Liebschaften und mehr - Christa Andersen - E-Book

Liebschaften und mehr E-Book

Christa Andersen

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Beschreibung

Es geht in diesem Werk um verschiedenartige Umstände der Liebe, erfüllte Liebe, enttäuschte Liebe, die mühsame Suche nach ihr. In einigen Beispielen wird man Situationen wiederfinden, die man selber in ähnlicher Form erlebt hat; manchmal Trost empfinden aufgrund der Allgemeingültigkeit menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten; immerzu in der Gewissheit bestärkt werden, dass das Streben nach der Liebe, trotz zweifelhaften Ausgangs, stets lohnend ist.

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Inhaltsverzeichnis

Eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft

Zerrüttung einer Ehe oder das Bekenntnis einer Spießerin

Nichts ist ewig

Allüren einer Jungfrau

Bruchlandung

Liebestod?

Trennungen

Leuchtende Augen

Nach der Liebesnacht

Neue Möglichkeiten

Eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft

„Mildes Klima, von den Palmenalleen aus Blick auf die verschneiten Berggipfel“, mit diesen Worten pries das Reisebüro den kleinen Urlaubsort an der Küste. Die Ansichten wirkten überzeugend und somit fuhr sie mitten im Winter mit ihren zwei Kindern für zwei Wochen dorthin. Die Sonne schien warm und lud zum Strandbesuch ein. Die Salzluft blies ihnen sanft ins Gesicht, sie sonnten sich oder spielten im Sand. „Wie herrlich! Nur drei Flugstunden von unserem verhangenen Februar-Schmuddelwetter entfernt genießen wir hier ein Traumwetter! Die beste Entscheidung, die ich treffe konnte!“, gestand sich Amalie freudig.

Der Strand war leer, die Touristensaison längst vorbei. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Einsamkeit, Ruhe, nur der sanfte Wellengang unaufhörlich rauschend, der wie eine Droge auf Amalies Gemüt wirkte. Auch Bernd und Thomas vermissten weder die Freunde noch das tägliche Schulpensum. „Das Paradies könnte nicht perfekter sein!“, sinnierte Amalie, „die Beschreibung im Katalog war keinesfalls übertrieben!“

Es sollte aber nicht lange dauern, bis eine männliche Figur aus dem Nichts in ihrer Nähe auftauchte, sehr zaghaft, unsicher. Vielleicht war er genauso erstaunt wie Amalie, hier im Winter Fremde anzutreffen, vielleicht war er es gewohnt, alltäglich seine Spaziergänge oder Leibesübungen im Freien zu verrichten und fand nun „seine“ Fläche von Unbekannten, obendrein offensichtlich Ausländern, eingenommen, ihm entrissen. Amalie zuckte zusammen. „Mir steht dieses Fleckchen Erde auch zu. Immerhin ist Platz für Hunderte von Menschen“, beruhigte sie sich. „Ich nehme doch niemandem etwas weg!“ Kaum hatte sie diese Gedanken innerlich ausgesprochen, als der junge Mann ihr zu verstehen gab, er könne ihnen einen heißen Tee vorbeibringen. Mit so einem Angebot hatte sie nicht im geringsten gerechnet! Nein, so eine Höflichkeit, Zuvorkommenheit hätte sie sich nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen können. Was sollte sie antworten? Sie wollte einerseits nicht abweisend wirken, andrerseits auch nicht einladend. Vorsichtshalber bedankte sie sich abwehrend und der Einheimische verschwand.

Als die winterliche Sonnenkraft nachließ und gleichfalls die abendliche Feuchtigkeit aufzusteigen drohte, verließen sie den Strand und die Buben amüsierten sich damit, auf die im anliegenden Wäldchen stehenden Bäume zu klettern. Amalie ermahnte sie, vorsichtig zu sein. Durch das aufgeregte Geschrei der Kinder überhörte sie die leisen Schritte ihrer neuen Bekanntschaft. Ja, der Mann von eben tauchte unter den Bäumen hervor, lächelte zu den kraxelnden Affen hinüber und traute sich, sein Angebot eines Tees zu wiederholen. Als sich Amalie zu ihm zurückdrehte, bemerkte sie ein einfaches Häuschen, eher eine Kate, gut verdeckt und versteckt unter den Pinien. Jetzt verstand sie. Er spielte hier die Rolle eines Aufpassers; Ranger wäre ein zu hoch gegriffener Begriff für seine Tätigkeit gewesen. Sie lehnte nochmals ab.

Nach einer Weile kehrten sie ins nahe gelegene Hotel zurück. Die folgenden Tage waren nicht so warm, eher wechselhaft, wie im Endeffekt die ganze restliche Urlaubszeit. Es regnete ab und zu; sie beschäftigten sich anderweitig, um nicht der Langeweile anheim zu fallen. Zwei Tage später erwachten sie im Sonnenschein bei blauem Himmel. Der Entschluss eines Strandbesuchs stand fest. Sie suchten die bekannte Stelle auf, da sich diese unfern des Hotels befand. Kaum dort angelangt, begrüßte sie schon die ihnen nun vertraute Gestalt und hieß sie willkommen. Unaufgefordert stellte Kemal sich namentlich vor und spielte Fußball mit den Jungen. Dies kam Amalie gelegen. Die Kinder abgelenkt, konnte sie sich auf sich selber konzentrieren, ihr Buch zur Hand nehmen und sich im Bikini sonnen. Der Einheimische musste den Anblick von stark entblößten Frauen aus der Sommerzeit gewohnt sein. Dennoch schien es ihr, seine auf ihren Körper gerichteten verstohlenen Blicke hin und wieder zu erhaschen. Er blieb ihr aber fern, unterbrach sein Spiel mit den Kindern nicht. Sein Taktgefühl imponierte ihr. Recht feinfühlig musste er sein, dass er bemerkte, wie unangenehm auf eine ausländische Frau das aufdringliche Hinterher-Schauen eines Fremden wirken konnte! So viel Rücksichtnahme wurde Amalie auf die Dauer unerträglich. Oft wandte sie sich um, als schaue sie nach ihren Sprösslingen, aber im Grunde um ihn zu beobachten. Machte er sich tatsächlich nichts aus ihr? Wirkte sie auf ihn nicht anziehend? Ihr Innerstes wollte ihn herbeirufen, ihn neben sich wissen.

Als sich die kühle Abendluft zu verbreiten begann, kleidete Amalie sich wieder an und die Familie begab sich in den Wald. Kemal, unentschlossen, kam und ging, bis er sich dazu durchrang, sie nochmals zum selbst gebrauten Tee einzuladen. Dieses Mal nahm sie an, denn sie wähnte sich umgarnt, bestätigt. Ihre Seele hatte Ruhe gefunden und der Tee wärmte sie innerlich. Nach einem zu ausgedehnten Bad im Meer war ihre Körpertemperatur sichtlich abgesunken. Leicht zitternd vor Kälte setzte sie sich an den einfachen metallenen Tisch, der mit einer Tischdecke geschmückt war. Ob sich die Platte in einem zu miserablen Zustand befand, dass man sie auf diese Weise verbergen musste? Oder besaß dieser alleinstehende und alleinlebende Mann einen gewissen Sinn für Häuslichkeit, Schönheit, ja, sogar Ästhetik? Schmutzig sah die Decke nicht aus. Die Farbe war klug gewählt: dunkelrot. Keine Flecken zu sehen. Reinlich schien der junge Mann auch zu sein. Bei jeder Begegnung hatte sie Wäsche zum Trocknen an der Leine gesehen.

Kemal schenkte sich keinen Tee ein: Er hatte Bier mitgebracht, das er direkt aus der Flasche trank. Dazu rauchte er, was Amalie anfangs nicht störte. Sie fühlte sich wohl hier unter den Bäumen, in der Natur mit diesem Menschen und seinen Freunden, die wie durch ein Deux ex machina hinzugestoßen waren. Amalie kramte ihre aus einem Volkshochschulkurs stammenden Türkischkenntnisse zusammen, sodass eine holprige Unterhaltung zustande kam. Gelächter über die auftretenden Missverständnisse blieben selbstverständlich nicht aus.

Kemals Freund, Hasan, interessierte sich für eine bessere Verständigung mit den Ausländern, in erster Linie meinte er wahrscheinlich die Ausländerinnen, denen er im Sommer in Hülle und Fülle begegnete. Hasan kam auf das deutsche Wort „danke“ zu sprechen, das im Französischen „merci“ bedeutet, als englische Vokabel aber mit „Esel“ verwechselt werden kann. Man lachte über diesen verwegenen Fehlschluss. Aber wie waren sie auf den Begriff „namus“ gestoßen? Amalie verstand den Sinn nicht. Hasan erklärte: „Wenn du deinem Mann untreu bist, dann bist du „namussuz“. Handelte es sich um eine direkte Anspielung? Wanderten durch die Köpfe dieser Männer ständig, vor allem des Nachts, die Gedanken ihrer womöglichen Untreue? Über die Bedeutung des Ausdrucks blieben wenig Zweifel. Aber nun mischte sich Kemal ins Gespräch und zeigte wieder seine hohe Sensibilität: „Wenn du versprichst, du kämst morgen, und du unterlässt es dennoch, dann bist du „namussuz“. „Wieder einmal eine direkte Anspielung, aber auf einer ganz anderen Ebene“, dachte Amalie. Dennoch fühlte sie seine brennenden Blicke auf ihre linke auf dem Tisch ausgestreckte Hand. Einmal hatte er ihr spontan die Hand gedrückt zur Gratulation für ihren Mut, im kalten Wasser zu schwimmen. Dabei hatte Amalie seine spröde, raue Haut gespürt. Wie zart und sanft musste er die ihrige empfunden haben! Letztendlich wunderte sie sich, welche Erwartungen Kemal in seinem Innersten an sie hegte: Geld oder eine Liebesnacht? Er würde weder das eine noch das andere von ihr erhalten!

Am Abend, als die Kinder bereits erschöpft von der reinen Meeresluft und dem Herumtoben in ihrem Zimmer schliefen, genoss Amalie die Ruhe, um zu lesen. In einem Kiosk hatte sie Émile Zolas „La Curée“ gekauft. Sie liebte diesen Autor, der die menschlichen Leidenschaften auf die Spitze getrieben darzustellen weiß. Und gerade dieses Werk entpuppte sich als ein reiner Liebesroman. Da Amalie für die Spekulationsgeschäfte Aristides wenig übrig hatte, übersprang sie mehrere Seiten und konzentrierte sich auf die Figur Renées. Das Leben dieser jungen Frau kreiste einzig und allein um zwei Beschäftigungen: Die des Geldausgebens und des Zeitvertreibs mit Liebhabern. Es waren die Beschreibungen ihrer Liebesnächte im Treibhaus, die unmittelbar Amalies Phantasie beschäftigen sollten. Ungewollt verglich sie ihren geschmeidigen Körper mit dem Renées. Er stand ihm in nichts nach. Würde sie selber mit Kemal nicht ähnliche Ekstasen erreichen wie Renée mit ihrem Geliebten Maxime? In ihrer Vorstellung war es nicht mehr Renée, die sich wälzte. Dann erschauderte sie über sich selbst. Wie konnten ihr, einer gut situierten treuen Ehefrau, solche Gedanken innewohnen? Und worin bestand überhaupt Kemals Anziehungskraft? Ein mittelgroßer, schlanker, dunkelhaariger, nicht sonderlich gut aussehender, unauffälliger Mediterraner. Von Bildung ganz zu schweigen! Und sie selber hatte ihm viel mehr zu bieten: Blondine mit blauen Augen, die Idealvorstellung einer Schönheit für einen Südländer. Von wegen Ausgeglichenheit! Beruhte sein Appeal nur auf der entspannten Urlaubsstimmung? Keine beruhigende Deutung!

Sie gingen wieder an den Strand, zwar nicht gleich am darauffolgenden sonnigen Tag, sondern einen später. Als erstes fragte Kemal verwundert, warum sie denn nicht schon am vorherigen Tag erschienen sei. Er hatte sie also erwartet, fest mit ihr gerechnet und sie in seinen Tagesrhythmus eingeplant. Er dachte an sie. Träumte er wohl auch von ihr? Was malte er sich denn etwa alles aus? Sie fühlte sich geschmeichelt, erschrak aber ein wenig. Sie wusste nicht so recht, ob sie Angst vor ihm oder vor sich selber empfand.

Auch an diesem Nachmittag gesellte er sich zu ihr, um kurz darauf von ihrer Seite zu weichen. Er offenbarte einen instabilen, unsteten Charakter, dessen Ursache sich bald herausstellen sollte. Beim Kartenspielen trank er wieder Bier und sie fragte ihn, weshalb er ständig Alkohol zu sich nehme. Er gab zu verstehen, dass er seit seinem siebten Lebensjahr trinke und rauche. Er habe damals beide Eltern bei einem Autounfall verloren. Seitdem habe er Armut, Kälte, Hunger und Durst erlebt. Er habe sich manchmal tagelang ohne einen Bissen herumtreiben müssen. Obwohl er viel durchgemacht hätte, habe er im Leben immer noch nichts erreicht. Er benötige den Alkohol zum Vergessen, als Überlebensstrategie.

„Nein, nein, nein!“, gab Amalie entrüstet zur Antwort. „Der Alkohol hilft nie und nimmer! Er stellt eine blöde Ausrede dar, nichts weiter!“ Sie war hart zu ihm, konnte ihre Wut nicht unterdrücken. „Typische Argumentationsweise feiger Männer“, dachte sie für sich. „Machen sich nur vor, benachteiligt zu sein und alles mühevoll ausprobiert zu haben.“ Als das Spiel dann zu Ende war, schüttete er ihr sein Herz aus. Er habe soeben fast weinen müssen, denn sie wäre der erste Mensch gewesen, der ihn nach dem Grund seines Trinkverhaltens gefragt habe. Und sie erwiderte: „Das Trinken bringt nichts. Du musst die Kraft aus dir selber schöpfen und die Hoffnung in dir tragen, dein Schicksal möge sich verändern.“ Sie fand sich selber lächerlich. Was könnte sie mit ihren Worten schon erreichen, welche Hilfe ihm darbieten? Aus ihrem Munde waren Allgemeinplätze gesprudelt, die auch jedes Schulkind ähnlich hätte äußern können.

Die Dunkelheit brach unausweichlich an, sie mussten gehen. Am nächsten Tag, auf dem Kinderspielplatz, begegnete sie Kemal. Man sah ihm sofort an, wie sein Gesicht bei diesem zufälligen Treffen vor Glück aufleuchtete. Sie war überrascht, als er obendrein erzählte, sein Freund hätte sie am Morgen vor einer Boutique gesehen. Wurde sie eventuell verfolgt oder bespitzelt? Wussten sie inzwischen bereits, in welchem Hotel sie nächtigte? Dies herauszufinden war bestimmt nicht schwierig, denn nur die wenigsten waren zu dieser Jahreszeit in Betrieb. Sie begann, sich unwohl zu fühlen, eingeengt, kontrolliert. Sie beschloss, nicht mehr die gleiche Stelle am Strand aufzusuchen. Die Lage wurde ihr allmählich zu brenzlig. Sie gingen am folgenden Tag ein paar hundert Meter weiter. Aber wer übte an diesem Tag sein Jogging? Natürlich Kemal, der mit einem Handzeichen grüßte und sich sofort wieder entfernte. Länger als eine halbe Stunde hielt er sein Abseitsbleiben nicht aus und war wieder zur Stelle – mit einer Liederkassette für Amalie als Souvenir in der Hand. Diese Treue bewegte ihr Herz. Wie einsam er sich doch fühlen musste! Daraufhin gingen sie zusammen mit den Kindern Pilze sammeln. Im Wäldchen hielten sich an diesem Sonntag einige Liebespaare auf, die Kemal mit neidischen Blicken verfolgte. Plötzlich verließ er sie. Konnte er den Anblick der Pärchen nicht ertragen? An diesem Nachmittag sah er sehr elend aus. Hatte er zu viel getrunken?

Am Montag bekam sie hierfür die Interpretation: Seit ihrem Gespräch über seinen Alkoholkonsum trank er nicht mehr. Er litt offensichtlich unter Entzugserscheinungen. Amalie war vollkommen verdutzt. Sollten ihre fast oberflächlichen Bemerkungen tatsächlich solch eine tiefe Wirkung erzielt haben? Die einzige Erklärung bestand darin, dass sich – wie er es selber betonte – niemand in seinem Umfeld die Mühe gemacht hatte, sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen. Er bekundete ihr seinen tiefen Dank für ihre unerwartete Hilfe. Er konnte diesen kaum zu Ende aussprechen und auch nicht weiter ausführen, denn ständig hopsten die Kinder zwischen ihnen herum und die kürzlich erschienenen Freunde horchten auch gerne. Amalies Freude war immens, obwohl sie kaum fassen konnte, dass das Gesagte wahr wäre. Vor allem stellte sie sich die Frage, ob und wie lange er auf seine Droge würde verzichten können.

Ab nun traf sie ihn überall, auf der Straße, auf dem Spielplatz, vor ihrem Hotel. Es hatte keinen Sinn mehr, die Adresse zu verheimlichen oder Verstecken zu spielen. Es verging kein Tag, bei welchem Wetter auch immer, an dem er ihr nicht über den Weg lief. Da inzwischen die letzte Urlaubswoche angebrochen war, nahm sie diese Zufälle nicht so ernst. Am Strand, wo sie weiterhin im Bikini lag, näherte er sich ihr immer noch nicht. Dabei empfand sie das Bedürfnis, ihren Körper zur Schau zu stellen. Hatte er ihre wohlgeformte Silhouette in ihrer ganzen Pracht wahrgenommen? Sie rief ihn wegen einer Bagatelle zu sich. Er blieb nicht lange neben ihr stehen. War er durch den provokanten Anblick verstört?

Zwei Tage vor ihrem Abflug traf er sie wieder im Park, überreichte ihr einen Brief und bat sie, ihn erst zu lesen, wenn er weg sei. Und schon lief er davon, in Angst vor seiner eigenen Courage. Sie las die Zeilen. Es war kein offenkundiger Liebesbrief, keine Liebeserklärung, aber dennoch: Er erklärte ihr, er fühle sich wie neugeboren durch ihre Worte, sie habe ihn aus dem Dreck herausgezogen. Er würde nun ein neues Leben führen, aber er brauche ab jetzt ihre Hilfe und von ihr hinge seine Abstinenz ab. Sie müsse ihm unbedingt schreiben. Er klammerte sich an sie fest, ja, ein echter Trinker, ein Ertrinkender, der einen Rettungsring ergriffen hatte und nicht mehr aus der Hand geben wollte.

Am nächsten Vormittag regnete es. Amalie verspürte die Gewissheit, dass Kemal sie aufsuchen würde, dass er es nicht den ganzen Tag aushalten könnte, ohne sie zu sehen. Es klopfte tatsächlich an der Tür. Da stand er und man sah ihm hier deutlich an, dass er einer anderen sozialen Schicht angehörte, nicht in diese, Amalies Welt hineinpasste. Ihr Hotel wusste er, weil er sie beobachtet, ihr vielleicht sogar gefolgt war. Aber er kannte ihren Nachnamen nicht. Er hatte sich dennoch zu helfen gewusst und den Mut aufgebracht, an der Rezeption nach der Dame mit den zwei Burschen zu fragen. Normalerweise hätte man ihn zurückgewiesen, aber in der Nachsaison ging man etwas lässiger um. In welchen Ruf würde Amalie nun geraten? Der Hotelangestellte begleitete unwillig den jungen Mann, wohlgemerkt in seiner besten Sonntagskleidung!, und erforschte unerbittlich mit lästigen Fragen die Beziehung zwischen beiden. Vor der Suite angelangt, musste Kemal noch die letzte Feuerprobe bestehen: Anklopfen und vor den Augen des Rezeptionisten mit einer eventuellen Niederlage, mit einer Abweisung seitens Amalie rechnen. Seine Kontrahentin, seelisch bereits auf dieses unaufgeforderte Wiedersehen vorbereitet, lächelte ihm verständnisvoll zu, erahnte die Qualen, die der arme Kemal in diesem luxuriösen Gebäude, in das er nicht als Gast eines Bewohners hineingehörte, gewiss erlitten hatte und sagte, Kemal hereinlassend, nonchalant zum Angestellten: „Bringen Sie mir doch bitte später die Tageszeitung vorbei!“ „Jawohl, Madame“, erwiderte der perplexe Mann, der sich erst einmal von seiner Verwunderung erholen musste.

Kemal war sichtlich nervös. Wie lange hatte er wohl mit sich selber gerungen, um den Entschluss zu fassen und in die Tat umzusetzen, sich in ihre Hochburg zu wagen? Siegfried hatte es beim Durchschreiten des Feuers zur Eroberung Brunhildes bestimmt viel einfacher gehabt! Aber was verstünde Kemal von diesem Vergleich, er, der Siegfrieds Namen noch nie zu Gehör bekommen hatte!

Kemal trat ein, zog sich nach Landessitte sofort die Schuhe aus, erhielt aber von Amalie keine Hausschuhe, was die Landestradition ebenfalls gefordert hätte. Dann ging er, ohne auf eine Aufforderung zu warten, auf einen Stuhl zu und setzte sich. Er wollte vortäuschen, er sei solch eine Umgebung gewohnt und nicht im geringsten eingeschüchtert oder verunsichert. „Ich bringe hier eine Postkarte, die ich dem französischen Bekannten gerne schicken möchte. Sie hatten sich angeboten, den Inhalt zu übersetzen. Deswegen bin ich gekommen“, platzte es aus Kemal heraus. Also dies hatte er sich als Vorwand ausgedacht! Ja, es stimmte, dass sie es sogar vorgeschlagen hatte. Aber das war noch kein ausreichender Grund, um sie in ihrem Hotelzimmer unangemeldet zu überfallen. Dennoch übertrug sie den Text, überreichte ihm das Papier und er sprach seine nochmalige Bitte aus, der wahre Grund für sein Erscheinen: „Bitte schreiben Sie mir! Dann werden Sie sehen, welche Fortschritte ich mache!“ „Nein, ich werde nicht schreiben“, antwortete Amalie hart. „Ich bin ein Faulpelz im Briefeschreiben. Sogar meine Eltern beklagen sich darüber. Sie müssen jetzt alleine weitermachen.“ Sie nahm seine Enttäuschung wahr. Es war ihr klar, dass er wieder trinken würde, dass sie ihm den Halt wieder genommen hatte. Er bat nicht um ihre Adresse. Mit seinem überstürzten Besuch, immerhin am helllichten Tage, war er eh schon zu weit gegangen. Als er verschwand, nahm er nichts als die Erinnerung an sie mit.

Am letzten Urlaubstag, vor der Fahrt zum Flughafen, begab sie sich noch in ein Büro, in dem sie freundlicherweise öfters das Telefon hatte benutzen dürfen. Dort hinterließ sie dem Besitzer aus Höflichkeit eine Dankeskarte mit ihrer Adresse. Als sie dabei war, sie niederzuschreiben, fiel ihr ein, dass sie sie für die falsche Person aufschrieb. War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass sie schrieb, wonach sich ein Anderer sehnte? Der letzte Akt des Beckettschen Theaterstücks.

Zerrüttung einer Ehe oder das Bekenntnis einer Spießerin

„Ich kann ihn nicht ausstehen!“, fauchte Melanie. „Mir ist klar, dass du das jetzt nicht auf Anhieb verstehen kannst. Ja, du wirst erwidern, dass ich ja jahrelang, um ganz genau zu sein, bereits acht Jahre, ohne aufzumucken mit ihm gelebt habe, was sage ich da, 8 x 12 Monate bin ich mit ihm verheiratet gewesen! Aber nun sehe ich klar. Ich wundere mich, wie ich ihn diese ewig lange Zeit habe aushalten, seine Lebensweise habe teilen können. Ich muss gestehen, ich habe mitgemacht, mitgestaltet sogar. Stand ich unter seinem Sog? Hab‘ ich mich seinem Willen nicht entziehen können? Ja, ich weiß, du hast ihn eh nie leiden können, du hast mich öfters, nicht mal taktvoll, darauf hingewiesen, dass er nicht der geeignete Partner für mich sei. Du hast also recht behalten; aber wieso ich so lange gebraucht habe, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen? Es reicht wohl manchmal nicht aus, dass dir die beste Freundin reinen Wein einschenkt. Es muss ein unbeteiligter Dritter dazu herhalten.

Es war Benjamin, der mir – ohne jegliche Absicht – dazu verhalf. Er ahnt gar nicht, was er angerichtet hat. Ich habe Benjamin auf einer Tagung kennen gelernt. Er war mir auf Anhieb sympathisch und ich habe meinerseits sicher anziehend auf ihn gewirkt. Du kannst dir vorstellen, wie so etwas beginnt: Plaudern, gemeinsam essen gehen, dann mal tanzen, na ja und dann ist es bald um einen geschehen. Ich werde dich nicht auf die Folter spannen, ja, dann haben wir miteinander geschlafen.

Ich entdeckte eine neue Welt. Wäre mir diese verschlossen geblieben, so hätte ich das Wichtigste in meinem ganzen Dasein versäumt; das offenbarte sich mir. Was nun geschieht, ist egal! Hauptsache ich habe diese Stunden, diese Tage, im Ganzen zwei Wochen, erlebt, durchlebt, einfach gelebt! Ich habe in mir eine Gefühlswelt ausfindig gemacht, die brachlag. Lukas war viel zu stumpfsinnig gewesen, sie in mir wachzurütteln. Verkommen wäre dieses Innerste in mir selbst! Jetzt denke ich manchmal an all die Frauen, die nicht die Gelegenheit haben, einem Benjamin zu begegnen, was diese alles verpassen, nicht äußerlich, sondern an Erfahrung in ihnen selber.