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In Frank Wedekinds Meisterwerk "Erdgeist" entfaltet sich ein komplexes und verstörendes Geflecht menschlicher Begierden, Sexualität und existenzieller Fragen. Der Drama-Stil Wedekinds, geprägt von einer unverblümten Sprache und einer eindringlichen Bildsprache, lässt den Leser Zeuge der Leidenschaften und inneren Kämpfe der Protagonisten werden. Im Rahmen des Expressionismus thematisiert das Werk die Schattenseiten der menschlichen Natur sowie den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, was es zu einer provokanten und zeitlosen Analyse moralischer Dilemmata macht. Frank Wedekind, ein bedeutender deutscher Dramatiker und Lyriker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, war ein Vorkämpfer der modernistischen Literatur, dessen eigene Erfahrungen und gesellschaftskritischen Ansichten seine Werke stark prägten. Getrieben von einer tiefen Abneigung gegen die Konventionen seiner Zeit und einem unermüdlichen Drang, Tabus zu brechen, schuf Wedekind Charaktere, die mit ihrer Identität und Leidenschaft ringen – wie in "Erdgeist", wo er die gesellschaftlichen Normen der Sexualität hinterfragt. "Erdgeist" ist ein unverzichtbares Werk für Leser, die sich mit der menschlichen Psyche und den untiefen gesellschaftlicher Normen auseinandersetzen möchten. Es lädt dazu ein, die dunklen Facetten des Lebens zu erkunden und bietet einen kritischen Blick auf den menschlichen Drang, sich selbst und die eigene Natur zu verstehen. Dieses Drama ist nicht nur ein faszinierendes literarisches Erlebnis, sondern auch eine tiefgründige Reflexion über die conditio humana.
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Medizinalrat Dr. Goll. Dr. Schön, Chefredakteur.Alwa, sein Sohn.Schwarz, Kunstmaler.Prinz Escerny, Afrikareisender.Schigolch.Rodrigo, Artist.Hugenberg, Gymnasiast.Escherich, Reporter.Lulu.Gräfin Geschwitz, Malerin.Ferdinand, Kutscher.Henriette, Zimmermädchen. Ein Bedienter.
Die Rolle Hugenberg wird von einem Mädchen gespielt.
Rechts und links vom Schauspieler.
Ein Tierbändiger tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang hat sichtbar werden lassen, in zinnoberrotem Frack, weißer Krawatte, langen schwarzen Locken, weißen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen geladenen Revolver, unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt:
Hereinspaziert in die Menagerie,
Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust’gen Frauen,
Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen
Die unbeseelte Kreatur zu schauen,
Gebändigt durch das menschliche Genie.
Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! —
Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.
Hier kämpfen Tier und Mensch im engen Gitter,
Wo jener höhnend seine Peitsche schwingt
Und dieses, mit Gebrüll wie Ungewitter,
Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;
Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,
Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;
Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen Vieren!
Ein eisig kalter Herrscherblick —
Die Bestie beugt entartet das Genick
Und läßt sich fromm die Ferse drauf postieren.
Schlecht sind die Zeiten! — All die Herrn und Damen,
Die einst vor meinem Käfig sich geschart,
Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen
Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.
An Futter fehlt es meinen Pensionären,
So daß sie gegenseitig sich verzehren.
Wie gut hat’s am Theater ein Akteur!
Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,
Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher
Und des Kollegen Magen noch so leer. —
Doch will man Großes in der Kunst erreichen,
Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.
Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! —
Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,
An blaßer Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen
Und schwelgen in behaglichem Geplärr,
Wie jene Andern — unten im Parterre:
Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,
Der andre zweifelt, ob er richtig liebt,
Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,
Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,
Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt. —
Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,
Das — meine Damen! — sehn Sie nur bei mir.
Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmäßig,
Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;
Den Bären, der, von Anbeginn gefräßig,
Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;
Sie sehn den kleinen amüsanten Affen
Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;
Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Größe,
Drum kokettiert er frech mit seiner Blöße;
Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel’,
Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kameel! —
Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füßen,
Wenn — (er schießt ins Publikum) — donnernd mein Revolver knallt.
Rings bebt die Kreatur; ich bleibe kalt —
Der Mensch bleibt kalt! — Sie ehrfurchtsvoll zu grüßen.
Hereinspaziert! — Sie traun sich nicht herein? —
Wohlan, Sie mögen selber Richter sein!
Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:
Chamäleone, Schlangen, Krokodile,
Drachen und Molche, die in Klüften wohnen.
Gewiß, ich weiß, Sie lächeln in der Stille
Und glauben mir nicht eine Silbe mehr —
(er lüftet den Türvorhang und ruft in das Zelt:)
He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!
(Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder)
Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,
Zu locken, zu verführen, zu vergiften —
Zu morden, ohne daß es einer spürt.
(Lulu am Kinn krauend:)
Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert!
Nicht albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,
Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.
Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen
Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen,
Durch Faxenmachen uns und Fratzenschneiden
Des Lasters Kindereinfalt zu verleiden!
Du sollst — drum sprech ich heute sehr ausführlich —
Natürlich sprechen und nicht unnatürlich!
Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit
In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!
(Zum Publikum)
Es ist jetzt nichts Besondres dran zu sehen,
Doch warten Sie, was später wird geschehen:
Mit starkem Druck umringelt sie den Tiger;
Er heult und stöhnt! — Wer bleibt am Ende Sieger?! — —
Hopp, Aujust! Marsch! Trag sie an ihren Platz —
(Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften.)
Die süße Unschuld — meinen größten Schatz!
(Der Arbeiter trägt Lulu ins Zelt zurück.)
Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:
Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.
Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,
Doch seine Freude hat man stets dabei.
Ich wag’ es, ihm den Rachen aufzureißen,
Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeißen.
So schön es ist, so wild und buntgefleckt,
Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!
Getrost leg’ ich mein Haupt ihm in den Rachen;
Ein Witz — und meine beiden Schläfen krachen!
Dabei verzicht’ ich auf des Auges Blitz;
Mein Leben setz’ ich gegen einen Witz;
Die Peitsche werf’ ich fort und diese Waffen
Und geb’ mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. —
Wißt ihr den Namen, den dies Raubtier führt? — —
Verehrtes Publikum — — Hereinspaziert!!
Der Tierbändiger tritt unter Zimbelklängen und Paukenschlägen in das Zelt zurück.
(Geräumiges Atelier. — Rechts hinten Entreetür, rechts vorn Seitentür zum Schlafkabinett. In der Mitte ein Podium. Hinter dem Podium eine spanische Wand. Vor dem Podium ein Smyrnateppich. Links vorn zwei Staffeleien. Auf der hinteren das Brustbild eines jungen Mädchens. Gegen die vordere lehnt eine umgekehrte Leinwand. Vor den Staffeleien, etwas gegen die Mitte vorn, eine Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Rechts an der Wand zwei Sessel. Im Hintergrund eine Trittleiter.)
Schwarz und Schön
Schön
(auf dem Fußende der Ottomane sitzend, mustert das Brustbild auf der hinteren Staffelei)
Wissen Sie, daß ich die Dame von einer ganz neuen Seite kennen lerne?
Schwarz
(Pinsel und Palette in der Hand, steht hinter der Ottomane)
Ich habe noch niemanden gemalt, bei dem der Gesichtsausdruck so ununterbrochen wechselte. — Es war mir kaum möglich, einen einzigen Zug dauernd festzuhalten.
Schön
(auf das Bild deutend, ihn ansehend)
Finden Sie das darin?
Schwarz
Ich habe das Erdenklichste getan, um durch meine Unterhaltung während der Sitzungen wenigstens etwas Ruhe in der Stimmung hervorzurufen.
Schön
Dann verstehe ich den Unterschied.
Schwarz
(taucht den Pinsel ins Ölnäpfchen und überstreicht die Gesichtszüge)
Schön
Glauben Sie, es wird dadurch ähnlicher?
Schwarz
Man kann nicht mehr tun, als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.
Schön
Sagen Sie mal ...
Schwarz (zurücktretend)
Die Farbe ist auch wieder etwas eingeschlagen.
Schön
(ihn ansehend)
Haben Sie jemals in Ihrem Leben ein Weib geliebt?
Schwarz
(geht auf die Staffelei zu, setzt eine Farbe auf und tritt auf der anderen Seite zurück)
Der Stoff ist noch nicht genügend abgehoben. Man sieht noch nicht recht, daß ein lebender Körper darunter ist.
Schön
Ich zweifle nicht daran, daß die Arbeit gut ist.
Schwarz
Wenn Sie hierher treten wollen.
Schön
(sich erhebend)
Sie müssen ihr wahre Schauergeschichten erzählt haben.
Schwarz
So weit wie möglich zurück.
Schön
(zurücktretend, stößt die an die vordere Staffelei gelehnte Leinwand um)
Pardon ...
Schwarz
(den Rahmen aufhebend)
O bitte ...
Schön (betroffen)
Was ist das ...
Schwarz
Kennen Sie sie?
Schön
Nein.
Schwarz
(setzt das Bild auf die Staffelei. Man sieht eine Dame als Pierrot gekleidet mit einem hohen Schäferstab in der Hand)
Ein Kostümbild.
Schön
Die ist Ihnen aber gelungen.
Schwarz
Sie kennen sie?
Schön
Nein. Und in dem Kostüm?
Schwarz
Es fehlt noch die ganze Ausführung.
Schön
Na ja.
Schwarz
Was wollen Sie. Während sie mir steht, habe ich das Vergnügen, ihren Mann zu unterhalten.
Schön
Sagen Sie ...
Schwarz
Über Kunst natürlich, um mein Glück zu vervollständigen.
Schön
Wie kommen Sie denn zu der reizenden Bekanntschaft?
Schwarz
Wie man dazu kommt. Ein steinalter, wackliger Knirps fällt mir hier herein, ob ich seine Frau malen könne. Nun natürlich, und wenn sie runzlich wie Mutter Erde ist. Andern Tags Punkt zehn fliegen die Türen auf, und der Schmerbauch treibt dies Engelskind vor sich her. Ich fühle jetzt noch, wie mir die Kniee schwankten. Ein stocksteifer, saftgrüner Lakai mit einem Paket unter dem Arm. Wo die Garderobe sei. Denken Sie sich meine Lage. Ich öffne die Tür da (nach rechts deutend). Nur ein Glück, daß schon alles in Ordnung war. Das süße Geschöpf huscht hinein, und der Alte postiert sich als Schanzkorb davor. Zwei Minuten darauf tritt sie in diesem Pierrot heraus. (Den Kopf schüttelnd) Ich habe nie so was gesehen. (Geht nach rechts und starrt an die Schlafzimmertür hin.)
Schön
(der ihm mit dem Blick gefolgt)
Und der Schmerbauch steht Schildwache?
Schwarz
(sich umwendend)
Der ganze Körper im Einklang mit dem unmöglichen Kostüm, als wäre er darin zur Welt gekommen. Ihre Art, die Ellbogen in die Taschen zu vergraben, die Füßchen vom Teppich zu heben — mir schießt oft das Blut zu Kopf ...
Schön
Das sieht man dem Bild an.
Schwarz (kopfschüttelnd)
Unsereiner, wissen Sie ...
Schön
Hier führt das Modell die Konversation.
Schwarz
Sie hat den Mund noch nicht aufgetan.
Schön
Ist’s möglich!
Schwarz
Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Kostüm zeige. (Nach rechts ab.)
Schön
(allein, vor dem Pierrot)
Eine Teufelsschönheit. (Vor dem Brustbild) Hier ist mehr Fond. (Nach vorn kommend) Er ist noch etwas jung für sein Alter.
Schwarz
(kommt mit einem weißen Atlaskostüm zurück)
Was das für Stoff sein mag?
Schön
(den Stoff befühlend)
Atlas.
Schwarz
Und alles in einem Stück.
Schön
Wie kommt man denn da hinein?
Schwarz
Das kann ich Ihnen nicht sagen.
Schön
(das Kostüm bei den Beinen nehmend)
Diese riesigen Hosenpfeifen!
Schwarz
Die linke rafft sie hinauf.
Schön
(auf das Bild sehend)
Bis übers Knie!
Schwarz
Sie macht das zum Entzücken.
Schön
Und transparente Strümpfe?
Schwarz
Die wollen nämlich gemalt sein.
Schön
O, das können Sie.
Schwarz
Dabei von einer Koketterie!
Schön
Wie kommen Sie auf den entsetzlichen Verdacht?
Schwarz
Es gibt Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. (Trägt das Kostüm in sein Schlafzimmer.)
Schön (allein).
Wenn man schläft ....
Schwarz