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Dieses Werk zeigt ein Tabuthema auf, den Kontaktabbruch von einer Tochter zu ihrer Mutter. In Form von Dialogen mit einer Freundin wird die Suche der Mutter nach verschiedenartigen Hilfestellungen dargestellt, von esoterischen über psychologischen und schließlich anhand literarischer Zeugnisse. Gegenwärtig häufen sich die Fälle, in denen Kinder aus für die Eltern unbekannten und unverständlichen Gründen die Beziehung zu ihnen auflösen. Der Schmerz und die Scham bei den verlassenen, meistens den Müttern, ist groß. Über dieses Problem wird wenig berichtet und auch in der Literatur wird es nicht beachtet. Eine Ausnahme bildet die Nobelpreisträgerin Alice Munro, deren Erzählung "Schweigen" hier ausführlich analysiert wird.
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Seitenzahl: 191
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Erbe
Esoterik
Philosophie
Telefonat
Gott
Verrat
Schmerz
Merkel
Kluft
Einsamkeit
Wiedersehen
Anne Marie
Frau Mauser
Myriam
Müllers
Iris
Die Strafe
Luise
Dschihad
Alice Munro
Analyse der short-story Schweigen (Silence)
Bibliographie
„Wenn der Mensch die Welt nicht ändern kann, dann muss er sich selber ändern.“ (Konfuzius)
Jeden Dienstag trafen sich die beiden Freundinnen um 9 Uhr im Stadtpark. Für eine Stunde bewegten sich ihre Beine genauso intensiv wie ihr Mundwerk. So vertieft waren sie manchmal in ihre Gespräche, dass sie weder der anderen Menschen noch der Natur gewahr wurden. Die Herbstfärbung oder den feinen Schneefall, die aufkeimenden Blumen oder die intensive Sonnenstrahlung quittierten sie gewöhnlich mit einem: „Ist es nicht mal wieder herrlich heute?“, schweiften kurz mit wohlwollenden Blicken über die üppige Umgebung und stürzten sich in ihre persönlichen Berichte. Das Geschehen einer Woche auf ein Stündchen gedrängt! Das war nicht viel Zeit, denn an den anderen Tagen begnügten sie sich mit spärlichen kurzen E-Mails, und die auch nur im Notfall.
„Mit Herrn Dr. Müller bin ich sehr zufrieden“, berichtete Erika, die gleich mit der Tür ins Haus fiel. „Du weißt ja, dass ich ihn vor zwei Monaten eingestellt habe und meine Bedenken hatte. Er hat mir den Laden vollständig umgekrempelt! Es war natürlich mit mir abgesprochen, aber dennoch ist es nicht leicht für mich, mit anzusehen, wie er alte treue Mitarbeiter entlässt. Ich verstehe, dass es notwendig ist. Er hat mir zur Genüge erklärt, dass wir sonst keine Chance haben! Die Konkurrenz aus Fernost lässt uns keine andere Wahl! Es sind schon mehrere Firmen durch sie pleitegegangen. Ohne radikale Maßnahmen gehen wir mit Mann und Maus unter!“
Erika hatte vor sechs Monaten die Spielzeugfabrik übernommen, die schon seit mehreren Generationen im Familienbesitz war. Bereits ihre Mutter, sie selber und auch ihre eigenen Kinder waren fast ausschließlich mit Spielsachen der Eigenmarke aufgewachsen. Sie fühlten sich alle mit ihnen sehr verbunden, kannten jedes Produkt oder glaubten, es zu kennen, liebten die bekannten Gegenstände, als hätten sie sie selber von Hand gefertigt. Dabei waren sie nicht hochkarätiger als andere, im Gegenteil vielleicht sogar einfacher und nicht durch ihre Resistenz hervorstechend. Sie stellten lediglich eine Marke mehr dar.
Erika stand vor der riesigen Aufgabe, die am Rande des Ruins stehende Firma auf Vordermann zu bringen. Dazu benötigte man neue Ideen, neuen Wind, eine Umstrukturierung, ja sogar eine neue Ausrichtung in der Produktion. Denn aus Asien blies es stark. Gegen diese Konkurrenz zu bestehen, nicht unterzugehen, war hart genug.
Dabei brachte Erika nicht die geeigneten Voraussetzungen zur Bewältigung dieser Herausforderung; keine Kenntnisse in Betriebswirtschaft oder gar eine Ausbildung in Management hatte sie genossen, nein, sie hatte lediglich ein Kunststudium absolviert. Dadurch ließe sich vielleicht ihr guter Geschmack erklären, allerdings nicht die treffende Eigenschaft für die Führungsposition, die sie nun auszuüben hatte.
„Ja, du trägst eine enorme Verantwortung, den Angestellten ebenso wie deiner Familie gegenüber“, antwortete Iris voller Verständnis. Mit der Busenfreundin konnte sich Erika über alle Themen, auch die intimsten, unterhalten. Sie wiesen einige Gemeinsamkeiten auf: Beide hatten die gefürchtete Grenze der Sechzig überschritten, dennoch trieben sie regelmäßig mit Leidenschaft verschiedene Sportarten, sie achteten auf ihre Figur sowie auf ihr Äußeres im Allgemeinen und auch kulturelle Veranstaltungen besuchten sie intensiv. Dabei zeigte ihr Erscheinungsbild einen merklichen Kontrast: Während Erika blond und blauäugig war, so war Iris schwarzhaarig mit braunen Augen. Erika war ein wenig zurückhaltend, wogegen Iris mit ihren Energien übersprudelte und offen auf die Menschen zuging. Während Erika keinen Wert auf Markenkleidung legte, achtete Iris sehr darauf. Erika stand über solchen Äußerlichkeiten, sie opponierte sogar gegen diese Abhängigkeit der meisten ihrer Bekannten; für sie zählten die inneren Werte und Reklame für exklusive Labels wollte sie schon gar nicht treiben. Iris hingegen fühlte sich ohne Namensschilder quasi nackt, sie verliehen ihr eine gewisse Sicherheit, eine Zugehörigkeit und eine Stellung in der Gesellschaftsschicht.
„So etwas hast du überhaupt nicht nötig!“, hatte Erika schon öfters geurteilt, „mit deiner ausgeprägten Persönlichkeit stehst du doch eh über den Dingen. Kein Mensch wird dich aufgrund der Marken deiner Kleidung schätzen oder einschätzen, und die, die es tun, kannst du wegen ihrer Oberflächlichkeit vergessen! Worum es geht, ist dein Wesen und deine Wertvorstellungen!“
„Du hast ja recht“, gab Iris zu, „aber nun erzähl weiter von Herrn Müllers Veränderungen.“
„Du kannst dir vorstellen, dass uns daran liegt, den alten Mief aufzuwirbeln, um die Firma wieder auf Vordermann zu bringen. Ich benötigte eine neue Grundeinstellung, ein neues Konzept, einen fähigen Manager und ich bin davon überzeugt, ihn in Dr. Müller gefunden zu haben. Als erstes hat er veraltete Maschinen ausrangiert und durch modernere ersetzt, weiterhin das Produktspektrum komplett umgeändert, es verkleinert und dafür die Qualität der verbleibenden Spielsachen verbessert. Die Umwälzungen schmerzen! Nicht nur die Angestellten, diejenigen, die gehen mussten, genauso wie die, die blieben, obendrein auch mich! Das Ganze birgt ein großes Risiko: Wenn die Maßnahmen erfolglos bleiben, dann treibe ich das Geschäft in den Ruin! Ich habe großes Vertrauen zu ihm, denn mir ist klar, dass ohne Umwälzungen der Betrieb eh kaputt geht. Er hat mir aufgezählt, wie viele Konkurrenten dem Druck aus Asien nicht standhalten konnten. Es ist sozusagen nur eine Frage der Zeit, wann mich der Todesstoß trifft, wenn nicht intensiv dagegen gesteuert wird. Du weißt ja, ich bin ein pragmatischer und rationaler Mensch, d.h. ich sehe ein, dass die durchgeführten Schritte angemessen sind und unterstütze sie. Aber das Schlimmste kommt noch: Er hat die Puppenabteilung geschlossen! Die hätte ich gerne beibehalten! Gerade diese Sparte weiterzuführen, sei unmöglich, meint Herr Dr. Müller. Sie steckt schon seit Jahren in den roten Zahlen. Es sei nichts zu machen! Nur Ballast. Weg damit!, hat er vehement geäußert, und so geschah es!“
„Du siehst ja, dass er stichhaltige Argumente bringt“, warf Iris mit Empathie ein.
„Aber du kannst dir nicht vorstellen, welche Erinnerungen ich mit diesen Puppen verbinde! Und nicht nur ich allein! Wir alle in der Familie! Und nun sind die süßen Kreaturen einfach ausgemistet! Emilys Reaktion war unbeschreiblich!“
Erika hatte zwei Kinder, Emily und Eduard. Beide waren vollauf beschäftigt mit ihren Berufen, ihren Familien, ihrem jeweiligen Nachwuchs. Obendrein lebten sie in weiter Entfernung, standen also nicht als Hilfestellung für die Fabrikleitung zur Verfügung.
„Erzähl doch, wie Emily reagierte!“, fragte Iris nach.
„Als sie die Nachricht erfuhr, war sie außer sich vor Wut. Wie ich das bloß zulassen konnte? Dabei hatte sie doch in den letzten Jahren die Kleidchen entworfen und sie waren bei den Käufern gut angekommen! Sie würde die Muster weiterhin unentgeltlich liefern. Hatte ich denn kein Herz mehr? Die Puppenherstellung sei doch stets das Hauptmerkmal der Firma gewesen und jetzt einfach aufgeben, wegwerfen, zerstören, vernichten, was der Stolz der Familie über Jahrzehnte bedeutet hatte? Sie war nicht zu beruhigen. Sie wollte den Entschluss rückgängig gemacht wissen oder zumindest über die Möglichkeit der Wiedereinführung der Puppenproduktion diskutieren. Herr Dr. Müller sah aber für die kommenden Jahre keinerlei Aussichten dafür, denn der Markt sei doch auf diesem Gebiet fest in fernöstlichen Händen, wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen!“
„Das muss Emily doch einsehen und Herrn Müllers Entscheidung begrüßen!“, meinte Iris.
„Tja, das sollte man annehmen! Aber dem ist nicht so! Sie hat die Logik ausgeschaltet. Als ich versuchte, ihr offen darzulegen, dass Herr Müller sich mit Herz und Seele einsetzt, dass er tiefgehende Recherchen durchgeführt hat, als ihr also deutlich wurde, dass ich seine Ansichten letztendlich teile, kam es zum Bruch.“
„Das ist doch nur eine Laune von ihr! Das ist gleich wieder vorbei!“, unterbrach Iris.
„Der Meinung bin ich nicht“, erwiderte Erika mit ernster Miene. „Emily fühlt sich von mir hintergangen. Sie meint, ich handele egoistisch, nähme keine Rücksicht, sei vollkommen kapitalistisch eingestellt, ginge über Leichen, begrübe die Familienidentifikation!“, sagte Erika und fuchtelte unentwegt mit den Armen in der Luft herum. „Ich täte alles nur, um meinen Verdienst zu steigern, auf den ich nicht im Geringsten angewiesen sei. Ich hätte ja genug durch meines Mannes Rente und die Lebensversicherungen. Wozu bräuchte ich überhaupt eine weitere Einnahmequelle!“
„Aber sie muss doch kapieren, dass du dies für den Erhalt des Familieneigentums tust! Besitztum verpflichtet! Das hat sie sicherlich in ihrem Studium mitbekommen. Man gründet eine Firma, um damit Gewinn zu erzielen. Und auch das Finanzamt schaut darauf. Es toleriert ein Minusergebnis in der Anfangsphase, nach einer gewissen Zeit möchte es aber schwarze Zahlen sehen“, mischte sich Iris entrüstet in die Familiensaga ein.
„Tatsache ist, dass Emily die Verbindung zu mir vollständig abgebrochen hat. Dass ich den Kontakt zu ihr so wie zu meiner Enkelin in der deprimierenden Lage mit meinem dementen Ehemann dringender brauche als jede andere Mutter und Oma, das erweicht ihr Herz nicht. Ein paar Püppchen sind ihr wichtiger als die Kommunikation mit einer lebenden, lebendigen Person.“
„Das ist schon hart!“, fügte Iris hinzu. „Daniel steht dir im Unternehmen aufgrund seiner Krankheit als Stütze nicht zur Verfügung, noch schlimmer, er stellt eine zusätzliche Last dar; daraufhin holst du dir einen fähigen Manager, aber nein, seine Ideen passen dem Fräulein nicht in den Kram. Das nenne ich zickig sein!“
„Na ja, weißt du, dass meine Ansichten nicht mit denen meiner Betriebswirtintochter übereinstimmen, das war mir längst bekannt“, gab Erika zu. „Ich hatte immer wieder nebenbei die geplanten Veränderungen erwähnt, nie aber in aller Offenheit ihre Meinung zu Rate gezogen. Uns beiden war klar, dass wir auf Kollision gehen würden. Emily plädierte stets für den Erhalt von Arbeitsplätzen, auch wenn sie nicht rentabel waren. Ich würde sie als eine Antibetriebswirtin bezeichnen und obendrein linksorientiert. Ich muss gestehen, dass ich des Öfteren versucht habe, direkten Gesprächen aus dem Wege zu gehen. Natürlich spürte Emily dies und bohrte umso mehr nach. Obwohl sie in ihrer Firma, wo es nichts zu sanieren gibt, in der Hierarchieleiter bereits aufgestiegen ist, ständig in verschiedenen Städten und sogar im Ausland unterwegs ist, findet sie dennoch die Zeit, sich in die Angelegenheiten der Familienfirma einzumischen. Oft war ich verzweifelt, denn meine Tochter wurde unmäßig laut, schrie mich sogar an! Mir war bewusst, dass ich durch die mit Herrn Dr. Müller geplanten Änderungen ein großes Risiko einging. Ich ahnte, dass sie überreagieren könnte. War es das wert, Fabrik gegen Tochter aufs Spiel zu setzen? Ich musste ihr entweder nachgeben, und die Rentabilität der Firma ging endgültig verloren, oder ich fand einen Verständigungsweg mit ihr. Mir schien, wir hätten einen Versuch auf anderthalb Jahre vereinbart. Offensichtlich haben wir uns missverstanden. Emily hat mit Rage und mit einem Beziehungsstopp auf die Einführung der radikalen Neuerungen reagiert.“
„Das bedeutet aber, dass die Reaktion dich nicht vollkommen ahnungslos und unvorbereitet trifft“, unterbrach Iris.
„Ja, du hast mal wieder recht. Der Bruch prallte nicht aus heiterem Himmel auf mich nieder. Ich sah das Gewitter heranziehen. Inzwischen kommt mir ihr Verhalten wie ein geplanter Mord in Etappen vor, als hätte Emily nur noch ein stichhaltiges Motiv für den finalen Coup gebraucht. Denn sie hatte schon im vergangenen Jahr kleinere Affronts gegen mich geführt. Soll ich erzählen?“
Und als Iris nickte, fuhr Erika fort: „Sie hatte sich einen Gebrauchtwagen kaufen wollen. Da sie über wenig Zeit verfügte, bat sie mich, ihr bei der Suche behilflich zu sein. Das tat ich natürlich. Ich kontaktierte verschiedene Autohäuser und ging ebenfalls Annoncen durch. Emily entschied sich für ein Modell, die Papiere wurden vorbereitet und dann plötzlich erschien sie nicht zur Unterschrift. Ohne jegliche Vorwarnung! Der Händler war empört! Es handelte sich um einen guten Bekannten meines Mannes, weshalb er nicht nur einen günstigen Freundschaftspreis vereinbarte, sondern obendrein einen anderen Interessenten ausgeschlagen hatte. Und was war geschehen? Emily hatte sich in letzter Minute für ein anderes Fahrzeug entschieden, das sie über einen Kollegen empfohlen bekam. Kein Wort der Entschuldigung ihrerseits. Und das von ihr erworbene Auto bekam ich nie zu Gesicht!“
„Unerhört! Eine sehr egoistische und unreife Handlungsweise“, merkte Iris an. „Geht es dir auch so, dass du dich manchmal fragst: Hab ich meine Kinder so erzogen? Was ist da schiefgelaufen? Ich erkenne meine Handschrift nicht in ihnen!“
„Du sprichst mir aus der Seele! Ich stehe oft sprachlos da. Ich frag mich, ob ich ein schlechtes Vorbild war. Oder können wir diese Niederlagen auf den Einfluss der Schule und der sonstigen Umwelt schieben? Ich kann dir noch ein weiteres Beispiel von Emilys Untaten berichten: Bei ihrem Auszug aus der hiesigen Wohnung besorgte ich ihr auf ihren ausdrücklichen Wunsch die Handwerker für die Renovierungsarbeiten. Auch die verwarf sie kurzerhand. Sie verließ sich lieber auf die Wahl eines Freundes. Es sind nicht ernst zu nehmende Kleinigkeiten, die erst in der Addition ein anderes Ausmaß erlangen und äußerst verletzend auf mich wirken!“
„Das kann ich verstehen. Es würde mir genauso gehen“, sagte Iris verständnisvoll. „Aber nun sag, was wirst du in Bezug auf die jetzige Situation mit der Fabrik tun? Hast du schon daran gedacht, alles einfach hinzuwerfen, die Firma bankrottgehen zu lassen? Oder an einen Verkauf? Oder gar daran, Emily die Leitung anzubieten?“
„Selbstverständlich habe ich alle Optionen schon durchgedacht. Ich sag dir, durch Daniels Krankheit habe ich nur eins gewonnen: Die alleinige Entscheidungsgewalt! Ich habe zwar einen Ratgeber verloren, andrerseits habe ich nun die Verfügungsmacht über alles, was selbstverständlich auch Verantwortung bedeutet. Es ist vorbei mit den Debatten über Pros und Contras beim Kauf eines Wagens, bei der Urlaubsplanung, Umzug oder Verbleib in einer Behausung, jetzt entscheide ich ganz alleine. Ich brauche keine Rücksicht auf seinen Geschmack zu nehmen, aber ich muss immer an das Beste auch für ihn denken. Diese Freiheit, dieser Luxus gleicht ein wenig die Schwierigkeiten aus, die mir die neue Lebenssituation mit einem Kranken bringt. Und diese Errungenschaft, dieses Geschenk soll mir nun meine Tochter nehmen? An diesem Stückchen Unabhängigkeit klammere ich mich und ich werde es bis zum Letzten verteidigen! Es ist das, wodurch mein Leben lebenswert ist!“
„Durchaus verständlich. Was sagt denn überhaupt dein Sohn zu der ganzen Angelegenheit?“, wollte nun Iris wissen.
„Eduard steht auf meiner Seite. Er bezeichnet Emilys Verhalten als Erpressung, auf die ich auf keinen Fall eingehen soll. Dass sich dadurch meine Beziehung zu meiner Tochter nicht bessert, betrachtet er offensichtlich als nebensächlich. Aber ich kann und will nicht auf den Kontakt zu Emily verzichten. Das Überleben der Fabrik ist mir den Verlust eines Familienangehörigen nicht wert! Aber es ist zu spät! Die Würfel sind schon gefallen! Es kommen mir immer wieder die Worte eines Notars in den Sinn. Er pflegte zu sagen, dass eine Immobilie nicht wichtig sei. Man müsse sie loslassen, nicht an ihr hängen. Wichtig sei der Mensch! Aber nicht für alle Wesen auf dieser Welt besitzt diese Weisheit Gültigkeit!“
Als Iris dieser Sichtweise zustimmte, erläuterte Erika ihr:
„Ich habe da noch eine weitere Theorie, vielleicht klingt sie abstrus. Ich bin nämlich der Auffassung, dass ein Ungeborenes schon Dinge seiner äußeren Umgebung mitbekommt. Während meiner Schwangerschaft bin ich fast täglich in die Fabrik gegangen, genauer gesagt in die Puppenabteilung. Dort habe ich ein wenig ausgeholfen, beim Designen, beim Nähen, beim Ideen schöpfen. Mir ist so, als hätte ich meine Liebe zu den Puppen, mein Interesse für sie, mein Engagement auf meine Leibesfrucht übertragen. Das könnte doch eine Erklärung für Iris‘ ungewöhnliche Reaktion sein. Unbewusst hat sie Gefühle im frühesten Stadium aufgesogen, sodass sie selber gar nicht weiß, wie oder warum sie derart handelt oder reagiert.“
„Eine interessante Sichtweise, die wohl nur die Neurologie bestätigen kann. Aber Musik soll ja schon auf den Fötus wirken, warum nicht auch eine wiederholte intensive Beschäftigung der Mutter?“, fügte Iris hinzu.
Derweil waren beide Frauen an den Ausgangspunkt ihres Spaziergangs zurückgelangt. Sie verabschiedeten sich voneinander und schwangen sich auf ihre Räder, jede in eine andere Richtung.
„Bis nächsten Dienstag und eine schöne Woche“, riefen sie sich noch schnell zu, bevor sie sich aus den Augen verloren hatten.
Erika war in Gedanken vertieft. Ihr eigener Bericht hatte sie sehr mitgenommen. Sie suchte nach Erklärungen und ließ die Vergangenheit mit der Tochter Revue passieren. Wie innig war doch ihr Verhältnis gewesen, als Emily im Alter von drei Jahren auf der Arbeitsplatte in der Küche neben der Mama sitzend dieser beim Kochen zugeschaut, sozusagen ihren ersten Kochkurs belegt hatte! Lange hatte sie noch an Mutters Rockzipfel gehangen, mit Interesse an den Kaffeekränzchen der Damen teilgenommen, sich hinzugesetzt als hätte sie eine Einladung dafür erhalten! Muttern staunte und freute sich. Umso heftiger gestaltete sich dann die zugestandenermaßen spät eingetretene Entwicklung in der Pubertät! Erika konnte ihr nicht folgen! „Langsamer, langsamer!“, rief sie ihrer Fünfzehnjährigen zu. Erika war überfordert. Verstand die neue Welt der Tochter nicht, die gerade noch ein Kind gewesen war. Sie musste Siebenmeilenstiefel anziehen, fand aber keine, hinkte hinterdrein! Und lernte das Schlucken. Eine Neuerung nach der anderen trat ein. Zuerst das Rauchen. Nicht gerade nur Zigaretten. Das Kindchen lag lange im Bettchen, ohne aufstehen zu wollen. Dazu schmollend! „Lass mich in Ruhe!“, tönte es unter dem Bettlaken hervor.
Was sollte Erika tun? Beobachten. Gewähren lassen, um nicht Schlimmeres zu provozieren. Aber stets ein wachendes Auge auf die Eskapaden haltend, um rechtzeitig vor einem Übermaß eingreifen zu können. Saufgelage fielen auch nicht aus. Bier wurde angeschafft – und vertilgt. Partys gefeiert. Denn Emily hatte nun Anschluss gefunden, traf andere, reifere Mädchen und auch selbstverständlich Jungen. Aber einen ständigen Freund fand sie nicht, nur schnell vorübergehende Liaisons ging sie ein, während sich ihre Freundinnen längerfristig banden. Das wurmte sie. Erika erwog mit ihrem Ehemann den Gedanken, Emily ins Internat zu schicken, falls sie der Situation nicht Herr wurden. Aber sie lavierten sich durch mithilfe psychologischer Unterstützung, von der Emily nichts erfuhr. Es war eine schwierige Zeit für das Ehepaar, das aber durch diese Zeitbombe neben sich enger zusammenschmolz. Emily bemerkte nichts von den zerstörten besorgten Gesichtern ihrer Eltern. Sie warf ihnen später sogar vor, sie hätten sich nicht um sie gekümmert. Emily war bestimmt so intensiv mit sich selber beschäftigt, dass sie unfähig gewesen war, irgendetwas außerhalb ihrer selbst wahrzunehmen. Erika hatte in diesen Jahren u. a. darauf verzichtet, ihren Mann auf Geschäftsreisen zu begleiten. Emily drängte sie geradezu dazu; Erika zog es aber vor, daheim zu bleiben, um die Lage im Blick zu behalten. Dies aber war nicht Erikas einziger Verzicht. Sie sagte private Termine ab, um ihre Gegenwart zu Hause zu signalisieren, ihre Bereitschaft zu Gesprächen, obwohl letztere kaum stattfanden. Diese Opfer waren Erikas Ansicht nach eine Selbstverständlichkeit. Das Wohl und die Zukunft der Tochter hatten einen anderen Stellenwert als Kaffeeklatsch, Vernissagen oder kleine Vorträge. Sie war immer da, wenn Emily aus der Schule nach Hause kam. Sie war für sie da. Auch wenn sich Emily kurz darauf in ihr Zimmer verkroch, verschloss. Die Gegenwart der Mutter hat bestimmt trotzdem etwas bewirkt, denn die Exzesse steigerten sich nicht. Sie gehörten ohnehin in eine niedrige Kategorie, wie die Psychologin ein wenig abschätzig zu sagen pflegte, denn sie hatte selbstverständlich von viel schlimmeren erfahren.
Wieder war eine Woche vergangen, in der die beiden Freundinnen ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgegangen waren. Der Dienstag präsentierte sich mit einem fast reinen blauen Himmel, in dem die Sonne ihren Aufwärtslauf voller Elan angetreten hatte.
Iris und Erika kannten sich aus der Schulzeit, hatten gemeinsam das Abitur abgelegt. Durch Studiengänge in unterschiedlichen Städten trennten sich ihre Lebensläufe. Anschließend drifteten sie aufgrund von Heirat und den Beruf ihrer Ehemänner noch weiter auseinander. Sie unterhielten nur eine lose Verbindung mittels Weihnachts- und Geburtstagskarten. Nach einer Trennungszeit von vier Jahrzehnten sollte sich der Kontakt wiederherstellen. Sie waren beide in die gleiche Stadt gezogen und stießen per Zufall bei einer Literaturveranstaltung aufeinander. Und erkannten sich! Die Freude war groß! Mit der Zeit etablierte sich der Dienstagsspaziergang in ihren Wochenrhythmen, lediglich unterbrochen durch Reisen oder gelegentliche Unpässlichkeiten. Die Jugendfreundschaft setzte sich fort, als hätte sie keinerlei Unterbrechung erlebt.
„Ich habe dir ja noch gar nicht von unserer Polenreise erzählt“, ergriff Iris das Wort.
„Ja, schieß los!“, ermunterte sie Erika.
„Wir waren an der Ostsee, in der Nähe von Kolberg. Das war früher mal in deutschen Händen. Der Strand ist herrlich, kilometerlang. Und die Polen haben nebst Strandkörben noch eine einfache Art, sich vor dem Wind zu schützen. Sie stellen lustige farbige Paravents auf. Das Polnische hat übrigens dieses französische Wort in seinem Vokabular übernommen. Sie sind leicht unter dem Arm wie ein gefalteter Sonnenschirm zu transportieren. Die Höhe beträgt ca. einen Meter und die Länge ist variabel, von 4 bis zu 6 Metern, manchmal werden auch zwei Gestelle kombiniert. Der Strand ist dadurch im Hochsommer bestimmt schön voll und bunt. Wir hatten Glück mit dem Wetter. Wir waren im Meer baden und haben uns auch Fahrräder gemietet. Es existiert ein herrlicher Fahrradweg. Na ja. Rat mal, wer den finanziert hat!“
„Sag bloß, dass es die Europäische Union ist!“, tippte Erika und traf ins Schwarze. „Das gleiche haben wir in Nordspanien erlebt, entlang dem Jakobsweg: Dort wurden viele Kirchen mit EU-Geldern renoviert. Das hat mich maßlos aufgeregt!“
„Ich kann dir bloß sagen, dass der Radweg prima war, während die nicht sanierten Landstraßen ziemlich heruntergekommen und holprig sind. Ich radelte gemütlich und sanft vor mich hin, was mir die Autos nicht gleichtaten. Die holperten nämlich ganz schön! Diesem Nebeneinander von alt und neu begegnest du auch in Kolberg selber. Da hast du die schrecklichen heruntergekommenen Sowjetbauten, dann welche, die bereits einen Anstrich erhalten haben und durchaus passabel ausschauen und daneben anspruchsvolle Neubauten. Man merkt, das Land putzt sich heraus.“
„Und wie war das Essen?“
„Hervorragend! Als Beilage immer wieder Kartoffeln, wogegen ich persönlich nichts habe. Aber nun berichte mir von dir. Hat sich deine Tochter gemeldet?“
„Ach was! Damit habe ich aber auch nicht gerechnet. Ich frage mich immer wieder, wie lange ihre Kälte andauern wird. Bis an mein Lebensende? Oder wird sie sich wieder fangen? Muss sie eventuell nur ihre Wut austoben, sie abnützen, bis sie von selbst verschwunden ist? Oder wird sie sich vielleicht an dem Tage melden, an dem sie meine Hilfe benötigt? Und wenn dieser Tag nie eintreten sollte? Alles Fragen, die nur die Zukunft beantworten wird. Aber die liegt mir in zu weiter Ferne.“
„Dann musst du etwas unternehmen. Es besteht die Gefahr, dass die Situation sich verhärtet und irreversibel wird. Außerdem könnte sie dich womöglich krank machen. Dagegen musst du dich wappnen!“, riet ihr Iris.
„Klar. Ich habe bereits einen Versuch gestartet, einen etwas ungewöhnlichen. Ich hatte dir ja schon von der Heilmethode Phyllis Krystal erzählt. Die habe ich bereits in einem anderen Zusammenhang angewendet. Also, die besteht darin, dass man sich selber imaginär in einen großen Kreis mit ausgestreckten Armen stellt, daneben in einen anderen Kreis eine Person, mit der man in Konflikt steht. Dann lässt man gegen den Uhrzeigersinn ein grünlich-türkises Licht an den Außenrändern der Kreise in einer