Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, aber wir müssen über Long Covid und Me/Cfs reden - Natalie Grams - E-Book

Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, aber wir müssen über Long Covid und Me/Cfs reden E-Book

Natalie Grams

0,0

Beschreibung

"Aufklären statt kleinreden" ist die Devise des neuen Buchs von Dr. Natalie Grams. Was nicht mehr geht: Arbeiten, einem Gespräch mit mehr als zwei Personen folgen, ohne Rollator aus dem Haus gehen, die Kinder versorgen, eine E- Mail tippen, Fahrrad oder Auto fahren, Nachrichten verfolgen, sich beeilen, ernst genommen werden. Was noch geht: Mit geschlossenen Augen im Bett liegen und ein Buch diktieren. Über Long COVID und ME/CFS - und warum wir alle lernen sollten, diese Krankheiten besser einzuschätzen. Natalie Grams, selbst Ärztin, beschreibt den dramatischen Verlust ihres gewohnten Lebens durch Long COVID und sich daraus ent- wickelnder ME/CFS. Wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam erklärt sie, was es jetzt braucht, damit sich für die immer größer werdende Zahl der Betroffenen endlich etwas ändert. Ein Buch für Betroffene & Angehörige, Ärztinnen & Therapeuten, Gutachter & Politikerinnen - und alle, die das Thema nicht länger kleinreden wollen. Feine Situationskomik und berührende Authentizität durchziehen dieses Buch, so dass sich die Lesenden trotz aller Tragik ein Lächeln nicht verkneifen können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 272

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Natalie Grams, 46, ist Ärztin, Autorin und Podcasterin. Als ehemalige Homöopathin, die sich zur Kritikerin wandelte, wurde sie deutschlandweit bekannt. Seither wird sie für ihre öffentliche Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation geschätzt. Während der Pandemie war sie am Robert Koch-Institut tätig. Zuletzt und bis zu ihrer Erkrankung arbeitete sie in der politischen Strategie- und Kommunikationsberatung (zu meist kontroversen Gesundheitsthemen). Aufgrund ihrer speziellen Expertise und ihrer Erfahrungen als Betroffene von Long COVID und ME/CFS sowie als Ärztin bietet Grams in diesem Buch eine einzigartige Perspektive auf die Problematiken im Umgang mit diesen Krankheiten im deutschen Gesundheitswesen und der Gesundheitspolitik.

Sie lebt mit ihrer Patchworkfamilie und drei Hunden in Heidelberg und im Allgäu.

Auf Instagram ist sie unter doc.natalie.grams zu finden.

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Vorwort von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen

Vorwort – oder warum ich ein Buch diktiere, obwohl ich nicht mal einer Kinderserie folgen kann

ME/CFS – die vergessene Krankheit

Leben mit ME/CFS nach Long COVID – ein Erlebnis- und Gedankentagebuch

So schwer es mir fällt: Auf Evidenz kann ich mich (noch) nicht verlassen

Wenn das Atmen in Ruhe anstrengt wie ein Dauerlauf

Wir können nur vermuten, was Long COVID im Körper anrichtet – aber im Vermuten werden wir immer besser

Es ist kein Herumliegen. Ich bin ans Bett gefesselt

Alpträume im Alptraum – über Schlafstörungen bei Long COVID und ME/CFS

Die schwarze Schwere der Fatigue

Den Reizen ausgeliefert sein – Warum macht niemand das Licht aus und dreht den Ton ab?

Familien- und Beziehungsleben – oder was davon übrigbleibt

Wer kämpft, verliert – Wie ich lernte, mein Leben löffelweise einzuteilen

Ich chille nicht, ich pace nur

Auch was mich gerade wirklich bewegt, verschwindet im Brainfog

Was alles nicht geht – oder wie mein Leben ganz leise wurde

Mein Immunsystem kämpft gegen Windmühlenflügel

Wie die Not zu Geld gemacht wird, wenn die Medizin versagt

Antrainieren gegen Belastungsintoleranz? Besser nicht!

Du musst dir auch mal was Gutes tun, geh doch ein bisschen an die Sonne! (Tipps für Verwandte und Bekannte)

Die alte Dame versucht aufzustehen.

Die alte Dame bin ich

Was ist wenn? – Fragen, die nun plötzlich da sind

Off-Label-Therapien – Was ist das?

Man sieht ja gar nicht, wie krank du bist – sagen auch die Versicherungen

Die Wut, immer wieder die Wut

Von Verlegenheitsdiagnosen und Fake-F‘s

Wie im falschen Film

Epilog

Was braucht es nun konkret, damit Betroffene mehr Hilfe erfahren?

Glossar

Danksagung

Wo können sich Betroffene/Angehörige Hilfe suchen und Informationen erhalten?

Quellenverzeichnis nach Kapiteln

PROLOG

An den Moment, in dem mir klar wurde, dass ich nicht nur Long COVID, sondern auch die chronische Diagnose ME/CFS habe, erinnere ich mich noch ziemlich genau. Bis dahin hatte ich die Hoffnung gehabt und das Ziel verfolgt, nach meiner zweiten Corona-Infektion wieder ganz gesund zu werden. Ich wollte die Long-COVID-Krankheitszeit als lange, aber letztlich überwundene Tiefphase verbuchen und nach einigen Monaten dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte mit meinem Leben.

Ich weiß noch, dass ich gebeugt und zittrig in einem Untersuchungszimmer einer spezialisierten Arztpraxis auf einer Liege saß und mit dem Arzt die neuen Befunde besprach. Ich wusste, dass damit alle Kriterien der ME/CFS bei mir erfüllt waren. Und dann sprach er es aus.

An der Wand mir gegenüber hing ein großes Klebeplakat der Südsee. Palmen und weißer Sand, das türkisblaue Meer. Die Ränder pellten sich ein wenig von der Wand ab.

Im Medizinstudium hatte ich gelernt, dass man im Idealfall jemand dabeihat, wenn man eine schwere Diagnose erfährt. Im Moment der Offenbarung geraten Menschen oft in eine Art Schockzustand, in dem sie nachfolgend gar nicht mehr richtig wahrnehmen können, was die Ärzt*innen alles sagen – und wie es nun weitergeht. Genau daran dachte ich in diesem Moment. Wie auf einer surrealen Metaebene sah ich mich selbst etwas verwackelt dort auf der Patient*innenseite sitzen. Es fühlte sich unwahr an. Ich war doch immer so ein gesunder Mensch gewesen! Ich starrte auf die sich abpellende Südsee.

Dramatischer wurde es aber nicht, weder zog mein Leben an mir vorbei, noch brach ich innerlich zusammen. Ich hatte es ja schon vermutet. Jetzt war es Fakt.

Der Zusammenbruch kam erst viel später. Aber der hat nun zu diesem Buch geführt. Denn der wahre Schrecken ist nicht nur die Diagnose, sondern wie man als Betroffene damit in unserem modernen, hochspezialisierten und – trotz all seiner Defizite – immer noch leistungsstarken Gesundheitssystem allein gelassen wird.

VORWORT VONPROF. DR. CARMEN SCHEIBENBOGEN

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen ist eine renommierte Immunologin und führende Expertin und Forscherin auf dem Gebiet von Long COVID und ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom). Sie ist am Institut für Medizinische Immunologie der Charité in Berlin tätig, wo sie mehrere klinische Studien und Forschungsprojekte zu diesen Themen betreut. Darüber hinaus leitet sie das Charité Fatigue Zentrum und ist Vorsitzende des Ärztlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Ihre Arbeit ist entscheidend für das Verständnis und die Behandlung dieser komplexen Erkrankungen.

Im Jahr 2007 habe ich erstmals Patienten in meiner Ambulanz gesehen mit einer Erkrankung, von der ich bis dahin dachte, es gäbe sie nicht: ME/CFS, damals noch als Chronisches Erschöpfungssyndrom bezeichnet. Ich habe 2007 die Leitung der Immundefekt-Ambulanz der Charité übernommen und dort gab es eine ME/CFS-Sprechstunde von meinem Vorgänger Prof. Rüdiger von Bähr – damals die einzige in Deutschland. Eine Erkrankung, die wir bislang übersehen zu haben schienen. Umso überraschender für mich, als ich merkte, dass es sich um eine schwere, chronische und gar nicht so seltene Erkrankung handelt. Und dann musste ich eine Erfahrung machen, die mein bisheriges Verständnis von Medizin erschüttert hat. Viele der überwiegend jüngeren weiblichen Patientinnen berichteten mir von einer medizinischen Odyssee aus Unverständnis, Ablehnung und Ignoranz. Fehldiagnosen und Behandlungen, die sie nicht selten noch kränker gemacht hatten. Und manche berichteten auch davon, schwer krank und alleingelassen ohne medizinische und soziale Unterstützung ein Leben abgeschirmt in einem dunklen Zimmer verbringen zu müssen.

Desinteresse, Ablehnung und offene Kritik, denen auch ich begegnete, als ich begann Kollegen1 auf diesen Missstand aufmerksam zu machen. Unverständnis, warum eine Ärztin und Immunologin widerspricht, die doch gar keine Ahnung hat, da es sich um eine psychosomatische Störung, funktionelle oder – auch nicht selten gehört – eingebildete Erkrankung handelt. Nur eine kleine Gruppe Mediziner und Wissenschaftler weltweit sahen die Erkrankung ähnlich wie ich als eine schwere körperliche Erkrankung an. Dabei hatte die WHO sie doch schon 1969 als neuroimmunologische Erkrankung eingeordnet.

Wäre die Pandemie nicht gekommen, würde sich wahrscheinlich heute noch kaum jemand für ME/CFS interessieren. Aber trotz inzwischen großer öffentlicher Wahrnehmung, vieler engagierter Mediziner aber auch Journalisten und Politiker, hat sich für die Betroffenen noch wenig geändert. Außer dass es inzwischen noch viel mehr geworden sind, denn ein Teil der Long COVID-Patienten leidet auch an ME/CFS – alleine in Deutschland sind es inzwischen wahrscheinlich eine halbe Million ME/CFS-Betroffener. Und dass sie sich weltweit organisiert haben, das ist auch neu. Sehr professionell sogar, denn trotz ihrer schweren Erkrankung schaffen es die Patienten selbst, nach Behandlungen zu suchen, die Politik zu beraten, wissenschaftliche Artikel zu schreiben und internationale Tagungen zu veranstalten.

Daher ist dieses Buch auch so wichtig: Die Geschichte einer Betroffenen und Ärztin, die die Erkrankung von beiden Seiten kennt und dazu noch authentisch, berührend und fesselnd schreiben kann. Ich hoffe, dass dieses Buch viele erreicht, auch die, die bis heute nicht verstanden haben. Möge es dabei helfen, dass bald jeder ME/CFS-Betroffene die Versorgung erhält, die anderen schwer Erkrankten auch zusteht. Und noch etwas hat die Pandemie an Positivem bewegt: Weltweit forschen Wissenschaftler inzwischen an Long COVID und ME/CFS und setzen alles daran, Medikamente zu finden. Durch die Forschung der letzten Jahre haben wir ME/CFS inzwischen so weit verstanden, dass wir jetzt auch Medikamente in klinischen Studien prüfen, die an den Ursachen ansetzen. Und daher habe ich große Hoffnung, dass ME/CFS in wenigen Jahren gut behandelbar und heilbar sein kann. Es wäre heute schon so, hätten wir die Erkrankung nicht übersehen.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen

Berlin, im Juli 2024

1 Frau Prof. Dr. Scheibenbogen verwendet für Substantive die geschlechtsneutrale maskuline Form.

VORWORT – ODER WARUM ICH EIN BUCH DIKTIERE, OBWOHL ICH NICHT MAL EINER KINDERSERIE FOLGEN KANN

Seit ich selbst an Long COVID und in der Folge davon an ME/CFS erkrankt bin, begegnet mir eine bisher nicht erlebte Ungläubigkeit meinen körperlichen Symptomen gegenüber, ja, ich muss fast sagen, eine ungeheure Ignoranz. Das tut persönlich weh, aber das ist nicht das Problem, über das ich sprechen möchte. Viel wichtiger ist nämlich: Für die immer größer werdende Zahl der Betroffenen ist diese Ignoranz ein Riesendilemma! [1] Und für eine Gesellschaft, die sich Gerechtigkeit, Wissenschaftlichkeit und Fürsorge auf die Fahnen geschrieben hat, ist es das auch [2].

Erkrankte werden mit diesen Diagnosen viel zu oft nicht wirklich ernst genommen, alleine gelassen, oft regelrecht diskriminiert – und nicht oder nicht richtig behandelt [3]. Als Ärztin kann ich das so nicht stehen lassen.

Das Krankheitsbild ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom, siehe Glossar) ist nicht neu, aber es wurde zuletzt durch Long COVID so richtig „populär“. Denn Long COVID kann in ME/CFS enden. ME/CFS ist eine schreckliche, eine weitgehend unerforschte, ja, unbekannte und zugleich eine chronische Erkrankung, die oft mit einem hohen Grad an Behinderung einhergeht. Das einzig Gute daran ist vielleicht, dass jetzt durch Long COVID endlich Aufmerksamkeit auf diese vergessene, stille Krankheit gelenkt wird.

Betroffene können bisher oft nichts anderes tun, als still im Bett zu liegen, unter maximaler Reizabschottung – über Jahre bis Jahrzehnte hinweg. Nur die engsten Angehörigen bekommen mit, wie es um sie steht. Manchmal schaffen es Betroffene nicht einmal mehr in eine Arztpraxis oder Klinik. Es ist also leicht, sie zu vergessen. Es ist leicht, sie zu ignorieren. Es ist leicht, das Problem kleinzureden. Was besonders schlimm ist, da die Krankheit oft jüngere Menschen trifft, die eigentlich mitten im Berufs-, Sozial- und Familienleben stehen, die Pläne haben und das ganze Leben noch vor sich [4][5]. Auch Kinder können davon betroffen sein [6].

Long COVID zählt zu den postviralen Erkrankungen, also Krankheitsbildern, die nach Infektionen mit Viren auftreten, was zu langwierigen Folgen und Behinderungen führen kann. Und auch ME/CFS kann durch virale Erkrankungen ausgelöst werden [7]. Wahrscheinlich gab es postvirale Erkrankungen schon immer. Durch Long COVID sind sie inzwischen aber viel mehr ins – fachliche – Bewusstsein gerückt. Einerseits, weil in relativ kurzer Zeit sehr viele, vor allem auch jüngere Menschen daran erkrankten und zum anderen, weil man zumindest in speziellen Fachkreisen durch die Corona-Pandemie auch auf andere Pandemien und postvirale Erkrankungen zurückblickte und vereinzelt Krankheiten wie das Post-Polio-Syndrom (nach Kinderlähmung) wieder erinnert wurden. Für die Allgemeinheit dagegen ist Long COVID meist der erste und einzige Berührungspunkt mit postviralen Erkrankungen [8]. Die meisten Menschen haben deshalb noch kein Bewusstsein für dieses Problem entwickelt. Mit Demonstrationen im Liegen in vielen deutschen Städten, aber auch überall auf der Welt möchten Betroffene für mehr Aufmerksamkeit sorgen [9], aber so richtig bekannt ist die ganze Problematik nicht. Wie oft habe ich zu hören bekommen, wenn ich meine neue Krankheit nannte: „Was hast du?“ oder „Ach, das gibt’s wirklich?!“.

Sicherlich genesen die allermeisten Menschen mit Long COVID nach einer kürzeren oder längeren Zeit [10][11]. Das Krankheitsbild ist sehr divers, von partiellen Ausfällen wie dem Geruchs- oder Geschmackssinn kann es über kognitive Einschränkungen bis hin zur schweren Fatigue mit kompletter Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit reichen. Das macht den Umgang mit diesem Krankheitsbild, die Diagnostik und natürlich auch die Therapie und Prognose sehr schwer.

Unter der Omikron-Variante des Coronavirus sind zuletzt die Zahlen an Long COVID im Vergleich zu vorherigen Virusvarianten zwar gesunken – oder zumindest hat sich wohl die Steigerungsrate verlangsamt. Ein Preprint der RECOVER-Studie hat bereits angedeutet, dass jedoch bei einer erneuten Infektion das Risiko für Long COVID wieder steigt [12]. Die Corona-Schutzimpfung verhindert Long COVID zwar zu einem relativ hohen Prozentsatz [44], jedoch werden immer noch – auch geimpfte – Menschen daran erkranken, wenn die nächste Krankheitswelle über uns kommt [13]. Einige davon werden ME/CFS entwickeln, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht. Eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigte, dass im Jahr 2023 im Vergleich zu den Vorjahren zwar weniger Menschen wegen Long COVID oder ME/CFS krankgeschrieben wurden, die beruflichen Fehlzeiten der Betroffenen aber weiterhin ungewöhnlich lang waren [14][15][16]. Ungefähr zwei Drittel der ME/CFS-Erkrankten sind nie wieder arbeitsfähig. Das belastet Renten- und Krankenkassen und natürlich auch den Arbeitsmarkt, wie bereits mehrere Studien zeigen [17].

Es ist also an der Zeit, dass wir uns alle der enormen Größe des Problems bewusst werden. Bei der internationalen Online-Konferenz „Unite To Fight “ im Mai 2024 haben Patient*innen und Fachleute gemeinsam über Long COVID und ME/CFS gesprochen und auch hier wurden die gravierenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt deutlich [18]. Laut der dort anwesenden Expertise werden bis 2033 voraussichtlich eine Milliarde Menschen weltweit an Long COVID leiden, vor allem in den ökonomisch aktiven Altersgruppen. Amy Proal, eine vortragende US-Mikrobiologin und Long COVID-Forscherin sagte: „Die Auswirkungen auf die Wirtschaft und die berufstätige Bevölkerung sind unglaublich hoch“ [19].

Nichts davon ist schön oder gut. Auch wenn jahrelang vernachlässigte, ignorierte und diskriminierte ME/CFS-Erkrankte nun vielleicht endlich die Chance auf eine adäquate Beachtung und Behandlung erhalten. Allerdings gibt es noch keine ursächliche Heilung. Und es gibt in der allgemeinen Ärzteschaft offenbar auch nicht den allergrößten Drang, sich mit diesem Krankheitsbild – oder mit postviralen Phänomenen generell – zu beschäftigen [20].

Eigentlich müssten neue oder neu-bekannte Krankheitsbilder doch die Neugier und den Forschungsdrang von ärztlichen Kolleg*innen hervorrufen. Aber es scheint irgendwie das Gegenteil der Fall zu sein. Allerseits stoße ich auf Skepsis, Ablehnung und Abwiegeln. In vielen anderen Fällen hat gar kein Gespräch stattgefunden. Die Kolleg*innen schienen geradezu empört zu sein, durch meine „Chuzpe“ sie mit der Krankheit zu konfrontieren. In den besseren Gesprächen habe ich zu hören bekommen: „Ich kann mir das irgendwie gar nicht richtig vorstellen . Was hast du?“. Was doch eigentlich ein komischer Ansatz ist, denn einen erhöhten Blutdruck muss man sich nicht vorstellen können, um ihn zu behandeln. Ich hörte auch: „Das glaube ich jetzt einfach nicht, gerade bei dir nicht“. Und ich frage mich auch hier: Muss man an einen Lungenkrebs bei einer bestimmten Person glauben, um ihn adäquat zu diagnostizieren? Und natürlich war auch zu vernehmen: „Ist das nicht eher psychosomatisch?“. Ernsthafte Gegenfrage: Warum muss man gegen bisher Unbekanntes die „Psychokeule“ schwingen, statt die physischen Beschwerden anzuerkennen und näher untersuchen zu wollen?2

Überhaupt das Psychologisieren und Bagatellisieren statt einer umfassenden Diagnostik! Internationale Studien gehen davon aus, dass 84 bis 90 Prozent der ME/CFS-Betroffenen nicht oder fehldiagnostiziert sind [21]. Auch ich wurde zunächst nicht untersucht. Im Gegenteil, als ich am Anfang meiner Erkrankung stand, hatte ich den Eindruck, dass sich drei innere Schubladen bei den behandelnden Kolleg*innen öffneten: Eine für die Simulant*innen, die eigentlich gar nichts haben, nur Aufmerksamkeit suchen und einem auf die Nerven gehen. Die zweite Schublade war für die, die eigentlich eine Depression haben, die sie nicht zugeben wollen; die erschöpft sind von den Krisen der Welt, von Klimawandel bis Krieg, oder eben einfach von den Resten der Pandemie mit all ihren Verwerfungen. Die dritte Schublade war für diejenigen, die einfach zu eifrig im Leben waren. Die zu viel gearbeitet oder zu viel Sport gemacht hatten, die zu ehrgeizig waren und einfach in einem Burnout steckten. Dass es jedoch klare körperliche Zeichen für die Erkrankung gibt und dass es dafür nicht unbedingt einen Biomarker braucht, also einen spezifischen Laborwert, haben zu viele noch nicht verstanden [22].

Selbst wenn man niemals einen eindeutigen Biomarker für die Vielfältigkeit der Krankheitsbilder Long COVID und ME/CFS finden würde, so haben wir diesen übrigens auch bei anderen Erkrankungen nicht [23]. Sei es die Migräne oder beim eben schon erwähnten Bluthochdruck. Wir haben aber Messwerte von körperlichen Parametern und vergleichen diese mit Werten von Gesunden, haben Abstufungen von Schweregraden (Blutdruck) oder wir haben standardisierte Fragebögen und Symptomskalen (Migräne).

Neuere Studien zeigen zudem, dass beispielsweise die reduzierte Handmuskelkraft für einen Teil der Betroffenen ein möglicher Marker für Diagnostik und sogar Prognose sein könnten [24][25]. Dabei wird gemessen, wie stark jemand einen Gummiball, an den ein Druckmesser angeschlossen ist, oder spezielle Handergometer drücken kann – und es gibt Referenzwerte zu Gesunden nach Alter und Geschlecht spezifiziert. Viele Labor- und Messwerte eignen sich darüber hinaus zum Ausschluss anderer schwerer Erkrankungen oder zur Diagnostik der Ursachen für die beiden Krankheitsbilder (wie etwa spezielle Autoantikörper).

Trotzdem wird vor allem Long COVID derzeit oft als Modediagnose ausgelegt und abgewertet. Vielleicht aus Hilflosigkeit bei den noch nicht so gut informierten Kolleg*innen, vielleicht weil die Zeit im Praxisalltag nicht immer für ein genaues Hinschauen und -hören reicht. Und vielleicht ist auch eine Art Abwehrreflex dabei: Es gibt und es gab immer schon Modediagnosen und Menschen, die ihre Beschwerden kolossal übertrieben oder fehleinschätzten, Stichwort Nocebo-Effekt (siehe Glossar). Eine Zeitlang hatte gefühlt jede*r Borreliose [57], in den sozialen Medien ist es gerade total „in“, ADHS zu haben [56]. Aber auch solche Modewellen entheben nicht von einer sorgfältigen Diagnosestellung. Bei Bestätigung der Diagnose ist dann eine zielgerichtete Therapie – und sei es nur zur Linderung der Beschwerden – möglich. Kein Psychologisieren und kein Bagatellisieren. Symptomatisch kann man zumindest einige Beschwerden, die bei Long COVID und ME/CFS auftreten, behandeln. Und dafür gibt es auch zunehmend Evidenz [26][27]. Ganz hilflos sind informierte Kolleg*innen also nicht.

Dennoch haben mir einige Ärzt*innen gesagt, dass sie Long COVID oder ME/CFS erst „geglaubt“ und als manifeste Krankheiten akzeptiert haben, als ihnen langjährig bekannte Patienten (bewusst nicht gegendert! *hüstel), darunter Leistungssportler und Workaholics, glaubhaft demonstrierten, dass sie nicht einmal mehr 30 Meter am Stück laufen oder keine Mail mehr tippen konnten. Ein befreundeter Arzt zweifelte so lange an meinen Symptomen, bis ich ihm beiläufig sagte, dass ich nicht mal mehr eine Kinderserie mit den Kindern gucken kann. Viel zu anstrengend.

Aber warum stört mich dieser Zweifel an der Erkrankung überhaupt so?

Weil vor jeder guten Therapie die korrekte Diagnose steht. Wird etwas falsch diagnostiziert, wird es automatisch falsch behandelt. Da bei Long COVID eine Chronifizierung möglich und ME/CFS eine chronische Erkrankung ist, liegt die besondere Bedeutung einer so früh wie möglich beginnenden richtigen Behandlung auf der Hand [28][29]. Das kann den Unterschied zwischen einem zerstörten und einem halbwegs lebbaren Leben oder sogar einer Genesung bedeuten.

Ich habe selbstverständlich keine Vorbehalte gegen psychosomatische und psychische Erkrankungen; auch sie gehören sorgfältig diagnostiziert und therapiert. Und mir ist bewusst, dass es durchaus Mischformen, Somatisierungsstörungen, somatopsychische Folgeerkrankungen oder biopsychosoziale Einflüsse gibt. Umso wichtiger ist die Vermeidung von Schubladendenken und eine sorgfältige Abklärung. Außerdem stört mich an dem Zweifel der leise mitschwingende Vorwurf, man würde sich das alles nur einbilden. Und irgendwie sei man ja auch ein bisschen selbst schuld dran, ne?

Wenn wir die beiden Krankheitsbilder irgendwann besser erforscht haben, besser verstehen, wie sie entstehen und behandelt werden können, dann muss all dieses Wissen in der medizinischen Grundversorgung ankommen. Wenn Ärzt*innen und Therapeut*innen, ja das gesamte Gesundheitssystem, grundsätzlich Zweifel an diesen Krankheitsbildern hegen, werden sie sich damit nicht auseinandersetzen wollen oder erst viel zu spät. Damit bleiben Betroffene länger als nötig schlecht oder gar nicht behandelt. Und wenn nicht mal Expert*innen die Krankheitsbilder richtig einzuordnen wissen, wie soll das dann der Gesellschaft gelingen? [30]

Es heißt immer wieder, dass wir die Pandemie aufarbeiten und aus ihr lernen sollen. Dafür müssen wir aber auch von den vielen postinfektiösen Ereignissen lernen, die wir medizinisch und historisch schon kennen [31][32] [55]. Von der Spanischen Grippe (Influenza), von Infektionen mit Epstein-Barr-Viren oder Ebola. Wir kennen auch die schwere Fatigue als Symptom von Autoimmun- und Krebserkrankungen. Wir wissen längst, dass manche Viren teils schwere Langzeitfolgen verursachen können. Verkennen oder ignorieren wir das, droht die Gefahr, dass wir viele Menschen auf der „Psychoschiene“ auf eine Art Abstellgleis schieben und sie nicht ins Leben zurückbekommen [33]. Long COVID kann chronisch werden und in kompletter Bettlägerigkeit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit, schlimmstenfalls mit dem vorzeitigen Tod enden [34]. Das darf uns als Mediziner*innen, aber auch als Gesellschaft, nicht egal sein.

Es gibt viele andere sehr schwere Erkrankungen, die Menschen aus dem Leben reißen. Einige davon können trotz des stetig wachsenden Wissens in der Medizin bislang nur schwer oder gar nicht behandelt werden. Jede Krankheit ist für sich schlimm, aber sobald Krankheiten besser bekannt und erforscht sind, werden Erkrankte medizinisch und menschlich besser behandelt. Im Vergleich zur Multiplen Sklerose (MS) hinkt die Forschung zu ME/CFS geschätzte 40 und gefühlte 100 Jahre hinterher [35]. Kleiner Einschub: Auch die MS ist zum Teil ein postvirales Phänomen, wie man erst seit wenigen Jahren weiß [36]. Zumindest verdoppelt eine Epstein-Barr-Virus-Infektion unter Umständen das Risiko, später eine MS zu entwickeln. Auch diese neurologische Erkrankung wurde übrigens zu Beginn über Jahre stark psychologisiert.

Postvirale neurologische Erkrankungen sind real und keine „Erfindung der Pandemie“. Trotzdem findet eine Art kollektives Gaslighting statt, das den Betroffenen die Krankheiten Long COVID und ME/CFS ausreden möchte, ihnen die eigene Wahrnehmung bestreitet oder ihre Symptome zu „Psychokram“ und „Anstellerei“ degradiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft ME/CFS schon seit 1969 als neuroimmunologische Erkrankung ein, explizit nicht als psychosomatisches Leiden.

Vielleicht liegen die Fehlwahrnehmung und das medizinische Gaslighting auch daran, dass die überwiegende Zahl der Betroffenen Frauen sind3 [37][38]. Wir biologischen Weibchen neigen ja ein bisschen zu Hysterie, wir sensiblen Seelchen, das ist historisch verbrieft und allgemein bekannt. Da muss man das natürlich nicht so ernst nehmen! [39] (Ende der Ironie)

Das Ganze hier soll keine überhebliche Ärzt*innen-Schelte sein. Das Problem des Gaslightings und Kleinredens ist weitaus größer und betrifft auch andere Gruppen: Sämtliche anderen therapeutischen Berufsgruppen, Entscheidungstragende im Gesundheitswesen, Gutachter*innen, Pflegegradbegutachtende, Menschen in Versorgungsämtern, die Schwerbehinderungsgrade vergeben, Mitarbeitende in den Renten- und Berufsunfä-higkeitsversicherungen, Politiker*innen, Verwandte und Bekannte, ach, im Grunde genommen die ganze Gesellschaft. Für Ärzt*innen fühle ich mich allerdings am meisten verantwortlich, weil sie mir am nächsten stehen. Es kann doch nicht sein, dass wir unseren Patient*innen ihre körperlichen Empfindungen ausreden, nur, weil wir selbst noch nicht genug verstehen und wissen.

Ich selbst bin übrigens ebenfalls weit davon entfernt eine „fehlerfreie“ Berufslaufbahn zu haben. Ich habe zum Beispiel jahrelang an die Homöopathie geglaubt und dass sie quasi gute Medizin sei. Als ich diesen Fehler einsah, tat ich jedoch alles, um es irgendwie wieder gutzumachen. Und es war gut , einzusehen, dass ich mich auf einem Irrweg befand, und es war notwendig , dann umzudenken. Sehen Sie als Ärzt*innen also dieses Buch bitte nicht als Anklage, sondern allenfalls als Appell oder Überredungsversuch dazu an, dass bisheriges Wissen hinterfragt werden darf. Okay?

In dieser Welt finden gerade unzählige Krisen statt, die mit uns allen etwas machen und möglicherweise auch Krankheiten und Krankheitswahrnehmung beeinflussen. Aber das gilt aber dann bitte auch für alle Krankheiten.

Doch bei Long COVID und ME/CFS läuft vieles kontraintuitiv und wider die bekannte Erfahrung. Die Erscheinungsbilder der Krankheiten haben deshalb Mühe, ernstgenommen und verstanden zu werden, solange man sie nicht selbst erlebt hat. Vielen fällt es schwer, zu akzeptieren, dass Betroffene sich schonen müssen, um wieder fit zu werden. Dass sie zum Teil nicht trainierendürfen , um vielleicht (!) irgendwann wieder trainieren zukönnen . Dass manche keine Serie gucken können, um sich zu entspannen, dass sie im Gegenteil im abgedunkelten Raum mit Ohrstöpseln über Stunden im Bett liegen müssen. Dass schöne Ereignisse keine Kraft geben, sondern genauso schwächen wie schlimme oder anstrengende Dinge. Dass junge Menschen keinen Haushalt mehr führen können und wieder bei ihren Eltern einziehen. Dass Kinder gar nicht mehr raus oder in die Schule gehen können, obwohl sie auf den ersten Blick körperlich gesund erscheinen.

Und Menschen, die keinen Zugang mehr zum Leben finden, müssten doch eigentlich eine Depression haben? Offenbar ist es schwer nachzuvollziehen, dass diese Krankheitsbilder vielem widersprechen, was wir sicher zu wissen scheinen.

Also – voilà – hier ist der Versuch, Long COVID und ME/CFS erfahrbar zu machen, weil ich wirklich niemandem wünsche, es selbst erleben zu müssen. Dieser Versuch ist mein Beitrag dazu, dass es künftig zu weniger Stigmatisierung und Diskriminierung und schlechter Behandlung kommt. Gute Medizin war mir schon immer ein Anliegen – und wenn ich nun aus meiner eigenen Erkrankung und Erfahrung heraus hier etwas zu Verständnis und Aufklärung beitragen kann, dann tue ich das gerne. Wenn ich auch mit geschlossenen Augen, im Bett liegend, diktierte, was Sie nun lesen.

PS: In diesem Buch werden Situationen beschrieben, die so passiert sind, aber ich habe zum Teil den Ort der Handlung oder das Geschlecht der handelnden Personen verändert. Ich möchte niemanden persönlich diskreditieren, sondern auf ein generelles Problem aufmerksam machen.

PPS: In diesem Buch wird gegendert. Da ich Respekt vor Krankheiten und für die daran leidenden Menschen einfordere, gebietet es der gleiche Respekt, dass ich auch genderqueere/non-binäre Menschen so anspreche, wie sie sich gesehen und wertgeschätzt fühlen – nicht nur mitgemeint. Respekt ist für mich etwas Grundsätzliches und nicht von einer Zahl („betrifft ja nur wenige“) abhängig.

PPPS: Da ich weiß, dass die Frage aufkommen wird: Ich selbst bin viermal gegen Corona geimpft gewesen und hatte im Juni 2022 bereits eine erste Infektion. Von dieser habe ich mich auch nur recht schwer erholt, entwickelte danach aber weder Fatigue noch PEM noch POTS (wird alles im Glossar erklärt). Nach ein paar Wochen war ich wieder arbeitsfähig. Meine letzte Impfung fand im Dezember 2021 statt, also lange vor der zweiten Infektion – und damit vor der Long-COVID-Entwicklung.

Wichtig: Die Impfungen senken das Risiko, verhindern die Entwicklung von Long COVID aber nicht komplett (je nach Virusvariante und Impfstoff/Impfstatus etwas unterschiedlich [44]). Manche Betroffenen und Expert*innen führen Long-COVID-Beschwerden sogar auf die Impfung zurück (sogenanntes Post-Vac-Syndrom [58][59][60]). Mittlerweile gilt es als recht wahrscheinlich, dass das Spike-Protein aus der Impfung genauso triggern und eine (Autoimmun-)Reaktion auslösen kann wie das echte Virusspike – und in beiden Fällen kann Long COVID (und dann vereinzelt ME/CFS) entstehen [61].

INFORMATIONEN ZU BETROFFENENZAHLEN

Der genaue Anteil von Menschen, die nach einer Corona-Infektion langfristige gesundheitliche Probleme („Long COVID“ oder „Post-COVID-Syndrom“, siehe auch Glossar) entwickeln, ist immer noch recht unklar. Studien legen nahe, dass etwa 6 bis 15 Prozent der Infizierten von Long COVID betroffen sein könnten [4]. Das Risiko für Langzeitfolgen steigt laut bisherigen Erkenntnissen mit der Schwere der Erkrankung an, es kann aber auch nach leichten bis nahezu beschwerdefreien Verläufen auftreten [44]. Es gibt Hinweise darauf, dass wiederholte Infektionen („Re-Infektionen“) das Risiko erhöhen könnten, jedoch sind die Daten dazu noch nicht ganz eindeutig [12]. Frauen und jüngere Erwachsene sind häufiger von Long COVID betroffen, ebenso wie Personen mit vorbestehenden Gesundheitsproblemen wie Diabetes oder Lungenerkrankungen. In den meisten Fällen klingen die Beschwerden nach einiger Zeit wieder ab [11].

Aber, und jetzt kommt das Aber: Inzwischen gehen manche Expert*innen davon aus, dass Long COVID bei bis zu 50 Prozent der Erkrankten nach (sechs) Monaten und mit Erfüllung bestimmter Kriterien (z.B. der CCC-Kriterien, Kanadische Konsenskriterien) in ME/CFS übergehen und damit chronisch werden kann [25][46].

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS geht davon aus, dass dieser Wert möglicherweise hoch angesetzt ist, da beispielsweise schwerer an Long COVID Erkrankte eher die Ambulanzen aufsuchen und daher überrepräsentiert sind.

Gleichwohl stehe aber fest, dass ein hoch relevanter Anteil von ME/CFS nach Long COVID existiert und dieser noch anwachsen wird. Schätzungen am anderen Ende des Spektrums gehen immerhin noch von 20 Prozent aus, was in absoluten Zahlen eine große Subgruppe ausmacht [45] .

Die Frage ist allerdings, ob es wirklich ein „Übergang“ ist, oder ob Betroffene, die Long-COVID-Symptome MIT Belastungsintoleranz haben (Post Exertionelle Malaise, PEM, siehe Glossar) eigentlich von Anfang an ME/CFS nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickeln, also eine postvirale ME/CFS haben.

ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom, siehe Glossar) ist eine schwere neuroimmunologische Ganzkörpererkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Einschränkung, ja, Behinderung führt. Weltweit sind derzeit etwa 17 Millionen Menschen betroffen. In Deutschland wurde die Zahl ME/CFS-Betroffener vor der COVID-19-Pandemie auf etwa 250-300.000 geschätzt, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche [47]. Expert*innen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Erkrankten durch Corona verdoppelt hat [40]. Beim dritten Runden Tisch des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zu Long COVID im April 2024 sprach Gesundheitsminister Karl Lauterbach von einer halben Million ME/CFS-Betroffenen (zum Teil nach Long COVID) allein in Deutschland [41].

Da es keine Heilung gibt und nur in seltenen Fällen eine Remission (siehe Glossar) stattfindet, wächst die Zahl der Betroffenen stetig. Geschätzte 60 Prozent der Erkrankten sind nicht arbeitsfähig, ca. 25 Prozent können das Haus nicht mehr verlassen [48][49].

2 Es ist mir besonders wichtig, dass Long COVID und ME/CFS als eigenständige körperliche Erkrankungen verstanden und akzeptiert werden. Das bedeutet nicht, dass psychische Erkrankungen (infolge, im Zusammenhang oder auch unabhängig von Long COVID und ME/CFS) nicht genauso ernst genommen und richtig diagnostiziert und behandelt werden sollten! Das bitte ich im ganzen Buch gut auseinanderzuhalten. Die Worte „Psychokeule“ oder auch „Psychokram“ und „Psychoschiene“ verwende ich nicht, um psychische Erkrankungen abzuwerten, sondern um deren häufige Fehlwahrnehmung als „nicht so wichtig“ zu verdeutlichen. Es ist aber genauso wichtig, eine psychische Erkrankung nicht fälschlicherweise als ME/CFS zu behandeln. Natürlich gibt es auch Überschneidungen.

3 Hier geht es tatsächlich um biologisch weibliche Personen, denn das weibliche Genom und das Immunsystem unterscheiden sich vom biologisch männlichen in einigen Punkten. Frauen haben (in der Regel) zwei X-Chromosomen, von denen meist eines deaktiviert wird, und genau gegen die „Hülle der Deaktivierung“ könnten spezielle Autoantikörper entstehen. Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom, es findet keine Deaktivierung statt. Daraus schließt man derzeit durch erste Erkenntnisse, dass Frauen insgesamt häufiger an Autoimmunerkrankungen leiden. Dazu kommt eine andere Hormonlage. Das Immunsystem ist auch über Hormone wie Testosteron und Estradiol beinflussbar (dadurch verändert es sich auch während einer Schwangerschaft). Dazu kommen soziale Gründe, wie dass weibliche Personen öfter in Care-Berufen arbeiten, wo sie vermehrter Ansteckung ausgesetzt sind, und immer noch in der Regel mehr Care-Arbeit leisten, so dass sie sich in der „Rushhour“ des Lebens leichter verausgaben und weniger gut rekonvaleszieren [50][51][52][53] [54].

ME/CFS – DIE VERGESSENE KRANKHEIT

Im Vergleich zu vielen anderen bin ich nicht sehr schwer (aber mehr als genug!) und auch erst seit relativ kurzer Zeit von ME/CFS [1] betroffen. Viele andere Erkrankte liegen seit Jahren im abgedunkelten Zimmer alleine in ihren Betten, oft ohne Behandlung und völlig verzweifelt. Einige haben sich nach unzähligen schlechten Erfahrungen mit Ärzt*innen, die ihnen nicht glaubten oder nicht einmal zuhörten, ganz von der Medizin abgewendet. Doch warum ist diese Krankheit so wenig beachtet? Die Erkrankung ist komplex, ja, verstanden, sie betrifft viele verschiedene Organe und Körpersysteme, so weit, so schlecht, sie ist schwer, sie ist chronisch, sie ist nicht heilbar, alles klar. All das ist aber nicht das Problem, das uns hier beschäftigt.

Das Problem ist: Die Krankheit ist an entscheidenden Stellen so anders, als wir es von Krankheiten in der Regel kennen, dass sie auf viele Menschen erst einmal irgendwie spooky wirkt oder unglaubwürdig und „mysteriös“ rüberkommt. Das typische Symptom der Fatigue lässt Patient*innen als unmotiviert erscheinen, psychisch verlangsamt oder gar faul. Aber Fatigue-Zustände kennen wir in der Medizin immerhin noch von anderen Erkrankungen wie Krebs, da können wir noch eine Brücke des Verständnisses bauen. Richtig wild wird es auf Grund der typischen und einzigartigen sogenannten Belastungsintoleranz. Bei vielen endet das intuitive Verständnis bei der Vorstellung, dass erkrankte Menschen sich nicht mehr belasten können, ja, dürfen. Doch dieses Verständnis wäre gerade unter Fachleuten so wichtig.

Da mir als Ärztin von Anfang an klar war, was ich habe und wohin es sich nach Monaten entwickelt, konnte ich auch von Anfang an mit der Hilfe von spezialisierten Kolleg*innen dagegen vorgehen. Mir ist jahrelanges Verzweifeln am eigenen Körper, die Odyssee durch -zig Arztpraxen und das Schwinden der letzten Kräfte durch immer neue Reaktivierungs-, falsche Rehaund Arbeitsversuche weitgehend erspart geblieben. Möge es doch allen Erkrankten so ergehen – und schnelle Hilfe im Wissen um die richtige Behandlung alle erreichen!