ER - Christa Andersen - E-Book

ER E-Book

Christa Andersen

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Beschreibung

Dieses Werk handelt von einer heutzutage sehr verbreiteten Form von Liebesbeziehung, der toxischen, in der meistens der Mann die Frau manipuliert, an sich bindet ohne sich einer Liebe zu bekennen. Obendrein trägt er narzisstische Züge, d.h. seine Aufmerksamkeit gilt ihm selber. Sich aus solchen Fängen zu befreien, fällt der Frau äußerst schwer, obwohl sie mit der Zeit die verletzende, sie zerstörende Lage erkennt. Es sind literarische Vorbilder und ihre drei weisen Freundinnen, die ihr zum erlösenden Schlussstrich verhelfen werden.

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Inhaltsverzeichnis

Die drei Strickerinnen

Der Urlaub

Franz

Let’s dance

Die drei Freundinnen

Die Erkenntnis

Die drei Deuterinnen

Das i-Tüpfelchen

Die Suche nach Trost

Der Besuch

Detektivarbeiten mit Folgen

Epilog

Bibliographie

Die drei Strickerinnen

Jeden Mittwoch sitzen die drei Freundinnen zusammen, im Sommer gerne unter der Schatten spendenden riesigen Esche, um dessen Wohlbefinden sie immerfort Sorge tragen. Sie bewässern sie bei Trockenheit, entfernen das unbändige Efeu, das sie zu ersticken droht, kehren bei Bedarf die heruntergefallenen Blätter fort. Bei schlechtem Wetter verziehen sich die Frauen in eine geschützte Räumlichkeit. Es vereint sie die gleiche Leidenschaft: das Stricken. Sie tauschen gerne neue, ausgefallene Muster untereinander aus und auch an Komplimenten für die gelungenen Stücke der Kameradinnen geizen sie nicht. Sie begleiten ihre handwerkliche Tätigkeit mit intensiven Gesprächen und – wie könnte es bei Frauen anders sein – mit Kommentaren, um nicht zu sagen Tratsch, über ihre gemeinsamen Bekannten. Genauso wie ihre Hände ständig in Bewegung sind, so ist es also auch ihr Mundwerk. An erster Stelle ist es das Schicksal einer bestimmten Freundin, mit der sie alle bereits eine kleine Ewigkeit bekannt sind, das ihnen besonders am Herzen liegt.

„Ich verstehe Caroline nicht“, erklärt Sikulda, die jüngste der Gruppe. „So eine intelligente, Kopf gesteuerte Frau kann sich aber nicht von ihrem Professor lösen! Ich wiederhole ihr immerfort, dass ihr mit ihm keinerlei Zukunft blüht! Es ist total sinnlos, mit ihm weiterzumachen. Sie verplempert ihre kostbare Zeit! Sie ist aber unfähig, einen Befreiungsschlag zu unternehmen.“

„Ich finde es ja so lustig, dass wir ihn immer noch als „Professor“ bezeichnen“, mischt sich Verdina ein. „Caroline hat neulich zugegeben, er sei keiner. Es fiel ihr offensichtlich schwer, ihn vor uns von dieser ehrerbietenden Position zu entthronen. Sie habe sich das selber eingebildet, weil er erwähnt habe, an der Uni unterrichtet zu haben. Er habe sie aber unverblümt aufgeklärt, er habe nie eine Professur innegehabt. Wir hingegen lassen uns nicht beirren und halten an unserer Betitelung fest. Sei’s drum! Er gebart sich eh als hochrangiger Bildungsträger. Zugestanden – auf seinem eigenen Gebiet! Auf dem der Wirtschaft und der Politik.“

„Habt ihr schon gehört“, wirft Uranda, die älteste, aufgeklärteste der drei Frauen, ein, „was er neulich anmerkte, als er ihr einige Zeitungsartikel mitbrachte? Sie handelten von den Themen, über die sie sich ständig unterhielten, die beide sozusagen im Bann hielten, sie vielleicht sogar einten. Als wären diese, also die zwei soeben von dir, Verdina, erwähnten Sujets, die brennenden Fragen, mit denen sich Caroline von sich aus beschäftigen würde! Ganz im Gegenteil. Sie hat sich ihm angepasst. Es blieb ihr halt nichts anderes übrig, während er einfach auf seinem Steckenpferd beharrt! Stur wie ein Esel! Inzwischen gibt sich Caroline nicht mehr die Mühe, ihn mit ihrem eigenen Interessensgebiet vertraut zu machen. Kaum beginnt sie über einen Theaterbesuch oder eine Romanlektüre zu berichten, so dauert es nicht lange, bis er ihr ins Wort gefallen und zu seinen Lieblingsanliegen zurückgekehrt ist. Er unterbricht sie gnadenlos, ohne Rücksichtnahme auf ihre Neigungen. Durch sein fehlendes Einfühlungsvermögen ist sie dermaßen verunsichert, dass sie nunmehr jeglichen Anlauf, von ihren Vorlieben zu erzählen, unterlässt. Sie tut mir von Herzen leid. Wir sind doch alles kommunikative Wesen und brauchen vorrangig Teilhabe.“

„Deswegen rate ich ihr, sich nicht von ihm unterdrücken zu lassen“, räumt Verdina ein. „Sie verleugnet für ihn ihre eigenen Hobbys. Und wisst ihr was? Kürzlich lobte er sie, denn sie habe seit ihrer Bekanntschaft vor neun Monaten enorme Fortschritte gemacht, sie vertrete nun reifere Meinungen! Kein Wunder! Denn sie liest sich nun in seine Fachgebiete ein, schaut sich im Fernsehen nur noch Dokumentare zu aktuellen Klima- und sonstigen Themen an, vernachlässigt ihr Lieblingsterrain, die Literatur, um sich seinen Fragen zu widmen. Es ist ihr klar, dass sie Aufholbedarf hat. Und sie möchte auf keinen Fall, dass er diesen Umstand bemerkt! Das wäre fatal! Eventuell ein Grund für ihn, sie fallen zu lassen. Dieser Zustand ist für sie nicht mit Leichtigkeit zu bewältigen! Ihre Aufmerksamkeit unaufhörlich in Anspruch genommen! Ihre grauen Zellen stetig auf Höchstleistung angetrieben! Denn er streift die genannte Materie nicht einfach oberflächlich, nein, er geht stets in die Tiefe! Ihr verbleibt keine Zeit zum Entspannen, zum Auftanken. Sehr anstrengend, eine ständige Herausforderung. Aber sie ist der Meinung, es lohne sich, es sei interessanter und befriedigender als z. B. Sudoku. Derartige Gespräche führe sie sonst mit niemandem. Er hält sie immerfort auf Trab! Ebenbürtigkeit mit ihm, das schafft sie nicht, aber die Assimilation ist ihr ziemlich gut gelungen. Das Resultat bleibt ihm nicht verborgen. Er stellt es offenkundig fest. Ist er stolz auf sein Werk? Immer doch! Er kennt seinen Einfluss auf sie. Und sie? Ist wie eine Modelliermasse in seinen Händen! Begehrt nicht auf! Gleicht sich ihm an. Ordnet sich ihm unter. Ist ihm womöglich bis zu einem bestimmten Grad hörig! In meinen Augen wird es für sie langsam aber sicher gefährlich! Dieses Verhältnis bzw. „Unverhältnis“ sagt mir nicht zu! Ohne ein echtes Gleichgewicht kann eine Beziehung nicht funktionieren. Er zollt ihr einfach nicht den erforderlichen Respekt oder die Anerkennung! Und er ist stets auf Genuss aus, seinen eigenen selbstverständlich. Ein profundes Glücksempfinden ist ihm bestimmt fremd.“

„Man muss Caroline zugutehalten, dass ihr dies alles gewissermaßen bewusst ist“, stellt Sikulda fest. „Sie bleibt ja nicht tatenlos zu Hause auf dem Sofa sitzen. Sie ist unglaublich unternehmungslustig. Was macht sie nicht alles! Sie nimmt an verschiedenen Literaturgruppen teil, d. h. sie liest nicht nur ständig neue Werke, nein, sie informiert sich über die Autoren, das Zeitgeschehen usw. Ihr werdet einwerfen, sie sei flink. Zugestanden! Deswegen hält sie in ihrem Tagesplan nie inne. Sie wandert einmal die Woche ganzjährig in einer Gruppe, trifft sich regelmäßig in einem Damenkränzchen mit alten Bekannten, ist ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätig – helft mir weiter, falls ich eine Tätigkeit vergessen haben sollte! Die banalen Dinge des Lebens, wie Einkaufen, Kochen und Putzen lassen wir mal komplett beiseite! Aber das Allerwichtigste ist wohl, dass sie sich selber Gedanken über die ihr noch bevorstehende Zeit macht, nicht in ihrem Alltagstrott stehen bleibt, sondern darüber hinaus tätig wird!“

„Vollkommen richtig“, stimmt Verdina zu. „Sie ist rege, schaut sich um, verreist, besucht Vorträge, belegt Kurse, probiert Neues aus, um nicht auf ihrem gegenwärtigen Niveau stehen zu bleiben und um irgendwo eventuell einen ihr zugeneigten, ebenbürtigen Partner ausfindig zu machen. Aber überall sind die Frauen in der Mehrzahl, die Männer träge, kaum aus ihrer Komfortzone herauszubekommen. Genügend unter ihnen fühlen sich dennoch ebenso einsam wie Caroline. Heutzutage macht man sie in den sozialen Netzwerken ausfindig bzw. über Zeitungsannoncen. Es ist ein mühsamer, des Öfteren frustrierender Weg. Eins muss man anmerken: Bei all ihren Begegnungen verhielten sich die Männer höflich, korrekt, seriös, respektvoll. Der Grund ist glasklar: Man steht auf der gleichen Ebene; verfolgt das gleiche Ziel, einen Partner zu finden, schlussendlich der Einsamkeit zu entkommen. Eine Ausnahme steht fest: Unser Professor! Was stimmt denn nicht zwischen den beiden? Treffen sich nun schon seit fast einem Jahr regelmäßig und es besteht kein Vorwärtskommen in der Beziehung. Irgendwo ist etwas faul, nur wo? Ich habe ihr schon gesagt, er habe bestimmt eine andere oder vielleicht gar mehrere nebenherlaufen. Jede einzelne Frau befriedigt seine Bedürfnisse auf einem bestimmten Gebiet. Eine einzige reicht nicht aus. Aber Caroline will mir keinen Glauben schenken, die Utopistin! Irgendwann erfolgt bestimmt das böse Erwachen!“

Der Urlaub

Täglich schickte er ihr Fotos, auch kurze Texte. Anrufe fielen ebenfalls nicht aus. Sie freute sich, dass er an sie dachte. Er handelte wie versprochen. Meldete sich, zeigte ihr sein Interesse an ihr.

Im Grunde genommen war sie enttäuscht gewesen, als er ihren Vorschlag, mit ihm in Urlaub zu fahren, höflich ablehnt hatte.

„Wohin geht es denn diesmal?“, fragte Caroline den Professor einige Wochen vor dem Abreisedatum.

„Eventuell in die Sächsische Schweiz. Ich war noch nie dort. Die Gegend ist berühmt, das brauche ich dir nicht zu sagen. Ich möchte dort gerne einige Tage wandern.“

„Da könnte ich ja mitkommen! Ich kenne sie auch nicht, obwohl ja meine Tochter seit mehreren Jahren in Dresden wohnt. Ich war nur einmal mit ihr in der Bastei. Im Winter! Bitterkalt und einige Strecken waren wegen Eisglätte gesperrt. Dann könntest du endlich Petra und ihren Freund Herbert kennenlernen. Natürlich auch meinen Enkel Johannes. Und Dresden würden wir dir als Insider vorstellen! Das wär‘ doch was, oder?“, lud Caroline sich freimütig selber ein.

„Danke für dein Angebot. Ich weiß es zu schätzen. Ich werde es in Betracht ziehen.“

Damit war das Thema beendet gewesen. Vorläufig. Denn einige Tage später widersprach er seiner gemachten Aussage.

„Eventuell fahre ich im Urlaub in den Norden. Besuche dort meine Verwandtschaft, die ich schon lange vernachlässigt habe. Muss ja den Kontakt aufrechterhalten.“

Caroline enttäuscht. Also doch keine Möglichkeit, ihn nach der ein Jahr währenden Bekanntschaft ihrer Familie, ihren Liebsten vorzustellen. Sie trafen sich ungefähr einmal die Woche, telefonierten fast täglich. Vor jeder Begegnung zersprang ihr fast das Herz vor Freude. Liebte sie ihn? Sie wusste keine Antwort, aber er gehörte nun zu ihrem Alltag. Ohne ihn wären die Wochen trotz ihrer vielen anderweitigen Beschäftigungen glanzlos verlaufen. Jeder Tag mit ihm erhellte ihr Gemüt, obgleich die gemeinsamen Unternehmungen sich auf das Wandern begrenzten. Sie schafften beide problemlos 1.000 Höhenmeter, sowohl den Berg hinauf wie hinunter. Er mit seinen inzwischen 77 Jahren, sie mit 74. Sie gingen ebenbürtig, genossen die Aussichten und vor allem die Tatsache, dass sie den Gipfel in einer guten Gehzeit erreicht hatten. Das Elbsandsteingebirge wäre von beiden leicht zu meistern gewesen. Dann folgte allerdings die wahrlich kalte Dusche für Caroline. Drei Tage vor dem angesetzten Termin.

„Wo geht es denn nun am Sonntag endgültig hin?“, fragte Caroline ihn in ihrer direkten Art.

„In die Sächsische Schweiz“, ertönte es in Carolines Ohren. Fast hätte sie sich beim Essen verschluckt. Hatte sie richtig verstanden?

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Fährst du denn alleine?“, gelang es ihr hervorzubringen.

„Nein, ich fahre mit einem Freund.“

„Ach, mich wolltest du nicht als Begleitung bei dir haben, aber einen Kameraden schon! Das werde ich mir merken! Und mit welchem Auto fahrt ihr, mit seinem oder deinem?“

„Nein, mit meinem. Es muss ja für solch eine lange Fahrt komfortabel sein.“

Somit war die Unterhaltung bezüglich des Ziels ad acta gelegt. Er entschuldigte sich nicht, gab nicht die Ursache für seine Ablehnung ihrer Gegenwart während des Urlaubs an, wich wie üblich einer Erklärung seiner Beweggründe aus. Caroline blieb nichts anderes übrig, als seine Handlungsweise zu akzeptieren. Wie sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, all seine Taten anzunehmen, ohne Aufbegehren, ohne Nachfragen, ohne Forschen.

Über WhatsApp erhielt sie regelmäßig Bilder von ihm; seine Zeilen sog sie in nervöser Erwartung und Erregung ein; strahlte über das ganze Gesicht bei jeder neu erhaltenen Nachricht. Um sieben Uhr morgens schaltete sie das über Nacht ausgeblendete Handy beim Aufstehen wieder ein. An einem Mittwoch, das erste Bild, er vor einer Art Höhle. Aber das zweite! Sie schaute es sich genauer an! War das ein Mann oder eine Frau? Nein, eine Frau! Äußerst schlank, älteres Semester, kerzengerade stehend, auf ihre Wanderstöcke gestützt, im Vollbild, erhobenen Kopfes, ihre Augen mit einer Sonnenbrille getarnt direkt auf den Fotographen schauend. Eindeutig für ihn in Positur gestellt. Was sollte dieses Foto bedeuten? Es war kein zufälliger Schnappschuss von einer unbekannten Wanderin, das stand für Caroline fest! Unbestreitbar seine Begleiterin! Keine männliche, sondern eine weibliche Urlaubsgefährtin! Seine Lüge fiel Caroline wie Schuppen von den Augen! Wut stieg in ihr auf! Aber vorsichtshalber besah sie sich die Aufnahme noch einmal. Es bestand kein Zweifel! Obwohl es sich nicht um eine Schönheit handelte, war es entschieden eine Frau. Absichtlich hatte er unmöglich dieses Bild versenden wollen. Nein, es rührte von einem Versehen. Je mehr Caroline nachdachte – und die Zeit dazu nahm sie sich, um dieses unverständliche, verworrene Rätsel zu lösen –, desto klarer formte sich seine Situation in ihrer Vorstellung.

„Jedem Dieb, jedem Kriminellen unterlaufen Fehler. Warum also nicht auch ihm? Es fällt ihm bestimmt schwer hinter dem Rücken seiner Kameradin, Nachrichten an die „Andere“, also an mich, zu versenden. Die „Eine“ soll ja von der „Zweiten“ nichts erfahren. Ein nicht leicht zu bewältigendes Unternehmen, ein gewagtes Versteckspiel. Er befand sich in Eile und tippte zu schnell auf das besagte Bild, das ihn verraten sollte. Peinlich, peinlich! Aber so geht es halt den Doppelspielern, den Menschen, die immer auf der Gewinnerseite stehen wollen, sich berechtigt fühlen, alles für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Ohne Rücksicht auf die Gefühle des anderen, auf die Konsequenzen für ihn. Ein Egoist halt. Denkt nur an seine Vergnügungen. Und was nun? Wie soll ich vorgehen? Wie eine beleidigte Leberwurst? Ich blockiere ihm erstmal die Kommunikation per WhatsApp. Ja, das mach ich jetzt.“

Gesagt, getan. Aber den ganzen lieben Tag lang kreisten ihre Gedanken nur um ihn.

„Verwunderlich ist es natürlich nicht. Ich habe ihm ja nicht getraut. Deswegen wollte ich auch kein Verhältnis mit ihm eingehen. Seiner sicher war ich mir nie. Was empfindet er für mich? Besitzt er überhaupt die Fähigkeit zu lieben? Hat er ein Herz? Und dann noch an der richtigen Stelle? Ich bezweifle es. Mit dieser Frau verbindet ihn eine langjährige Beziehung. Die hat er nicht erst gestern kennen gelernt. Er würde nicht mit einer flüchtigen Bekanntschaft eine Woche oder zehn Tage gemeinsam wegfahren. Nein, da steckt mehr dahinter. Wie soll es aber mit uns beiden weitergehen? Auf der einen Seite hasse ich ihn, möchte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ihn aus meinem Leben entfernen. Denn er hat mir weh getan. Sehr sogar. Befindet er sich in der zweiten Pubertät? Sein Verhalten entspricht nicht dem eines erwachsenen, reifen Mannes. Will er nicht wahrhaben, dass er ein Senior ist, ein alter Mann auf gut Deutsch, dass ihm vielleicht nur noch einige, wenige Jahre in guter Gesundheit verbleiben? Verschließt er die Augen vor der Wirklichkeit? Wie kann man nur so vermessen, so verblendet sein! Ein wenig Träumerei mag ja schön sein. Aber diese Zweigleisigkeit übertrifft jeden Realitätssinn“, sinnierte die enttäuschte, zerstörte Caroline vor sich hin.

Derweil erwartete sie stündlich, eigentlich minütlich seinen Anruf. Da war ja die Möglichkeit eines normalen Telefonats per Handy oder über die Festnetznummer vorhanden. Diese zwei Türen standen ihm offen, zur Verfügung als Mittel für eine Aussprache, die sie herbeisehnte. Aber es tat sich nichts. Und die Tage verliefen für Caroline grauenvoll. Einerseits litt sie unter der Schmach, andrerseits sehnte sie sich nach ihm. Sie war hin- und hergerissen. Was konnte er ihr schon sagen? Verdiente er Vergebung von ihrer Seite? Auf keinen Fall, denn er hatte sie unmissverständlich angelogen, ihr Ehrgefühl mit Füßen getreten, keinerlei Respekt gezollt. Aber ohne ihn, ohne seine Gespräche, seine Gegenwart war ihr Leben leer. Sie brauchte ihn wie eine Droge, erlebte heftige Entzugserscheinungen bei seinem Wegbleiben.

„Was soll denn das? Wo bleibt mein Selbstwertgefühl? Habe ich mich nun komplett aufgegeben? Ich schäme mich vor mir selber! Also, Kopf hoch!“, ermahnte sich Caroline selbst. „Ich habe ihm ja nie richtig über den Weg getraut. Er machte mir Avancen, gab mir zu verstehen, dass er mich gerne hatte, mich auch brauchte, aber den endgültigen, dezisiven Schritt machte er nie! Ließ mich stets im Ungewissen, in der Nebulose. Hielt mich an einer unsichtbaren Schnur, gab mich nicht frei, packte aber auch nicht zu. War es eine Taktik? Macht er das mit mehreren Frauen gleichzeitig? Aus Spaß oder aus der Unfähigkeit heraus, wirkliche Empfindungen für jemanden zu hegen? Ich wurde all diese Monate hindurch nicht schlau aus ihm. Ich wünschte mir ja immer, ihn mit einer anderen zu erwischen, in flagranti. In einem intensiven Kuss auf die Lippen seiner Geliebten versunken. Somit hätte ich endlich einen Beweis in der Hand gehabt. Denn mein Verdacht war vorhanden. Und gleichzeitig die Hoffnung, eine weitere existiere nicht, ebenso! Gebannt durch diese Perspektive. Nicht nur auf einem, sondern auf beiden Augen aus freien Stücken blind! Ich wusste, dass es äußerst schwer sein würde, ihn irgendwo in der Stadt anzutreffen. Dass er mir aber das Beweisstück selber, freiwillig, frei Haus zusenden würde, auf den Gedanken war ich natürlich nicht gestoßen! So ein Esel! Geschieht ihm recht!“

Drei qualvolle Tage vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihm; keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, kein Anruf von ihm über das immer noch frei geschaltete Handy, sodass sie enttäuscht dem Telefon immer wieder die Zunge ausstreckte. Ihre Art und Weise ihren Frust loszuwerden! Und dann am Samstag, für Normalsterbliche zu einer unglaublich frühen Stunde, um genau 7 Uhr morgens, klingelte das Festnetztelefon. Ein wenig schlaftrunken schwang sich Caroline aus dem Bett und griff zum Hörer. Sie staunte nicht schlecht, als sie seine Nummer erkannte. So lange hatte sie auf seine Stimme gewartet, dass sie nun Unsicherheit aufkommen fühlte, nicht wusste, ob sie standhalten oder einmal wieder seinem Charme erliegen würde.

„Hallo, Caroline, habe ich dich geweckt?“, klang es freudig herüber.

Caroline musste sich kurz fangen. Sie riss sich zusammen, fest entschlossen, ihn zur Rede zu stellen, nicht weich zu werden, nicht nachzugeben.

Franz

Als Caroline nach den ersten sechs Monaten Bekanntschaft mit dem Professor gemerkt hatte, dass sie nicht vorankam, dass sie sich in einer Sackgasse befand, fing sie an, sich nach anderen Möglichkeiten, sprich Männern, umzusehen. Sie war nun, nach fast fünfzigjähriger Ehe, bereits anderthalb Jahre verwitwet; ihre Kinder wohnten in entfernten Städten, besuchten sie hin und wieder oder luden sie zu sich ein. Auch die ältesten Enkel machten sich selbständig auf den Weg zu ihr. Aber da blieben noch die vielen, vielen Tage dazwischen! Das Einsamkeitsgefühl in der Wohnung übermannte, erdrückte sie! Sie sehnte sich nach einer Zweisamkeit, von der sie mit dem Professor weit entfernt war. Ihm schien es zu genügen, einmal wöchentlich mit ihr die Berge zu erklimmen. Mehr benötigte er augenscheinlich nicht. Seine Tage waren mit diversen Tätigkeiten gefüllt; im Sommer nahm der Garten mit Rasenmähen, Blumen und Gemüsepflanzen wie Tomaten und Gurken einige Stunden in Anspruch, aber was er am Wochenende trieb, welchen Beschäftigungen er nachging, davon erfuhr Caroline nichts. Sie rätselte mühsam vor sich hin, wurde aber durch seine kurz gehaltenen Aussagen nicht schlau. Manchmal tauchte einer seiner drei Söhne bei ihm auf. Diese Erwähnung beruhigte sie. Es bedeutete weniger Zeit für eventuelle Treffen mit Damen. Über dieses Thema schwieg er, es sei denn er brüstete sich damit, dass er unaufgefordert die Handynummer von einer flüchtig bekannten jungen Frau erhielt. Er konnte und wollte den Stolz bezüglich seiner Eroberungen nicht verheimlichen. Wo er doch ansonsten sein Streben nach Vertuschung nicht unterdrückte! Fest stand für Caroline, dass er nur die unwichtigen Begegnungen erwähnte, nicht aber jene mit Transzendenz. Letztere versteckte er hinter Schloss und Riegel, verwahrte sie in einem entfernten Nebelreich. Und welche Wirkung seine selbstdarstellerischen Offenbarungen auf seine Begleiterin machten, darum scherte er sich nicht im Geringsten! Lag es womöglich an einem Mangel an Empathie?

Also wandte sich Caroline wieder den Zeitungsannoncen zu. Mit Widerwillen! Es kam ihr vor, als werfe sie sich wie zum Fraß vor die Hunde, als schreie sie laut: „Schaut her, ich bin zu haben! Wer will mich?“