Erhaben - Anna von Thalheim - E-Book

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Anna von Thalheim

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Beschreibung

Seit Jahrhunderten schläft nun schon das Leben in der Abtei Paulinzella. Jetzt wird es durch das Geschehen in diesem Roman wieder auferstehen. Tauche ein, in die klösterliche Mystik des Ablassklosters in seiner Zeit. Menschen pilgern an diesen Ort, der sie von ihren Sünden reinwaschen und ihre Krankheiten heilen soll. Erlebe Gewalt, die im Verborgenen bleibt. Intrige und die persönlichen Begegnungen der Romanfiguren, werden dich an Isa und Jarl fesseln. Du wirst mit ihnen leiden, kämpfen, sie lieben, sie durch ihre Konflikte begleiten… Und atemlos ihrer Bestimmung folgen.

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21

Erhaben

Von Anna von Thalheim

Buchbeschreibung:

Isa von Glauchau erreicht die Abtei Paulinzella im April 1367 auf der Suche nach Ihrer wahren Berufung. Sie, die dort aufrecht still um jedes Leben kämpft, wird zum Opfer einer grausamen, innerklösterlichen Intrige, die im Dunkeln ersonnen und vollzogen wird. Auch außerhalb der Abteimauern lauert Lebensgefahr. Nur Jarl van Nobbin, der seltsame Medicus auf Durchreise, steht ihr zur Seite. Aber ist er ihre Rettung? Oder wird er zu ihrem Schicksal?

Über den Autor:

Anna von Thalheim, Autorin

Erhaben

Von Anna von Thalheim

Telefon:

[email protected]

1. Auflage, 2022

© September Anna von Thalheim – alle Rechte vorbehalten.

Papyrus Testverlag, Berlin

[email protected]

Kapitel 1

Licht flutete durch die aufragenden, schlanken Baumstämme. Sonnenlicht. Die ersten wärmenden Strahlen des Frühjahrs 1367. Isa hob das Gesicht mit geschlossenen Augen und die Handflächen gegen die wohltuende Wärme. Genüsslich seufzte sie, verfolgte lächelnd die bunten Kringel, die sich auf dem Innern ihrer Augenlider zeichneten. Nur hier, wenn sie unbeobachtet war, erlaubte sie sich diese Freiheiten. Erleichtert aufatmen. Lächeln. Ab und an leise summen. Es gab vieles, das sie in der Abgeschiedenheit der dichten Wälder, der uralten Bäume und der kleinen Lichtungen tun konnte. Dazu gehörte weinen. Still zwar, aber das erlaubte sie sich. Und wütend sein, vor allem wütend sein und Enttäuschung zulassen, denn Gefühlsausbrüche jeglicher Art galten in der Welt, in der sie weilte als unschicklich. Alles war unschicklich, was sich nicht mit Gottesfurcht, Gehorsam und Demut verband. So hatte sich Isa vor wenigen Tagen die Freiheit genommen und die Einsamkeit der Wälder gesucht, um zu sein, wie sie war, euphorisch und glücklich in dem, was sie hier jetzt täglich vollbringen durfte. Traurig und verzweifelt, wenn ihre Künste versagten. Wütend und ungeduldig gegen Mitbrüder und Mitschwestern, wenn diese ihre Nerven durch Phlegmatismus strapazierten. Sogar die stetig währende Anspannung des Körpers, die Kontrolle über jeden wahrnehmbaren Gesichtsausdruck, jede Geste, jede Bewegung, die sie tat, gab sie auf, sobald sie sich unbeobachtet fühlte. Dann fielen ihre Schultern herab. Die fest verkniffenen Lippen wurden runder. Ihre Augen öffneten sich, fasziniert von dem, was sie umgab. Sie entfaltete sich in diesem Frieden und genoss ihn als Geschenk.

*

Den dichten Wald durchquerte er in einem geruhsamen Trab. Der Tag hatte früh begonnen. Der Zeitvorsprung war groß. Die kleine schützende Hütte, in der er die Nacht verbrachte, bot Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit, weil ein aufmerksamer Geselle das Kaminholz neben der offenen Feuerstelle lagerte und nicht direkt den Fundus an der äußeren Rückwand nutzte. Er hatte es vor der Abreise ebenso gehalten und jeder Reisende nach ihm, vermochte gleichfalls diesen Luxus genießen. Ein viertel Laib Brot und ein kleines Stück reifen Käses, war sein Morgenmahl, bevor er sich auf den Rücken seines Rappen schwang und dem Pfad nach Paulinzella weiter folgte.

*

Mit einem tiefen, erleichterten Seufzer entschied Isa sich für ein Ende des kurzen friedvollen Moments. Sie war hierher gekommen, um die ersten zarten Spitzen der Brennnessel abzukneifen, die sie in der kleinen Kammer, die sich als Stätte heilkünstlichen Erbes herausstellte und die Abt Gunther ihr zur Verfügung stellte, trocknen konnte. Zusätzlich und um Dankbarkeit für das Vertrauen des Abtes zu zollen, würde sie so viele Spitzen wie möglich in ihren Korb einsammeln. Das ergab später ein schmackhaftes, frisches Gemüse für alle Brüder und Schwestern. Jetzt war der Mai da. Trotzdem hielt sich das kalte Frühjahr hartnäckig im Thüringischen. Nur vereinzelt entdeckte Isa das gesuchte Kraut, pflückte, roch, genoss das lichte Grün, dessen Nesseln zur Abwehr noch zart waren. Mit kundigem Blick stieß sie an einem kleinen Südhang auf die ersten Bärlauchblättchen. Freudig entzückt raffte sie Mantel und Ordensgewand und mühte sich durch stacheliges Brombeergestrüpp, wobei sie sogleich sorgfältig prüfte, ob die Spitzen schon bald bereit zur Ernte waren. Sie entschied sich für den Bärlauch, dessen Wohlgeruch ihr sanft in die Nase stieg. Mit zwei, drei staksigen Schritten überwand Isa die Wegbegrenzung. Das erste Blättchen, das sie zupfte, hielt sie gegen die Sonne, danke Gott mit einem Gebet für die Gabe und legte sich das Kraut genießerisch auf die Zunge. Langsam ließ sie es seine Wirkung tun und um Zeit zu gewinnen, pflückte sie die Nächsten. Sie zupfte, was sie fand. Bald würde sie wieder zu dieser Stelle kommen und den Vorrat für das folgende Jahr auffüllen. Bruder Thomas, der die Vorherrschaft in der Küche eisern hielt, dürfte dankbar mit den Augen rollen und sich, wie sie, sogleich selbst gütig daran tun. Es war eine unbekümmerte, ruhevolle Zeit, die sie so verbrachte. Dass sie sich immer weiter von der schützenden Abtei entfernte, war ihr gleichgültig. Sie kannte diesen Teil des Waldes, der einsam und verlassen lag. Bis auf diesen schmalen Pfad, der sich, von dichten Tannen fast verborgen, in leichten Windungen, durch Senken, die morastig vom Winter waren, durch den schönsten Wald wand, den Isa je durchwandert hatte, der ohne Umwege direkt vor den Toren der Abtei endete, in der sie Zuflucht gefunden hatte. Paulinzella. Ein Ort der Ruhe und Gelassenheit. Abgeschieden, würdevoll. Hier, an diesem Ort drohte kein Unheil. Sich der Endlichkeit ihres Ausflugs bewusst, nahm Isa seufzend den Rückweg auf. Ein Wimpernschlag später vernahm sie die schweren Hufe eines Pferdes. Es kam den schmalen Pfad herab, im beständigen Trab. Sofort griff sie nach ihrem Korb, raffte den wollenen, mit Eichenrinde gefärbten, alten Umhang um sich, verbarg dadurch ihren Habit. Schleier und Gesicht ließ sie vollständig in der weiten Kapuze verschwinden. Sie hockte sich, wie mit dem Waldboden verwachsen nieder. So verharrte sie. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr mehr als einmal auf den notwendigen Reisen Leib und Leben rettete. Viele Menschen besuchten Paulinzella, aber kaum auf diesem Weg. Wer auf dieser Route kam, hatte drei Tage kein Dorf und keinen Unterschlupf gesehen. Das kannte Isa aus eigener Erfahrung. Mit halb geschlossenen Augen und ohne den Kopf in die Richtung, aus der das herannahende Pferd kam, zu drehen, beobachtete sie die Stelle zwischen zwei imposanten Stämmen. Sie verweigerte sich sogar tiefe Atemzüge, drückte sich flach ins Unterholz. Endlich drang ein einsamer Reiter durch das Geäst der Bäume. Er näherte sich mit langsamer werdenden Tempo. Das tiefschwarze Pferd schnaubte laut, durchbrach die heimelige Stille. Der Mann beruhigte es mit Worten, ließ das Tier in einen Gang fallen. Seine Kleidung war düster, schlicht, aber aus festem, gewiss teuerem Tuch. Die Ledertaschen vor und hinter ihm waren prall gefüllt. Jetzt, da er das Pferd etwas zurücknahm, verdeckte sein weiter Mantel den Großteil dieser Fülle. Sein Gesicht verbarg eine darüber gezogene Kapuze und an der Haltung erkannte Isa, dass er ritterlich sicher seinen Rappen führte und einen langen Sitz im Sattel gewohnt war. Aber weder sah sie Waffen, noch folgte ihm ein Knappe. Sanft wiederholte der Reiter leise Befehle, trabte näher. Isa verschmolz weiter, mit dem von dichtem Herbstlaub bedeckten Waldboden. Gemächlich ließ der Mann seinen Blick schweifen, erst nach rechts in den Wald hinein, dann in Isas Richtung. Das Pferd schnaubte erneut, hob und senkte ungeduldig den Kopf, derweil sein Reiter mit forschenden Blicken das Unterholz durchmaß. Er wurde langsamer, blieb auf Isas Höhe stehen, vollzog den nächsten Rundumblick. Sie lugte vorsichtig durch das dünn gewebte Geflecht der Kapuze, vorbei an dem zarten Geäst einer jungen Buche, deren frische Blättchen sie zusätzlich sicher verbargen. Das Tier tänzelte und der Mann antwortete mit einem leichten Stupser in die Flanken. Isa hielt den Atem an. Nur einen Augenblick später begegnete sie einem intensiv suchenden Blick, der sie hätte unmöglich entdecken können. Sie tauchte darin ein. Weder erkannte sie die Konturen eines Gesichtes, noch stellte sie fest, das er sie erkannte. Und doch. Wie zu Stein erstarrt verharrte sie, betete still ein Ave Maria und schloss betend die Augen. Wieder hörte sie leise Worte, blinzelte vorsichtig hinüber und war heilfroh, als sich der Reiter langsam abwandte, das Dickicht auf der anderen Seite des Pfades durchsuchte und sein Pferd endlich zum Weitergehen aufforderte. Verwirrt von diesem Ereignis, verfolgte Isa angespannt dessen weiteren Weg. Erleichtert stieß sie wenig später den Atem aus. „Das war knapp!“, murmelte sie. Dennoch hielt sie sich weiter verborgen, bis das Getrappel der Hufe vollends verklungen war. Kaum vorstellbar, wenn der Reiter sie in ihrem Versteck entdeckt hätte. Wer weiß, was ihr zugestoßen wäre? Mehr noch nagte Unverständnis an ihr, wie er sie vom Pfad aus hatte ausmachen können. Waren da Waldgeister mit im Spiel, Feen, die ihm ihr Unterschlupf zuflüsterten? „Reiß dich zusammen!“, befahl sie sich, erhob sich, putzte Laub und Nadeln aus Umhang und Habit, griff nach ihrem halb gefüllten Korb und nahm erneut, mit einem letzten Blick dem Pfad folgend, wieder ihre Arbeit auf.

Kapitel 2

Spät war es. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Isa die Klosteranlage erreichte. Sie war müde. Der Zwischenfall mit dem Reiter hatte Kraft gekostet. Jetzt hieß es, das gesammelte Kraut in ihrer Kammer zum Trocken auszubreiten und wie vorgesehen, den größten Teil Bruder Thomas für die nächste Mittagsspeise zu überreichen. Bevor sie die Anlage betrat, vollführte sie das streng einstudierte Ritual ihres auferlegten Selbstschutzes. Indem sie die Schultern straffte, den Kopf anhob und die Ellbogen gegen die Rippen presste, die Lippen aufeinander kniff und den Blick züchtig senkte, richtete sie sich auf, erschien erhaben, unantastbar, ehrerboten. Wer ihr begegnete, schlug respektvoll die Augen nieder. Nie grüßte sie zurück. Sie gab sich den Anschein, durch alles hindurch zu sehen. Mit ihren Sinnen aber nahm sie jede Regung auf, jede Geste, jeden Laut. Ihr war es gleich, ob Benediktiner stutzten, ob Mitschwestern hinter ihrem Rücken verboten Handzeichen austauschten. Sie ließ sich nicht beirren. Bis hierher hatte ihre Art sich zurückzunehmen, ihr mehr als einmal das Dasein gerettet. Zusätzlich zu ihrem kategorischen Gebaren erreichte sie oft, dass man sie in der Folge übersah, sie gar nicht wahrnahm. In der Fülle von Leben in einem Kloster erschien sie als Person schnell wie gar nicht vorhanden. So verbarg sie sich ungestört in ihrer Kammer, den alten Bräuchen des Verarbeitens wichtiger Kräuter folgend, ohne ständig belästigt zu werden. Vor drei Wochen war sie in Paulinzella angekommen. Nach einer langen Wanderung vom Kloster Helfta aus. Ein Schreiben der Äbtissin Gertrud hatte ihr in diesen erhabenen Mauern Einlass gewährt und die schwärende Verletzung eines Benediktiners, die sie behandelte, führte zu dem spontanen Vertrauen des Abtes Gunther. Isa war nicht böse darum, dauerte es doch stets eine Weile, bis man ihr, auf Grund ihrer gewollten Unnahbarkeit, Respekt und Anerkennung auf dem Gebiet der Heilkunde zollte. Wie es die Kunst verlangte, kam sie ihrer Pflicht nach, wenn sie gerufen wurde, tat, was in ihrer Macht stand und bewies sich im Umgang mit Kranken und Leidenden, die zu Hauff Unterschlupf suchten. Ritter wurden gebracht, mit schwärenden Wunden, Reisende mit eitrigen Abszessen, festsitzenden Erkältungen, Kinder mit hohem Fieber. Es gab keinen Tag, an dem nicht ein Sterbender auf die Schwelle Paulinzellas gelegt wurde. Abt Gunther dankte für ihr Erscheinen. Die alte Schwester, mit dem Namen Edith, war im frühen Winter einem schon länger währenden, auszehrenden Leiden erlegen, hatte die Gemeinschaft zurückgelassen, ohne je einer Mitschwester die Kunst der Heilung zu vermitteln. Auch wenn Isa nicht aus freien Stücken nach Paulinzella reiste, war sie froh, hier zu sein. Vielleicht blieb sie, länger als das auferlegte halbe Jahr der Buße. Ins Kloster Helfta zurückzukehren, der Äbtissin reuevoll gegenüber treten, das war augenblicklich nicht Isas Bestreben.

Schon nach den ersten Schritten über den Hof fiel ihr der Rappe auf, der mit gefüllten Satteltaschen und aufrecht gehaltenem Kopf, wie ein Felsen stand. Blauschwarze Augen beäugten sie und das Blähen der Nüstern verriet ihr, dass er Witterung aufnahm. Ein leises Schnauben war die Folge und ein leichter Kopfschwung in ihre Richtung. Hingerissen von der Schönheit und der Eleganz dieses Tieres trat Isa näher, prüfte die Umgebung auf Zeugen. Da sich niemand einfand, streckte sie spontan die Hand nach ihm aus. Glattes, warmes Fell und ein abwartendes Atmen hauchte erhitzt gegen ihre Fingerspitzen. Ein leises Zucken folgte. „Bist du ein Edler?“, flüsterte sie anerkennend und begegnete dem Blick des Tieres. Sie nickte ihm zu, nahm die Hand wieder fort und trat den Schritt zurück, der sie von ihrem ursprünglichen Weg abbrachte. In der stillen Kammer neben der Küche, in der Bruder Thomas und sein Novize Bruder Lucas mit den letzten Vorbereitungen zur Mittagszeit beschäftigt waren, bevor sie zur Sext gerufen wurden, stellte Isa ihren Korb ab. Der untersetzte, des Leibes wohl genährte Benediktinermönch duldete keinerlei Störungen in seinem Refugium. Aber Isa hatte einen schmalen Pfad der Einsichtigkeit gefunden, sie dennoch zeitweise zu dulden. Nicht ohne Stolz führte sie Bruder Thomas Aufmerksamkeit hin zu ihrem Korb. Wieerhofft schnalzte er genüsslich mit der Zunge. Ein dankbares und fast zärtliches Lächeln husche über sein pralles Gesicht. Er vollführte für sie das Handzeichen des Dankes und ließ seinen Daumen zu Bruder Lucas schnellen, der ihr anzeigte, der Junge übernehme ihre Gabe. Der Novize erwartete sie nicht mit ebengleicher Vorfreude. Sein Blick senkte sich scheu errötend in Richtung Steinboden. Seine Hände kneteten zitternd das Tuch des Skapuliers. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Isa blieb aufrecht stehen. Sicher, auf manche Ordensbrüder wirkte sie einschüchternd, aber Bruder Lucas hatte bisher keine Scheu gezeigt. Fragend stand sie vor ihm, hob auffordernd das Kinn, aber er wandte sein Antlitz eindeutig von ihr fort. Womit hatte sie den jungen Novizen vergrault? Ohne eine weitere Geste oder nur einen nächsten Gedanken an ihn stellte sie den gefüllten Korb auf dem breiten, blank geschrubbten Holzbrett ab und rauschte an ihm vorüber in die Stätte ihres Wirkens. Mit Hingabe widmete sie sich ihren Kräutern, sortierte nach der Sext, in der Mittagsruhe, weiter das Inventar Schwester Ediths. Der Tag hatte einen Sinn, auch außerhalb der Buße. Hatte Äbtissin Gertrud wiederholt ausdrücklich darauf bestanden, dass Isa sich in Duldsamkeit und Demut übte, sich im Schweigegelübde schulte, so stellte Isa fest, dass sie sich stets bemühte, ihr diese Tugenden aber nicht in die Wiege gelegt worden waren und, dass sie sich damit auch nach Jahren noch schwer tat. Ihr großes Ziel war ein Leben für die Menschen, die in Not darbten. Sie beschritt diesen Weg, hatte bei Elisabeth von Glauchau, einer weisen, wissenden Frau gelebt, die ihr die Heilkunst lehrte, die ihr beibrachte, wie man Kinder auf die Welt holt und Knochen amputiert, bevor sie nach deren Ableben und auf deren Wunsch hin als Novizin dem Zistenzienserinnenkloster in Helfta beitrat. Es gab kaum etwas an Leid und Unbill, das Isa bis dahin nicht gesehen hatte. Mit den Jahren nach der Professur und den strengen Riten ihres Ordens, gab es kein weltliches Mitleid, Bedauern, Trauer und auch keinen Dank an sich selbst mehr. Es zählte nur die Liebe zu Gott allein, Askese, Schweigen, Demut, Selbstgeißelung. Nach dem Komplet, in dem die Psalmen des Donnerstags, so heiß geliebt und erbeten von ihr, sich wie Perlen an einer Schnur halblaut in einem harmonischen Gesang vorgebracht und verinnerlicht wurden, war es grabesstill. Die Abtei begab sich zur Ruhe. Isa zog sich in die ihr zugesprochene Kammer des Schlaftraktes zurück. Allein eine Holzpritsche hatte die karge Einrichtung gefüllt, bevor sie sich einen Schemel und ein Tischchen erbot. Ihr blieb ein wenig Platz sich auf der Stelle, um die eigene Achse zu drehen. Wenn sie aus dem tief in der Mauer eingelassenen Fenster schaute, stellte sie sich auf die kleine Bank. Der Blick über jetzt schwarze Baumwipfel und einen durch Wolken durchzogenen Sternenhimmel ermunterte sie. Die Nachtruhe schien nah. Eine mitgebrachte wassergefüllte Schüssel und das Leinentuch für die abendliche Waschung lagen parat. Die Zeit des Abendrituals war gekommen. Aufatmend schob Isa den innen liegenden Riegel der Tür schabend ins Schloss, warf erleichtert den Kopf in den Nacken und entspannte leise stöhnend Muskeln, die den ganzen Tag ihre Haltung garantierten. Sorgsam hob sie ihren Schleier, öffnete die Bänder der Haube und zog sich den dünnen Leinenstoff vom Kopf. Das blonde, streng gebundene Haar darunter wurde aus festen Stricken befreit und trudelte schwer den Rücken hinab. Das weiße Skapulier landete unsanft auf der Bettstatt. Erleichtert fuhr sich Isa durch die lockeren Strähnen, befriedigt. Dieser Tag war gelebt. Das Zingulum fiel auf den Boden. Der weiße Habit folgte. Zitternd tauchte sie die Hände in das reinigende Wasser, benetzte Gesicht, Hals und Nacken und schlug das überschüssige Nass in die Schüssel zurück. Sorgsam tupfte sie die kalte Haut ab, wiederholte den Vorgang, nahm sich ein kleines Stück Seife, dass man ihr in der Siede überließ und reinigte sich mit flüsternden rituellen Psalmen von den vielfältigen Ereignissen des Tages. Sie verbarg den klammen Körper mit ihrem Habit, bettete sich, starrte an die Kammerdecke, an der die Kerze sanft Schatten tanzen ließ. Leise surrten alte Gedanken durch ihren Kopf, Fürbitten und wieder die Psalmen des Komplets schlossen sich an, bevor sie die sich ausbreitende Wärme genoss und in einen leichten Schlaf fiel.

Kapitel 3

Das knirschende Geräusch, der von vielen Händen abgegriffenen Klinke seiner Kammer im ersten Stock des Schlaftraktes, schreckte Bruder Lucas aus dem Halbschlaf. Sofort hell wach, kniff er gleich darauf die Augen wieder zu, in der Hoffnung er hatte sich verhört. Sein junges Herz pumpte augenblicklich und ungebremst das Blut durch seine Adern. Er lauschte nach weiteren Geräuschen, aber der innere Tumult und die aufkeimende Angst ließen keinen Sinn mehr dafür frei. Schützend betend, raffte er die Hände mit dem Stoff seines Habits vor der Brust zusammen und begann ein lautloses Bittgesuch. Ein kaum wahrnehmbares Rascheln folgte, näherte sich. Aus Angst, ein Schrei löse sich von seinen Lippen, biss er schmerzhaft tief hinein, wollte aufheulen, aber die Furcht vor dem, was ihn unweigerlich erwartete, hinderte ihn. Er hätte nicht einschlafen sollen, schalt er sich. Er hatte doch wach bleiben wollen. Hatte so inständigst gebetet. Angst rauschte durch seinen Körper, pumpte Erinnerungen der letzten zwei Nächte durch seinen Kopf und ohne, dass er etwas dazu tat, surrte das verräterische Ziehen in seinen Lenden. Wieder und fester kniff er die Augen zu. Die Schwärze in der Kammer gab unmöglich Umrisse preis. Eine innere Stimme, ließ ihn schützende Psalmen stammeln. Sie mischte sich mit Bildern, ungesehen, wahrhaftig, allein nur durch seine Fantasie hervorgebracht. Die zu erwartenden Gefühle brachten sie zum Verstummen. In Bruder Lucas formte sich das Abbild eines agilen Mannes, mit fester Hand, straffen, heißen Muskeln, harten Lippen und schon löste sich ein ersticktes Stöhnen von den seinen. Das Pulsieren seiner Lenden verstärkte sich, umso länger es still blieb. Im nächsten Augenblick erwartete er eine erste Berührung. Sofort versteifte sich sein Glied, schnellte aufrecht und erschrocken versagte ihm der Atem. All sein Flehen, all sein Beten schien ungesagt, jede Bestrafung, die er für sich aussuchte, nicht hart genug. Seine Tür hatte jemandem Zutritt gewährt und nun musste er die grausame Schmach, diese unaussprechliche Sünde, diese genüssliche Sehnsucht wieder durchleben. Dezent ließ man sich auf der Kante seiner Pritsche nieder. Eine kalte Hand legte sich auf die seinen so fest ineinander gekrallten. Zerrend wurde nachhaltig um Lockerung gebeten. Lucas gab nach. Zärtlich wurden seine verkrampften Finger aufgenommen und bevor sich die Szene in seinem Kopf zu Bildern formte, fand er die weiche Härte eines männlichen Gliedes, steif und pulsierend. Der Geruch des Mannes, sauer, schwitzig, nach Tinte und Kerzenwachs, ließ die Härchen auf Lucas Haut aufrichten. Es schüttelte ihn. Mit harter Bestimmtheit wurde seine Hand um das Glied gelegt, gepresst und abwärts geschoben. Dem folgten sein hörbares Japsen und eine nächste körperliche Reaktion. Wieder wurde er zum Kontakt genötigt, fester. Er presste, schob. Seine Hand wurde fortgenommen, in die Nähe seines eigenen Gesichtes gehoben. Jemand griff nach seinem Zeigefinger, der suchend an seinen Lippen Einlass forderte. Ruckartig wurde ihm seine Fingerspitze in den Mund geführt, mit Speichel benetzt, der sich sammelte und wieder weggezogen. Er wurde geleitet, über eine muskulöse Brust, stieß gegen Eisen und wurde mit kreisenden Bewegungen an die Erhebung einer Brustwarze gepresst. Er schluckte trocken. Ein Ekelschauer ließ ihn würgen. Nur einen Augenblick später nahm man seinen Finger und presste ihn auf die Kerbe der runden blanken Eichel. Lucas kannte diesen Teil der Männlichkeit. Die Spitze seines eigenen Gliedes war ihm vertraut und er wusste wie dieses verbotene Körperteil bei Tageslicht aussah, wenn es rosa und empfindlich pulsierte. Er vermochte es nicht anders, er stöhnte auf, fand diese Berührung alles beherrschend. Eine schnelle Bewegung vor ihm, dann über ihm. Seine Hand umschloss den schweren Phallus, wurde er in die Strohmatratze gedrückt. Sein Kopf landete hart gegen die Wand. Der wendige Mann ließ ihm keine Chance zur Flucht. Straffe Schenkel zwängten ihn seitlich ein und ein fester Körper richtete sich dämonisch in der Finsternis vor ihm auf. Lucas schwanden die Sinne. Sein Atem setzte aus. Sein Gemächt pulsierte. Er schluckte trocken, aber er verhinderte nicht, dass sein Zeigefinger wie von selbst um die fremde Eichel kreiste. Mit einem harten Halt im Haar wurde dem ein Ende gesetzt. Unmissverständlich war die Nötigung, denn das Glied richtete sich jetzt gegen ihn, gegen sein Gesicht. Eisern blieb der Griff. Lucas ertrug mit angehaltenem Atem, wie sich der Phallus an seinen Wangen rieb, seine Nase umstrich. Er roch Körperausdünstungen und Urin und eine Gänsehaut voll Ekel überzog seinen Rücken. Lucas Körper zitterte, es war kaum noch Panik. Wollust mischte sich hinein, schelmisch wie der Teufel. Er lausche seinem schweren Atem. Immer intensiver rieb sich der harte Schaft an ihm. Eine weitere Hand zwang ihn, den Phallus zu umfassen und der Bewegung entgegenzusteuern. Seine Scham schob er in unerreichbare Welten. Hier und jetzt war er ausgeliefert und die höhere Macht, die ihn trieb, war die Sünde in ihm selbst. Er ergab sich, ließ sich führen, ließ ihn hart zugreifen, derweil sein Körper rhythmisch zuckte. Ein Keuchen war zu hören. Lucas Kopf schlug wieder gegen die Wand, der Phallus direkt vor ihm erzitterte und etwas traf ihn heiß und spritzig ins Gesicht, bei jedem Schub … gegen die Wange, … gegen das Kinn, … auf der anderen Seite. All das nahm er auf, zusammen mit dem erlösenden, leisen, gutturalem Schrei des Eindringlings. Die Hand hielt seinen Kopf, der Griff ließ etwas nach. Die entspannte Schwere männlicher Arme, erdrückte ihn. Dann wurde über sein Gesicht gestrichen, Feuchtigkeit verteilt, verschmiert und dem folgte ein harter Griff um seinen Hals. Ihm wurde kalt. War das eine Drohung? Der Halt im Haar löste sich und mit einem erleichterten, aber unbefriedigten Zittern, erschlafften seine Muskeln. Dann wurde er sich seines Gewandes beraubt. Die Kälte kroch ihm die Beine hinauf. Er sann einer Hand nach, die an den Innenseiten seiner Schenkel aufwärts strich. Oh, Lucas wusste genau, wie ihm jetzt geschah. „Jesus!… Ewiger Vater“, flehte er hastig. „Nein!… Nein, bitte, bitte nicht! ... Bitte nicht!“ Er versuchte seine Scham mit den Händen zu bedecken. Aber sein Flehen rettete ihn nicht vor Gelüsten, nach denen sein junger Körper lechzte. Fast am Rande des Bewusstseins verstand er, worin das Ziel lag. Ein spitzer Schrei entwich ihm, als der Mann ihm, nicht wie in den Nächten zuvor, als seine Hand sich hart und unbarmherzig um sein Glied schlang und es drückte, massierte, bis er einer Ohnmacht nah kam, sein Körper völlig kollabierte und das so streng gehütete Geheimnis einfach so aus ihm heraus pulsierte, über fremde Hände spritzte und ihn so beschämt zurückließ, dass er hätte in der Hölle versinken wollen. All das war ein finsterer Traum, all das, war so profan gegenüber dem, was er ertrug. Die unbarmherzigen Finger waren wieder da, umfassten sein Glied, das aufrecht in praller Härte schmerzte. Noch immer hörte er sich leise klagen, wimmern, flehen. Es klang nach unfassbarer Angst, nach unsäglicher Scham, aber er fühlte nur ein: „Hör nicht auf, hör nicht auf!“ Etwas Warmes, eng wie ein Ring, legte sich um seine Spitze und dann, mit einem Heulen aus seinem eigenen Mund, saugte sich dieser Ring gefolgt von einer heißen Enge um seinen Schaft. Lucas bäumte sich auf, verlor den Halt, wurde auf die Pritsche zurückgestoßen, prallte wieder schmerzhaft gegen die Wand. Der Sog an ihm wurde stärker, tiefer, verharrte. Etwas bewege sich, umgurrte die zarte Haut, die so empfindlich alles weitergab. Und dann, er meinte, seine Fantasie spiele ihm Streiche, ahnte er, dass das ein Mund war, der ihn in voller Fülle aufgenommen hatte. Zähne schoben sich lustvoll schmerzend auf und ab. Eine Zunge umschlängelte seine Spitze. Lippen umschlossen ihn. Der Sog war kaum zu ertragen. Ein heißes Kribbeln im Rücken zeigte die Drangsal und die Schmach an, die ihm kurz bevorstanden. Eine der Hände glitt an seinem Gemächt herab, knetete es. Lucas schrie auf, biss die Zähne aufeinander. Seine Finger suchten Halt, fanden ihn in einem fassbaren Haarkranz außerhalb einer rasierten Tonsur. Er griff hinein, zog daran, wollte nicht mehr, …wollte mehr. Er war am Ende jedes Glaubens, am Ende seiner Vorstellungskraft, am Ende von Enthaltsamkeit und Schamgefühl angekommen. Er stöhnte leise rhythmisch, sobald der Mann sich über ihn senkte, warf sich ihm entgegen. Die Hand unter ihm glitt tiefer, in die Spalte zwischen seinen harten Pobacken. Er spreizte wie von selbst die Beine. Ein Finger schob sich forsch in seinen Mund und heraus. Er vermochte es nicht anders. Er schloss die Lippen darum und saugte, fast genauso fest, wie an ihm gesaugt wurde. Dann entriss der Mann sich, nahm seine Hand fort, führte sie wieder unter ihm, zwischen die Pobacken, in den engen Spalt, glitt daran entlang. Lucas schwanden die Sinne. Er warf den Kopf in den Nacken, entspannte die Muskeln, wollte alles und alles fühlen, alles erwarten, alles erleben. Derweil der Finger in ihn glitt, schluchzte er auf. Jammerte, jaulte leise wie ein Kind. Die vielen Empfindungen barsten, hoben ihn in die Höhe. Er schrie und weinte und meinte, den Verstand zu verlieren. Dann explodierten Blitze vor seinen Augen, alle Kraft sammelte sich in seiner Mitte. Ihm lief der Speichel im Mund zusammen. Mit einem wahren Schmerzensschrei ergoss er sich, zuckte. Der Finger in seinem Rektum glitt heraus. Eine Hand drücke schmerzhaft seine Hoden. Der Mund um ihn nahm mit zuckenden Bewegungen seinen Erguss auf, der nicht enden wollte. Bebend erschlaffte Lucas auf der Pritsche und mit der letzten Welle schauderte die Kälte über seine Nacktheit. Matt blieb er liegen. Ihm schwand die Kraft. Sanfte Bewegungen über ihm holten ihn aus einem Halbschlaf. Lippen näherten sich seinem Gesicht. Oh, ja, wimmerte es durch sein erschöpftes Hirn: „Küss mich!“ Er öffnete die seinen, ließ einen harten Mund sich gegen ihn schmiegen. Etwas Heißes, Dickflüssiges floss ihm hinein. Eine Zunge folgte drängend. Sie wand sich um die seine. Er schluckte. Es schmeckte metallisch, samten. Er schluckte noch einmal. Wie zum Abschied nahm der Mann sein Kinn in die Hand, umfasste es hart, glitt mit ausgestreckter Zunge über seinen Mund, seine Wangen. Dann ließ er los. Ließ ab von ihm. Lucas griff nach ihm. Seine Hände strichen über nackte Haut. Der Platz zwischen seinen Schenkeln wurde kalt. Ein Rascheln folgte. Sodann das knirschende Geräusch seiner Türe. Im sachten Licht erkannte er einen schlanken, geraden Körper. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Kapitel 4

Schon beim ersten zarten Glockenschlag zur zweiten Stunde des Tages, dem Ruf zur Matutin, war Isa wach. Sie gestand sich zu, sie hatte geträumt, tief und fest geschlafen und das, an das sie sich erinnerte, war nichts für gottesfürchtige Gedanken. Gern wäre sie den sich verflüchtigenden Bildern gefolgt, aber die Zeit, die ihr verblieb, bis sie den Chor erreichte, war zu knapp. Sie nahm sich vor während des Stundengebetes dessen tiefer nach dem Grund zu forschen. Sie verbannte das Haar ordentlich unter dem Schleier, band sorgfältig das Zingulum so, dass die vier Endknoten herabhingen, und warf sich das Skapulier über den Habit. Dass ihr die schwarzen Augen des majestätischen Rappen dabei folgten, nahm sie hin. Auf lautlosen Sohlen schritt sie durch finstere, nachtfeuchte Gänge, zwei Etagen hinab über den kiesbedeckten Hof. Weitere Schwestern reihten sich vor ihr ein oder schlossen sich an. Alle nahmen im Schwung ihrer Gewänder den gleichen Weg. Sie hielten die Köpfe gesenkt, benommen vom Schlaf. Im Chor der Klosterkirche brannten die drei Kerzen zur Mette. Auf der einen Seite im Langschiff versammelten sich die Mönche und Nonnen verschiedenster Orden, die sich zur Buße oder als Gäste in der Abtei aufhielten. Auf der anderen Seite der Abt, sein hochrangiges Gefolge und die Mitbrüder und Mitschwestern. Es lag eine seltsame Stimmung unter den Gläubigen, in dessen Schweigen hinein Abt Gunther das Vaterunser anstimmte. „Pater noster, qui es in caelis…“ Isa murmelte im Gleichklang der Anwesenden das Gebet mit. Es dehnte sich aus, über eine längere Version des Glaubensbekenntnisses der Benediktiner, hin zu Psalmen, die Isa lieber hörte, bis zum Lobgesang und dem hingebungsvoll vorgebrachten Segen des Abtes. Zwischen den einzelnen Psalmen, die Isas Lippen wie eine Beschwörung verließen, irrten ihre Gedanken zurück. Wieder sah sie sich zärtlich über die atmenden Nüstern des Rappen streicheln, sah, wie sie sich veränderten. Ihre Hand verschwand in den Tiefen einer dunklen Kapuze, strich über stoppelige Haut. Sanfte, seltsame Worte surrten durch ihren Kopf, fremd und doch vertraut. Sie strich über ein markantes, bärtiges Kinn, berührte weiche Lippen. Sie verhaspelte sich, hüstelte ablenkend. Die Nachbarin zu ihrer Linken rügte sie mit einem Seitenblick, aber Isa reagierte nicht darauf. Sie war froh, dass niemand in der Finsternis ihre geröteten Wangen sah. Wie gelang einem völlig Fremden Zugang zu ihren Träumen? Saß der Schreck über die seltsame Begegnung so fest in ihrem Kopf, dass er solchen Spuk mit ihr trieb? Diese Frage ließ sie nicht los und das Bild ihrer Hand, die in liebevoller Manier fremde Lippen berührte, wiederholte sich, wann immer sie sie verbannte.

Abt Gunther fand heute kein Ende des Vigiles. Stundenlang folgte eine Antiphon der Nächsten. Es war, als sangen sich manche Brüder und Schwestern in einen wahren Rausch. Etwas, was Isa leider nicht nachvollziehen konnte. Sie nutzte die Rezitation der Psalmen, um ihre eigenen Gedanken fließen zu lassen, heimlich in der Gemeinschaft umher zu schauen und die ihr gegenüber Sitzenden zu beobachten. Inbrünstig mit geschlossenen Augen folgte der Abt den rituellen Gesängen. Neben ihm kniete Bruder Peter von Erfurt, der Cellerar und Kellermeister der Abtei, dem Isa bei ihrer Ankunft eine Kerze der Äbtissin und ein Geleitschreiben überreichte. Er war ein Mann voller Geheimnisse, ein Verschlagener, der dem Kloster zu seinem wachsenden Reichtum verhalf. Isa hegte nach den vergangenen Wochen eine leichte Antipathie gegen ihn, obwohl er kraftvoll aufrecht, bemerkenswert erschien. Er verhielt sich nie weinselig, hatte aber dennoch eine gelbliche, ungesunde Hautfarbe, die auf ein Leberleiden schließen ließ. Er war jüngeren Alters, schien deshalb und wegen seines ergrauten Haares weitaus reifer. Sie verabscheute seine wieselhaften Augen, die, als wollten sie nichts verpassen, unstet umher huschten. So auch jetzt. Gab er sich den Anschein mit geschlossenen Lidern zu singen, zuckten seine Blicke durch einen schmalen Spalt über all die zu Büßenden hinweg, die ihm gegenüber saßen. Auch an ihr blieb er haften. Aber statt sich seiner ungerechtfertigten Bemessung zu beugen, starrte ihm Isa offen ins Gesicht. Sie tat es so, wie es ihre Art war, aufrecht und furchtlos, obwohl ihr nach wenigen Sekunden der Magen flau wurde. Mit einem demütigen Zurückzucken war Bruder Peter der Erste, der diesen Schlagabtausch verlor. Isa befriedigte es und sie sang weiter mit gesenktem Blick, nur, um zu beweisen, wie einträchtig und gottesfürchtig sie der Andacht folgte. Später hatte der Abt ein Einsehen und beendete die Mette mit einem Schlussgebet und seinem inbrünstigem: „In nomine Patris et Filii et Spiritus Sanctus“, das die gläubigen Brüder und Schwestern wieder in ihre Schlafsäle und Kammern entließ. Wie so oft war Isa nach der Mette hellwach. Sich jetzt in Müßigkeit zu üben, nein, das war ihr gar nicht wohl. Ihre Gedanken kreisten nur unnütz. Sie entschloss sich zu einem frühen Gang in ihre Kräuterkammer und zu den Kranken, die in einem weitläufigen Infirmarium untergebracht waren. Dort ging ihr seit einer Woche eine junge Benediktinernovizin mit dem Namen Eva, kaum vierzehnjährig und gottesfürchtig wie ein Lamm, zur Hand. Bis zur Laudes war genügend Zeit. Isa deponierte Salben in ihrem Korb. Leinenstreifen folgten. Kleine Fläschchen mit Tinkturen legte sie hinzu. Obendrauf das Kreuz Jesu, das jeden Kranken schützen und sie uneingeschränkt erfolgreich ihrer Caritas folgen ließ. Bevor sie ihre Kammer verließ, prüfte sie ihr Erscheinungsbild. War der Haarzopf sicher verborgen? Sie zupfte am Tuch ihres Schleiers, stabilisierte ihren Körper zu einem strengen Auftreten und sog unbeirrt den Atem ein. „Wünsche einen angenehmen Tag!“, murmelte sie, wissend, bis sie nach der Vesper wieder in ihrer Kammer war, würde sie sich kein einziges weltliches Wort sprechen hören.

Wie dankbar war sie wenig später, dass sie so früh den Weg zu den Kranken auf sich genommen hatte. Einer der Männer, die sich zwei Tage zuvor gegenseitig bis an die Pforte der Abtei schleppten, war in einem jämmerlichen Zustand. Isa hatte dessen schwärende Wunde am Bein gereinigt, dabei verboten, dass Schwester Eva sich beim Anblick der Maden, die aus ihr krochen, übergab und sie ermuntert, dem Manne das Holzstück im Munde zu halten und sich darin zu verbeißen. Sie hatte die Wunde später, als sie mit sauberem Wasser ausgewaschen war, mit einem Leinentuch bedeckt. Durch dieses ließ sie ihre Tinktur träufeln, eine Mischung aus Kamille, Salbei und Brennnessel. Nun lag er im Fieber, seine Muskeln krampften und die Novizin beschrieb, er sei vor der Mette in diesen Zustand gefallen. Isa untersuchte ihn gründlich, fragte Schwester Evas Wissen ab, gab ihr Anregungen und vermutete, seine Ankunft in der Abtei war für ihn wenige Stunden zu spät erfolgt. Sie ließ Schwester Eva mit einem Sud zurück, der die Schmerzen lindern und den Mann in einen Dämmerzustand versetzen sollte, damit sich sein Tod schlafend einstellte. Er war der Einzige ihrer Kranken, dem sie seit dem gestrigen Tag nicht hatte helfen können. Das ärgerte und beschämte sie mehr, als das sie zeigte. Es war so, als wolle Schwester Eva fragen, ob ihr das Schicksal des Mannes gleichgültig sei. Da sie aber nur heilkundliche Gespräche führten, hielt sich das Kind an ihr Gelöbnis und fragte nicht weiter. Isa floh über den Hof in ihre Kräuterkammer, fiel dort flehentlich auf die Knie und sprach gen Himmel, wo sie „ihre“ heilige Heilerin Elisabeth von Glauchau wähnte. Sie klagte sich an, schimpfte über ihre Machtlosigkeit und verzieh es sich nicht, den Kranken nach der Vesper nicht besucht zu haben. Was nutzte es, Schwester Eva die Schuld zu geben? Sie vermochte den tragischen Verlauf dieser Verletzung nicht einschätzen. Isa schon, denn Elisabeth von Glauchau hatte ihr jeden Zustand des Wundkrampfes verdeutlicht, ihr minütliche Veränderungen aufgezeigt, sowohl bei der Verbesserung des Zustandes eines Verletzten, als auch in dessen Verschlechterung. Die Wunde nässte nicht mehr und ein neuer Verband hielt das offene Fleisch bedeckt. Dieser Patient war dem Tode geweiht. Seine Verletzung hatte er sich in einem üblen Kampf zugezogen. Aber, dass sie ihm nicht helfen konnte, dass entwickelte sich zu einer tiefen Scham.

Als dann inbrünstig gegen vier Uhr die Laudes gelesen wurden, vergaß sie sich in den Antiphonarien. Nur hier hätten aufmerksame Beobachter, wie Bruder Peter von Erfurt, erkennen können, dass ihr Weltbild schwankte, aber der wurde inmitten des Gebetes von einem Novizen aus dem Chor befohlen, folgte und in Isa setzte sich ein Freigefühl fest. Am Ende der Laudes schwor sie sich dann, sollte wieder ein Patient als unrettbar geweiht, am Rande des Todes zu ihr gebracht werden, würde sie ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Innerlich wiederholte sie unerbittlich den neu formulierten Leitspruch. Dieses tat sie so hingebungsvoll wie schon lange nicht mehr, bis die Glocken zur Terz riefen.

*

Wie bei jedem seiner Besuche, bekam er aufrichtig erfreut vom Abt des Klosters, eine Audienz, ohne lange zu warten. Die letzte Vormittagshore war beendet worden und der beleibte, etwas untersetzte Gunther betrat, gefolgt von Bruder Peter das Abtszimmer neben der Klausur, in das man ihn geführt hatte. In dessen Kamin brannte ein wärmendes Feuer. Sie begrüßten einander mit wohlgefälligen Worten und Verbeugungen. Seit seinem letzten Besuch war der Winter durchs Land gezogen. Er hatte sich zuvor in den Süden, in die Nähe von Bologna begeben, war seinen Studien gefolgt und nun auf der Weiterreise. Der Cellerar verfolgte seine Erzählungen, fragte, für ihn zu oft, schon lästig oft, nach einer Spende für seinen neuen Altar. Er gestattete ihm keine Zusage, bat um Verständnis, da sein Reisebudget bis auf ein paar Hohlpfennige zusammen geschmolzen war. Die benötigte er dringend bis zu seinem nächsten Ziel, dem Herzogssitz auf der Schwarzburg, wo er für den Sommer ein Arrangement angenommen hatte. Er versprach mit einer ehrerbotenen Verbeugung gegen Bruder Peter das Nachholen dieser Spende. Unterbrochen, von einem jungen scheuen Benediktiner unterbrach er seine Reiseberichte erneut, lauschte, einem seltsamen Vorkommnis, welches sich auf dem Hof vor dem Torhaus abspielte. Der Abt diskutierte wispernd mit dem Cellerar. Schließlich bat Gunther ihn, als jemand Kompetenten, nach dem Rechten zu sehen. Er lief, etwas verärgert, dem Benediktiner und dem Kellermeister nach, durch die Klausur, dem Langschiff der Kirche folgend, bis hinaus auf den Hof. Auf dem langen Wege zum Torhaus, sah er, wie ungünstig für Bruder Peter diese weitere Unterbrechung kam. Dessen Kiefermuskeln malmten hart und die Adern an seinen Schläfen traten bläulich hervor. Er erkannte, nachdem Bruder Peter auf eine Gruppe von Ordensbrüdern und ein Ochsengespann zeigte, wieder davon eilte, dass dem die Situation, die es zu beherrschen galt, nicht behagte.

Kapitel 5

 

 

Später erhob sich Isa, gestärkt und entschlossen. Sie folgte ihrem neuen Ritus und gesellte sich zu Schwester Eva ins Infirmarium. Gemeinsam begleiteten sie den Söldner durch seine Fieberträume, tupften unablässig den Schweiß von der Stirn und hielten ihn standhaft, wenn die Muskeln unkontrolliert krampften und der Atem abflachte. Schwester Eva sah mitgenommen aus. An ihr ging der Krankheitsverlauf nicht ohne Mitgefühl vorüber. Gemeinsam beteten sie am Fuß des Sterbenden. Es waren keine Gebete zur Rettung mehr, sondern der Wunsch, der arme Mann dürfe frei von Sünden den letzten Atemzug tun. Mitten hinein klopfte es an der kleinen Pforte zum Infirmarium. Isa bat Schwester Eva mit einem Wink und diese öffnete geräuschlos den Spalt zum Vorraum. Wie erstaunt war sie, als sie Bruder Peters fistelige Stimme vernahm. Er flüsterte und Eva stimmte kurz zu. Sie öffnete die Tür so weit, dass Isa den Ordensbruder sehen konnte. Ein Fingerzeig von ihm genügte und sie erhob sich beflissen. Der Gesichtsausdruck des Cellerars war ernst und seine Gesichtsfarbe noch elender als sonst. Erst als Isa neben ihn auf den Flur trat, flüsterte er: „Labia mea aperis et os meum annuntiabit laudem tuam! Bitte beende dein Schweigen!“ „So Gott es befielt!“, entgegnete Isa, obwohl ihr nicht klar war, was so wichtig schien, dass ein Benediktiner ihr Schweigegelübde zu unterbrechen verlangte. „Man erwartet euch und euren fachkundigen Blick im Torhaus. Dort fiel jammernd eine Familie aus dem Dorfe ein, als Begleitung für ein junges Mädchen, welches auf grausame Art wohl zu Tode kam. Sie verlangen nach einer wissenden, geweihten Frau, obwohl bereits ein Medicus, der zufällig als Gast im Kloster weilt, nach ihr sehen wollte.“ Isa rümpfte leicht die Nase. Bei dem Wort „Medicus“, überzog sich ihre Haut ungewollt mit einem Schauer von Abscheu. „Hat man den Leichnam bereits untersucht?“ Bewusst flüsterte sie, wollte dem Cellerar um keinen Preis das Volumen ihrer Stimme darbieten. Sein Eindruck von ihr genügte ihr bis hier her völlig. „Der Bauer lässt niemanden an das Mädchen heran.“ Isa seufzte. Somit hatte sie jetzt bereits drei Probleme. Einen hysterischen Vater, eine tote Tochter und einen reisenden Scharlatan. Ein viertes Problem kam hinzu, falls Bruder Peter ihr den Zutritt verweigerte und ihr nur zugestand, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. „Ist es euer Wunsch, dass ich mich dessen annehme?“ „Nein! Dieser Mensch macht Aufruhr. Er ist der Dorfvorsteher. Er pocht auf das Recht das Kind von einer Nonne salben zu lassen. Beruhigt ihn. …Dann soll er gehen.“ „Ich sehe, was ich tun kann!“, entgegnete Isa, wartete nicht auf eine Antwort des Cellerars und lief vor dem Benediktiner her. Sie sah nicht, wie sich die ungeduldigen Augen Peters verengten. Er folgte ihr mit etwas Distanz. Der Weg zum Torhaus, das als Barriere für die Abtei zur Außenwelt galt, führte sie erst durch das Treppenhaus des Infirmariums, dann hinaus auf den weitläufigen Hof. Mit lauernden Blicken im Nacken eilte Isa über den knirschenden, getrockneten Matsch des Wirtschaftsbereiches. An der Pforte des Torhauses erhoben sich wütende Auseinandersetzungen, der man nicht Herr wurde. Jemand rempelte und ein Benediktiner schlug getroffen zu Boden. Isa rang gewappnet nach Atem und trat entschlossen in die Runde. Diese bestand aus einem bulligen Mann in bäuerlicher Kleidung und mit einer Heugabel bewaffnet, die er drohend über den Mönch am Boden hielt, einer Frau, die sich geduckt hinter ihm, mit einem schmutzigen Tuch das Gesicht verbarg, Tränen abwischte, sich schnäuzte und sich angstvoll abwandte. Hinter den beiden stand ein Heukarren mit einem geschirrten Ochsen. Entschlossen griff Isa nach dem Benediktiner, der sich sofort schutzsuchend an sie klammerte, mit irrem Blick und ausgestrecktem Zeigefinger auf den Bauern zeigte und unartikuliert Worte stammelte. Mühevoll half sie dem Ordensbruder auf die Beine, ignorierte die Anspannung um sich herum und scheuchte den Geistlichen mit einem Fingerzeig, die Situation zum Hof hin zu verlassen. „Hinweg mit dir, du Pfaff!“, geiferte der Bauer ihm höhnisch nach. Die Adern an dessen Schläfen und Hals quollen dabei hervor. Auch sonst schien er wuterprobt und kampfbereit. Sein Gesicht schwoll zornesrot und frische, tiefe Schrammen auf Wangen und Hals intensivierten den unbeherrschten Eindruck von ihm zusätzlich. Isa streckte mit einer ermahnenden Geste die Hand gegen ihn aus und erreichte, dass das Wutgeheul und der hasserfüllte Blick dagegen prallten. „Fassen Sie sich!“, befahl sie streng. Sie wiederholte ihren stummen Befehl und der Bauer ließ die Forke halb auf den Boden sinken. Ihre unnachgiebige Haltung verunsicherte den Mann. Er maß sie von Kopf bis Fuß. „Ich werde ihnen helfen!“, erklärte sie und verlangte im gleichen Atemzug nach der Heugabel. Es dauerte einige Augenschläge und ein vorsichtiges Abtasten folgte. Isa schwieg standhaft mit ausgestreckter Hand. Als der Bauer ihr zögerlich den abgenutzten Stiel entgegenhielt, griff sie danach und ließ die Gabel auf den Boden schlagen. Ohne Worte raffte sie ihr Ordensgewand und strebte zur Tür des Torhauses. Bruder Peters schrille Stimme gebot ihr Einhalt. Er wich, von ihrer entschlossenen Reaktion betroffen zurück.