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Für AD(H)S-betroffene Kinder und ihre Eltern ist die Schulzeit oftmals sehr beschwerlich. Meist weichen die Kinder unliebsamen Hausaufgaben aus, verwickeln die Eltern in ewige Diskussionen über Sinn und Unsinn bestimmter Übungen, trödeln und träumen vor sich hin und reagieren rasch frustriert, wenn sie einen Misserfolg einstecken müssen oder eine Aufgabe nicht lösen können. Selbst Eltern mit hohen Erziehungskompetenzen bringt die Lern- und Hausaufgabensituation mit Träumerchen und Wirbelwind daher bisweilen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Dieser Elternratgeber zeigt Ihnen konkrete, praktische Hilfestellungen, wie Sie: die Konzentration und Ausdauer Ihres Kindes steigern das Lernen motivierender gestalten Frust, Streit und Tränen rund um die Hausaufgaben reduzieren Chaos und Vergesslichkeit in den Griff bekommen Ihrem Kind durch clevere Lernmethoden zu mehr Erfolg verhelfen die Stärken Ihres Kindes fördern Ihrem Kind bei Misserfolgen den Rücken stärken und sein Selbstwertgefühl schützen eine gute Zusammenarbeit mit der Schule aufbauen. Die vorgestellten Strategien wurden in der Arbeit mit Hunderten von Familien entwickelt und haben sich in der Praxis bewährt. Lassen Sie sich davon überraschen, dass es oft kleine, unscheinbare Veränderungen sind, die eine große Wirkung entfalten. Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
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Seitenzahl: 380
Stefanie Rietzler
Fabian Grolimund
Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS
Der praktische Ratgeber für Eltern
2., überarbeitete Auflage
Mit Illustrationen von Nadja Stohler
Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS
Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien
Stefanie Rietzler
Fabian Grolimund
Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
8048 Zürich
Schweiz
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Hogrefe AG
Lektorat Psychologie
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
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Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Dr. Susanne Lauri
Bearbeitung: Edeltraud Schönfeldt, Berlin
Herstellung: Daniel Berger
Umschlagabbildung: Nadja Stohler, Zürich
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Illustrationen (Innenteil): Nadja Stohler, Zürich
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Die erste Auflage erschien 2016 unter dem Titel „Erfolgreich lernen mit ADHS – Der praktische Ratgeber für Eltern“.
Format: EPUB
2., überarbeitete Auflage 2023
© 2016 Hogrefe Verlag, Bern
© 2023 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96284-9)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76284-5)
ISBN 978-3-456-86284-2
https://doi.org/10.1024/86284-000
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Für meine wunderbaren Eltern – danke für alles!
Für dich, Schatz – du bedeutest mir die Welt.
Stefanie Rietzler
Für all die Eltern und Lehrer*innen, die jeden Tag ihr Bestes geben, um Kindern mit ADHS eine gelungene Schulzeit zu ermöglichen.
Fabian Grolimund
Widmung
Wie nutze ich dieses Buch?
1 Wie sich ADS und ADHS auf das Lernen auswirken
1.1 Stress in der Schule
1.2 Unaufmerksamkeit: „Jetzt konzentrier dich endlich!“
1.3 Hyperaktivität: „Hör endlich auf zu zappeln!“
1.4 Impulsivität: „Musst du immer so ausflippen?!“
1.5 ADHS: Gibt es das überhaupt?
2 Behandlung von ADHS
2.1 Leitgedanken
2.2 Lösungsansätze
3 Wir haben ständig Streit und Tränen wegen der Hausaufgaben
3.1 Schönreden bringt nichts
3.2 Motzzeit: raus mit dem Frust
3.3 Sie sind nicht der 24-Stunden-Service
3.4 Sprösslinge regelmäßig gießen
3.5 Fressen Sie Ihrem Kind die Süßigkeiten weg
3.6 VERTRAGen Sie sich
3.7 Bildschirme: vor dem Lernen tabu
3.8 Nehmen Sie sich eine Hausaufgaben-Auszeit
3.9 Das Wichtigste in Kürze
4 Mein Kind kann sich nicht konzentrieren und trödelt
4.1 Etwas Lärm bitte! Bei dieser Stille kann sich doch kein Mensch konzentrieren!
4.2 Und führe mich nicht in Versuchung
4.3 Kleine Tricks für konzentrierteres Arbeiten
4.4 Mit weniger Arbeitszeit zu mehr Leistung
4.5 Schneller am Ziel – mit Pausen
4.6 Zappeln bringt das Gehirn in Schwung
4.7 Gut geplant ist halb erledigt
4.8 Die Aufmerksamkeitslenkung durch Achtsamkeit trainieren
4.9 Das Wichtigste in Kürze
5 Mein Kind hat null Motivation
5.1 Achten Sie auf positive Beziehungssignale
5.2 Zapfen Sie die soziale Ader Ihres Kindes an
5.3 Versüßen Sie das Lernen mit kleinen Belohnungen
5.4 Ehrgeiz und Wettbewerbsorientierung: Feuern Sie Ihren Champion an
5.5 Helfen Sie Ihrem Kind, aktiv Interesse zu entwickeln
5.6 Willenskraft und Selbstdisziplin: Zähmen Sie den inneren Schweinehund
5.7 Das Wichtigste in Kürze
6 Wir lernen so viel, und es bleibt nichts hängen
6.1 Unser Gehirn
6.2 Texte lesen, verstehen, behalten
6.3 Vokabeln lernen
6.4 Das Wichtigste in Kürze
7 Mein Kind ist chaotisch und vergesslich
7.1 Planung und Organisation
7.2 Knackpunkt Hausaufgabenheft
7.3 Mit Routine gegen das Chaos
7.4 Wir haben schon so vieles versucht – bei uns funktioniert das nicht!
7.5 Planen wie ein Profi
7.6 Die Vergesslichkeit austricksen
7.7 Das Wichtigste in Kürze
8 Mein Kind ist schnell frustriert und gibt rasch auf
8.1 Das Selbstvertrauen stärken
8.2 Das Selbstwertgefühl stärken
8.3 Gelassen, sicher und motiviert im Umgang mit Leistung
8.4 Das Wichtigste in Kürze
9 Mein Kind überschätzt sich und ist eifersüchtig auf seine Geschwister
9.1 Angeben, um das Selbst zu schützen
9.2 Positive Rückmeldungen bringen kleine Angeber auf die Erde zurück
9.3 Kritisieren Sie gekonnt
9.4 Setzen Sie dem ewigen Konkurrenzkampf mit Geschwistern ein Ende
9.5 Das Wichtigste in Kürze
10 Kinder mit ADHS haben verborgene Talente
10.1 Kinder mit ADHS: viel mehr als Durchschnitt
10.2 Welche Talente schlummern in Ihrem Kind?
10.3 Was die Berufswelt interessiert und in der Schule kaum eine Rolle spielt
10.4 Der Weg wird nicht leicht sein
10.5 Das Wichtigste in Kürze
11 So gelingt die Kooperation mit der Schule
11.1 Die wichtigsten Empfehlungen für Lehrkräfte
11.2 Das Elterngespräch
11.3 Das Wichtigste in Kürze
12 Hier finden Sie Hilfe
13 Allgemeine Informationen über ADHS
13.1 Ursachen
13.2 Medikamente: eine sinnvolle Lösung?
Literatur
Die Autorin und der Autor
Die Illustratorin
Liebe Mutter, lieber Vater,
wir, Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund, heißen Sie herzlich willkommen. Mit diesem Buch möchten wir Ihnen und Ihrem von ADHS/ADS betroffenen Kind die Schulzeit erleichtern.
Unser Buch ist ziemlich dick geworden. Lassen Sie sich davon nicht einschüchtern: Sie müssen nicht alles lesen! Beginnen Sie dort, wo der Schuh momentan am meisten drückt. Lesen Sie zwei, drei Unterkapitel zu diesem Bereich und probieren Sie aus, was Sie anspricht.
Betrachten Sie dieses Buch als ein Buffet: Wählen Sie von den vorgestellten Strategien diejenigen aus, die zu Ihnen und Ihrem Kind passen – und behalten Sie nur bei, was bei Ihnen funktioniert.
Stellen Sie sich Ihr persönliches Erfolgsrezept zusammen.
Wenn wir mit Eltern AD(H)S-betroffener Kinder sprechen, spüren wir oft den Wunsch nach der einen Lösung oder der ultimativen Methode, die alle Schwierigkeiten auf einmal aus der Welt schafft. Diese Lösung gibt es nicht.
Wie gelingt es Familien mit einem AD(H)S-betroffenen Kind dennoch, die Schulzeit gut zu meistern? Unsere Erfahrung zeigt: Die größten Fortschritte stellen sich bei denjenigen Kindern und Eltern ein, denen es gelingt, sich für die kleinen Erfolge zu sensibilisieren und solche Strategien und Behandlungsformen beharrlich weiterzuverfolgen, die sich als wirksam erweisen.
Sie sind Experte für Ihr Kind, Sie kennen es besser als jeder andere. Mit diesem Buch möchten wir Sie dabei unterstützen, Ihr Expertenwissen zu bündeln, Ihr Kind noch besser kennenzulernen und Lösungen für die Lern- und Hausaufgabensituation zu entwickeln, die zu Ihnen beiden passen.
Gehen Sie mit uns auf Schatzsuche. Je offener Sie dafür sind, sich auch auf unkonventionelle Lösungen einzulassen, Experimente zu wagen und das, was hilft, beharrlich weiterzuverfolgen, desto leichter wird der Alltag für Sie und Ihr Kind. Je aufmerksamer Sie auf verborgene Res|12|sourcen Ihres Kindes achten und auch kleine Fortschritte wahrnehmen, desto eher werden Sie und Ihr Kind zu einem erfolgreichen Team.
Die Beispiele in diesem Buch spiegeln unsere Erfahrungen in der Praxis wider. Personenmerkmale wie Namen oder Altersangaben haben wir verändert, damit man nicht auf bestimmte Personen rückschließen kann.
Wir wünschen Ihnen und Ihrem Kind eine möglichst entspannte und erfolgreiche Schulzeit. Legen Sie los! Wir freuen uns, dass Sie an Bord sind.
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
Wie Sie wissen, haben es Kinder mit AD(H)S in der Schule nicht leicht. Warum? Das erfahren Sie in diesem Kapitel.
In den darauffolgenden Kapiteln lernen Sie verschiedene Wege kennen, um Ihr Kind zu unterstützen.
Die Buchstaben ADHS stehen für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die oft auch als Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom oder Hyperkinetische Störung (HKS) bezeichnet wird.
AD(H)S-betroffene Kinder unterscheiden sich von anderen Kindern darin, wie sie die Welt erleben und sich verhalten. Die Unterschiede zeigen sich insbesondere in Unaufmerksamkeit, und/oder Hyperaktivität und Impulsivität.
Je nachdem, welche Symptome stark ausgeprägt sind, unterscheidet das Klassifikationssystem DSM-5, das aktuelle Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (American Psychiatric Association, 2015), drei Typen:
das vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsbild,
das vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsbild,
das gemischte Erscheinungsbild (manchmal auch als kombinierter Typus bezeichnet).
In vielen Büchern – sie widmen sich vorwiegend dem unaufmerksamen Erscheinungsbild – findet sich die Bezeichnung ADS; denn schließlich könnte man schlicht und einfach auf das H verzichten, anstatt von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ohne Hyperaktivität zu sprechen.
|14|Ob Ihr Kind nun zu den Träumerchen und/oder zu den Wirbelwinden gehört: In unserem Buch finden Sie Hilfen für alle drei Typen.
Hinweis: Der Einfachheit halber nutzen wir im weiteren Verlauf des Buches die wissenschaftlich korrekte Bezeichnung ADHS, womit jeweils alle drei Erscheinungsbilder gemeint sind.
Verträumten Kindern gelingt es schlechter als anderen, ihre Aufmerksamkeit willentlich auf eine Aufgabe zu richten. Sie scheinen oft nicht zuzuhören, wirken abwesend und haben Mühe, sich zu organisieren und anstrengende Aufträge zu Ende zu bringen. Sie sind vergesslich, verlieren häufig Gegenstände und lassen sich rasch ablenken.
Die Aufmerksamkeitsprobleme entstehen vorwiegend dann, wenn die Kinder gezwungen sind, sich auf eine Aufgabe einzulassen, die man ihnen stellt. Können betroffene Kinder an einer selbstgewählten Aufgabe arbeiten, schwächen sich die Konzentrationsprobleme ab.
Manche Kinder können sogar hyperfokussieren, wenn sie sich mit ihren Lieblingsthemen beschäftigen dürfen. Sie versinken vollständig in ihrem Buch, dem Lego-Baukasten oder ihrer Zeichenaufgabe und sehen und hören nichts anderes mehr.
|15|In diesem Sinne empfinden wir es als irreführend, von einem Aufmerksamkeitsdefizit zu sprechen. Vielmehr haben diese Kinder ein Aufmerksamkeits-Lenkungs-Defizit. Es gelingt ihnen schlechter, ihre Aufmerksamkeit willentlich zu steuern. Stattdessen zieht sie magisch alles an, was sie interessiert.
Als Eltern haben Sie das Gefühl, die Aufmerksamkeit des Kindes ständig von außen steuern zu müssen:
„Können wir jetzt bitte weitermachen?“
„Schau nicht ständig aus dem Fenster und mach jetzt deine Hausaufgaben!“
„Hier spielt die Musik!“
„Hörst du mir zu?“
„Das ist jetzt nicht wichtig!“
In der Schule wird genau das erwartet, was unaufmerksamen Kindern schwerfällt:
die Aufmerksamkeit über längere Zeit auf eine einzige Aufgabe richten und sich auch bei langweiligen Tätigkeiten nicht ablenken lassen;
genau zuhören, sich Aufträge merken und diese zu Ende bringen;
Materialien verwalten;
die Hausaufgaben planen und sich organisieren;
die Aufmerksamkeit sofort auf einen neuen Gegenstand richten, wenn die Lehrkraft dies verlangt.
Im späteren Berufsleben kommt vielen Erwachsenen mit ADHS ihre Fähigkeit zugute, sich ganz auf etwas einzulassen. Haben sie einen Beruf gefunden, der mit ihren Interessen harmoniert, erbringen manche von ihnen außergewöhnliche Leistungen. Diese Fähigkeit lässt sich bewusst auch für das schulische Lernen einsetzen, kommt jedoch meist erst später wirklich zum Tragen.
Mehrere Kapitel dieses Buches befassen sich daher mit den folgenden Fragen:
Wie kann die Lern- und Hausaufgabensituation an die Bedürfnisse Ihres Kindes angepasst werden?
|16|Wie lässt sich die Konzentrations- und Merkfähigkeit Ihres Kindes steigern?
Wie können Sie die Motivation so weit fördern, dass sich Ihr Kind besser auf das Lernen einlässt?
Welche Lernstrategien erlauben es Ihrem Kind, die Aufmerksamkeit auf den Stoff zu richten und seine Stärken für das Lernen zu nutzen?
Falls Ihr Kind ein Träumerchen ist, dürften besonders die Kapitel über Konzentration, Lernstrategien, Motivation und Vergesslichkeit bedeutsam sein. Am besten starten Sie in diesem Fall mit dem Kapitel 4 „Mein Kind kann sich nicht konzentrieren und trödelt“.
Hyperaktive Kinder scheinen ständig unter Strom zu stehen. Sie rutschen auf dem Stuhl herum und zappeln mit den Füßen und den Händen.
Längeres Stillsitzen empfinden sie als Qual. Manchmal wird der Bewegungsdrang so massiv, dass sie mitten im Unterricht aufstehen und umhergehen, am Esstisch Grimassen schneiden, zappeln oder mit den Händen und Fingern trommeln.
Auch in der Freizeit lässt sich die Hyperaktivität beobachten. Manchen Kindern gelingt es kaum, ruhig zu spielen oder sich auf eine Aktivität einzulassen. Manche klettern wo irgend möglich hoch oder rennen umher – egal, ob dies gerade angemessen ist oder nicht.
Die Hyperaktivität zeigt sich oft auch darin, dass diese Kinder fast unaufhörlich und sehr schnell reden.
Als Eltern werden Sie sich Sätze sagen hören wie:
„Jetzt setz dich endlich mal hin und gib Ruhe!“
„Musst du immer mit den Beinen wippen? Das macht mich wahnsinnig!“
„Komm da runter, das ist viel zu gefährlich.“
„Bleib bitte am Tisch sitzen, bis wir fertig gegessen haben.“
„Jetzt hol erst mal Luft, und erzähl es mir dann in Ruhe.“
|17|Wer einen solch massiven Bewegungsdrang hat, wird das stundenlange Stillsitzenmüssen in der Schule als Tortur empfinden.
Hyperaktive Kinder erinnern uns daran, dass Kinder eigentlich dazu gemacht sind, sich zu bewegen.
Falls Ihr Kind vor allem unruhig und zappelig ist, starten Sie ebenfalls am besten mit dem Kapitel 4 „Mein Kind kann sich nicht konzentrieren und trödelt“ und folgen den Hinweisen zum bewegten Lernen.
Unter Impulsivität versteht man die Unfähigkeit, Impulse zu unterdrücken. Impulsive Menschen reagieren aus dem Bauch heraus, ohne vorher über die Konsequenzen nachzudenken.
Impulsive Kinder können schlecht warten. Sie müssen alles, wonach ihnen der Sinn steht, sofort haben und tun. Sie platzen mit Antworten heraus, obwohl sie nicht an der Reihe sind, reißen beim Spiel den Ball an sich oder unterbrechen andere im Gespräch.
Die Impulsivität zeigt sich auch in der Emotionsregulation: Je impulsiver das Kind, desto schlechter gelingt es ihm, bei intensiven Gefühlen vernünftig zu handeln. Bei Wut schlägt es rasch zu, bei Frusterlebnissen zertrümmert es Spielzeug, bei Hindernissen gibt es sofort verzweifelt auf.
Schwierigkeiten im sozialen Bereich zeigen sich, weil es betroffenen Kindern schwerfällt, die Bedürfnisse anderer richtig einzuschätzen und danach zu handeln. Sie wirken oft distanzlos, bedienen sich ungefragt der Sachen anderer, platzen in laufende Spiele hinein und merken nicht, wenn es anderen zu viel wird.
|19|Als Eltern werden Sie vielleicht sagen:
„Musst du deswegen dermaßen ausflippen?!“
„Wenn du den anderen einfach den Ball wegnimmst, musst du dich nicht wundern, wenn sie dich nicht mehr mitspielen lassen.“
„Jetzt warte, bis du an der Reihe bist!“
„Leg das wieder hin – das gehört dir nicht!“
„Ich schau ja gleich! Nimm deine Hände aus meinem Gesicht!“
„Lass mich bitte einfach einen Moment in Ruhe!“
„Ich habe gesagt, dass du das nicht haben kannst, und damit basta! Jetzt hör auf mit diesem Theater!“
Impulsives Verhalten ist für das Umfeld schwer zu ertragen. Für viele Eltern ist es unverständlich, dass ihr Kind so unbedacht handelt und anscheinend nichts aus den negativen Folgen lernt. Auf Gleichaltrige wirken stark impulsive Kinder unreif. Sie übertreten wichtige soziale Regeln und flößen mit ihrer aufbrausenden Art schüchternen Kindern manchmal Angst ein.
Bei vielen impulsiven Kindern sehen wir große Schwierigkeiten im Umgang mit Frusterlebnissen, ausgeprägtes Konkurrenzdenken, heftige Konflikte rund um die Hausaufgaben und eine Tendenz, sich selbst zu überschätzen und anzugeben.
Falls Ihnen dieser Bereich Sorgen macht, beginnen Sie am besten mit dem Kapitel 3 „Wir haben ständig Streit und Tränen wegen der Hausaufgaben“. Ebenfalls spannend könnten die Kapitel 8 „Mein Kind ist schnell frustriert und gibt rasch auf“ und 9 „Mein Kind überschätzt sich und ist eifersüchtig auf seine Geschwister“ sein.
Immer wieder stellt man uns die Frage, ob es ADHS überhaupt gibt. Seit Jahren kursiert im Internet beispielsweise die Geschichte „Beichte auf dem Sterbebett“, der zufolge der Psychiater Leon Eisenberg dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech gestanden haben soll, dass ADHS ein „Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“ sei (Hoffmann & Schmelcher, 2012).
|20|Wie wir im letzten Kapitel beschrieben haben, wird die Diagnose ADHS anhand von Symptomen gestellt, die wiederum Beschreibungen von bestimmten Verhaltensweisen sind.
Bei einer Beschreibung können wir nicht behaupten, es gäbe diese Verhaltensweisen nicht. Wir können uns nur die Frage stellen, ob sie hilfreich ist und ob es daher sinnvoll ist, sie in ein Klassifikationssystem aufzunehmen.
Auch wenn wir morgen die Diagnose ADHS aus den Klassifikationssystemen streichen und entscheiden: Den Begriff ADHS verwenden wir ab heute nicht mehr, wird es immer noch Kinder geben, die impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam sind und darunter leiden, dass sie sich in unseren Schulen nicht zurechtfinden und bei anderen Kindern keinen Anschluss finden.
Eine ADHS kann einem Kind und seinen Eltern das Leben und insbesondere die Schulzeit ganz schön schwer machen – auch dann, wenn Sie die Ratschläge in diesem Buch beachten.
Gleichzeitig glauben wir aufgrund unserer Erfahrungen mit betroffenen Kindern und ihren Eltern, dass die Welt ohne ADHS-Betroffene ein ganzes Stück ärmer und farbloser wäre.
Wir persönlich würden es daher begrüßen, wenn man ADHS in erster Linie als Auffälligkeit deklarieren würde. Dies würde dazu anregen, auch die durchaus vorhandenen Stärken der Betroffenen zu sehen und wissenschaftlich zu untersuchen.
Bei der Diagnose muss die Diagnostikerin anhand der Kriterien feststellen, ob und welches Erscheinungsbild von ADHS vorliegt. Sie muss somit eine Ja-oder-nein-Entscheidung treffen (auch wenn sie von einer leichten oder schweren Ausprägung sprechen kann).
Diese Ja-oder-nein-Entscheidung hat etwas Künstliches an sich. Wir sollten vielmehr davon ausgehen, dass Merkmale wie Konzentrationsfähigkeit, Aktivität oder Impulskontrolle ein Kontinuum bilden. Am einen Ende haben wir Kinder, die sich bereits sehr früh in ihrer Entwicklung gut konzentrieren und ihre Aufmerksamkeit bewusst über |21|längere Zeit aufrechterhalten können. Am anderen Ende gibt es Kinder, die damit größte Mühe haben.
Die Klassifikationssysteme setzen nun aufgrund bestimmter Normvorstellungen wie beispielsweise der Normalverteilung einen Cut-off-Wert: Von genau dieser Merkmalsausprägung an gilt ein Verhalten als abweichend und behandlungsbedürftig. Ein Expertengremium legt Kriterien für die Diagnose fest.
Betrachten wir dazu einige Symptome der Unaufmerksamkeit nach DSM-5 (American Psychiatric Association, 2015, S. 77):
„Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten (…).
|22|Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten (…).
Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn bzw. sie ansprechen (…).“
Um die Diagnose bei Kindern zu stellen, müssen mindestens sechs solcher Symptome von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität bzw. Impulsivität während der letzten sechs Monate beständig in einem Ausmaß vorhanden gewesen sein, welches das Funktionsniveau oder die Entwicklung beeinträchtigt (American Psychiatric Association, 2015).
Dadurch, dass die Diagnose über solche Merkmale gestellt wird, ist sie – wie viele Diagnosen im psychischen Bereich – mit gewissen Unsicherheiten behaftet. Wir können uns fragen: Wieso sechs und nicht fünf oder sieben Symptome? Warum sechs Monate und nicht zwei Jahre? Was bedeutet eine „Beeinträchtigung des Funktionsniveaus oder der Entwicklung“? Wie oft muss Timo nicht zuhören, damit dieses Kriterium erfüllt ist?
Und wie soll man damit umgehen, dass sich Timo bei Herrn Flückiger in der Klasse womöglich ganz anders verhält als bei Frau Sommer?
Erschwerend für die Diagnostik kommt hinzu, dass es bisher keinen anerkannten, standardisierten, normierten „ADHS-Test“ gibt. Vielmehr ist es so, dass die Diagnosestellung auf einem Mosaik verschiedener Bausteine beruht. Dazu gehören Testverfahren (Intelligenztest, Konzentrationstests), eine Befragung des Kindes, strukturierte Interviews und Fragebogen für Eltern und Lehrkräfte, Verhaltensbeobachtungen, Angaben der Eltern über die Entwicklung des Kindes (Anamnese), eine neurologische Untersuchung mit Beurteilung des Entwicklungsstandes und ein fachärztlicher Befund, der ausschließt, dass sich die Auffälligkeiten besser durch körperliche Ursachen (Hör- und Sehprobleme, eine Schilddrüsendysfunktion, eine Epilepsie etc.) erklären lassen. Am Ende der diagnostischen Erhebungen muss die Diagnostikerin aufgrund der gesammelten Informationen entscheiden, wo das Kind auf dem Kontinuum liegt und ob es die kritische Schwelle zur ADHS-Diagnose überschritten hat.
|23|Uns ist es wichtig, Ihnen den Gedanken des Kontinuums näherzubringen, damit deutlich wird: Mein Kind kann sich in die eine oder andere Richtung entwickeln. Egal, wo Ihr Kind startet, ein Spielraum ist vorhanden, und es lohnt sich, daran zu arbeiten.
Interessantes aus der Wissenschaft
Diagnose ADHS – auch eine Frage des Einschulungsalters
Mit zunehmendem Alter wächst die Selbststeuerungsfähigkeit von Kindern: Die Konzentrationsfähigkeit nimmt zu, während Impulsivität und Bewegungsdrang nachlassen.
Wie Sie gerade gelesen haben, achtet man bei der Diagnose darauf, ob die Symptome in einer Ausprägung vorliegen, die mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbaren ist. Verglichen wird das Kind von Eltern, Lehrkräften und Psychologen oder Psychiaterinnen jedoch meist mit seinen Klassenkameraden. Kein Wunder also, dass es aktuellen Metaanalysen zufolge auch vom Einschulungsalter abhängt, ob ein Kind eine ADHS-Diagnose erhält (Schnorrbusch und andere, 2020; Caye und andere, 2020).
In einer groß angelegten Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München (Wuppermann und andere, 2015) analysierten die Forscher*innen ärztliche Daten von Kindern zwischen 4 und 14 Jahren. Die ADHS-Diagnosehäufigkeit war für die sehr jung eingeschulten Kinder, die im Monat vor dem Stichtag Geburtstag hatten, verglichen mit den spät eingeschulten Kindern, durchschnittlich um einen Prozentpunkt höher.
Dieses Ergebnis deckt sich mit Forschungsbefunden aus dem englischsprachigen Raum. So befragte man in einer Studie der Michigan State University (Elder, 2010) über neun Jahre hinweg Eltern und Lehrkräfte von mehr als 18.000 Kindern mittels Fragebogen und telefonischen Interviews über Verhaltensauffälligkeiten und die Diagnose ADHS. Den Ergebnissen zufolge erhielten Kinder, die zu den jüngsten in ihrer Klasse gehörten, deutlich häufiger eine ADHS-Diagnose als ihre älteren Klassenkameraden. So wurde die ADHS-Diagnose an 8,4 Prozent der Kinder vergeben, die im Monat vor dem Stichtag geboren waren und damit jeweils zu den jüngsten der Klasse gehörten. Bei den im Monat nach dem Stichtag geborenen Kindern waren es lediglich 5,1 Prozent. Auch eine kanadische Studie (Morrow und andere, 2012) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Forscher*innen erfassten über einen Zeitraum von elf Jahren Daten von fast einer Million Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Die Auswertungen zeigen: Jungen, die im Monat vor dem Stichtag geboren, also vergleichsweise jung eingeschult worden waren, erhielten mit 30 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose als Jungen, die im Monat nach dem Stichtag geboren waren. Bei Mädchen lag diese Wahrscheinlichkeit sogar um 70 Prozent höher.
|24|Unser Fazit: Für manche Kinder wäre zusätzliche „Entwicklungszeit“ durch ein drittes Kindergartenjahr oder eine „Ehrenrunde“ in der ersten Klasse Gold wert. Insbesondere dann, wenn sich bereits im Kindergarten zeigt, dass ein Kind im Vergleich zu anderen deutlich mehr Mühe hat, bei der Sache zu bleiben, im Stuhlkreis sitzen zu bleiben, eine längere Bastelaktivität zu Ende zu führen, Abläufe wie das Schuhebinden zu lernen, Anschluss zu finden, und schnell weinerlich oder gereizt reagiert.
Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
(Afrikanisches Sprichwort)
Oft wird in den Medien von einer ADHS-Epidemie gesprochen. Ist ADHS eine Modediagnose? Gab es diese Problematik früher auch, oder ist sie ein Produkt unserer Zeit?
Eine Vielzahl von Studien weist heute darauf hin, dass die Veranlagung zur Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zu einem Teil vererbt wird. (Genauere Informationen darüber finden Sie im Kapitel „Allgemeine Informationen über ADHS“ ganz am Ende des Buchs.)
Ob jedoch bestimmte Veranlagungen zu einem Problem werden oder nicht, das bestimmt die Umwelt.
Kinder mit ADHS sehen und hören alles. Sie sind – wie wir heute sagen – hoch ablenkbar. Diese Reizoffenheit ist nur dann ein Problem, wenn unsere Umwelt erwartet, dass wir unsere Aufmerksamkeit häufig auf eine Aufgabe fokussieren. Ein Waldspaziergang mit einem ADHS-Kind wird zu einem Abenteuer: Es hört jeden Vogel und sieht jeden Käfer. Ein Jäger – und als Jäger haben Menschen jahrmillionenlang existiert – profitiert von dieser Veranlagung.
Gleiches gilt für die Hyperaktivität. Bis vor kurzer Zeit haben die meisten Menschen körperlich gearbeitet. Für einen Bauern oder eine Handwerkerin ist ein starker Bewegungsantrieb nützlich. Wird allerdings verlangt, dass man die meiste Zeit des Tages stillsitzt und vorwiegend theoretische Aufgaben löst, wird dieser Antrieb zum Problem.
|25|In den letzten Jahrzehnten hat sich einiges verändert, was dazu führte, dass Menschen mit ADHS vermehrt auf Schwierigkeiten stoßen:
Die Schultage dauern länger.
Moderne Schulformen wie Werkstattunterricht oder Gruppenarbeiten erschweren hoch ablenkbaren Kindern die Konzentration.
Neuere Schulbücher, die oft bunt und abwechslungsreich gestaltet sind, lenken unaufmerksame Kinder vom Wesentlichen ab.
Kürzere Schulwege, mehr Verkehr und zunehmende Verstädterung verhindern, dass Kinder sich genügend austoben und bewegen können.
Höhere Anforderungen im Bereich der Organisation und Planung (Stichwort Wochenplan) überfordern immer mehr Kinder mit Auffälligkeiten in diesem Bereich.
Unterrichten viele Teilzeitlehrer*innen oder unterschiedliche Fachlehrkräfte, wird es für Kinder schwieriger, eine stabile Beziehung zur Lehrkraft aufzubauen. Die Flexibilität, die erwartet wird, erhöht die Anforderungen. Die Kinder müssen sich immer wieder auf einen neuen Menschen einstellen.
Ein Mehr an Fächern und Lehrstoff führt dazu, dass Kinder mit Merkschwierigkeiten grundlegenden Stoff zu wenig automatisieren |26|können, um diesen langfristig abzuspeichern und flexibel nutzen zu können.
Die digitalen Medien, die uns täglich mit einer Flut von Informationen versorgen und uns ständig in Form von E-Mails, Chat-Nachrichten oder Social-Media-Streams etc. unterbrechen, machen es uns allen schwerer, uns zu konzentrieren.
Schlussendlich hat das handlungsorientierte und praxisbezogene Lernen, das vielen ADHS-Betroffenen mehr liegt, an Wert verloren. Es ist schwieriger geworden, sich ohne höheren Schulabschluss in einer Firma hochzuarbeiten. Die Ausbildung ist kopflastiger und einseitiger geworden. Immer mehr Schuljahre trennen uns von der praktischen Arbeit. Dies wurde uns erst kürzlich wieder bewusst, als wir einen Artikel über eine Hebamme lasen. Sie schilderte, dass dieser Beruf in ihrer Familie bereits über vier Generationen hinweg ausgeübt wird, und merkte an, dass die Ausbildung ihrer Großmutter ein Jahr dauerte, die ihrer Mutter zwei, ihre eigene drei und die ihrer Tochter vier.
Für immer mehr Berufe wird ein Abitur oder sogar ein Studium vorausgesetzt.
Machen wir uns nochmals bewusst, dass wir bei ADHS von einem Kontinuum sprechen können:
|27|Wir haben heute also eine Umwelt, die uns immer mehr ablenkt und zerstreut. Gleichzeitig wird verstärkt verlangt, dass wir in der Lage sind, stillzusitzen, unsere Aufmerksamkeit bewusst auszurichten, uns zu organisieren und ausdauernd einer geistigen Tätigkeit nachzugehen.
Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen in diesen Bereichen Schwierigkeiten aufweisen.
Zum Bewegungsmangel, der zunehmend kopflastigen Arbeit und der digitalen Beschleunigung kommt eine weitere Veränderung unserer Gesellschaft hinzu: „Der Schlaf ist in die Mühle des Fortschritts geraten. Die westliche Gesellschaft hat zu wenig Zeit, sie spart sie bei der Nachtruhe“ (Furger, 2013). Schlafmangel aber kann zu ADHS-ähnlichen Symptomen beitragen bzw. diese akzentuieren. Eine Vielzahl von Studien bestätigt dies.
Interessantes aus der Wissenschaft
ADHS und der Schlaf
Eine Studie der Universität Helsinki bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Schlafdauer bzw. Schlafqualität und ADHS-Symptomen (Paavonen und andere, 2009): Kinder zwischen 7 und 8 Jahren, die durchschnittlich weniger als 7,7 Stunden pro Nacht schlafen, werden von ihren Eltern tagsüber als hyperaktiver und impulsiver erlebt als Kinder, die im Durchschnitt zwischen 7,7 und 9,4 Stunden schlafen. Im Elternurteil stehen auch Schlafprobleme der Kinder wie Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten mit erhöhter Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit von Kindern im Zusammenhang. Ob Schlafprobleme zu vermehrten ADHS-Symptomen führen oder ob Verhaltensauffälligkeiten den Schlaf von Kindern beeinträchtigen, ließ sich in dieser Untersuchung nicht eindeutig klären. Auch eine Wechselwirkung ist möglich. Eine Längsschnittstudie, in der Betroffene über 13 Jahre hinweg beobachtet wurden, deutet jedoch darauf hin, dass die ADHS die Schlafprobleme verursacht und dass dabei genetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen (Gregory und andere, 2018).
Dass umgekehrt auch Schlafmangel ADHS-Symptome verstärken kann, belegen wiederum experimentelle Studien: Demnach führt Schlafmangel zu einer geringeren Leistungsfähigkeit in der Schule und vermehrter Unaufmerksamkeit (Fallone und andere, 2001, 2005; Becker und andere, 2019). Nach einer schlechten Nacht ist zudem die Aktivität des sogenannten frontalen Kortex im Gehirn vermindert: jenes Gehirnbereichs, der in Forschungskreisen unter Verdacht steht, die ADHS-Symptomatik wesentlich mitzubeeinflussen (Verweij und andere, 2014; Wu und andere, 2006).
|28|Insgesamt zeigt die Forschung eindrücklich: Müde Menschen können sich kaum konzentrieren, sie machen mehr Flüchtigkeitsfehler, können sich Inhalte schlechter einprägen und sich nur mühevoll daran erinnern, sie tun sich schwerer mit Entscheidungen und können Versuchungen kaum widerstehen (z. B. Durmer & Dinges, 2005; American Psychological Association, 2015; Lowe, Safati & Hall, 2017). Daher sollte man darauf achten, dass gerade Kinder, die bereits ADHS-Symptome aufweisen, ausreichend Schlaf haben. In der Realität ist oft das Gegenteil der Fall: Wie sich zeigt, haben ADHS-Betroffene besonders häufig mit Schlafproblemen zu kämpfen (z. B. Hvolby, 2015; Hysing und andere, 2016).
Tipp
Ausreichend Bewegung tagsüber, gedimmtes Licht in den Abendstunden und der Verzicht auf den Konsum von Bildschirmmedien vor dem Schlafengehen können dem Schlaf zuträglich sein (Cain & Gradisar, 2010; Gooley und andere, 2011; Jolin & Weller, 2011; Lely und andere, 2015; Nixon und andere, 2009; Scott & Woods, 2019). Auch Einschlafrituale wie das Vorlesen einer Geschichte, das Schmökern in einem Roman, ein altbekanntes Hörspiel, ein Schaumbad oder ein Gespräch im Bett über die Erlebnisse des Tages können das Einschlafen unterstützen. Manche Familien berichten davon, dass ihr Kind unter einer Gewichtsdecke oder in einem dünnen Sommerschlafsack besser zur Ruhe kommt.
Leidet Ihr Kind dennoch unter Einschlaf- bzw. Durchschlafschwierigkeiten oder Tagesmüdigkeit, dann lassen Sie sich von der Kinderärztin oder Kinderpsychiaterin beraten. Wir weisen darauf hin, dass Schlafprobleme auch als Nebenwirkung der medikamentösen ADHS-Therapie auftreten können.
Die Diagnose ADHS hat aus unserer Sicht – wie alle Diagnosen – einige Vor- und einige Nachteile.
Klassifikationssysteme bieten die Möglichkeit, ähnliche Schwierigkeiten zu gruppieren. Daraus ergibt sich der Vorteil, dass man diese näher untersuchen kann.
|29|Die einheitlichen Beschreibungen sorgen dafür, dass
Forscher*innen auf der ganzen Welt ihre Ergebnisse austauschen und
Praktiker*innen die gesammelten Ergebnisse nutzen können, um Klienten zu helfen.
Kann also eine Wissenschaftlerin irgendwo in der Welt belegen, dass Kinder, die unkonzentriert, hyperaktiv und impulsiv sind, von kurzen Bewegungseinheiten während des Unterrichts profitieren, wird sie dieses Ergebnis in Form einer Studie publizieren. Über Suchbegriffe wie „ADHS, Lernen“ können nun wiederum andere Wissenschaftler*innen oder wir als Praktiker*innen nach solchen Ergebnissen suchen und sie Eltern zugänglich machen, beispielsweise in unserem Buch. Sie als Elternteil eines Kindes mit denselben Auffälligkeiten können über Google oder in einer Buchhandlung nach Literatur zum Thema „ADHS und Lernen“ suchen und stoßen auf diese Weise auf ein Buch, das spezifische Hilfestellungen für Ihr Kind schildert.
Diagnosen sollen überdies mehr Klarheit schaffen. Kann sich ein Kind, etwa im Rechenunterricht, nicht konzentrieren, wäre es wichtig zu wissen, ob es
dem Stoff aufgrund einer Dyskalkulie (Rechenschwäche) nicht folgen kann,
nicht in der Lage ist, die Aufmerksamkeit bewusst auf den Unterricht zu richten, weil es sich von äußeren Reizen ablenken lässt,
sich aufgrund einer Hochbegabung langweilt,
Sorgen und Ängste hat, die es blockieren,
aufgrund einer auditiven Wahrnehmungsstörung nicht zuhören kann oder
durch eine Kombination mehrerer Schwierigkeiten eingeschränkt wird.
Je genauer man weiß, welche Probleme vorliegen, desto passender wird die Lösung ausfallen. In diesem Sinne nimmt eine Diagnose dem Kind nichts von seiner Individualität, sondern soll im Gegenteil dabei helfen, die Lösung dem Kind anzupassen.
Ein weiterer Vorteil der Diagnose besteht darin, dass die Krankenkasse oder – in der Schweiz – die Invalidenversicherung eventuell die Kosten einer Behandlung übernimmt.
|30|Die Diagnose kann auch dazu verhelfen, dass man sich selbst besser versteht und Zugang zu anderen Betroffenen findet.
Diagnosen können zu einer Stigmatisierung führen oder als Entschuldigung oder Ausflucht dienen.
Je überzeugter Eltern, Lehrkräfte und Kind sind, dass Kinder mit ADHS „halt so sind“, desto eher wird die Diagnose zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Die Diagnose kann in diesem Fall dazu führen, dass das Kind
von anderen diskriminiert wird,
sich seinen Schwierigkeiten hilflos ausgeliefert fühlt,
es sich bequem macht und Schwierigkeiten nicht angeht, weil es den eigenen Handlungsspielraum nicht mehr sieht.
Ob die Diagnose ADHS sinnvoll ist, hängt davon ab, wie man damit umgeht.
Die Diagnose ist dann hilfreich, wenn sie Ihr Kind dadurch besser verstehen, nach geeigneten Lösungswegen suchen und sich Verbündete ins Boot holen können.
Wenn das eigene Kind die Diagnose ADHS erhält, fühlen sich die meisten Eltern zunächst hilf- und orientierungslos. Oftmals fehlen nach der Abklärung kompetente Ansprechpartner*innen, die sie darin beraten, wie sie mit den vorhandenen Schwierigkeiten umgehen sollen und welche Maßnahmen sinnvoll wären.
In diesem Kapitel vermitteln wir Ihnen daher einige wichtige Grundgedanken über die Behandlung von ADHS und die damit verbundenen Probleme und stellen Ihnen die gängigsten Ansätze vor.
Wir haben manchmal den Eindruck, dass seit Längerem ein ideologischer Krieg rund um das Thema ADHS entbrannt ist. Neben der Diskussion darüber, ob es ADHS überhaupt gibt und wer „schuld“ daran ist, propagieren Besserwisser simple Lösungen für komplexe Probleme. Man erkennt diese Vorschläge an dem Wort „nur“:
„Wenn nur die Schule mehr auf die Kinder eingehen würde, dann gäbe es kein ADHS.“
„Früher gab es einfach eine Strafe und basta. Wenn die Lehrer nur strenger wären, wären die Kinder auch angepasster.“
„Wenn nur die Eltern ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen würden, könnten sich die Kinder auch benehmen.“
„Wenn nur die Gesellschaft nicht so leistungsorientiert wäre und gleich jedem einen Stempel aufdrücken würde, hätten wir diese Probleme alle nicht!“
Es schont Ihre Nerven, wenn Sie sich auf solche Diskussionen gar nicht erst einlassen, sich Antworten in Kommentarspalten im Internet sparen und sich darauf konzentrieren, was Ihrem Kind guttut.
Es gibt verschiedene Wege, mit ADHS umzugehen, und es ist sinnvoll, immer wieder abzuwägen, wo eine Veränderung anzustreben wäre:
|32|Auf der einen Seite ist es hilfreich, wenn die Umgebung dem Kind entgegenkommt. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Bedürfnisse das Kind hat und unter welchen Bedingungen seine Schwächen weniger ins Gewicht fallen und seine Stärken zum Zuge kommen.
Auf der anderen Seite profitieren Kinder davon, wenn sie lernen, sich ein Stück weit an die bestehende Umwelt anzupassen und Fertigkeiten entwickeln, um mit den Anforderungen umzugehen. Hier stellt sich die Frage: Was sollte das Kind unbedingt lernen, damit sich seine Situation verbessert – und wie gelingt ihm dies am besten?
Zu guter Letzt hilft auch die Einsicht, dass sich nicht jedes Problem lösen lässt und man gewissen Schwierigkeiten mit mehr Gelassenheit und Akzeptanz entgegentreten kann.
Die Behandlungsleitlinien der großen Fachgesellschaften empfehlen eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen wie Psychoedukation (Vermittlung von Wissen über die Diagnose ADHS, Ursachen, Auswirkungen auf den Alltag sowie Behandlungsmöglichkeiten), Elterntraining, Coaching bzw. Therapie für das Kind, Veränderungen im Schulalltag, Weiterbildung von Lehrkräften und – in mittelschweren bis stark ausgeprägten Fällen – eine medikamentöse Therapie (vgl. National Institute for Health and Care Excellence, 2019; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. und andere, 2017).
Auf einige dieser Ansätze möchten wir näher eingehen.
Ein Elterntraining zielt auf Veränderungen in der Kommunikation und Interaktion mit dem Kind ab. Erziehungskompetenzen werden gestärkt und Erziehungsmuster, welche die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes verstärken können, bewusstgemacht. Neben der Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung stehen Themen im Zentrum wie der Umgang mit Regeln und Grenzen, der Aufbau einer kooperativen Stimmung, die |33|Fokussierung auf Ressourcen und Stärken von Eltern und Kind sowie die Arbeit an konkreten Zielen. Bekanntere und wissenschaftlich geprüfte Elterntrainings sind unter anderen: STEP, Kess erziehen, Starke Eltern – starke Kinder sowie das Gordon-Familientraining. Darüber hinaus gibt es mittlerweile auch spezifische Trainings für Eltern von ADHS-betroffenen Kindern und Jugendlichen. Dazu zählt das THOP-zugehörige Elterntraining von Döpfner, Schürmann und Frölich (2019), aber auch eine Vielzahl von Kursen und Workshops, die von Selbsthilfeorganisationen wie der ADHS-Organisation ELPOS (Schweiz) oder den regionalen ADHS-Netzen (Deutschland) angeboten werden (die Adressen finden Sie im Kapitel 12 „Hier finden Sie Hilfe“).
Therapeutische Ansätze unterstützen das Kind darin, sich selbst besser zu steuern, sich zu strukturieren und mit Anforderungen von außen kompetenter umzugehen. Die Kinder lernen ihre Gefühle bewusster wahrnehmen und in Bahnen lenken, Ärger und Frust zu bewältigen und ein positiveres Selbstbild aufzubauen. Die aktuellen Behandlungsleitlinien empfehlen für Kinder und Jugendliche die kognitive Verhaltenstherapie.
Auch wenn eine ergotherapeutische Behandlung in den aktuellen AWMF-Leitlinien nicht explizit empfohlen wird, stellt sie in der Praxis eine sehr häufige Unterstützungsmöglichkeit dar. Erste Studien zeigen positive Effekte bei der Förderung wichtiger Alltagsfertigkeiten (siehe Popow & Ohmann, 2020).
Oft erwägt man bei ADHS auch eine medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien, Atomoxetin oder Guanfacin. In den 2007 veröffentlichten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie wurde erst dann zu einer medika|34|mentösen Behandlung geraten, wenn eine „stark ausgeprägte, situationsübergreifende (…) Symptomatik mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Patienten oder seines Umfeldes und einer ausgeprägten Einschränkung der psychosozialen Anpassung (z. B. drohende Umschulung in Sonderschule, massive Belastung der Eltern-Kind-Beziehung) vorliegt bzw. andere Maßnahmen nicht hinreichend erfolgreich gewesen sind“ (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u. a., 2007, S. 6). Die aktualisierten AWMF-Leitlinien bringen die medikamentöse Therapie bei ADHS im Schulalter bereits in moderat ausgeprägten Fällen ins Spiel. Diese Änderung löste eine Welle von Kritik aus. So taucht aus den Reihen der deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie die Klage auf, dass noch immer unabhängige Studien zu den Langzeiteffekten von Stimulanzien fehlen und doch ein beträchtlicher Anteil der Kinder unter Nebenwirkungen leidet (Christiansen & Stöhr, 2019).
Mehr zur Wirkungsweise der Medikation und unserer Einschätzung finden Sie im Kapitel „Allgemeine Informationen über ADHS“ ganz am Ende des Buchs.
Ein Lerncoaching oder eine Lerntherapie zielt auf eine Verbesserung der schulischen Situation des Kindes ab. Das Kind lernt, sich selbst besser zu motivieren, Widerstände gegen das Lernen abzubauen und sich effektiv auf Prüfungen vorzubereiten.
Kinder mit ADHS haben häufiger Mühe, Anschluss zu finden und stabile Freundschaften zu knüpfen und werden öfter von Gleichaltrigen ausgeschlossen oder gehänselt (Gardner & Gerdes, 2015; Sciberras, Ohan & Anderson, 2012).
In einem Training der sozialen Kompetenzen lernen die Kinder, wie man auf andere zugeht, Konflikte konstruktiv bewältigt und in schwierigen Situationen reagieren kann.
Das Neurofeedback zielt darauf ab, dem Kind beizubringen, wie es seine Gehirnleistung beeinflussen kann, um sich beispielsweise besser zu konzentrieren. Dabei werden dem Kind an verschiedenen Stellen der Kopfhaut Elektroden aufgeklebt, die die Hirnwellenmuster messen. Nun initiiert man einen Lernprozess, indem das Kind einen Film schauen darf, solange es ein bestimmtes Hirnwellenmuster aktiviert. Beginnt das Kind vor sich hinzuträumen, wird dies registriert, und der Film stockt oder verblasst. Über diese Rückmeldungen soll das Kind nach und nach lernen, seine Gehirnaktivität gezielt zu beeinflussen. Mittlerweile gibt es eine Fülle an Studien zur Wirksamkeit von Neurofeedback – mit sehr widersprüchlichen Ergebnissen. Positive Effekte lassen sich am ehesten bei der Unaufmerksamkeit finden, weniger bei der Hyperaktivität und Impulsivität (Riesco-Matías und andere, 2021). Allerdings wird Neurofeedback von den AWMF-Leitlinien lediglich als Ergänzung genannt und ist sehr aufwändig (mindestens 25 bis 30 Sitzungen).
Eine andere Möglichkeit, die Aufmerksamkeitslenkung und die Impulskontrolle zu trainieren, bieten Achtsamkeitstrainings. Eine Vielzahl von Studien belegt mittlerweile deren positive Auswirkungen auf die ADHS-Symptomatik, das Selbstwertgefühl sowie die Beziehung zu anderen (Linderkamp, 2020). Achtsamkeitsübungen lassen sich zudem wunderbar in den Schulalltag integrieren und sorgen auch auf Klassenebene für mehr Ruhe, Ausgeglichenheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit (Carsley, Khoury & Heath, 2018; Zenner, Herrnleben-Kurz & Walach, 2014).
In Kapitel 4 „Mein Kind kann sich nicht konzentrieren und trödelt“ gehen wir näher darauf ein, wie Sie Achtsamkeitsübungen in den Alltag einstreuen können.
Die Bedingungen in der Schule spielen für Kinder mit ADHS eine sehr bedeutsame Rolle. Äußerst hilfreich ist eine Klassenlehrkraft, die auf das Kind eingeht und sich dazu bereit erklärt, die Lernsituation ein Stück weit an das Kind anzupassen. Die wichtigsten Hilfestellungen dazu finden Sie im Kapitel 11 „So gelingt die Kooperation mit der Schule“. Verschiedene weitere Personen können eine wertvolle Ressource darstellen, wenn es darum geht, das Kind spezifisch zu fördern, einen Nachteilsausgleich für Prüfungssituationen zu erwirken oder die Lernziele anzupassen. Dazu gehören integrative Förderlehrkräfte bzw. schulische Heilpädagoginnen und Schulpsychologen. Zusätzlich dürfen immer mehr Schulen auf Schulsozialarbeiter*innen zurückgreifen, die die Kinder bei der sozialen Integration unterstützen, Konflikte und Mobbingsituationen aufgreifen und den Kindern wichtige schulische Kompetenzen vermitteln.
Manchmal ist die Situation in der Schule so schwierig, dass ein Klassen- oder Schulwechsel sinnvoll ist.
Die Befundlage zum Einfluss der Ernährung auf die ADHS-Symptomatik ist noch uneindeutig. Im Allgemeinen scheint sich eine gesunde, ausgewogene Ernährung, die reich an Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Vollkornprodukten und Fisch ist, positiv auszuwirken (Del-Ponte und andere, 2019; Shareghfarid und andere, 2020). Falls Sie an dieser Stelle genervt die Augen rollen: Wir sind uns bewusst, dass es bei manchen Kindern fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, sie an solch einen Speiseplan heranzuführen.
Für einen Teil der ADHS-Betroffenen könnte es einen Versuch wert sein, auf gewisse künstliche Farb- und Konservierungsstoffe zu verzichten und mögliche individuelle Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu beachten (z. B. Millichap & Yee, 2012; Nigg & Holton, 2014; Nigg, Lewis, Edinger & Falk, 2012; Pelsser und andere, 2017; Sonuga-Barke und andere, 2013; Stevens, Kuczek, Burgess, Hurt & Arnold, 2011; Stevenson und andere, 2014). Für die kontrovers diskutierten, aufwändigen Elimi|37|nationsdiäten gibt es mittlerweile eine Reihe von spezifischen Kochbüchern, die beispielsweise auf einer gluten- und kaseinfreien Ernährung aufbauen (z. B. Compart & Laake, 2014). Mehrere Studien befassen sich außerdem mit dem positiven Einfluss von Omega-3-Fettsäuren, Zink, Magnesium oder Eisen auf die ADHS-Symptomatik (für einen Überblick siehe Eckert, 2014; Faraone und andere, 2021; Rucklidge, Johnstone & Kaplan, 2009; Sarris, Kean, Schweitzer & Lake, 2011). Wir dürfen gespannt sein, was die Forschung in diesem Bereich in den nächsten Jahren zutage fördern wird.
Erste Studien belegen die positiven Effekte von Bewegung auf verschiedene Funktionsbereiche bei ADHS-Betroffenen (für eine Übersicht siehe Christiansen und andere, 2019; Rommel und andere, 2013; Welsch und andere, 2021). Auch Eltern in unseren Seminaren betonen immer wieder, wie wichtig Bewegung ist, um Konzentrationsschwierigkeiten und der inneren Unruhe der Kinder entgegenzuwirken. Im Kapitel 4 „Mein Kind kann sich nicht konzentrieren und trödelt“ greifen wir einige Studien auf, die zeigen, wie sich Bewegung nutzen lässt, um die Lernsituation zu verbessern.
Wir möchten Sie dazu ermutigen, mit unterschiedlichen Vorgehensweisen zu experimentieren und beizubehalten, was sich für Sie und Ihr Kind als nützlich erwiesen hat.
David reißt die Haustür auf. Endlich ist die Schule aus! Er pfeffert die Schultasche in die Ecke, schnappt sich einen Ball und stürmt nach draußen.
Seiner Mutter krampft sich der Magen zusammen. Sie weiß, in einer halben Stunde muss sie ihn an die Hausaufgaben erinnern – das wird wieder ein Riesentheater.
Nach einer halben Stunde geht Davids Mutter in den Garten. Sie pirscht sich an ihren Sohn heran und wartet auf den richtigen Moment. Ihr Sohn ist in seinem Element. Voller Elan kickt er den Ball gegen die Hauswand. Er wirkt ausgelassen und fröhlich, und seine Mutter würde ihn so gerne weiterspielen lassen. „David, du weißt, die Hausaufgaben …“
Sofort kippt die Stimmung. Der unscheinbare Satz wirkt auf ihren Sohn wie eine Kampfansage. Er schaltet auf Durchzug, spielt weiter und versucht seine Mutter zu ignorieren. Nach wiederholtem „David, es ist Zeit. Wir haben ausgemacht: eine halbe Stunde spielen, dann die Hausaufgaben“ funkelt er sie böse an: „Lass mich in Ruhe! Das ödet mich an!“
Wahrscheinlich kennen Sie diese Situation. Nach einer Studie von Breuer und Döpfner (1997) erleben 57 Prozent der Eltern ADHS-betroffener Kinder die Hausaufgabensituation als hochproblematisch. Diese vereint alle Merkmale auf sich, die für Kinder mit ADHS schwierig sind. Ein von außen auferlegter Auftrag soll erfüllt werden, der eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit erfordert und sich vielfach nicht mit den Interessen des Kindes deckt. Dieser Auftrag zwingt das Kind, erneut stillzusitzen und nach einem langen Schultag nochmals Konzentration und Disziplin aufzubringen.
Wie können Eltern mit dieser Situation umgehen? Wie motiviert man David zur Mitarbeit? In diesem Kapitel lernen Sie eine Vielzahl von Strategien kennen, die Konflikte reduzieren und das Klima während der Hausaufgaben verbessern.
|40|In unserer Arbeit haben wir die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit unterschiedlichen Vorgehensweisen Erfolg haben. Darüber hinaus ist das Verhalten ADHS-betroffener Kinder enorm von ihrer Tagesform abhängig. Daher wollen wir Ihnen gleich ein ganzes Buffet an Möglichkeiten servieren. Picken Sie sich heraus, was Ihnen und Ihrem Kind schmeckt. Lassen Sie liegen, worauf Sie oder Ihr Kind allergisch reagieren. An einem Tag, an dem Ihr Kind verärgert ist, hilft Ihnen vielleicht die Motzzeit. An einem Tag, an dem das Kind sich überfordert fühlt, greift vielleicht der Tipp zum Thema „Verständnis“.
Wir möchten Sie dazu anregen, mit den einzelnen Vorgehensweisen zu experimentieren. Alles ist erfolgversprechender, als das zu tun, was bereits gestern nicht geholfen hat.
Als Eltern möchten wir unsere Kinder ermutigen und ihnen aufzeigen: Die Hausaufgaben sind machbar! Es ist nicht so viel, wie du denkst, und du schaffst das!
Genau dieser Wunsch kann zu unfruchtbaren Diskussionen und schließlich zum Streit führen.
Kinder mit ADHS, die sich nach einem langen, anstrengenden Schultag nochmals hinsetzen und Hausaufgaben erledigen sollen, sind meist voller innerer Widerstände. Die Hausaufgaben erscheinen ihnen als unüberwindbarer Berg, die einzelnen Aufträge als schwierig, langweilig oder sinnlos. Natürlich drücken sie dies aus:
„Es ist so viel!“
„Das ist so schwierig! Ich kann das nicht!“
„Das ist total blöd! Warum muss ich das machen?“