Entführt in den Orient - Miriam Malik - E-Book

Entführt in den Orient E-Book

Miriam Malik

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Beschreibung

Ex-Special-Forces-Soldat Mike hat Luisa aus den Fängen des brutalen Sadisten Royce befreit. Doch die traumatischen Erlebnisse haben ihre Spuren hinterlassen und es fällt ihr schwer, in ihr früheres Leben zurückzukehren. Auch auf ihren langjährigen Freund kann sie sich nicht mehr richtig einlassen, zumal sie sich in Mike verliebt hat. Der kämpft allerdings mit seinen eigenen Dämonen und sehnt sich danach, alles hinter sich zu lassen und mit seiner Vergangenheit gänzlich abzuschließen. Doch dann wird Luisa entführt und Mike muss alles versuchen, um sie vor einem grausamen Schicksal zu bewahren ... Der packende Nachfolgeband von "Entführt in die Highlands" kann auch unabhängig vom ersten Teil gelesen werden. Die Trilogie ist abgeschlossen und endet mit dem Band "Entführt in Marseilles".

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Entführt in den Orient

Teil 2 der Reihe Ausgeliefert

Von Miriam Malik

 

 

 

 

Copyright © Miriam Malik. 1. Auflage 2020. Alle Rechte vorbehalten, das Werk darf (auch auszugsweise) nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden. Coverbild: [email protected]

Lektorat: Anja-Nadine Mayer

 

 

 

Teil 2: Entführt in den Orient 

 

 

 

Luisa rannte voller Panik die nur spärlich beleuchtete enge Straße entlang. Die Schritte ihres Verfolgers hämmerten hinter ihr auf das Pflaster. Hohe Backsteinmauern erhoben sich rechts und links neben ihr und gaben den Weg vor, nirgendwo zweigte eine Gasse ab, nirgendwo tat sich ein neuer Fluchtweg auf, es ging immer nur geradeaus. Ihre Lunge brannte, sie bekam kaum noch Luft. Reiß dich zusammen, weiter, immer weiter, spornte sie sich verzweifelt an. Sie wusste nur zu gut, was er mit ihr tun würde, wenn er sie erreichte.

Da, vor ihr, eine Feuertreppe aus Metall! Sollte sie versuchen, sich daran hochzuziehen und nach oben zu klettern? Doch sofort verwarf sie den Plan wieder, ihr Verfolger war bereits zu nah und er kam immer näher, seine Schritte dröhnten immer lauter und lauter. Also weiter geradeaus, ihre einzige Chance bestand darin, ihn auf diese Weise abzuschütteln. Die Gasse verengte sich zunehmend, wurde schmaler und schmaler. Sie stolperte über eine Unebenheit, konnte sich gerade noch fangen, bevor sie hart auf dem Boden aufschlug, und hetzte weiter, doch sie wusste genau, auch das hatte wieder entscheidende Meter gekostet …

Da vorne, was war das … Ihr Magen krampfte sich zusammen. Eine glatte Wand ragte vor ihr auf, dunkle Fensterlöcher starrten wie mitleidslose Augen, die sich an ihrer Angst weideten, auf sie herab. Dort rechts, eine Tür in der Backsteinmauer! Sie packte die Klinke und rüttelte daran, doch die Klinke ließ sich nicht herunterdrücken … Helles Licht leuchtete auf, eine Hand packte sie an der Kehle, zwang sie, sich umzudrehen. Sie blickte in zwei kalte, eisblaue Augen.

„Na, Schlampe?“, zischte Royce. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich finden werde.“

Er schleuderte sie zu Boden, sie fiel auf den Rücken und wollte wegkriechen, doch sie konnte sich nicht bewegen, so sehr sie es auch versuchte. Eine Welle der Panik überrollte sie, sie wollte schreien und öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus.

Unendlich langsam beugte Royce sich mit seinem kalten Grinsen zu ihr hinunter, dann setzte er sich auf ihre Beine, zückte ein Messer und zerschnitt ihr Shirt.

Bitte nicht!, wollte sie rufen, doch noch immer kam kein Ton über ihre Lippen.

Ein südländisch aussehender Mann erschien neben ihrem Peiniger und starrte mit kalten, ausdruckslosen Augen auf sie herunter. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn erkannte. „Mike!“, krächzte sie. „Hilf mir, Mike! Bitte!“

„Er wird dir sicher nicht helfen“, grinste Royce. „Er gehört mir. Und du gehörst mir auch.“ Mit diesen Worten stieß er ihr das Messer in die Brust.

Der Schmerz raubte ihr den Atem und die Sinne, sie öffnete den Mund und hörte einen durchdringenden, verzweifelten Schrei. Sie ahnte, dass sie es war, die diesen Schrei ausstieß.

Royce bohrte das Messer tiefer in sie und sie schlug wild um sich und traf ihn, er fiel zu Boden, zu Füßen von Mike, der sie weiterhin mit ausdruckslosem Gesicht musterte.

„Gott verdammt“, brüllte Jonas.

Verdutzt stellte Luisa fest, dass nicht Royce am Boden lag, sondern ihr Freund Jonas, der sich zu allem Überfluss an die Stirn fasste und anklagend zu ihr heraufsah. Sie befanden sich auch nicht in einer von Backsteinmauern Gasse, sondern in ihrem Schlafzimmer in einem Vorort von München. Mike allerdings stand wirklich in der Tür und musterte sie mit ausdruckslosem Gesicht. Bei diesem Anblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich die Decke über das Gesicht zu ziehen und sich zu verkriechen und einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.

Mike brach den Bann, indem er ihr knapp zunickte und so lautlos verschwand wie er gekommen war.

„Entschuldige“, sagte sie zu Jonas. „Ich habe schlecht geträumt.“

„Ich weiß“, knurrte er, rappelte sich auf und rieb sich den Allerwertesten. „Ich habe versucht, dich zu wecken, weil du merkwürdige Laute ausgestoßen hast.“

„Entschuldige“, murmelte sie noch einmal. „Brauchst du etwas? Eis oder so?“

„Geht schon“, nuschelte er und kroch neben ihr unter die Bettdecke. Bald darauf hörte sie ihn leise schnarchen.

Auch Luisa war hundemüde, doch Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Sie konnte noch immer nicht fassen, was in den letzten Monaten und vor allem in den letzten Tagen alles passiert war.

 

Mike stieg vor Luisa aus der Maschine und eskortierte sie quer über den Militärflugplatz nahe München, zusammen mit zwei streng dreinblickenden Polizisten. Ein abgetrennter Bereich ganz in der Nähe war voller Menschen. Es dauerte einen Moment, bis Luisa in der Menge ihre Eltern erkannte, und fühlte eine riesige Erleichterung. Sofort stürmte sie los und fiel ihrer Mutter in die Arme. Sie lachte und weinte gleichzeitig, als sie ihren Vater umarmte. Doch dann stand plötzlich Jonas vor ihr, mit einem Blumenstrauß in der Hand.

Er drückte sie fest an sich. „Ich habe dich so vermisst … All die Zeit kein Lebenszeichen … Aber ich wusste, dass du keine Terroristin bist“, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

Sie stand da wie erstarrt und ließ seine Umarmung reglos über sich ergehen. Sie hatte nicht im Traum damit gerechnet, ihn hier zu sehen. Schließlich hatte sie ihm vor einigen Monaten einen Abschiedsbrief geschrieben und seitdem kaum noch an ihn gedacht … Sie blickte über seine Schulter hin zu Mike, der seelenruhig am Rand des Trubels stand und völlig unbeteiligt wirkte, als ginge ihn das alles nichts an, und dachte bei sich: O du verdammter Mist!

Endlich ließ Jonas sie wieder los. Nun stand ihr Bruder Martin neben ihr und schlug ihr auf die Schulter. Freundinnen drängten sich vor, um mit ihr zu sprechen, und stellten ihr tausend Fragen. Warum war sie einfach so verschwunden? Was hatte es damit auf sich, dass sie als Terroristin gesucht worden war? Sie hatten sich ja alle so viele Sorgen gemacht!

Alle redeten gleichzeitig auf sie ein, Menschen, mit denen sie nie viel zu tun gehabt hatte, benahmen sich so, als wären sie ihre besten Freunde. Das Ganze wurde ihr langsam zu viel.

Plötzlich war Mike neben ihr. „Please. She needs rest“, forderte er.

Als die Meute Luisa daraufhin etwas mehr Luft ließ, atmete sie erleichtert auf.

Jonas fasste Luisa besitzergreifend am Arm und bugsierte sie nach draußen. Dabei warf er Mike, der hinter ihnen herstapfte, immer wieder misstrauische Blicke zu.

„Folgt der uns etwa?“, fragte er.

„Mike passt auf mich auf“, erklärte Luisa schwach und überließ Jonas wie betäubt die Führung. Sie hatte ihn völlig abgeschrieben, sich auf ihre Eltern gefreut und war davon ausgegangen, ihn nicht anzutreffen. Doch er schien nichts von ihren Briefen zu wissen … Was sollte sie denn jetzt nur tun?

Auf dem Parkplatz hielt Luisa unwillkürlich nach ihrem schon etwas älteren schwarzen Golf Ausschau. Doch Jonas zückte seinen Autoschlüssel bei einem roten BMW X5, trat an die Beifahrerseite und öffnete für sie die Tür.

Sie setzte sich nach vorne, Mike nahm auf dem Rücksitz Platz.

„Schickes Auto“, murmelte sie.

„Ja, nicht wahr?“, antwortete Jonas und wenig später lauschte Luisa einem Monolog über die Vorzüge und Extras ihres neuen Wagens. Luisa nahm zerstreut Begriffe wie Sitzheizung, Komfortschlüssel und Spurassistent wahr, ohne wirklich zu verstehen. Sonst ist es gar nicht seine Art, pausenlos zu plappern, überlegte sie. Doch es sollte ihr nur recht sein – so musste sie keine unangenehmen Fragen beantworten.

Zum Beispiel die, was Mike hier machte. Wobei sie das selbst kaum beantworten konnte. Im Flugzeug hatte sie sich noch gefreut, dass er mitgekommen war. Ihr Herz hatte einen Sprung gemacht und ihr deutlich zu verstehen gegeben, was sie für ihn empfand. Doch er blieb so kalt und so unnahbar wie eh und je …

Es entging ihr nicht, wie Jonas immer wieder nervös in den Rückspiegel blickte, als ob er Mike im Auge haben wollte, doch er redete dabei weiter wie ein Wasserfall. Luisa hörte kaum zu und starrte stattdessen lieber aus dem Fenster auf den grauen Himmel über München. Regen prasselte an die Scheiben, die Bäume hatten mittlerweile fast alle Blätter verloren. Im November zeigte sich die Stadt gerne von ihrer ungemütlichsten Seite.

„Wo fahren wir hin?“, fragte sie.

„Zu deinen Eltern. Sie wollen dir zu Ehren ein kleines Kaffeekränzchen veranstalten. Es ist dir doch recht?“

„Ja“, murmelte Luisa. Alles war besser, als mit Jonas allein zu sein.

„Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Immer wieder kam die Polizei und alle möglichen komischen Typen, Journalisten, Geheimdienstleute, was weiß ich. Sie haben Fragen zu deinem Islamwissenschaftsstudium und zu deiner Zeit in Syrien gestellt. Aber das war natürlich alles lächerlich. Nicht wahr? Und dann die Medien – deine Mutter hat alle Zeitungsausschnitte gesammelt und sämtliche Online-News ausgedruckt, in denen du erwähnt worden bist. Ständig kam etwas im Fernsehen über dich. Als sie die Nachricht gebracht haben, dass du gefunden wurdest … Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert wir alle waren. Doch niemand konnte oder wollte uns sagen, wo sie dich hingebracht haben! Ich weiß nicht, wie oft wir mit der Botschaft telefoniert haben. Dein Vater wollte sofort nach England fahren, doch die Botschaft hat dringend davon abgeraten. Und als sie dann gestern anriefen, dass du heute nach Hause kommst, ist uns so ein großer Stein vom Herzen gefallen!“

„Hm“, murmelte Luisa.

Jonas sah immer wieder zu ihr hin, während er mit Tempo hundertfünfzig auf der Überholspur fuhr. Luisa hasste es in Filmen, wenn sich die Protagonisten beim Fahren tief in die Augen sahen, statt auf den Verkehr zu achten. Sie wartete dann stets darauf, dass der Held einen Unfall baute. An diesem Tag stellte sie fest, dass ein solches Verhalten in der Realität Herzrasen und Angstschweißausbrüche hervorrufen konnte.

„Wo hast du nur gesteckt?“, fragte Jonas, während er sie intensiv anstarrte.

„Darf ich nicht sagen“, murmelte Luisa und starrte wie hypnotisiert auf die Rücklichter des Wagens vor ihnen. Der Abstand zu ihnen verringerte sich beständig.

„Warum nicht?“, brauste Jonas auf. „Ich habe doch wohl ein Recht darauf …“

„Vorsicht!“, rief Luisa erschrocken aus, als Jonas das Auto vor ihnen weiterhin konsequent ignorierte und drohte, aufzufahren. Im letzten Moment legte er eine Vollbremsung hin.

„Hast du denn nicht meine Briefe bekommen?“, fragte Luisa, nachdem sie sich von dieser Nahtoderfahrung wieder etwas erholt hatte.

„Welche Briefe?“, fragte Jonas. „Wir haben überhaupt kein Lebenszeichen bekommen.“

„Aber sie wollten euch doch informieren. Harvey hat doch …“

„Niemand hat uns irgendetwas gesagt. Wer ist Harvey?“

„Nichts. Natürlich“, murmelte Luisa. Sie drehte sich zu Mike um, der mit ausdruckslosem Blick aus dem Fenster starrte.

„Als ob du eine Terroristin sein könntest. Dazu bist du doch viel zu verwöhnt“, fügte Jonas hinzu. „Wenn ich an unsere Ausflüge in die Alpen denke … Dabei bist du doch regelmäßig beinahe gestorben.“

„Hm“, murmelte sie. Was würde er wohl denken, wenn er von den Trainingseinheiten erfuhr, die sie mit Mike absolviert hatte? Die ersten Tage in den schottischen Highlands hatten sie physisch wie psychisch an ihre Grenzen gebracht. Zu gut erinnerte sie sich daran, wie Mike sie mit kaltem Wasser geweckt und bei Wind und Wetter hinaus in die Kälte gejagt hatte, zu Geländemärschen, zu Joggingtouren und zu den vielen anderen Quälereien … Mit der Zeit war es besser geworden, sie hatte mehr Ausdauer und Kondition gewonnen – und Mike war nett gewesen, ganz im Gegensatz zu später … Als eines Morgens Harvey an Mikes Stelle in der Küche gesessen hatte, begann eine neue Art Training, die dem mit Mike in nichts nachstand. Doch selbst daran hatte sie sich gewöhnen können …

Sie war unendlich erleichtert, als sie endlich im Haus ihrer Eltern ankamen. Wobei das Kaffeekränzchen durchaus genug Potenzial hatte, um in ihren Albträumen wieder aufzutauchen. Alle möglichen Leute redeten auf sie ein, stellten Fragen, wollten Antworten.

Ihre Mutter weinte immer wieder und wich ihr kaum von der Seite. „O Gott, o Gott, was ist nur geschehen“, murmelte sie ständig vor sich hin.

Auf der anderen Seite saß Jonas, der pausenlos auf sie einredete. Luisa hörte nicht zu. Der Nachmittag lief komplett an ihr vorbei. „Dazu darf ich leider nichts sagen“, entwickelte sich zu einem Mantra, das sie ständig wiederholte – auch auf die Frage, ob sie noch Kaffee wollte oder ein Stück Kuchen.

Während ihre Mutter schluchzte und Jonas redete, folgte Luisas Blick Mike, der sich im Hintergrund hielt und von allen Anwesenden völlig ignoriert wurde. Bis er schließlich Martin am Arm packte und eindringlich auf ihn einredete. Wenig später bahnte sich Martin einen Weg durch Verwandte und Freunde.

„Der Typ hat gesagt, dass du verletzt bist“, sagte er und blickte Luisa forschend an. „Stimmt das?“

„Ein bisschen“, murmelte Luisa.

„Was? Verletzt? Wo denn?“, rief Luisas Vater erschrocken.

Luisas Mutter schluchzte laut auf. „Aber Kind, hättest du doch was gesagt. Du musst dich hinlegen. Ruh dich aus. Ich kann dir gleich dein Bett frisch beziehen“, stammelte sie.

Jonas schoss Mike, der noch immer am anderen Ende des Zimmers stand, einen Blick zu, der hätte töten können. „Es ist doch sicher besser, wenn sie in ihrem eigenen Bett schläft. Nicht wahr, Luisa?“, rief er aus.

„Ja“, murmelte Luisa. Alles besser als hier bei diesem Kaffeekränzchen des Grauens.

Jonas blickte triumphierend in die Runde, ergriff Luisas Hand und zog sie auf die Füße. Nachdem sie dabei beinahe umgefallen wäre und Jonas sie daraufhin schnell aus dem Wohnzimmer befördert hatte, saß sie keine zehn Minuten später wieder im roten BMW und ließ sich von Jonas durch München kutschieren. Mike hatte wieder auf dem Rücksitz Platz genommen. Endlich herrschte Ruhe. Luisa lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Jonas war diesmal schweigsam. Nur einmal fragte er: „Wo soll ich deinen Freund absetzen?“ Das Wort Freund betonte er dabei besonders stark.

„Er schläft im Gästezimmer“, antwortete Luisa.

Jonas runzelte die Stirn, erwiderte jedoch nichts.

 

Endlich waren sie zu Hause angekommen. Aber war das überhaupt noch ihr Zuhause? Luisa lief durch die Wohnung und war sich nicht sicher. Jonas hatte anscheinend ausgiebig dem Kaufrausch gefrönt und ordentlich umdekoriert. Im Wohnzimmer hingen abstrakte Gemälde, die vorher noch nicht dagewesen waren. Auch das Schlafzimmer hatte Jonas neu eingerichtet. Alles kam ihr fremd vor.

„Nachdem du im letzten Jahr keine Schuhe kaufen konntest, hatte ich genug Geld für ein paar Investitionen“, sagte er dazu.

„Wenn das ein Witz war, war er nicht besonders“, murmelte Luisa müde. Eigentlich wollte sie nur noch schlafen.

„Ich … ich wusste nicht …“, murmelte er. „Dass wir irgendwann ein Haus kaufen wollten … Das war plötzlich nebensächlich. Ich musste einfach …“

Sie nickte. Ja, das konnte sie wirklich gut verstehen.

Jonas schloss die Schlafzimmertür hinter sich, umarmte sie und begann, ihren Hals zu küssen.

„Bitte Jonas“, murmelte Luisa und schob ihn von sich weg. „Bitte – nicht jetzt.“

Jonas sah sie verletzt an. „Ich habe ein halbes Jahr auf dich gewartet. Darf ich da nicht …“

„Nein“, erwiderte Luisa brüsk und verschwand im Bad. Sie stellte sich unter die heiße Dusche und da blieb sie für die nächste Zeit. Endlich einmal in Ruhe duschen – mit warmem Wasser, anders als in den Highlands! Mit Grauen erinnerte sie sich an die Eisduschen am frühen Morgen, an den klammen, kalten Flur in der Hütte … Royce erschien vor ihrem inneren Auge – sie schüttelte sich. Nicht daran denken, mahnte sie sich. Vergiss ihn. Genieße lieber das warme Wasser …

Die Tür wurde aufgerissen und Jonas platzte ins Badezimmer. „Luisa …“, rief er und verstummte abrupt.

„Kannst du nicht …“, brüllte Luisa los. Klopfen! wollte sie rufen. Dann fiel ihr auf, dass sie das zu dem Mann sagte, mit dem sie seit mehreren Jahren zusammenwohnte und mit dem sie so lange auch das Bett geteilt hatte, und wurde rot.

Jonas schien das jedoch nicht bemerkt zu haben. Stattdessen war er stehengeblieben und starrte sie an.

„Was denn“, rief Luisa mit hochrotem Kopf und versuchte dem Drang zu widerstehen, mit ihren Händen irgendwie ihre Blöße zu bedecken.

„Was ist DAS?“ Jonas starrte entsetzt auf Luisas Körper.

Das war noch viel unangenehmer. Rasch kletterte sie aus der Dusche und wickelte sich in ein Handtuch. „Nichts“, murmelte sie.

„Diese … Verletzungen“, stammelte Jonas geschockt. „Und … wie dünn du geworden bist!“

„Ist ja jetzt vorbei“, nuschelte Luisa und stahl sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Jonas folgte ihr. Luisa kramte Unterwäsche und einen Schlafanzug aus dem Schrank. Hastig ließ sie das Handtuch fallen, zog sich schnell um und krabbelte ins Bett, während Jonas sie noch immer völlig fassungslos anstarrte. Dann zog er sich ebenfalls um und legte sich anschließend neben sie.

„Darf ich …?“, fragte er und streckte die Arme nach ihr aus.

„Nein“, unterbrach Luisa ihn sofort. Was mache ich da? fragte sie sich. Er hat ein halbes Jahr auf mich gewartet. Er kümmert sich so lieb um mich. Und offenbar liebt er mich noch immer. Ich sollte dankbar sein. Aber Jonas' Umarmung war gerade das, was sie am allerwenigsten brauchen konnte. „Bitte, lass mir etwas Zeit“, bat sie. Weder Jonas noch ihr entging der flehende Unterton in ihrer Stimme.

Jonas räusperte sich. „Natürlich“, murmelte er. „Natürlich. Ich wusste nicht … Ich hatte ja keine Ahnung … Sie haben nichts gesagt …“ Er hielt tatsächlich Abstand.

Und Luisa war einfach heilfroh, dass er nicht weiter nachfragte und war so erschöpft, dass sie fast sofort in einen tiefen, traumlosen Schlummer fiel.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, konnte sie kaum glauben, dass sie sich wirklich in ihrer Wohnung befand. Dass keine Krankenschwester sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Dass Mike nicht mit kaltem Wasser neben ihr stand … Wie oft hatte er sie in den Highlands bei Tagesanbruch brutal aus dem Bett geschmissen! Zusammen mit Harvey, Danny und Frances hatte er sie in eine Hütte nach Rannoch Moor geschafft, eine Sumpflandschaft in den schottischen Highlands, ohne Strom, ohne warmes Wasser. Dort hatten sie Luisa im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms abwechselnd vor Royce beschützt, bis diesem der Prozess gemacht würde … Bis Royce genau dort aufgetaucht war …

„Wie fühlst du dich?“ Jonas war bereits wach. Er lag neben ihr und sah sie verunsichert an.

„Ganz gut soweit“, meinte Luisa und versuchte ein Lächeln. Es klappte sogar halbwegs.

„Ich mach dir Kaffee“, versprach Jonas. Wenig später kehrte er mit einer dampfenden Tasse zurück.

„Danke“, lächelte Luisa und diesmal meinte sie es auch so. Der erste vernünftige Kaffee seit Monaten! Sie würde nie mehr Tee trinken, so viel stand fest. In den Highlands hatte sie davon eine Überdosis bekommen. Stattdessen Cappuccino … Moment, fragte sie sich. Wo hat Jonas denn den überhaupt her? Doch bestimmt nicht aus der alten Kaffeemaschine.

„Luisa“, sagte Jonas mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. „Wenn du etwas brauchst … Wenn du reden möchtest …“

Sie wärmte ihre Hände an der Tasse und blickte Jonas verwirrt an. „Worüber denn?“

„Über das … was mit dir passiert ist“, murmelte Jonas. „Du hast in der Nacht so geschrien, du hast mir wirklich Angst gemacht. Und diese Schnittverletzungen und …“ Er verstummte einen Moment, um schließlich fortzufahren. „Es ist nicht so schlimm, oder? Du kommst darüber hinweg?“

„Nein“, sagte Luisa und grinste schief dazu. „Ja. Ich meine – es sind nur die Albträume. Und die … Schnitte …“

„Aber er hat … Jemand hat …“

„Hat was?“ Langsam wurde Luisa ungeduldig.

„Ich muss es wissen“, murmelte er. „Jemand hat ... dich verletzt. Hat er dich auch ... Wurdest du …?"

„Was denn um alles in der Welt?“, fuhr Luisa ihn an. Und verstand dann doch endlich, worauf er hinauswollte. „Nein“, sagte sie. „Nein. Da ist nichts passiert. Keine Vergewaltigung oder so. Nein. Nichts. Nur die Schnitte ...“ Einen Moment erschien Royce vor ihrem Auge, doch in dem Moment nahm Jonas sie fest in seine Arme. Sie spürte seine Erleichterung, hielt ganz still und stellte sich vor, dass es Mike war, der sie in den Armen hielt, damit sie dem Drang widerstehen konnte, Jonas mit einem gezielten Tritt auf den Fußboden zu befördern. Und gleichzeitig schämte sie sich dafür.

Als nächstes stellte sie sich unter die Dusche. Es war so herrlich entspannend, zu spüren, wie das warme Wasser auf ihren Rücken prasselte ... Nur mit Mühe löste sie sich davon und musste feststellen, dass sie fast eine Stunde darunter gestanden hatte!

Joans wartete schon mit verkniffenem Gesicht am Küchentisch auf sie, er hatte bereits angefangen zu frühstücken. Die Küche hatte sich sehr verändert. Sie war in einem Pastellgrünton gestrichen worden und verfügte jetzt über ein riesiges, glänzendes Monster von Kaffeevollautomat. Aha, dachte Luisa. Daher also der Cappuccino. Das Ding war mit Sicherheit nicht ganz günstig. Hoffentlich hat Jonas im Lotto gewonnen.

Herzhaft biss sie in ein Brötchen. Sie hatte ganz vergessen, wie gut die schmecken konnten. Mike hat sich bisher nicht blicken lassen, stellte sie nachdenklich fest. Schade … Auf der anderen Seite war sie aber auch froh. Sie hatte überhaupt keine Lust, mit Jonas und Mike zeitgleich zusammen zu sein. Mit Jonas allein war es schon schlimm genug.

„Warum ist eigentlich dieser Typ hier?“, fragte Jonas dann auch prompt.

„Er … passt auf mich auf“, sagte Luisa und versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken. „Einmal, damit ich nichts Falsches sage. Und auch, falls … sich jemand zu sehr für mich interessiert. Von den Terroristen. Von den richtigen Terroristen. Ich meine … Sorry, aber ich kann wirklich nicht darüber sprechen.“

Jonas nickte. Aber sie spürte genau, dass er verstimmt war. Natürlich, dachte Luisa. Ich bin verschwunden, stehe unter Terrorismusverdacht, tauche aus dem Nichts wieder auf – und darf nichts sagen. Da muss er sich ja fragen …

„Wie läuft es bei dir in der Arbeit?“, fragte sie, einfach um das Thema zu wechseln.

„Gut“, antwortete er. Und berichtete von neuen Projekten und neuen Kollegen.

Mike ließ sich nach wie vor nicht blicken.

„Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen“, schlug sie vor, als sie nach einem Brötchen das Gefühl hatte, zu platzen. Daran, dass es Essen gab, das wirklich gut schmeckte, musste sie sich erst wieder gewöhnen.

„Geh ruhig, ich räume so lange hier auf“, verkündete Jonas munter.

Hm, dachte Luisa. Das hat er früher nie gesagt. Wäre ja schön, wenn das länger anhalten würde … Sie legte sich auf das Sofa, kroch unter eine Decke, die sie nicht kannte und die wohl eigentlich als Sofaschoner dienen sollte, und sah nach draußen. Noch ein trüber Novembertag, dachte sie wehmütig und schaltete den Fernseher an. Natürlich gab es an einem Mittwochvormittag nichts Vernünftiges. Jonas kam wenig später dazu und setzte sich neben sie. Luisa zappte in Rekordgeschwindigkeit alle Kanäle durch und wechselte zu Youtube. “Terrorengel“, lautete der erste Beitrag, das Bild zeigte einer vollverschleierte Frau. Ihr war plötzlich überhaupt nicht mehr nach Fernsehen. Sie hörte, wie die Küchentür geöffnet wurde. Offensichtlich tat Mike alles, um ihre Privatsphäre zu respektieren.

Jonas sprang sofort auf.

„Lass ihn doch“, murmelte Luisa.

„Ich will nicht, dass er an den Kaffeeautomaten geht“, verkündete Jonas und verschwand.

Kurz darauf hörte Luisa ihn auf Mike einreden – in einer schrecklichen Mischung aus Deutsch und Englisch. „Not touch!“ hörte sie ihn sagen. „It is very … sensibel. You understand?“

Großartig, dachte Luisa und zog sich die Decke über den Kopf.

 

Jonas kam nicht wieder. Ab und zu hörte sie ihn etwas sagen. Doch anscheinend hatte er nicht mehr vor, Luisa Gesellschaft zu leisten. Nach einiger Zeit stand sie auf und sah selbst nach dem Rechten. Mike hatte sich offenbar Tee gemacht und aß gerade ein Brötchen mit Käse. Jonas hatte sich vor dem Kaffeeautomaten aufgebaut und überwachte jede seiner Bewegungen.

„Good morning.“ Mike sah sie aufmerksam an.

„Good morning“, antwortete Luisa.

Jonas runzelte die Stirn. Tolle Situation, dachte Luisa sarkastisch. Einer Eingebung Folge leistend, schlug sie vor: „Jonas, ich möchte gerne spazieren gehen. Kommst du mit?“

„Was? Du musst dich schonen!“, rief Jonas entsetzt. „Deine Verletzungen …“

„Sie heilen“, erwiderte Luisa. „Ich bin zwei Wochen im Krankenhaus gelegen. Ich muss einfach mal wieder raus.“

„Okay …“ Jonas musterte sie unsicher.

„Ich werde mich umziehen, dann gehen wir. Okay?“

„Ich geh mich auch umziehen.“ Jonas warf Mike noch einen letzten drohenden Blick zu und folgte ihr nach oben. Natürlich starrte er sie wieder an, als sie sich auszog, dann polterte er hastig ins Bad.

Luisa zog Jeans und Pullover aus dem Schrank und ließ die Klamotten dann achtlos auf den Boden fallen. Viel zu groß! Aber Frances hatte ihr doch im Krankenhaus ein paar Kleidungsstücke mitgebracht … Ach ja, Frances! Wie schön wäre es, wenn sie hier wäre, die einzige Freundin, die sie in den Highlands gehabt hatte. Zu gut erinnerte sie sich daran, wie Frances und Danny eines Morgens in der Küche gesessen waren. Wie enttäuscht sie gewesen war, dass nicht Mike gekommen war, um Harvey abzulösen. Frances hatte sie spöttisch und provokant angepflaumt, ihr dann aber doch bei so vielen Dingen geholfen …

Sie schlüpfte in eine neue Jogginghose und betrachtete sich dabei im Spiegel. Sie hatte wirklich stark abgenommen. Genau so schlank hatte sie früher immer sein wollen … Royces Grinsen erschien wieder vor ihr und sie bemühte sich, ihn aus ihren Gedanken zu vertreiben. Auf die Umstände ihrer Abnehmkur hätte sie wirklich gerne verzichtet.

Hastig verließ sie das Haus, stellte sich in den Vorgarten und atmete tief durch. Hier draußen war es besser. Kaum zu glauben, wie sehr mir die frische Luft gefehlt hat, überlegte sie. Jonas rumorte noch drinnen herum. Er braucht immer ewig für alles, dachte Luisa leicht genervt. Im Nachbarhaus bewegte sich die Gardine. Dort stand jemand und beobachtete sie. Vielleicht sollten wir umziehen, dachte sie verzagt. Dass Jonas es hier noch aushielt, wo doch sicher alle wussten … Aber München war teuer, es würde schwer werden, eine vernünftige, erschwingliche Wohnung zu finden.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren.

Mike war herausgetreten und näherte sich ihr langsam. „Wo gehst du hin?“, fragte er.

„Spazieren.“

Mike nickte. „Ich komme mit.“

Da wird sich Jonas aber freuen, dachte Luisa.

Die Tür ging erneut auf. Diesmal war es Jonas. Er sah überhaupt nicht begeistert aus und warf Mike einen bösen Blick zu. Luisa schlenderte durch den Vorgarten und öffnete das Gartentor. Jonas und Mike folgten ihr schweigend. Viel hat sich nicht geändert, dachte sie. Außer, dass die Nachbarn alle am Fenster stehen und mich anstarren. Sie seufzte. Jonas waren die Gardinenbewegungen in den Fenstern der Nachbarhäuser ebenfalls nicht entgangen. Er wirkte sehr unglücklich. Mike blickte völlig ungerührt drein. Sie seufzte und setzte sich in Bewegung. Schweigend liefen sie die Straße entlang.

Nach fünfzehn Minuten hielt Jonas Luisa am Arm fest. „Lass uns umkehren“, sagte er. „Du bist doch sicher erschöpft.“ Luisa fühlte sich tatsächlich nicht mehr fit, doch an Umkehren war nicht zu denken. „Noch ein bisschen“, bat sie. Sie brauchte das jetzt einfach. In den Highlands hatte sie täglich viele Kilometer zurückgelegt, sie wollte sich auspowern, an ihre Grenzen gehen ... Auf einem Spaziergang, dachte sie sarkastisch. Sicher macht sich Mike insgeheim über mich lustig.

In dem Moment klingelte Jonas' Handy. „Deine Mutter!“, sagte er und gab Luisa das Handy weiter.

„Wo bist du, Schatz? Warum bist du nicht zu Hause?“

„Wir gehen spazieren.“

„Aber – in deinem Zustand! Du musst dich schonen!“

„Ich bin nicht schwanger, Mutter!“, rief sie aus und bemühte sich dann, sie zu beruhigen. Endlich konnte sie das Gespräch beenden.

Sie blickte sich um. Sie hatten sich schon ein ganzes Stück von zu Hause entfernt. Dort hinten begann der Wald. Vielleicht schafften sie es zur Lichtung? Dort war sie schon so lange nicht mehr gewesen …

„Was machst du denn?“, rief Jonas. “Es hat geregnet, sicher ist alles nass. Ich habe nicht die passenden Schuhe an. Und du läufst viel zu schnell, du sollst dich doch schonen! Komm, wir gehen zurück nach Hause.“

„Noch ein Stück“, antwortete Luisa. Sie wollte laufen. Sie musste laufen. Rasch schritt sie weiter. Mike hielt sich im Hintergrund und lief stets drei Schritte hinter ihnen her. Wie eine saudische Ehefrau, dachte Luisa säuerlich.

 

Der Spaziergang dauerte letztendlich drei Stunden. Als Luisa zu Hause ankam, steuerte sie zielstrebig auf das Sofa zu und rollte sich erschöpft zusammen. Dabei ignorierte sie sowohl den abschätzenden Blick von Mike als auch die besorgte Miene von Jonas.

Schnell schlief sie ein. Pünktlich um dreizehn Uhr dreißig weckte Jonas sie zum Mittagessen. Er hatte Nudeln gekocht und servierte sie mit Tomatensauce aus dem Glas. Wie kreativ. Lange nicht mehr gehabt, dachte Luisa und löffelte lustlos ihre Portion. Tatsächlich schmeckte die Fertigsauce genau wie die, die in den Highlands ein ganzes Regalbrett ihrer Speisekammer gefüllt hatte. Mike saß mit am Tisch, aß und blieb dabei stumm. Luisa aß brav die Hälfte, musste aber anschließend Jonas' Tadel über sich ergehen lassen. „Du bist so dünn – du musst viel mehr essen! Fünf Kilo mehr würden dir viel besser stehen!“, schimpfte er.

Sie ignorierte ihn, so gut es ging.

Nach dem Essen legte sie sich wieder auf das Sofa und las Nachrichten auf ihrem Laptop. Die Freilassung der mutmaßlich gefährlichen Terroristin Luisa Marcovic und ihre Rückkehr war das Top-Thema. Sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender überboten sich mit Sondersendungen und Diskussionsrunden unter Titeln wie: „Aus dem Callcenter ins Terrorcamp – die zwei Gesichter der Luisa Marcovic.“ Oder: „Die Deutsche und der Dschihad. Mutmaßliche Terroristin Marcovic auf freiem Fuß – drohen nun Anschläge in Deutschland? Eine Diskussionsrunde mit Udo Schall und Peter Schein.“ In einem älteren Beitrag vor etwa zwei Monaten kamen mehrere Freundinnen von Luisa zu Wort. Ehemalige Freundinnen, dachte Luisa verächtlich.

„Wir haben so etwas schon befürchtet. Es ist schon seltsam, Islamwissenschaften zu studieren und dann noch nach Syrien zu fahren“, erklärte eine ehemalige Klassenkameradin, die Luisa seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

„Mir tut ihre Familie so leid. Es muss ein großer Schock sein, so jemanden in der Familie zu haben. Wenn meine Julia Islamwissenschaften studiert hätte – ich hätte sie nicht gelassen“, erklärte die Nachbarin von Luisas Eltern, während der Beitrag Bilder von Luisas weinender Mutter zeigte, die von Luisas wütend wirkendem Vater ins Haus geführt wurde.

Sie klappte den Laptop zu und kroch wieder unter die Decke. Am liebsten wäre sie selbst ins Fernsehen gegangen und hätte erzählt, was sich wirklich zugetragen hatte. Doch wer würde ihr glauben? Ein kluger Schachzug von Royce, dachte Luisa verbittert. Er hat mein Leben gleich mehrfach zerstört. Hoffentlich brät er in der Hölle. Royce war es gewesen, der das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, der Britische Geheimdienst halte eine Terroristin versteckt. Er hatte diese schrecklichen Nachrichten ins Rollen gebracht, um sich an ihr und an Mike zu rächen und sie beide aufzuspüren. Er hatte wohl richtig geschlussfolgert, dass Mike alles versuchen würde, um sie nach ihrer gemeinsamen Flucht zu beschützen.

Wenn Luisa auf der Baustelle nur nicht diese verdammte Pistole aufgehoben hätte, um damit Royce niederzuschießen, dann hätte der dieses Terrorgerücht sicher nicht in die Welt gesetzt. Doch was wäre passiert, wenn sie ihn nicht niedergeschossen hätte? Zumindest waren Danny und Frances in der Nähe gewesen, vielleicht hätten sie Schlimmeres verhindern können ... Aber was, wenn nicht? Diese verdammte Geschäftsreise nach England, das verdammte Travelmanagement, dass sie in dieser Absteige einquartiert hatte ...

„Ach hier steckst du!“ Jonas kam herein und setzte sich neben sie auf das Sofa. „ Was machst du denn? Ruhst du dich aus?“

„Hm“, murmelte Luisa.

„Gleich gibt es Handball! Es stört dich doch nicht?“ Schon stellte er den Fernseher an.

Doch zunächst kam die Aufzeichnung einer Talkshow. „Die Briten haben Marcovic gehen lassen. Ich halte das für höchst fahrlässig. Nun haben wir eine gefährliche Terroristin in Deutschland und wir können sie nicht abschieben, schließlich ist sie deutsche Staatsbürgerin.“

„Wer ist das denn?“, fragte Luisa entsetzt.

„Schmidt heißt der. Er ist noch relativ neu in der Politik und ziemlich weit rechts.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Du kannst dir nicht vorstellen, was sie alles über dich berichtet haben“, erklärte er missbilligend.

„Schalte das bitte weg“, bat Luisa.

„Kommt doch gleich Handball“, erwiderte Jonas und behielt die Fernbedienung in der Hand.

„Bitte“, sagte Luisa mit einem leicht hysterischen Unterton in der Stimme.

„Du solltest schon wissen, was sie über dich berichten“, erwiderte Jonas ungerührt. „Ich meine, dieser Typ vom BND war da und hat uns erklärt, dass diese Terror-Geschichten, die über dich im Umlauf waren, alle Mist sind, aber er hat so viele Fragen unbeantwortet gelassen. Hauptsächlich hat er uns eingeschärft, die Füße stillzuhalten und dich damit nicht zu behelligen, aber ...“

„Wir sollten kein Risiko eingehen“, donnerte Schmidt in dem Moment erhitzt im Fernsehen. „Mutmaßlich hin oder her ... Warum haben die Briten sie nicht solange weggesperrt, bis wirklich geklärt ist, wie gefährlich sie wirklich ist?

---ENDE DER LESEPROBE---