hoffentlich, dachte sie. „Wie lang werden wir ungefähr unterwegs sein?“
„Reine Fahrtzeit über die Autobahn sind etwa vierzehn Stunden.“
Das hörte sich lang an, dachte sie beklommen.
„Mach dir keine Gedanken.“ Er tätschelte ihre Schulter und erhob sich wieder.
Warum sind wir nicht gleich auf Mohammeds Jacht geblieben?, dachte Luisa müde. Frances hatte es zwar gehasst, weil es keinen Alkohol gab, aber ... Selbst sie musste zugeben, dass es sich besser anhörte, sich in Mohammeds Villa zu verstecken, als stundenlang im Wagen zu fahren, vor allem dann, wenn jedes Schlagloch sich anfühlte, als ob ihr jemand eine Eisenstange in die Seite bohrte.
Die Überfahrt dauerte zum Glück nicht allzu lange. Harvey steuerte das Boot in eine kleine italienische Bucht, Danny und Frances halfen Luisa, hinauszuklettern, während Mike sich nach einem fahrbaren Untersatz umsah. Im Schatten eines Felsens warteten sie, bis Mike ihnen winkte. Luisa stöhnte innerlich, als sie das Gefährt sah – einen klapprigen, weißen Pickup. Zum Glück durfte sie sich neben Frances und Danny in die Kabine quetschen, während Mike und Harvey gleichmütig auf der Ladefläche Platz nahmen. Über holprige Schotterpisten ging es durch bergige Landschaft Richtung Brindisi, wo Harvey in einem Vorort einen Geländewagen borgte und sie sich wenig später auf den Weg nach Bari machten. Luisa dämmerte vor sich hin. Die Schmerzen nahmen wieder zu und die Straßen waren nach wie vor in keinem guten Zustand. Natürlich war es besser, mit einem gestohlenen Wagen nicht die Autobahn zu nehmen, aber auf diese Weise würden sie niemals ankommen. Das schienen auch die anderen zu wissen. Luisa hörte sie leise miteinander diskutieren. Bei einer halb verfallenen Hütte hielten sie schließlich an.
„Was passiert jetzt?“, fragte Luisa schläfrig.
„Wir warten hier“, meinte Frances gleichmütig. „Danny besorgt uns einen Mietwagen, mit dem wir dann hoffentlich bis nach Frankreich kommen.“
Bald darauf erschien Danny mit einem Geländewagen. Über die Autobahn konnten sie die Fahrt zügig fortsetzen – wenn man von zügig sprechen mochte bei all der Strecke, die noch vor ihnen liegen mochte. Danny gab ihr eine weitere Tablette und Luisa nahm sie und schlief. Als sie erwachte, befanden sie sich bereits auf Höhe Rimini.
„Wir kommen voran“, lächelte Danny. „Wenn alles gut geht, sind wir in acht Stunden am Ziel.“
Nach einer kurzen Pause schlief Luisa erneut ein. Bis sie davon wach wurde, dass Frances sie an der Schulter rüttelte. „Komm, steh auf, wir müssen raus hier.“
Überrascht stellte sie fest, dass die Sonne bereits tief stand. Sie musste diesmal wirklich lange geschlafen haben. „Was ist passiert?“, fragte sie benommen und setzte sich langsam auf. Es tat weh, aber es ging. Die Tabletten taten ihren Job. Sie standen in einer ruhigen Seitenstraße in einer Stadt, stellte sie fest, die von grünen Hügeln umgeben war. „Wo sind wir?“
„Genua“, sagte Danny. „Im Radio melden sie Wartezeiten wegen verstärkten Grenzkontrollen. Sie nennen keine Gründe, aber das kann nichts Gutes für uns bedeuten.“
„Und jetzt?“, fragte Luisa erschrocken.
„Wir nehmen die Strecke über Panice Soprana und Tende. Frances und ich fahren vor und checken die Lage. Wenn wir durchkommen, fahren wir direkt weiter nach Marseille und bereiten alles vor, wenn nicht, warten wir in Borgo San Dalmazzo auf euch, dann müssen wir es über Argentera versuchen. Harvey nimmt mit diesem Wagen den direkten Weg.“
„Okay“, sagte Luisa. Ihr schwirrte der Kopf von all den Namen.
„Wird schon.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Sie hatte das mulmige Gefühl, dass ein Teil seines Optimismus nur gespielt war, wollte aber nicht weiter darüber nachdenken.
„Das mit den Handys gefällt mir nicht“, sagte Mike.
„Weil wir nicht kommunizieren können?“
„Nein, dass Harvey sie alle mitnimmt. Es ist zwar schön, dass Sarah so hoffentlich auf eine falsche Spur gebracht wird, aber was, wenn sie ihn schnappen?“
„Er wird zumindest nichts sagen“, grinste Frances.
Harvey warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu.
„Sie kann dir Ärger machen, Harvey“, sagte Mike.
„Meine Entscheidung“, krächzte dieser.
Ich habe ganz vergessen, wie rau sich seine Stimme anhört, dachte Luisa.
„Nun denn …“ Frances drückte ihm ihr Handy in die Hand, Danny tat es ihr gleich und Mike gab ihm gleich zwei Geräte. Das eine ist sicher das aus Albanien, fiel Luisa ein.
„Gut. Komm.“ Mike öffnete die Wagentür, sie kletterte mühsam auf die Straße. Er legte einen Arm um sie und führte sie die Straße hinauf. „Geht es?“
„Hm“, machte sie. Es hätte sicher schlimmer sein können. Aber auch besser. Hoffentlich mussten sie keinen langen Fußmarsch machen.
In dem Moment zog Mike am Türgriff eines mittelgroßen Fiat direkt vor ihnen. „Du solltest dich wieder auf den Rücksitz legen.“
„Danke. Woher habt ihr den Wagen?“
„Gemietet.“ Sein Gesicht war ausdruckslos. Sie beschloss, nicht weiter nachzufragen und krabbelte unter Schmerzen in den Fiat. „Hier.“ Er drückte ihr eine Tablette und eine Wasserflasche in die Hand, während Danny die Tüte mit den Medikamenten und ihre Tasche in den Kofferraum steckte.
„Okay, gute Fahrt“, meinte Danny.
„Euch auch!“ Luisa legte sich erschöpft hin.
Wenig später fuhren sie los und bald darauf war sie bereits wieder eingeschlafen.
Mike fuhr durch die Nacht. Fast zwei Stunden hatte er auf einem kleinen Parkplatz in den Bergen gewartet und versucht, zu schlafen, doch leider vergeblich. Früher, da hätte er überall schlafen können, doch jetzt ... Er hatte seit der Überfahrt kaum ein Auge zugetan und bei jeder zuschlagenden Autotür war er zusammengezuckt. Hoffentlich würde er in Marseille nicht mehr so stark unter Strom stehen ...
Mittlerweile hatte er Borgo San Dalmazzo passiert, ohne Danny und Frances gesehen zu haben. Hoffentlich war der Weg frei. Er betete, dass sie nicht aufgehalten worden waren.
Ihm war nur zu bewusst, dass Luisa hinter ihm auf der Rückbank lag und schlief oder zumindest zu schlafen versuchte. Er mochte sich nicht vorstellen, welche Tortur es für sie sein mochte mit den angeknacksten Rippen. Gut, dass sie die meiste Zeit schlief. Sie würden noch verdammt lange unterwegs sein, aber was hatten sie schon für eine Wahl? Vielleicht konnten sie dann zumindest in Frankreich ein Stück Autobahn fahren. Zumindest war es jetzt nicht mehr weit bis zur Grenze.
Doch was war das vor ihm? Dieses Schild und die Warnung vor einer Ampel … Verdammter Mist. Um nach Frankreich zu kommen, würden sie einen dreitausend Meter langen Tunnel durchqueren müssen! Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Von Danny und Frances war nichts zu sehen, der Weg musste frei sein. Wenn sie nicht aufgehalten worden waren. Einen Moment lang überlegte er tatsächlich, einen anderen Grenzübergang zu suchen, doch das würde einen gewaltigen Umweg bedeuten ... Augen zu und durch, dachte er. Die Pistole hatte er neben sich in die Tür gesteckt. Im schlimmsten Fall ...
Auf italienischer Seite war niemand zu sehen, offensichtlich war niemand so verrückt, mitten in der Nacht auf diesen engen Bergstraßen herumzukurven. Hoffentlich bereiten uns die Franzosen auf der anderen Seite keinen ungemütlichen Empfang, überlegte er. Der Wagen war ja schließlich nur geliehen ... Wenn man das so nennen wollte ...
Die Ampel sprang auf grün um, und er fuhr in den Col-de-Tende-Tunnel hinein. Die Röhre kam ihm verdammt eng vor. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und er spürte, dass seine Hände anfingen zu zittern. „Reiß dich zusammen“, murmelte er. Gott sei Dank war das Tempo auf fünfzig Kilometer beschränkt, schneller hätte er sich kaum fahren trauen. Allerdings dauerte es endlos.
Nach einer Weile entdeckte er Lichter im Rückspiegel. Er war doch nicht der einzige hier. Hoffentlich keine Polizei. Das Fahrzeug kam schnell näher, so schien es ihm. Das helle Licht machte es schwer, zu erkennen, was da hinter ihm fuhr. Er tippte auf einen Kleinbus oder einen Lieferwagen. Offenbar hatte es der Fahrer eilig, er fuhr ziemlich nah auf.
Verdammter Mist. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Der Typ klebte allen Ernstes an seiner Stoßstange, dabei fuhr er doch schon sechzig. Nicht ärgern. Er biss die Zähne zusammen. Er würde ruhig und konzentriert bleiben. Da vorne, was war das, war das nicht … Doch, da war ein schwacher Lichtschein!
Dann hatte er es endlich geschafft. Puh. Eine Last fiel von ihm ab, als er aus der finsteren Röhre fuhr und den strahlenden, beinahe vollen Mond über den Bergen sah. Sofort zog der Wagen hinter ihm links vorbei und raste in die Nacht. Ihm sollte es recht sein. Keine Polizei, fiel ihm auf. Sie waren in Frankreich. Das Schlimmste hatten sie hinter sich.
Noch etwa drei Stunden Fahrzeit, wenn er die Autobahn nahm, überlegte er auf Höhe des Dörfchens Sospel. Oder doppelt so viel, wenn er seinem ursprünglichen Plan folgte ... Lieber die längere Route nehmen, beschloss er und bog ab Richtung Entrevaux und Manosque. Noch eine Stunde, dann würde er eine kleine Pause machen und den Rest ... Den würde er dann auch noch schaffen.
Von Luisa war kein Laut zu hören, vermutlich schlief sie. Nun, er würde die Pause nutzen, um nach ihr zu sehen, und ihr bei Bedarf noch eine der Pillen geben. Danny hatte ein buntes Sammelsurium aus der Apotheke entwendet. Ob auch etwas Aufputschendes dabei war?
Bald drei Uhr früh, stellte er fest. Dies war die schlimmste Zeit, um zu fahren. Aber den größten Teil hatte er geschafft. Er schielte zur Karte hin, die auf dem Beifahrersitz lag. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Reh auf die Straße sprang. Er machte eine Vollbremsung und riss gleichzeitig das Lenkrad herum, der Wagen durchbrach die Leitplanke und stürzte in die Dunkelheit.
Luisa erwachte. Ihr Körper schmerzte, das war nichts Neues. Sie brauchte kurz, bis sie begriff, dass sie sich in einem Wagen befand. Dieser bewegte sich jedoch nicht und sie lag merkwürdig eingekeilt zwischen den Sitzen, was sie an ihre allererste Begegnung mit Mike in London erinnerte. Dazu standen sie schief, die Vorderräder schienen tiefer zu stehen als die Hinterräder, als ob sie auf einem steilen Abhang geparkt hätten. Das einzige Licht kam vom Mond, der hell auf sie herabschien.
„Frances?“, fragte sie.
Sie hörte ein Rauschen, wie von einem Fluss, ansonsten war es still und kühl, fast schon frisch. Danny und Frances sind getrennt von uns unterwegs, fiel ihr ein. „Mike?“
Ein leises Stöhnen kam vom Vordersitz.
Ihr Herz setzte einen Moment lang aus. Wir hatten einen Unfall, dämmerte es ihr. Großer Gott! „Mike!“
„Alles gut, Luisa“, hörte sie ihn krächzen.
Sie hatte das Gefühl, dass dem absolut nicht so war.
Mühsam versuchte sie, sich aufzusetzen, doch sie fühlte sich schwach und zittrig und es gelang ihr erst beim dritten Versuch. „Mike!“ Sie blickte zwischen den vorderen Sitzen hindurch und erstarrte. Der Wagen musste von der Straße abgekommen, einen Abhang hinuntergerutscht und gegen einen Baum geprallt sein. Ein Ast hatte sich durch die Windschutzscheibe hindurchgebohrt und ragte ins Innere, das Verbundglas war trüb und eingerissen. Die Motorhaube war vor allem auf der Beifahrerseite eingedrückt und stand halb offen. Wenn sie dort gesessen hätte …
Mike richtete sich langsam auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Sitz. „Alles gut, Luisa“, keuchte er. „Alles gut. Wir hatten nur einen kleinen Unfall.“
Kleiner Unfall schien ihr untertrieben. „Ich komme zu dir.“ Sie stemmte die Tür auf, atmete tief durch, und ließ sich langsam aus dem Wagen gleiten, dann kletterte sie ein Stück nach unten und öffnete die Fahrertür. Er saß merkwürdig zusammengekrümmt da. Im Licht des Mondes sah sie dunkle Flecken auf seiner Jeans, die größer zu werden schienen. Er ist doch nicht etwa eingeklemmt!, dachte sie entsetzt.
„Luisa, im Kofferraum ist ein Verbandskasten. Kommst du da dran? Und auch an die Wasserflasche?“
„Ja, sofort.“ Sie stützte sich am Wagen ab, arbeitete sich langsam durch halbhohes Gestrüpp hinauf zum Kofferraum und öffnete ihn. Der Wagen schaukelte leicht, Mike stöhnte gequält.
„Nicht bewegen!“, rief sie. „Ich helfe dir.“ Das Licht im Kofferraum ging nicht an, zum Glück schien der Mond hell genug. Alles lag wild durcheinander, Wasserflaschen, ihre Taschen, das Warndreieck, die Warnweste. Einen Moment starrte sie das gelbe Ding an, da wurden Erinnerungen wach an ihre allererste Fahrt mit Mike … Doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Sie suchte weiter und fand schließlich den Verbandskasten. Gut. Jetzt noch die Wasserflasche … Ihr Blick fiel auf die Plastiktüte, in der sich noch ein Teil der Medikamente befand. Das war doch auch nicht verkehrt! Hastig stopfte sie alles, was aus der Tüte gefallen war, hinein. Mit ihrer Beute arbeitete sie sich wieder nach unten, zur Fahrertür.
Mike hatte es mittlerweile geschafft, die Beine aus dem Wagen zu strecken. Jeans und Schuhe waren voller Blut, es roch leicht nach Metall …
„Nicht so schlimm.“ Er klang leicht benommen.
Nicht so schlimm?, wollte sie schreien.
„Es geht schon.“ Er zog ein Messer hervor und schnitt seine Jeans auf. Dunkles Blut strömte aus einer klaffenden Wunde in seinem Oberschenkel. Sie fühlte sich schwach und zittrig und war froh, dass es dunkel war, sonst wäre sie vielleicht in Ohnmacht gefallen.
„Bist du verletzt, Luisa?“
„Ich ... Nein ... Mike! Was ... Kannst du Danny anrufen?“
„Nein, ich habe kein Handy bei mir. Zu gefährlich. Aber …“ Er sah zu ihr hin. „Luisa.“ Er bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall. „Die Wunde ist ziemlich tief, aber die Arterie scheint nicht verletzt zu sein, sonst wäre ich schon längst bewusstlos. Ich werde es überleben. Okay?“
„Mike ...“
„Ich hatte schon schlimmere Verletzungen. Gib mir die Wasserflasche. Du kannst schon einmal Verbände und zwei Kompressen bereitlegen.“
Sie reichte ihm die Flasche und er trank, während sie im fahlen Mondlicht das Verbandsmaterial heraussuchte. Mike legte sich die Kompresse auf die Wunde und sie umwickelte sein Bein großzügig mit dem Verband. Er schwitzte stark und biss die Zähne zusammen. Wie gerne hätte sie ihm geholfen! Moment! Sie wühlte in der Plastiktüte, zog eine Packung heraus und starrte angestrengt darauf. Sie konnte zwar gerade so lesen, was darauf stand, hatte jedoch keine Ahnung, wofür die Pillen gut sein mochten. Sie überlegte fieberhaft. Danny hatte ihr doch Tabletten gegeben, eine Packung davon musste also bereits offen sein. Sie suchte und fand tatsächlich die angebrochene Schachtel. Mit zitternden Händen nahm sie eine Pille heraus und hielt sie Mike hin.
Er sah sie an, zögerte.
„Nimm“, drängte sie ihn.
„Die machen müde“, sagte er mit rauer Stimme. „Und das … Ach, verdammt.“ Er sagte etwas, das sie nicht verstand, schluckte schließlich die Tablette und spülte mit Wasser nach. „Gut. Nimm du auch noch eine von denen, damit wir schnell weiterkönnen.“ Er zog den Schuh von seinem Fuß. „Nicht so schlimm“, stöhnte er und zog seinen blutgetränkten Socken aus. Luisa lehnte sich schwer an das Fahrzeug. Ein Wunder, dass er sich aus dem Wrack hatte befreien können! Das musste verdammt weh tun! Er konnte sicher nicht laufen … Wieder stieg Übelkeit in ihr auf. Hoffentlich musste sie sich nicht übergeben.
„Wir haben Glück, Luisa.“
Glück? Darauf wäre sie nicht gekommen.
„Da vorne. Da ist ein Licht. Da finden wir sicher ein Fahrzeug. Sehen wir zu, dass wir dort hinkommen und von hier verschwinden.“
Er hatte recht, da war tatsächlich ein Licht in der Ferne! Sie kämpfte sich zurück zum Kofferraum und suchte alles zusammen, was sie mitnehmen konnten. Als sie zu Mike hinsah, stand er bereits neben dem Wagen.
Schnell kletterte sie zu ihm hinunter. „Komm, ich helfe dir.