Entschärft - Ulli B. - E-Book

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Ulli B.

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Beschreibung

Der pensionierte Polizeihauptkommissar Phillip Leonhard wird im Aaper Wald Zeuge einer Bombenexplosion, bei der ein Mensch ums Leben kommt. Was zunächst wie der makabre Unfall eines unachtsamen Schatzsuchers aussieht, wirft nach und nach immer mehr Fragen auf, zumal die Polizei den Fall schon bald zu den Akten legt, obwohl das Opfer der stadtbekannte Bombenentschärfer Gert Weimeister war.Leonhard beschließt, seinen Ruhestand aufzugeben, um privat zu ermitteln. Dabei stößt er auf viele Ungereimtheiten. Liegt das Geheimnis um Weimeisters Tod in dessen Vergangenheit?

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Ulli B.ENTSCHÄRFT

In dieser Reihe bisher erschienen

3501 Thomas Ziegler Überdosis

3502 Renate Behr Tod am Dreiherrenstein

3503 Alfred Wallon Sprung in den Tod

3504 Ulli B. Entschärft

Ulli B.

Entschärft

DER REGIONAL-KRIMIDüsseldorf

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannUmschlaggestaltung: Mario HeyerTitelbild: 123RFSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-993-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Prolog

Steine! Nichts als zerbrochene Steine und rußgeschwärzte Putzreste, allgegenwärtige Zeugen der beständigen Katas­trophe, die Düsseldorf nun schon drei Jahre lang mit kräftezehrender Regelmäßigkeit heimsuchte. Halb gebückt stand Georg Klinger auf der Schutthalde am Rande der Benrather Straße und wühlte vorsichtig in den wackligen Trümmern, die die Ausmaße eines großen Sportplatzes hatten. Noch ein Jahr zuvor waren sie ein ansehnlicher Häuserblock gewesen. Doch davon war nun nichts mehr erkennbar. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Die Luft roch schwer nach fauligem Unrat und altem Mauerwerk. Ekliger Schmutz kratzte schmerzhaft im Hals des vierzehnjährigen Jungen, und dann war da noch, voll mit schwerem Werkzeug, dieser verdammte Leinenrucksack, dessen zerschlissene Lederriemen unentwegt an seinen Schultern zerrten.

Schließlich war es Georg leid, streifte den Rucksack ab und ließ ihn schwer zu Boden fallen.

„Und? Hast du was gefunden, Georg?“ Die Stimme gehörte Egon Weimeister, Georgs Freund und Kameraden, der in einigen Metern Entfernung gleichfalls Stein für Stein umdrehte und bei jedem Schritt seinen eigenen Rucksack auf dem Rücken zurechtrückte.

„Zwei Bombensplitter“, meinte Georg missmutig. „Das war es bisher.“

Egon schüttelte unzufrieden den Kopf. „Bombensplitter sind nur was für Pimpfe.“ Er warf Georg einen aufmunternden Blick zu. „Such weiter!“

Georg wischte sich den klebrigen Staub von der Stirn. „Ich glaube nicht, dass wir hier fündig werden. Das Haus ist vollkommen zerstört. Was immer die Tommys hier abgeworfen haben, ist auch explodiert.“

„Unsinn! Es explodiert nie alles.“ Wütend trat Egon mit dem Fuß ein Trümmerstück beiseite. „Und ich werde hier nicht weggehen, bevor ich nicht wenigstens eine einzige verdammte Brandbombe gefunden habe.“

Georg warf Egon einen fragenden Blick zu. „Was willst du bloß mit diesen Dingern? Einen Privatkrieg führen? Mittlerweile hast du doch bestimmt schon ein halbes Dutzend davon.“

„Es sind sogar schon acht Stück!“ Der Stolz in Egons Stimme war nicht zu überhören. „Fast wären es sogar neun. Vergiss nicht die Sprengbombe, die wir letzte Woche in Derendorf entschärft haben. Blöd war nur, dass der Blockwart uns dabei entdeckt hat und wir türmen mussten. Jammerschade.“ Er seufzte. „Ich hätte sie gerne mitgenommen.“

„Was für eine Idee!“ Georg schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Dieses Ding wog mindestens drei Zentner. Das hätten wir doch keine zehn Meter weit bewegen können. Im Übrigen hast du noch immer nicht meine Frage beantwortet. Warum liegt dir so viel daran, dass wir hier nach Granaten suchen?“

„Mensch, Georg. Möchtest du lieber Phosphorplättchen sammeln wie die Pimpfe? Oder Altstoffe? Oder Kräuter trocknen? Oder einen anderen dieser bescheuerten Notdienste verrichten?“

„Lass das mal besser nicht den Scharführer hören!“ Seit einigen Monaten fühlten sich diese HJ-Führer wie Götter und kommandierten, schikanierten und malträtierten jeden, der ihnen quer kam.

Egon spuckte unwillig auf die Trümmer, sodass es auf dem Staub so aussah wie bei beginnendem Regen in der Wüste. „Ach, hör doch auf mit dem Getue, Georg. Waffen sind das Einzige, was zählt. Wir sind im Krieg. Hast du das etwa vergessen? Und deshalb suchen wir hier nach Granaten.“

Georg musterte Egon prüfend. „Du weichst mir aus. Warum riskieren wir unser Leben, um Bomben zu entschärfen? Schließlich ist das kein Spiel. Ganz und gar nicht! Im Gegenteil, es ist so gefährlich, dass die Gauleitung so etwas sonst nur Zwangsarbeiter und Sträflinge machen lässt. Und die entschärfen nur, schleppen das Zeug aber nicht in ein Geheimversteck, wie du es tust. Daher noch mal meine Frage: Was willst du mit dem Zeug?“

„Ist dir das nicht klar? Wenn sich hier irgendwann ein Tommy blicken lassen sollte, dann sprenge ich ihn mit den Dingern hoch! Ich will zusehen, wie ihn seine eigenen Granaten in Fetzen reißen.“ Egon hatte sich in Rage geredet, es dauerte einen Moment, ehe er sich wieder beruhigt hatte. „Meine Tante Gerda ist im letzten Winter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Ich habe geschworen, dass die Briten dafür bezahlen werden.“

„Meinst du?“ Georg zuckte die Schultern. „Nun, es könnte sein, dass du vielleicht schon bald die Gelegenheit dazu bekommst.“

„Was meinst du?“ Egon hob misstrauisch die Augenbrauen.

Georg zögerte. „Es sieht schlecht aus für Deutschland. Hitler wird den Krieg verlieren.“

Egons Augen funkelten wütend. „Wie kannst du nur so etwas sagen? Verdammt! Das Reich ist das stärkste Land der Welt. Niemand kann uns besiegen! Wie kannst du es wagen, einen solchen Unsinn zu sagen? Gefährlichen Unsinn!“

Georg blickte seinen Freund trotzig an. „Meine Eltern und ich, wir haben es gehört. Im Radio. Hier ist ­England!“

„Was?“ Egon blickte ihn fassungslos an. „Ihr hört BBC? Das ist doch verboten. Dadurch wird Deutschlands Wehrkraft zersetzt. Wenn euch jemand anzeigt, kommen deine Eltern dafür ins Zuchthaus oder werden erschossen!“

Georg musterte Egon herausfordernd. „Würdest du uns anzeigen?“

Egon zögerte. „Nein … Natürlich nicht. Du bist doch mein Freund.“

Es war nur ein kurzes Zögern gewesen, das er in Egons Stimme wahrgenommen hatte, doch Georg war sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. Egon glaubte tatsächlich noch immer den Mist, den Goebbels Tag für Tag über den Äther spuckte. Dass den Alliierten die Luft ausging, dass Deutschland gewinnen werde, dass der Endsieg nahe sei. Egon schien diesen Quatsch für bare Münze zu nehmen, dabei brauchte man sich in Düsseldorf doch nur umzublicken, um zu erkennen, dass das Geschwätz des kleinen Rheydters keinen Bezug mehr zur Realität hatte. Hunderte von Bombenangriffen hatte Düsseldorf nun schon erlebt. Aus der blühenden Rheinmetropole war eine halbleere verwüstete Stadt geworden. Schule fand nur noch sporadisch statt, denn die meisten Lehrer waren an der Front.

Die Mehrzahl der Pimpfe war inzwischen mit der Kinderlandverschickung in Böhmen, und die HJ, der Egon und Georg seit ein paar Monaten angehörten, hatte ebenso wie der Arbeitsdienst und die Sträflinge nur noch mit Bergung und Räumung zu tun.

„Komm, Georg. Lass uns weitersuchen. Und wenn wir einen Blindgänger gefunden haben, losen wir, wer ihn entschärfen darf, was meinst du?“

Georg zuckte die Schultern. Er hatte längst die Lust an diesem Abenteuer verloren. „Meinetwegen, Egon. Aber nur, weil ich nicht möchte, dass du dich hier alleine hochsprengst.“

„Bist du noch immer sauer, weil ich das über den Feindsender gesagt habe?“, fragte Egon. „Das solltest du aber nicht. Du weißt doch, dass ich dein Freund bin. Ich verrate dich bestimmt nicht. Doch ich ärgere mich darüber, dass du irgendwelchen deutschen Verrätern im Ausland mehr Glauben schenkst als unserem eigenen Rundfunk. Es ist doch nur natürlich, dass man uns nicht beunruhigen will. Schließlich ist ja nun einmal Krieg. Nur, wenn beim deutschen Volk der Wille zur Macht schwindet, kann der Feind siegen.“

„Hör mir auf mit diesem nichtssagenden Propagandageschwafel.“

Egon schüttelte den Kopf. „Aber es stimmt doch, dass so ein Gerede nicht gut ist. Bei den meisten Leuten liegen inzwischen doch ohnehin die Nerven blank. Gerade deshalb ist es wichtig, dass man nicht noch dabei hilft, unnötig Zweifel zu verbreiten. – Oh!“

„Was ist los?“, fragte Georg alarmiert.

„Ich hab was gefunden! Und zwar ein ziemlich dickes Ding. Sprengbombe! Bestimmt drei Zentner schwer.“

„Nicht schon wieder“, stöhnte Georg.

Egon ließ sich davon aber nicht beirren. Ungeduldig räumte der Junge die Backsteintrümmer beiseite und legte einen eisernen Gegenstand frei, der etwa die Größe eines Butterfasses besaß.

Georg schulterte seinen Rucksack und kam zu Egon heran. Auf seiner Stirn zeichnete sich eine tiefe Sorgenfalte ab, als er die Bombe betrachtete. Dann schüttelte er den Kopf. „Ist so ein Ding wie neulich. Lass lieber die Finger davon, Egon. Selbst, wenn du die entschärft bekommst, was willst du damit? Die kriegst du doch niemals von hier weggeschleppt.“

Egon grinste Georg an. „Und wenn schon. Dann lasse ich sie eben hier. Aber entschärfen werde ich den Blindgänger auf jeden Fall. Ich komme sonst aus der Übung.“ Egon setzte seinen Leinenrucksack ab, kramte das Werkzeug heraus und deutete auf den Zündmechanismus der Bombe. „Das sind zwar Zollschrauben, aber ich denke, mit einem 21er könnte es gehen. Hast du vielleicht einen dabei?“

Georg streifte die Riemen von seinen Schultern und ließ seinen Rucksack vorsichtig zu Boden gleiten. Dann klappte er die Abdecklasche zurück, langte mit einer Hand hinein und wühlte darin herum, bis er schließlich einen großen rostigen Maulschlüssel hervorzauberte. „Ich schätze, das Ding geht diesmal an mich. Denn schließlich hast du schon die letzte Sprengbombe entschärft.“

Egon stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. „Weshalb sollte ich sie dir überlassen? Ich habe sie gefunden. Und wenn ich mich entsinne, dann hast du gerade eben noch gesagt, dass du eigentlich schon aufhören wolltest.“

Georg seufzte. „Dann lass es uns gemeinsam tun. Für den Fall, dass es diesmal nicht klappt, braucht sich dann wenigstens keiner von uns beiden Vorwürfe zu machen.“

Egon lachte. „Auf ewig echte Freunde, nicht wahr?“

Georg nickte ernst.

„Die Ewigkeit kann jedoch manchmal überraschend schnell beginnen. Vergiss das nicht!“

Egon quittierte Georgs Kommentar mit einem seltsamen Blick und schwieg.

„Also dann“, meine Georg auffordernd. „Da es deine Bombe ist, machst du also die erste Drehung.“

„Und du die zweite.“ Egon streckte seinen Arm aus. „Gib mir den Schlüssel.“

Georg reichte seinem Freund den schweren 21er und blickte nachdenklich über das Trümmerfeld.

Es war Freitag vor Pfingsten, und man schrieb den 11. Juni 1943.

Kapitel 1

Es war ein regnerischer Spätsommerabend, und Phillip Leonhard wanderte gerade den Aaper Höhenweg entlang, als ein ohrenbetäubender Knall die abendliche Stille über Rath zerriss und der Boden erzitterte wie beim Erdbeben im April 1992. Instinktiv warf sich Leonhard zu Boden, das Geräusch einer detonierenden Bombe war ihm hinlänglich bekannt. Als kleines Kind hatte er es oft gehört, zumeist gedämpft durch meterdicke Bunkerwände hindurch, einmal jedoch auch unplugged, als man den Bunker bereits geschlossen hatte und seine Mutter sich mit ihm zusammen notgedrungen in einen Splitterschutz­graben geflüchtet hatte.

Leonhard war damals sieben Jahre alt gewesen. Damals, 1942, kurz bevor man ihn mit der Kinderlandverschickung ins Bergische gebracht hatte, gerade noch rechtzeitig, ehe alliierte Bomberverbände das Düsseldorf, in dem er zur Welt gekommen war, in kaum mehr als einer guten Stunde Stück für Stück abgetragen hatten. Aber das war 1942 gewesen, lag nun ein halbes Jahrhundert zurück. Leonhard, inzwischen zweiundsechzig Jahre alt, war seit zehn Jahren Polizeihauptkommissar im Vorruhestand. der Kalender zeigte den 9. September 1997, und eine Bombenexplosion im Stadtwald war mittlerweile äußerst ungewöhnlich.

Leonhard lag auf dem Waldweg, Auge in Auge mit einem schwarzen Käfer, der sich bei der Explosion anscheinend ebenso erschrocken hatte wie er, und der nun, seine sechs Beine schützend unter den Panzer verborgen, vorsichtig abwartete.

Leonhard hingegen schenkte sich keine solche Erholungspause. Obwohl es in seinen Ohren noch immer summte, stemmte er sich vom Boden hoch und blickte den Berghang hinab Richtung Reichswaldallee, wo am Rande des Waldstadions eine dunkle Rauchwolke über die Baumwipfel gestiegen war. Seit der Detonation waren erst wenige Augenblicke vergangen, und ihm war bewusst, dass er handeln musste, da sich dort unten vermutlich Menschen befanden, die Hilfe benötigten, schnelle Hilfe. Leonhard rannte so schnell er konnte einen kleinen Seitenweg hinab zur Aaper Schneise. Der pensionierte Polizist hatte stets auf seine Figur geachtet, auch wenn er nicht täglich steifbeinig durch die Gegend joggte, wie so manche Altersgenossen, hatten ihn regelmäßige lange Spaziergänge doch fit gehalten.

Eine Bombenexplosion im Wald? Nun gut. Der Wald war noch immer voll von Spuren des Krieges. Im Herbst 1944 hatte einer der schwersten alliierten Bomben­angriffe den Düsseldorfer Nordosten in Schutt und Asche gelegt, und viele der Bomben, die eigentlich für Düsseldorfer Industrieanlagen bestimmt gewesen waren, fielen damals weit ab von ihren eigentlichen Zielen auf unbebautes Gebiet. Tonnenweise waren sie über dem Aaper Wald abgeregnet, beziehungsweise über dem, was dann irgendwann noch vom Wald übrig gewesen war. ­Etliche der Sprengkörper waren nicht einmal explodiert. Kein Wunder also, dass man in den letzten Jahrzehnten bei Bauarbeiten mit ziemlicher Regelmäßigkeit immer ­wieder mal Blindgänger entdeckt und diese dann zumeist kontrolliert entschärft hatte. Aber im Wald wurde nicht gebaut, und Leonhard glaubte, auch mal gehört zu haben, dass diese alten Bomben nicht von selbst explodierten. Was also war da passiert?

Nach einem kurzen Spurt erreichte Leonhard den Sandsteig und gelangte Augenblicke später zu dem Ort, an dem die Explosion zweifellos stattgefunden hatte. Warum zweifellos? Nun, zunächst einmal war da dieses Flatterband, das über dem Weg wie eine verendete Riesenschlange hing. Hatten da irgendwelche Waldarbeiter zu tief gegraben und beim Wurzelziehen eine Bombe hochgejagt? Oder war eine offizielle Bombenentschärfung missglückt? Leonhard konnte sich nicht daran erinnern, eine Durchsage gehört zu haben. Auch im Radio hatte es keine entsprechende Nachricht gegeben. Und die RHEIN-POST hatte an diesem Morgen lediglich aus einer ausführlichen Reportage über Lady Dis Beerdigung am vergangenen Samstag bestanden.

Das Absperrband konnte schon längere Zeit da gehangen haben, im Wald war ja immer irgendwo etwas zu tun. Einen Augenblick lang zögerte Leonhard, die Absperrung zu überschreiten. Ein trainierter Reflex. Erziehung und Obrigkeitsrespekt wollten ihn daran hindern. Doch dahinter war offensichtlich ein Unglück geschehen, also schob er solche Bedenken schnell beiseite. Vielleicht konnte er noch helfen. Ein Gedanke, der ihm angesichts der gewaltigen Detonation ebenso unsinnig wie grotesk erschien.

Schon nach wenigen Schritten sah er, welche Auswirkungen die Explosion gehabt hatte. Noch immer ­waberten Qualm und Staub über dem Ort der Verwüstung, und die Luft roch stechend nach Ozon wie nach einem schweren Gewitter. Überall verstreut lagen große Äste und sogar kleinere Bäume. Zwei große Buchen waren teilweise entwurzelt und verdankten es nur ihren benachbarten Geschwistern, dass sie noch nicht umgestürzt waren. Was Leonhard aber darüber hinaus erblickte, hätte bei den meisten Menschen einen Schock ausgelöst.

Sogar bei ihm hätte es dafür sorgen können, dass all die traumatischen Erinnerungen, die er sorgsam in seinem Inneren weggesperrt zu haben glaubte, die vermeintlich sicheren Zellentüren aufbrachen und wieder ungehemmt an die Oberfläche seines Geistes drangen, um ihn in ein emotionales Chaos zu stürzen. Doch Leonhard blieb nach außen hin völlig ruhig und konzentriert. Einmal Polizist, immer Polizist.

Neben dem Weg befand sich ein frischer metertiefer Krater, an dessen Rand verstreut blutige Fleischfetzen lagen, die wohl noch kurz zuvor ein Mensch gewesen waren. Ein Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Fleisch und Blut stach ihm in die Nase. Wen auch immer diese Bombe hochgesprengt hatte, dessen Identifizierung würde nicht allzu einfach werden. Andererseits – Leonhard entdeckte eine abgerissene Hand, die blutig tropfend in der Astgabel einer halb vertrockneten Kiefer hing – Fingerabdrücke würde man zumindest vergleichen können, sofern es in den Polizeiakten etwas zum Vergleichen gab.

Viel mehr als dies beschäftigte ihn jedoch die Frage, wie es überhaupt zu der Explosion gekommen war. War dort ein abendlicher Fußgänger zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Bei dem Gedanken schauderte Leonhard, denn schlagartig war ihm bewusst geworden, dass es ebenso er selbst hätte gewesen sein können.

Auch wenn Leonhard bereits automatisch gedanklich in die Rolle des Ermittlers geschlüpft war, so war ihm doch bewusst, dass dies im Grunde genommen nicht mehr sein Job war. Seit Jahren war er nur noch ein Privatmensch wie jeder andere, und das Einzige, was er in einem solchen Fall zu tun hatte, war, die Polizei zu informieren.

Während Leonhard noch überlegte, wie er das nächste Telefon erreichen konnte, vernahm er bereits sich näherndes Sirenengeheul. Logisch. Die Detonation war im weiten Umkreis zu hören gewesen. Daher war es sonderbar, dass außer ihm selbst bislang noch niemand an dieser Stelle zu sehen war. Doch wenig später sah er erste Neugierige. Ein verschwitzter Jogger im Trainingsanzug starrte irritiert über das Absperrband, und eine ältere Dame zerrte ärgerlich an einer Hundeleine, an deren hüpfendem Ende ein kleiner Pinscher aufgeregt bellte.

„Halten Sie bitte Abstand vom Unglücksort!“ Leonhards Stimme hatte noch immer ihren befehlsgewohnten Klang. „Womöglich liegen hier noch mehr explosive Kampfstoffe herum.“

Die Warnung genügte. Der Jogger setzte sich wieder in Bewegung, der Pinscher wurde zur Ordnung gerufen, und einen Augenblick später waren diese ersten Schaulustigen wieder verschwunden. Leonhard lächelte. Mit Vernunft kam man manchmal doch weiter als mit einer Polizeimarke. Und letztere hätte er ohnehin nicht zur Hand gehabt.

Kurz darauf traf die Polizei ein, und wenig später hatten die Polizisten mit frischem Absperrband weiträumig eingezäunt. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die einsetzende Dämmerung hatte bereits begonnen, den Wald für sich zurückzuerobern. Leonhard verfolgte nachdenklich, wie die Polizisten ermittlungstechnisch Notwendiges in durchsichtige Plastiktüten sammelten. Inzwischen hatte sich ein neuer Schwung Schaulustiger in sensationslüsterner Erwartung am Rand der Absperrung versammelt, darunter ein Fotograf, der immer wieder über das Flatterband stieg und Fotos machte, ehe ihn ein Beamter wieder schimpfend zurückjagte. Und dann war da natürlich der Chefermittler, der mit gewichtiger Miene und noch gewichtigerer Leibesfülle das Gelände mit großen Schritten abmaß.

Leonhard kannte Horst Markwart gut. Er selbst hatte diesem Mann die Polizeiarbeit beigebracht. Er hatte ihn ausgebildet und ihm bei seinen ersten Schritten im Polizeidienst geholfen. Auf vielen Festen hatten sie gemeinsam miteinander gelacht und getrunken, Leonhard, Horst und dessen Vater Josef Markwart. Josef Markwart, der zwölf Jahre zuvor auf tragische Weise ums Leben gekommen war, was letztlich auch der Grund dafür gewesen war, dass Leonhard dem Polizeidienst früh­zeitig den Rücken gekehrt hatte. Horst Markwart war nun seit ein paar Jahren Chef von Leonhards alter Wache. Genau genommen war der Polizeihauptkommissar also Leonhards Nachfolger.

„Und, Phillip, hast du mal wieder gesehen, wie es passiert ist, ohne es verhindern zu können?“

Leonhard spürte den bitteren Spott in Markwarts Worten. Der Polizeihauptkommissar machte Leonhard dafür verantwortlich, dass dieser seinen Vater nicht gerettet hatte. Er war verbittert, weil Leonhard noch lebte und sein Vater tot war. Doch Leonhard hatte an jenem verhängnisvollen Tag nichts tun können. Auch jedem anderen wäre es nicht möglich gewesen zu verhindern, was letztlich geschehen war. Es war der Strom des Schicksals, der Josef Markwart und ihn damals mit sich gerissen hatte, eine Macht, die Leonhard nicht hatte aufhalten können und die letztlich Josef Markwarts Tod verursacht hatte.