ERL - Die Beschwörung - Axel Gasché - E-Book
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ERL - Die Beschwörung E-Book

Axel Gasché

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Beschreibung

»Obwohl Tom der Jäger war, kannte Morten den Kolm besser und verstand es mit seltsamer Hellsicht, wenn der Wald von dem Gesetz der Tiere und dem Recht von Borke und Buche sprach.« Tief im düsteren Kolm sind nur wenige Menschen zu finden. Abgelegen und von der Außenwelt abgeschnitten, leben sie dort nach den Regeln des unwegsamen Waldes. Als Morten eines Tages ein seltsames Buch auf seiner Türschwelle findet, scheinen sich die finsteren Pfade des Kolm plötzlich für ihn zu verändern. Schnell erkennt er, dass zwischen den Seiten viel mehr zu finden ist als eine historische Abhandlung. Denn das dunkle Werk offenbart eine uralte Beschwörung. Gemeinsam mit seinem Freund Stan macht sich Morten daran, die Geheimnisse des Rituals zu lüften. Doch als sie feststellen, dass der Weg zum Erfolg weitaus mehr erfordert, als sie geahnt haben, gibt es längst kein Zurück mehr. Zudem sind sie nicht die Einzigen, die ihn rufen wollen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn der Erlkönig ist unerbittlich – und sein Preis ist hoch … Düstere Fantasy wandelt auf den Pfaden menschlicher Abgründe – die Ballade des Erlkönigs neu interpretiert.

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Impressum

Inhaltswarnung

Widmung

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Danksagung

Autor

Impressum

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

[email protected]

www.gedankenreich-verlag.de

ERL - DIE BESCHWÖRUNG

Text © Axel Gasché, 2025

Cover: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Covergrafiken © shutterstock

Innengrafiken © shutterstock

© GedankenReich Verlag, 2025

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich das Text- and Data-Mining nach § 44b UrhG vor, was hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlages untersagt ist.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltswarnung:

Sie zeugen von menschlichen Abgründen und Gewalt.

Düstere Seelen schrecken nicht vor Grausamkeiten zurück,

verlorene Seelen sind blind für das Leid anderer und

verletzte Seelen werden nicht aufgefangen …

Für Ioana

»Was hilft mir nun Feder

und Tint’ und Papier!

Du weißt, die Gedanken

sind allzeit bei dir.«

- Theodor Storm

1

Morten sah dem breiten Rücken seines Vaters aufmerksam nach. Das Jagdgewehr hatte sich Tom über die Schulter gelegt. Sein Oberkörper war von zentnerschwerer Last der ausgeweideten Rehe und dem unbestimmten Leid der Welt zu Boden gedrückt. Er las in den Spuren des vom Regen aufgequollenen Schlamms, murmelte Worte, so versunken, dass er seinen Sohn zu vergessen schien. Dann nickte er knapp und Morten konnte seine schweren Stiefel durch den nassen Untergrund stapfen hören. Ohne Widerworte folgte er Tom tiefer in den Kolm hinein.

Soweit sich Morten zurückerinnern konnte, hatte er seinen Vater als einen Fremdling wahrgenommen. Ein großer dunkler Mann, der zurückgezogen lebte und sich vor dem eigenen Schmerz versteckte. Tom liebte die Jagd nicht, sondern hielt sich an ihr fest. Und je mehr ihm das Leben nahm, je mehr er sich nachdenklich über den Bart strich, desto mehr schien sich sein Vater an den kalten Lauf seines Jagdgewehrs, eines alten Schwedenmausers, zu klammern, als könnte er mit ihm Schmerz und Jahre überdauern.

Als Morten, dem der kalte Wind in den Rachen gefahren war, husten musste, wandte sich Tom zu ihm um. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er funkelte ihn aus unbarmherzigen dunklen Augen an.

»Respektiere die Ruhe an diesem Ort«, sagte er. »Wir sind nur Gäste, die dem Klang der Wälder lauschen. Im Boden, in der Luft, auf den Bäumen. Und immer, wenn wir Glück haben, treibt uns dieser Ort ein Wild in die Arme. Ein Geschenk ist es. So nehmen wir es auch an. Als ein Geschenk.«

Als wäre der Kolm etwas Heiliges, dachte Morten.

Genau so klang sein Vater. Als hätte es sich nicht schon längst in sein Herz gebrannt, wie die frischen Wälder des Kolm und alle Tiere in dem durchmoosten Geäst seinen Geist in Beschlag nahmen.

Tom wandte sich um und schien keine Antwort zu erwarten. Ratlos blickte Morten ihm nach. Es war nicht so sehr Furcht, die Morten empfand, sondern vielmehr tiefes Unverständnis für diesen Mann, der ihn in dem Haus am Waldrand aufgezogen hatte. Denn Morten wusste nie, was dieser Mann dachte, nie, was er eigentlich am Leben hatte. Er hütete selbst das kleinste Geheimnis wie einen Schatz, den doch sonst niemand haben wollte, und vergrub sich in Büchern und Anleitungen, die sonst niemand lesen wollte. Tom stand für sich wie ein verwitterter Stein. Die Flechten und Moose, die sich auf seiner rauen Oberfläche abgesetzt hatten, das war Morten.

Morten verstand nicht, wie sein Vater fähig gewesen war, seinem Wesen zu entkommen, ja sogar den kühnen Schritt nach vorne gewagt hatte, als er seine Mutter zu lieben begonnen hatte. Alles, was Morten verstand, war, dass seine Mutter sie beide zurückgelassen hatte. Und selbst wenn er Tom in Momenten größter Verzweiflung – und dieses Wagnis war er nicht nur einmal eingegangen – um Wissen bat, welches ihm doch nicht weniger zustand als Tom selbst, blieb ihm der Grund unbekannt. Tom, der Jägersmann, schwieg und ließ sein Jagdgewehr nur umso lauter sprechen.

Mit behutsamen Schritten also, ganz von der Strenge Toms in Beschlag genommen, nahm Morten den Tritt auf und folgte ihm tiefer in den Kolm hinein. Die Sicherheit, mit der sich sein Vater seinen Weg bahnte, immer dem feinen, manchmal behutsam tastenden Aufschlag der Hufe hinterher, nötigte Morten Achtung ab. Eine Meisterschaft, egal in welcher Klasse, war Tom nicht abzusprechen. Nie schien er die Spur aus den Augen zu verlieren, nie dort fehlzugehen, wo er sein geschultes Auge auf den Boden gerichtet hatte.

Dann, ohne dass Morten irgendeine Veränderung wahrgenommen hätte, blieb Tom in seiner Pirsch stehen und drehte sich zu ihm um. Seine Lippen zogen sich zusammen, als er Morten den Lauf des Schwedenmausers in die Hand drückte und in die Richtung vor ihnen wies.

»Alles Gute, Morten.«

Nur dies. Und der Umstand, dass er seinen Namen so aussprach, als läge das Wort wie zäher Speck in seinem Mund, verblüffte Morten doch nicht so sehr wie das harte Lächeln seines Vaters. Dann, als Morten nicht reagierte, sah er plötzlich eine Angst in Toms Augen aufleuchten, die ihn sogleich beschämte.

»Heute ist dein Geburtstag, oder nicht?«, fragte Tom.

Morten nickte rasch. 16 Jahre waren es, die er trostlos und in der verschwommenen Verschalung eines fernen Glücks im Kolm verbracht hatte.

Ehrfürchtig nahm er den Hinterlader in die Hände und befühlte das kalte Metall. Das alte Jagdgewehr aus Armeebeständen, gut in Schuss und mit glänzendem Lauf, ließ Mortens Mund und jede Geschmacksknospe auf seiner Zunge sich sauer zusammenziehen. Das Gefühl, nun in einer Verantwortung zu stehen und Tom gewiss nicht enttäuschen zu wollen, ließ seine Hände klamm werden.

Tom sah ihn streng an. »Dann also los. Geh voran. Deute die Spuren. Mit ein bisschen Glück wirst du das Wild schon finden.«

»Eine Bache ist’s«, sagte Morten mit einer Bestimmtheit, die er brütend in Toms Schatten gewonnen hatte. In Toms Blick las er Gewissheit, und der Triumph über diese kleine Schelmentat ließ Morten beherzten Schrittes durch den nassen Untergrund schreiten.

Sie folgten den Spuren tiefer in den Kolm. Je weiter sie gingen, desto vollständiger ließ Morten das Gefühl der Beklommenheit hinter sich. Er genoss es, das Tier zu bepirschen und Toms Stärke, die während ungezählter Jagden in das kalte Eisen geflossen war, nun selbst in seinen Fingern zu spüren. Die Stiefel, schwer und pelzgefüttert, sanken tief in den zähen Schlamm und Mortens Backen wurden rot und glühten vor Erregung.

Immer weiter folgten sie dem Wild.

Morten spürte seinen Lauf, den Geruch, den der warme Körper des Tieres im Wald zurückließ und dessen sanfte Nachwehen ihm der Wind in die Nase trieb. Gebeugt, wie ein gestrenger Herr, den Schwedenmauser in beiden Händen vor sich haltend, ließ seine Haltung nichts anderes zu, als sich vor dem Kolm und seinen Tieren zu verneigen.

»Sie hat Frischlinge«, sagte Morten. »Zwei oder drei.«

Im nassen Untergrund sah er nichts anderes als Tom: den einzelnen Hufschlag einer Bache. Doch sie war nicht allein und niemand hätte verstehen können, warum er das sagte. Tom, gewalttätiger Tom, der Vulkan, der ausbrach, wenn sein Magma wirklich den Siedepunkt erreichte, runzelte die Stirn und blickte unwillig in den Matsch vor ihren Füßen.

»Das bildest du dir ein. Da sind die Hufabdrücke der Bache. Nur das. Messe dich an dem, was du siehst, nicht an deiner Einbildung.«

Morten hatte keine andere Reaktion erwartet und das Geheimnis des Kolm ließ ihn schweigen. Kein Widerspruch kam über seine Lippen. Er wusste, dass er recht und Tom unrecht hatte. So klar trugen ihm Wind und Weide das Bild der Frischlinge vor die Augen. Ihre schmale, sich hebende Brust, der schnelle Herzschlag der kleinen Wesen. Obwohl Tom der Jäger war, kannte Morten den Kolm besser und verstand es mit seltsamer Hellsicht, wenn der Wald von dem Gesetz der Tiere und dem Recht von Borke und Buche sprach.

Vorsichtig folgte Morten der Spur der Bache. Er hörte Toms leisen Atem, der sich hinter ihm hielt und vermutlich jeden seiner Schritte kritisch beurteilte. Morten lächelte bitter, ohne sich umzudrehen. Tom war ein Teil seines Lebens. Wenngleich er sich dem Kolm näher fühlte als seinem eigenen Vater, hatten sich dessen grobe Hände, ihre Vertiefungen und Gruben, die Falten seiner Stirn, kurzum, seine Rinde und alles, was ihn in seiner knorrigen Art ausmachte, tief und unauslöschlich in sein Leben eingebrannt.

Für einen kurzen Augenblick hielt Morten inne, das Gewehr an die Brust gedrückt, grimmig, genießend, die Augen geschlossen. Über sich spürte er, wie der kalte Wind einschnitt und in die Häupter der Bäume einfuhr wie ein Wintergeist. Mit klopfendem, triumphierendem Herzen tastete sich Morten in eine Senke voran und sah endlich, was er jagte. Die Bache, die in einiger Entfernung an einem Stück Rinde aste. Ihr mattes Fell hob und senkte sich, während sie sich an der rauen Borke rieb. Die zwei Frischlinge quiekten in ihrem Schatten, äfften mit täppischem Schritt dem Leben ihrer Mutter nach. Still beobachtete Morten, setzte einen Schritt vorsichtig vor den nächsten, ohne darauf zu achten, ob ihm Tom noch folgte und ob der Schlamm an seinen Schuhen klebte.

Der Zweig, auf den er schließlich trat, wurde ihm zum Verhängnis. Obwohl das Geräusch nicht viel kräftiger als der Flügelschlag einer Biene sein konnte, spürte Morten, noch ehe er es sah, dass es ein Flügelschlag zu viel und ein weniges zu laut gewesen war. Die Bache zuckte zusammen und sprang im Schlamm davon, noch ehe Morten den Lauf seines Gewehrs hochreißen konnte. Starr sah er den Nachwuchs der Mutter hinterherrennen, bis die Tiere zwischen dichten Büschen verschwanden.

»Du solltest doch leise sein«, sagte Tom und ein Ton lag plötzlich in seiner Stimme, als hätte er nichts anderes von Morten erwartet.

Doch das war nicht der Punkt von Bedeutung.

»Sie hatte zwei Frischlinge!«, stellte Morten triumphierend fest, der plötzlich erleichtert war, nicht geschossen zu haben, nicht eine Mutter dem Schoß der Natur entrissen zu haben.

Tom nahm den Schwedenmauser an sich. »Nachwuchs oder nicht«, sagte Tom und zuckte mit den Schultern. »Ich werd’ die Bache schießen.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schritt er an Morten vorbei und ging voran.

Morten zögerte, blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren und in der ihr alter Geländewagen parkte. Er wollte nach Hause.

»Es waren wirklich Frischlinge«, flüsterte er Toms Rücken zu. Dann, zuerst widerwillig und dann grimmig, folgte er mit bedachten Schritten.

Sein Vater bewegte sich anders. Schneller, zielstrebiger, doch auch so fließend, als würde er jeden Meter Boden im Kolm kennen. Sie verfolgten die Bache tiefer in den freien Wald hinein.

Plötzlich hielt Tom an, ließ sich auf ein Knie fallen und brachte vorsichtig den Schwedenmauser in Anschlag. Erst als der Schuss fiel, konnte Morten anhand des verzweifelten Todeskampfes und des zappelnden Aufbäumens von Leben die Bache sehen. Er hörte das Quieken, die ungenauen Schritte, bevor der mächtige Bachenkörper schließlich zusammenbrach. Die Frischlinge, die sich zuerst noch zaghaft um die Mutter versammelt hatten, sprengten auseinander, als sich Tom näherte. Der Tod schien ihn sogar noch zielstrebiger gemacht zu haben. Er weidete das Tier an Ort und Stelle aus und ließ den Lebenssaft in die Erde einsickern.

Erst dann, schweigend, der eine triumphierend, der andere grimmig, traten sie den Weg zurück zum Geländewagen an. Sie fuhren, noch immer in schweigsamer Einsamkeit, jeder in seinem eigenen Leben verharrend, nach Hause. Tom summte vor sich hin, zufrieden mit der Lenkung des Wagens, zufrieden mit dem Jagdglück. Rumpelnd fuhren sie die Waldwege ab.

So wenig ist es, dachte Morten. So wenig, mit dem ich bei diesem Mann zufrieden sein muss.

Der sparsame Dank, weil Tom an seinen Geburtstag gedacht hatte und er den kalten Schwedenmauser halten und für eine kurze Weile Jagd hatte machen dürfen.

»Geh jetzt ins Haus, ich kümmere mich um das Schwein«, sagte Tom, als sie ihr kleines Häuschen am Waldrand erreicht hatten.

Es war der Ort, den Morten seit 16 Jahren sein Zuhause nannte. Ein Holzhaus, eine ebenso hölzerne Garage, in die der Geländewagen nur mit sicherer Hand passen wollte. Ein paar Tannen, durch deren Zweige man auf den Saum des Kolm blicken konnte, der sich hügelaufwärts über ihren Köpfen erhob.

Das Schwein. So nannte es Tom. Er trat mit dem toten Wild um das Haus herum und verschwand über eine kleine Treppenzuflucht im Keller. Morten wusste, was es hieß, sich um das Schwein zu kümmern. Er hatte eine Zeit lang immer zugeschaut, selbst wenn er nicht auf der Jagd dabei gewesen war. Das Schlachten des Wildes, es war immer ein gerechter Akt gewesen. Tom hatte es bezwungen und so war es an ihm und keinem anderen, das Fleisch vom Fell, die Sehnen vom Knochen und überhaupt alles nach Brauchtum und mit scharfem Messer zu schneiden und zu verwerten. Morten sah seinem Vater nach.

»Sie hatte zwei Frischlinge«, sagte Morten vor sich hin und als er gedankenverloren auf die Haustür zutrat, sah er, was Tom bis jetzt noch nicht bemerkt hatte.

Dort, auf dem Fußabtritt, lag ein Päckchen, in braunes Papier eingeschlagen, neben die Tür gelehnt. Morten blickte überrascht und hob das Päckchen auf, nachdem er den Boden gründlich abgesucht und dennoch keine Fußspuren entdeckt hatte.

Morten Kubik stand in der Mitte, mit blauer Tinte auf das Papier gedrückt. Keine Adresse, kein Absender.

Morten betastete vorsichtig den Umschlag. Das Papier raschelte. Darunter fühlte er einen weichen biegsamen Gegenstand, der die Form eines Notizbuches oder Kalenders hatte. Ehrfürchtig drehte Morten das Geschenk um. Ja, es war ein Geschenk, für ihn, von fremder Hand bedacht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er wirklich Geburtstag hatte und wieder ein weiteres Jahr hinter ihm lag. Rasch steckte er das Päckchen unter seine Jacke und drückte es, vielleicht in Vorahnung auf eine Zeit, die kommen sollte, innig an seine Brust.

Er schloss die Tür auf. Jemand da draußen hatte an ihn gedacht. Morten roch am Papier und ein angenehm schwerer Ton, wie von frischer, ausgehobener Erde, stieg in seine Nase. Das Papier war kalt, es knisterte zwischen seinen Fingern und ein feines Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er die Treppe hochstieg und sein Zimmer im ersten Stock betrat.

Feierlich packte er den Gegenstand aus. Wie eine verbotene Frucht lag das Buch in Mortens Händen.

Der Einband machte zwar wenig her – es war ein fleckiges Braun –, doch Morten hatte keinen Grund, enttäuscht zu sein. Der Inhalt des Buches war so exquisit und hell schien er in seinen Geist hinein, dass er entzückt am Leder roch. Das Buch schien unendlich alt zu sein. Jahrzehnte, nein, Jahrhunderte. Von Menschen gemacht, doch haftete dem Papier etwas Launisches an, als wäre es mit Natur und Vergangenheit so verwoben, dass Morten staunte und nicht hörte, wie Tom den Keller hinauf in die Küche schritt und mit Schüsseln und Kasserolle eine Hirschkeule in Rotweinsauce zubereitete.

Wie sich das Jagdgewehr den Wald und das Wild nach und nach Untertan gemacht hatte, so hatte jemandes Intellekt dieses Papier in Beschlag genommen und Wissen von Generationen in die Seiten gegossen. Texte in Latein und einer merkwürdig unfertigen Schrift, die dem Deutschen ähnlich war, wechselten sich ab mit seltsam gefertigten Holzschnitten.

Die Worte kamen Morten vertraut vor. Ein Sog schien von ihrem Inhalt auszugehen. Auch wenn er nur Bruchteile entziffern konnte, war sein Geist so empfänglich für ihren Klang, dass er die feinen Holzschnitte zunächst gar nicht oder nur verschwommen am Rande wahrnahm. Jede Zeile dieses Buches war Balsam und jedes Zeichen sickerte in seinen Verstand ein wie Rieselsalz. Es würde die Würze von Mortens noch jungem Leben werden.

Die Augen, seltsam huschend, fliehend und bemüht, das Kleine und den großen Kontext zu erfassen, flogen über die Linien, dass es Morten schwindeln wollte. Er musste absetzen, Pause machen, damit ihn die ersten Eindrücke nicht übermannten. Was war es an diesem Buch, was seine Gedanken so empörte und in Aufruhr versetzte? Als würde ihm die alte Sprache etwas entgegenschreien. Und doch schien ihn das Buch immer wieder zu überwinden. Wenn er sich entfernen wollte, zog es ihn heran. Wenn er es, überwältigt von diesem schönen Schatz, in seiner Schreibtischschublade verstauen wollte, zog er es im nächsten Moment überstürzt wieder heraus.

Oben war unten und links war rechts. Mortens Herz raste.

Erst, nachdem er sich gezwungen hatte, einen Schluck vom Wasserglas zu nehmen, das auf seinem Schreibtisch stand, setzte er sich auf sein Bett und schlug es noch einmal, aber unendlich vorsichtig, auf der ersten Seite auf. Dort stand in einer Sprache, die er mühsam entzifferte, Folgendes geschrieben:

»Das Gelehrige Buch der Markgrafen.«

Darunter zog sich eine Linie, ein krummer Balken mit feiner Spitze. Erst auf den zweiten Blick erfassten Mortens Augen, dass er auf einen Serpenten starrte. Eine krumme, gezogene Blindschleiche, ein Unterstrich, unter das Wort Markgrafen gesetzt, der mit feinem Schwung in Schwanz und Zunge auslief.

Gierig, doch behutsam, strich Morten über das Papier, beugte seinen Kopf hinab zum Kuss. Erst als seine Lippen das trockene Leder mit Lust berührten, wurde ihm klar, was er da überhaupt tat.

Mein Schatz, schönster Liebling, solche Liebkosungen wollten Morten durch den Kopf gehen.

Mit Mühe tastete sein Blick nach den Holzschnitten und so gereizt waren seine Augen von der herrischen Art der Bilder, dass er noch keine Einzelheiten ausmachen konnte. Zwar sah er in der Mitte des Buches, als er es aufschlug, einen großen Holzschnitt, ein Spektakel des Geistes, doch so tief schnitt der Eindruck, dass Morten das Buch mit einem lauten Knall wieder zuschlug.

Tom rief zu Tisch, schreckte ihn auf aus seiner Erstarrung. Morten wagte es nicht, das Buch zurückzulassen. Er schlug es in ein Tuch, steckte es sich hinter seinen Gürtel und lief hinab in die Küche. Schweigend aß er ein Stück der Hirschkeule. Er blickte zu Tom hinüber. Er wollte wissen, ob er es wusste. Ob er ahnte, was Morten da hinter seinem Gürtel versteckt hielt. Doch Tom riss genussvoll am Fleisch, die Rotweinsauce tropfte ihm in den Bart. Er hatte ein Buch aus der Bibliothek neben sich aufgeschlagen und las konzentriert.

Morten trank sein Glas mit Zinfandelwein, das Tom ihm zur Feier des Tages voll eingeschenkt hatte, und aß mit schnellen Bissen. Erst als Tom aufblickte und seinen leeren Teller sah, bedeutete er ihm mit einem Nicken, dass er endlich aufstehen konnte.

Auf seinem Zimmer angekommen, blätterte Morten weiter in den Seiten, hatte sich ganz auf seinem Bett in die weichen Kissen vertieft. Er studierte die Lettern, die zwei Spalten auf jeder Seite, die ihm höhnisch entgegenblickten und von denen er nur die Ansätze erahnen konnte. Eine gewalttätige Sprache war es, die ausgeschleudert und mit herrischem Kratzen auf dem Papier ausgedrückt worden war. Ein wölfisches Manifest, dem die Weiden gehorchten und in das man grobe Tinte gepresst hatte, die so wild war wie das Leder, das Morten an Wildschweinhaut erinnerte.

Verständnislos blickte Morten auf dieses besondere Stück Literatur. Das Fremdartige hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, dass er versunken Seite um Seite studierte und gar nicht mitbekam, wie sich der Tag im Abend und der Abend in der Nacht verlor. Einzelne Wörter verstand er, ihre Umrandung, ihre Bedeutung konnte er ersehen, während sich andere völlig verschlossen zeigten. Es blieb ein Kauderwelsch. Gedichte, Abrisse, manches Mal glaubte er eine Naturbeschreibung zu erahnen. Aber die Wortfetzen waren doch ganz unverständlich. Latein wechselte sich ab mit Fetzen eines deutschverwandten Zungenschlages und verschmolz in einem für ihn unzugänglichen Text. Unruhig schlug Morten die Seiten vor und zurück.

Ein scharfer Wind drückte an sein Fenster. Die ersten Ausläufer eines Sturmes rüttelten an den Wipfeln der Bäume. Regenwolken schoben ihre prall gefüllten Bäuche über den Wald und Morten hatte das Gefühl, als wäre es angemessen für das, was dort kommen würde. Als hätten sich Wetter und das Gelehrige Buch der Markgrafen zusammengeschlossen. Sie kündeten von einer Veränderung, die Morten in ganz feinen Ansätzen schon jetzt spürte.

Erschöpft schlief er, das Buch unter dem Druck seiner Hand geborgen, ein. Er träumte. Von einem Sommererwachen, das schon war und immer sein wird. Von dem Zeitpunkt, in dem der Wald wieder in voller Blüte stand und seine Knospen zur Entfaltung brachte. Er träumte, wie die Kronen der Bäume ihr Haupt neigten und in den Singsang des Sturmes einstimmten.

»Er kommt, er kommt«, schien ihr Blätterkleid in den Wind zu flüstern.

Dann glaubte Morten, zwischen den Baumstämmen ein Feuer wie von einer aufgehenden Sonne zu sehen. Eine Gestalt trat langsam und mit vorsichtigen Schritten aus dem Holz hervor. Groß schien sie zu sein. Gewalttätig und bereit.

Es war ein unruhiger Schlaf, dem sich Morten ergab.

2

Das Jagdgewehr hatte sich Tom über die Schulter gelegt. Sein Oberkörper war von Der Wind fuhr Morten in die Glieder, als er am nächsten Tag das Holzhacken übernahm. Es schüttelte die Bäume kräftig durch. In dieser Stimmung, das Gelehrige Buch der Markgrafen im Hosenbund versteckt, trieb er Hieb für Hieb seine Axt durch das Holz. Ein Ausholen, das Schwingen mit dem Holzschaft und die Axt fuhr wie eine gewaltige Kraft, der das Holz nichts entgegenzusetzen hatte, in Erlenfleisch, Buchenholz und Pappel.

Schon bald wischte sich Morten mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. Immer wieder wollten seine Gedanken entfliehen und hielten nicht das störrische Holz vor ihm, sondern das Papier in seinem Hosenbund fixiert. Sein Geist heftete sich mit Macht an dieses Buch, aus dessen Seiten so Verheißungsvolles strömte. Wer es ihm wohl vermacht hatte? An seinem Geburtstag?

Mit hartem Lächeln, und während der nächste Hieb in das Holz fuhr, dachte Morten daran, dass er nur zwei Personen außer Tom kannte, die überhaupt von seinem Geburtstag wussten. Als die Axt durch das Scheit der Pappel fuhr, sah Morten die schwarzen Locken von Liz Goldschmidt vor sich. Sie war verrückt genug und beide teilten sie dasselbe Geheimnis. Dann war da noch Stanislaus Woyken, sein lieber Stan. Sohn zweier Zahnärzte, mit scharfem Geist und rotem Schopf, groß, gelehrig und der einzige Freund, den er hatte. Ihnen beiden wäre es zuzutrauen.

Morten schichtete das Holz in den Korb und trug diesen vor den Kamin.

Schon bald blätterte er wieder in den süßen Seiten, hatte sich auf dem Bett ausgebreitet und versank im literarischen Innenleben. Es arbeitete in ihm. Der Blick, das innere Auge, es zog ihn immer wieder zurück. Nicht nur auf den Serpenten der ersten Seite, sondern auf den Holzschnitt, fett und wie ein Dolchstoß in die Mitte des Buches hineingepresst. Von einem großen Fest zur Sommerwende. Ein Stich von sich einander umschlingenden Szenen und doch zu einem großen Ganzen verwoben, um in der Mitte zusammenzufließen in ein – so schien es ihm – warmes Kohlenfeuer. Und in diesem Feuer, in dessen züngelnden Flammen, war es Morten so, als würde ihn der Schatten – nur der Schatten – eines Gesichtes anstarren. Aus den Seiten heraus und den Blick auf ihn gerichtet.

Daneben sah er einen Mann in Waidmannstracht und einen hohen Herrn, die Lippen gütig und in sich ruhend, wie er über das Volk wachte.

Nach einem schweigsamen Nachmittagstee, bei dem sein Blick ungebrochen auf dem stürmischen Schauspiel vor ihrem Fenster lag, und nachdem Tom schließlich schwerfällig die Treppe hochgegangen war, öffnete Morten die Tür zur Bibliothek seines Vaters, um nach Antworten zu suchen. Ein verstaubtes Zimmer, mit Büchern vollgestellt, dunkel und verwegen vom Boden bis zur Decke in die Höhe geschichtet. In unsortierter Beschaffenheit hatte Tom hier Atlanten neben Romanen und Bibelausgaben neben Biografien ausgebreitet. Technische Anleitungen, Aufzeichnungen und geometrische Abhandlungen spiegelten den Geisteszustand wider, in dem sich Tom vor der Welt weggesperrt hatte.

Es war nicht so, dass Morten um Erlaubnis hätte bitten müssen, um diesen Raum zu betreten. Es war auch nicht so, dass er es heimlich machen musste. Aber das Buch war an Morten Kubik adressiert gewesen. Und um wie viel kostbarer war das Gelehrige Buch als alle Schätze, die hier versammelt, abgelegt und in Toms schrägem Geist kartografiert waren? Das Buch war in Mortens Eigentum übergegangen. Schon schien es ihm, nachdem er nur einen Tag von den verheißungsvollen Zeilen gekostet hatte, dass dieses Wissen nur ihm gehören sollte. Nicht Tom. Nicht einmal zu ihren besten Zeiten.

Früher hätte Tom ihn aufgefordert, in die Bibliothek mitzukommen. Damals, als Mortens Wangen noch so etwas wie ein kindlicher Zug angehaftet hatte, der ihn gefällig erschienen ließ. Während Tom an diesem Ort unablässig gearbeitet und an seinen beauftragten Bauanleitungen geschrieben und sie übersetzt hatte, waren Morten ehrfürchtig die Namen der Bücher über die Lippen gekommen. Er hatte den Staub der Buchrücken gekostet und aufgeblickt zu einem Vater, für den er Stolz empfand.

Doch über die Jahre hatte Toms Missbilligung ihm gegenüber wortlos zugenommen. Seine rasch fixierenden Blicke, die sich nicht mehr auf die Buchrücken, auf die Bauanleitungen, sondern immer öfter auf Morten konzentriert hatten, sie hatten ihm klargemacht, dass er als Fremder an diesem Ort wahrgenommen wurde. Es war von Tom nie so ausgesprochen worden, aber wenn Morten ein Buch über den Regalboden geschoben oder den Einband mit einem leichten Schubser wieder eingeordnet hatte, so hielt der Tastenschlag von Toms Schreibmaschine inne und begann erst dann wieder, nachdem sich Morten so klein, so unsichtbar, fast schon durchscheinend gab, dass es schmerzte. Er hatte die Blicke in seinem Rücken gespürt, die ihm gesagt hatten, dass ihre gemeinsame Zeit an diesem Ort vorüber war.

Das Schweigen hatte irgendwann so schwer in der Luft gehangen, dass Morten seine Besuche ganz einstellte und diesen Ort, der ihm eigentlich lieb und teuer war, wo er sich Tom doch am Verbundensten gefühlt hatte, nur noch alleine aufsuchte. Nie hatte Tom darüber ein Wort verloren, obwohl es offensichtlich war, dass er wegblieb. Aber gerade, weil es offensichtlich war und Tom es trotzdem nicht aussprach, war es Morten so, als wäre dieser Riss, der sich unsichtbar und schweigend zwischen ihnen aufgetan hatte, nie ganz zu überwinden.

Morten fragte sich oft, wie das bei anderen Jungen lief. Wie sie zurechtkamen in einem Leben, unvereinbar zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Distanz, die das Elternhaus vorgab. Tom war nicht hart, schlug nicht, hielt sich mit mahnenden Worten zurück und ließ ihm Freiraum. Doch er lobte auch nicht. Kaum mal, dass er eine Geste der Zuneigung zeigte. Er war so furchtbar verstockt und hielt mit Wissen hinter dem Zaun, als würde es ihn große Mühe kosten, überhaupt Worte in seinem Mund zu formen. Er war nicht dazu gemacht, Kinder großzuziehen, und dennoch konnte er so wenig andere geliebte Wege einschlagen wie Morten.

Alle zwei Wochen fuhr Tom mit dem Geländewagen in die nächste Stadt. Mit Einkäufen und einem Stapel Papieren kam er zurück. Auf der Poststelle lagen neue Anleitungen und technische Anweisungen bereit, die er übersetzen sollte. Tom war für dieses abgeschiedene Leben geboren. Er besaß ein umfassendes technisches Gespür, für das ihn mancher beneidete. Er war in Sprachen bewandert. Das, was er nicht über die Lippen brachte, verfolgte er durchaus energisch und mit gewissenhaftem Fleiß auf Papier. Er war geschätzt auf seinem Gebiet, er war schnell darin, Aufträge gewissenhaft zu übersetzen, und dies erlaubte ihm, sich als passionierter Jäger hier am Rand des Kolm niederzulassen.

Und weil Morten keine Wahl hatte, er seine Mutter nicht kannte und ihn darüber hinaus niemand gefragt hatte, musste er eben das Leben hinnehmen, das Tom leben wollte. Abgeschieden und im Umgang mit Menschen ungelenk. Das war sein Naturell, das prägte ihr Zusammenleben. Einfach war diese Gemeinschaft nie.

Morten betrat die Bibliothek. Sofort schmeckte er den Staub in der Luft, in diesem antiken Refugium, das, abgeschieden und angehäuft mit Wissensschätzen, wohl im ganzen Kolm seines Gleichen suchte. Die ächzende Last von Schriften, Büchern und Bildbänden bogen die Schichten der Holzregale mit aller Macht nach unten. Viele Bücher waren alt, einige sogar so alt, dass deren Schrift nur noch blass und mit viel Mühe entziffert werden konnte. Als er das Gelehrige Buch der Markgrafen aufgeschlagen hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass er diese Schrift, dieses Sammelsurium aus alten Sprachen, schon einmal gesehen hatte und er die Lösung für dieses Problem in Toms Bibliothek finden würde.

Morten griff zielstrebig nach der schweren mittelhochdeutschen Bibel. Als er sie aufschlug, stieg ihm der wohlvertraute Geruch nach Staub und einer Süßlichkeit, die zu hohem Alter und schlechter Lagerung geschuldet war, in die Nase. Dennoch fand er seinen Verdacht bestätigt.

Er las: »Aan anagengi tuon got himil anti erda.«

Glücklicherweise – auch wenn er die Sprache nicht verstand – wusste Morten sofort, wer und wann den Himmel und die Erde geschaffen hatte. Neugierig tasteten seine Finger weiter zur Rechten und ergriffen einen Nachdruck der Gutenbergbibel. Mit beiden Büchern schlich er sich zurück in sein Zimmer. Dass Morten ausgerechnet die beiden Bibelausgaben mit auf sein Zimmer nahm, beide kostbar erstanden, das hätte Tom sicher nicht gefallen. Dennoch: Wer Erleuchtung suchte, musste Wagnisse eingehen. Auch an Tom vorbei.

Beschwingt machte sich Morten an die Arbeit, setzte sich an den Schreibtisch und legte das Gelehrtenbuch links, die beiden Bibelausgaben rechts und ein schönes Notizbuch samt Kugelschreiber vor sich, bereit, gelehrige Notizen zu fertigen. Es war eine kleinteilige Arbeit, so viel war ihm klar.

Er schaltete das kleine Schreibtischlicht an und brütete, bis die Luft in seinem Zimmer dick und abgestanden war. Doch es war der Wille, der ihn trieb, und Atem hatte er noch genug, um sein Tagewerk weiter voranzutreiben und seine Konzentration in die Seiten fließen zu lassen. Wenngleich die Ablagerungen in seiner Lunge kratzten und die Luft wie saurer Essig lastete, so schaffte er es doch, ein paar Wörter des Gelehrtenbuches in der mittelhochdeutschen Bibel wiederzufinden. Wie ein diffiziles Puzzle, dessen schönes Bild man jedoch bereits erahnen konnte, probierte er die Möglichkeiten.

Es gab Abweichungen im Wortlaut und obwohl ein großer Teil des Gelehrtenbuches und auch die Bibel mittelhochdeutschen Zungenschlages waren, gab es doch Spielraum. Nichts war fest gewesen, die Grammatik freigiebig und – so hatte Morten das Gefühl – manchmal mochte es wohl eher der persönliche Gusto des Verfassers als erstrebenswertes Gespür für Gleichförmigkeit sein, der die Wörter geformt hatte. Bisweilen ging er entgegengesetzt vor, schaffte es mit geringerer Mühe, die Satzteile des Frühneuhochdeutschen zu übersetzen und aus dem Sinngehalt ableiten zu können, was die mittelhochdeutschen Worte bedeuten mochten. So ging er mit einigem Fleiß das dritte Buch Mose durch und fand das Wort, dessen Richtigkeit er vermutete. Manches Mal brach er in Jubel aus, wenn er genau dieses Wort in der mittelhochdeutschen Bibel und im Gelehrtenbuch einander ähnlich genug vorfand, sodass sich eine Bedeutung der Schrift offenbarte. Es war eine schöne, köstliche Kommunikation und Dechiffrierung, die ihm nur in angemessener Fleißarbeit gelingen wollte. Immer wieder offenbarte sich ein kleiner Sinn.

Schon bald glaubte er, einen Absatz entschlüsselt zu haben, wenngleich es auch das Ergebnis von Stunden konzentrierter Arbeit war. Es blieb ein schweres Werk, und hätte er Toms Bücher nicht zur Hand gehabt, wäre die Aufgabe unmöglich gewesen. Er arbeitete nicht methodisch, sondern sprunghaft, um das Mosaik greifen zu können, alles erfassen zu können, und musste dennoch einsehen, dass er nicht recht vorankam. Also konzentrierte er sich auf die erste Seite, den ersten Absatz und schließlich – nachdem er ihn ganz übersetzt hatte –, schauderte es ihn, als er den übersetzten Text betrachtete.

»An den, der dies liest«, stand da geschrieben. »Die Dinge sind falsch, die Welt ist eine Lüge. Die Wahrheit liegt nicht in der Stadt, sondern im Wald. Die Bäume werden sich zurückholen, was ihnen genommen wurde. Damit ihr seht und …« Morten hatte Mühe, das Wort, das nun kam, angemessen zu übersetzen, aber er glaubte doch, nach einigem Grübeln abgeleitet zu haben, dass es sich hier um das Wort lehren handeln musste. »Damit ihr seht und lehren könnt, was verschlossen ist in tiefer Erde. Er wird kommen.«

Eine Aussage, die Großes erwarten ließ und Eindruck machte. Mortens Herz klopfte verräterisch vor Sehnsucht. Er fasste sich an die Brust und wartete, bis sich sein Atem beruhigt hatte.

Nachdem er die Seite umgeschlagen hatte, offenbarte sich ihm ein neuerer Text, abgefasst im Zungenschlag zu Luthers Zeiten. Ein Manifest, das relativ leicht und ohne Bibel nach einiger Arbeit lesbar war. Morten hatte es in sein Heft abgeschrieben. Es war denkbar enttäuschend, denn es war ein gewöhnlicher Text, der die Geschichte eines Jägersmannes erzählte. Mehr noch war es ein Gedicht von Jagd und Wald, das leicht in Mortens Geist einsickerte. Diese Verse also erzählten die Geschichte vom alten Jägersmann des Markgrafen.

Als Morten diesen Namen las, runzelte er die Stirn und rieb sich nachdenklich die Hände. Er fragte sich, ob es sich um jenen Markgrafen handelte, dessen Feste alt und verwittert mitten im Herzen des Kolm lag.

Eine Jagd wurde angeblasen. Der Markgraf und der Jägersmann ritten durch das Unterholz. Hinter dem Wort Holz war ein weiteres Wort geschrieben. Hyrie las Morten ganz deutlich. Doch wie angestrengt er dieses Wort auch betrachtete, der Sinn dahinter wollte sich ihm nicht erschließen. Das Wort schien immer wieder aufzutauchen, wenn auch in anderen Variationen. Als hätte sich der Verfasser nicht für einen Begriff entscheiden können und keiner Schreibweise den Vorzug geben wollen. An einigen Stellen hieß es Kyrie, an wieder anderen Kyrm und dann wieder Hyrie. Immer stand es in einer Aneinanderreihung von Ausdrücken, die entweder mit dem Begriff Wald oder Baum verbunden waren. Erst nach einer Weile verstand Morten, dass es sich hierbei um den Namen des Waldes handeln musste, um den Ort, von dem die Geschichte erzählte.

Als Tom in der Küche zu hantieren begann, ging ihm auf, dass er, bis auf ein paar Stunden hastigen Schlafes, die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. Sein Mund war trocken.

Er ging hinunter in die Küche und setzte für sich und Tom eine Kanne schwarzen Tee auf. Dann begann er seine Arbeit von Neuem, ging nun aber konzentrierter vor, indem er sich ganz dem Gedicht von der Jagd widmete und eine kleine Ewigkeit die Seite aus dem Frühneuhochdeutschen entzifferte.

»Der Jägersmann blies zur Jagd, die Hatzhunde schnappten und der Markgraf lachte«, las Morten weiter. »Und während das Gefolge, schön und voller Hochmut, durch das Unterholz ritt und narrte, da war es dem Jägersmanne so, als wollte er, was er nicht durfte und als dürften die hohen Herren, was sie nicht sollten. Denn nicht zum Spaß wollte er erlegen, sondern er hatte einen wilden Sohn, der sein Handwerk schon in Ansätzen beherrschte. Ein geschickter Fallensteller und flink mit dem Bogen. So liebevoll ruhten die Augen des alten Jägersmannes auf ihm, dass er ihm einst nachfolgen sollte.«

Morten unterbrach die Schreibarbeit am Text, nahm einen großen Schluck Tee und gurgelte mit einer Ekstase, die sein Wohlbefinden zum Ausdruck brachte. Das Bild vom Jägersmann und seinem Sohn wollten ihm nicht recht aus dem Kopf gehen.

»Der Jägersmann rief zu seinem Sohn«, las Morten weiter, »dass er sich anschließen und in den Fußstapfen des Vaters wandeln sollte. Die Hatz erlernen und das Spiel mit den Hunden, auf dass er eines Tages selbst ein Jägersmann werden würde. Und er nahm den Sohn mit zur Jagd und alles war gut.«

Morten schluckte den Tee hinunter und hob den Blick zur Decke. Die Augen brannten. Dennoch hielt er unbeirrt und mit einiger Störrigkeit den Kugelschreiber in seiner Hand und übertrug das Neufrühhochdeutsche in sein Notizbuch.

»Als das erste Wild erlegt war und sich der Markgraf am Bache niederließ, um zu trinken, nahm der Jägersmann seinen Sohn bei der Hand und brachte ihn zum Markgrafen, auf dass er ihn segnen und küssen sollte.«

Morten hörte unter sich Toms Schritte, ein Klappern der Töpfe und ein Fluch aus dem sonst so schweigsamen Mund. Es würde Kartoffeln, Eier und zweifellos ein Stück Wildfleisch zum Mittagessen geben. Wollte Morten gerecht sein, musste er sich eingestehen, dass Tom zumindest hier sein Handwerk verstand und ein guter Vater war.

»Und als der Jägersmann ihn zum hohen Herrn gebracht hatte und der Markgraf lachte und den Jungen an der Schulter fasste, sagte er ihm, dass er so tüchtig wie sein Vater werden sollte und sich rechtschaffen …«, hier brauchte Morten wieder eine Weile, um das Wort zu entziffern, »… verdingen sollte. Daraufhin begann die Jagd von Neuem. Ein Jeder spannte seinen Bogen, um sich zu beweisen. Der Jägersmann nahm seinen Sohn an die Hand. Und der Lauf begann und sie rannten durch den Hyrie und darüber hinaus, während die hohen Herren schon bald zurückblieben und – ungeschickt im Umgang mit Wald und Jagd – nur wenig vordrangen. Der Jägersmann hingegen setzte sich den Sohn auf die Schulter und rannte in wilder Erregung und der Entschlossenheit, das Wohlgefallen des Markgrafen zu mehren, den Spuren der Tiere nach. Lautlos war sein Tritt und furchtbar der Bogen. Da teilte sich das Gebüsch und es gefiel dem Waldherrn so, dass dort ein Stück Wild aste, als Bache deutlich zu erkennen, und zwei Frischlinge an ihren Zitzen saugten. Der Jägersmann schoss und so groß war sein Schrecken, dass er in seiner Hast nur einen der Frischlinge traf. Er zückte sein Messer, denn er sah die Zukunft unter den Bäumen. Und die Tiere, sie fühlten alle einen Schatten, der über ihrem Wesen lag.«

Nun musste Morten die Seite umblättern. Ihm wurde es zu mühsam, den Text zu übersetzen. Er holte sich aus der Küche ein paar Blätter Butterbrotpapier, machte den schelmengleichen Wurf, es vorsichtig und mit unendlicher Zärtlichkeit mit dem alten Papier zu verkleben. So konnte er durchpausend und, durchscheinend von der Buchseite, direkt auf das darüber haftende Butterbrotpapier kopieren. Es ging leidlich. Morten teilte sich die Teeschlucke genau ein, erlaubte sich selbst nur nach der Übersetzung eines jeden weiteren Absatzes einen Schluck des Gebräus, das erst heiß, dann warm und schließlich fast gänzlich erkaltet in seinem Mund zirkulierte. Schon bald hatte er einen weiteren Absatz des Gedichtverses entziffert.

»Die Bache schreckte auf von Tod und Jäger. Wie einer der Frischlinge ein Leben gab, so war auch das Leben des Sohnes bedroht. Die Bache rannte vor und als sich der Jägersmann vor seinen Sohn stellte, stieß sie ihre Hauer in die Seite des Mannes. Seine Manneskraft wollte weichen und er warf sich in das hohe Gras. Doch den letzten Dienst tat er und im Sterben begriffen schnitt er der Bache tief in den Leib, bis kein Leben mehr in ihr war. Der Erlkönig schmeckte das Blut und Gleiches war mit Gleichem vergolten.«

»Der Erlkönig.« Morten war es, als würde sein Herz in geheimer Lust eine Oktave höherschlagen, ein wenig nur, denn so köstlich, fast schon beruhigend, wirkte das Versprechen eines Erlkönigs auf ihn ein, dass ihm ein wohliger Schauder den Rücken hinabfuhr. Morten schloss die Augen, hob den Kopf genüsslich an und las erst weiter, nachdem er sich ganz dem Moment hingegeben hatte und die Gänsehaut verschwunden war.

»Als der Markgraf kam, von dem Grunzen und Schreien angelockt, und den Jägersmann im Sterben liegen sah, da bemerkte er auch den Sohn, der sich über seinen Vater gebeugt hatte und bittere Tränen weinte. Der Jägersmann gab seinem Sohn das Messer und der Sohn erhörte den strengen Ruf des Markgrafen, dass er nun der Jägersmann war und nun den Wald bestellen sollte. Er gebot dem Jungen, die Bache zu schlachten, auf dass sie nicht umsonst gestorben sei. Der Junge nickte und wusste doch im Herzen selbst, was gut und richtig war. Denn der Finger des Vaters lag bereits auf dem Markgrafen.«

Morten überprüfte das Wort aus allen Richtungen. Es war von einem Finger die Rede. Doch machte die Formulierung, wie sehr er auch prüfte, keinen Sinn. Sie schien ihm herausgehoben und deplatziert. Gerade dadurch behielt sie etwas Klebriges, das seinem Geist verhaftet blieb.

»Der Sohn des Jägersmannes machte sich daran, das Tier zu weiden und Lunge und Herz vom Rest zu scheiden. Während der Markgraf über die erfolgreiche Jagd und Met den Tod des Vasallen vergaß und die Gefolgschaft ihre Trommeln schlug, saß der Sohn im Schatten der Bäume und verspeiste das rohe Herz der Bache. Er aß von der Lunge nur einen Bissen, wie es sich gehörte. Das Opfer, zum Gedenken an den Einen. Sein Blick lag finster auf dem Markgrafen, der über dem Feuer die Bache briet und guten Herzens und freudig war. Ein Schatten überkam ihn vom Fluss herauf. Er hörte den harten Wind und über allem horchte der Erlkönig mit spitzem Ohr.«

Schon wieder dieses eine Wort. Erlkönig. Nur das und die Versuchung, die so köstlich in diesen drei Silben lag.

Erlkönig. Erlkönig. Erlkönig.

Morten schmeckte dem Wort mit einem Schmatzen nach. Es war für Kenner gedacht und vibrierte, beginnend in seinem Kopf und hinabsteigend bis in den Bauch. Wie ein zweiter Herzschlag spürte er ein fast nicht wahrnehmbares Brummen, ein Echo. Ein Geräusch aus der Vergangenheit, das ihn jetzt erst erreichte.

Irgendwo knackte es und Morten schreckte auf. Auf seiner Fensterbank wuchs ein tiefgrüner Efeu und diese Farbe hatte ihm immer Trost gespendet. Nun jedoch wollte es ihm scheinen, als würden sich Efeu, Blätter und Ranken in seine Richtung ausstrecken, ein widernatürliches Eigenleben entwickeln. Als hätte das Flüstern des Erlkönigs die Pflanze aus ihrer Erstarrung geweckt. Nur ganz schwach und kaum wahrnehmbar war dieser Wuchs, wenn da nicht das Knacken der feinen Äste gewesen wäre.

Morten blickte die Pflanze an und vergaß über die Erkenntnis der Widernatürlichkeit die ersten zarten Ränder der lebenden Welt. An den feinsten Spitzen seiner Wahrnehmung schien sich etwas abzulösen, was er stets als fest und wahr in seiner Welt verankert geglaubt hatte. Dann verstummte das Knacken und so unschuldig stand der Efeu auf dem Fensterbrett, als würde sich die Welt nicht gerade auf den Kopf stellen.

Dumpf kam es Morten in den Sinn. Nicht oft hatte man Gelegenheit, zu begreifen, wenn sich ein neues Lebenskapitel auftat. Morten spürte mehr, als dass er es in Worte fassen konnte, dass eine neue – die erste – Seite aufgeschlagen war. Ein Gefühl war es, als hätten sich die Dinge wieder in Gang gesetzt. Als wäre dieses liebe Gelehrtenbuch – ja, liebes Gelehrtenbuch nannte Morten es – der Ausgangspunkt für unbekannte Räume, die ihm bis jetzt verwehrt geblieben waren. Denn Morten war zwar frei, als er in diesem Sommer die Realschule verlassen hatte – mit ansprechenden Noten, müde und viel weniger als einem verschwommenen Plan für künftiges Begehren. Es war ihm aber gänzlich schleierhaft, in welche Richtung er wachsen wollte. Wie gemeines Kraut zog sich sein Leben nach links und rechts und in alle Richtungen.

Tom ließ ihm seine Freiheit, daran war nicht zu rütteln. Er ließ ihm Bücher und gab ihm Nahrung. Doch gab er Morten weder einen Stoß in die eine noch in die andere Richtung. Obwohl es offensichtlich schien, dass Morten in seinem Haus nur geduldet und nicht geliebt war.

Mortens Welttritt war im Stillstand begriffen. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er selbst seit diesem Sommer nicht den geringsten Versuch gemacht hatte, einen Weg in seinem Leben einzuschlagen. Er blieb der Schule fern. Und da niemand fragte und Tom keinen Versuch machte, seinen Bildungsweg zu steuern, blieb er auch den ganzen Herbst der Schule fern. Dieser friedliche und eintönige Zustand schien nun, jedes Mal, wenn er das Gelehrige Buch der Markgrafen aufs Neue zur Hand nahm, das erste Mal ins Wanken zu geraten.

Am Abend wurde Morten durch das Donnern vor seinem Fenster zu einer Pause gedrängt. Als er nach draußen blickte, sah er die graue alles überdeckende Regenfront, die sich über den Kolm gelegt hatte und ihre nasse Last über den Bäumen abregnete. Staunend betrachtete er das Schauspiel und schreckte auf, als die donnernden Blitze das Himmelskleid zerrissen.

Als er, von Tom zu Tisch gerufen, einen appetitlich dampfenden Hirscheintopf mit Kartoffeln probierte, verharrten Mortens Gedanken noch beim Jägersmann und dem Markgrafen. Besonders aber bei dem Sohn.

»Iss doch. Warum isst du nicht?« Tom schreckte Morten von seinen Gedanken auf. »Du isst so wenig in letzter Zeit. Es gehört sich nicht. Also greif doch mal zum Löffel.« Mit einem Ruck wandte sich Tom seinem aufgeschlagenen Buch zu.

Morten staunte immer wieder über diesen Mann, der ihm so viel über die Jagd und so wenig über das Leben beigebracht hatte. Toms Kaumuskeln hoben sich deutlich nach außen, während er in das Fleisch biss und mit seinen Augen, braun wie Nüsse, in das Buch vertieft war. Ihm troff der Eintopf in den Bart.

Morten nahm ein paar Löffel. Über die Kaugeräusche und das Blättern der Seiten hinweg hörte er draußen noch immer das Toben des Windes, das Grollen des Donners. Es hätte eine angenehme Atmosphäre sein können, würde nicht das Gelehrtenbuch hinter seinem Hosenbund auf seinen Steiß drücken. Morten blickte seinen Löffel schweigend an und griff dann hinter sich. Angenehm schmiegte sich das Leder an seine Haut. Er glaubte, das Ächzen der Bäume zu hören, die sich draußen im Wind schüttelten und an deren Wurzeln der Sturm mit aller Macht zerrte. Morten horchte genauer. Er sah rasch zu Tom hinüber, doch dieser war kauend in sein Buch vertieft und in einer Welt, in die Morten ihm nicht folgen konnte.

Andächtig lauschte Morten dem Donner, dieser Urgewalt des Himmels. Ein Dröhnen der Naturkräfte. Er schloss die Augen und seine Wimpern zitterten jedes Mal aufs Neue, wenn das Dröhnen abebbte. Doch da war noch etwas. Gleichsam als Nachhall. Er glaubte, entfernte und rasch aneinandergeschlagene Trommeln zu hören, die in der Ferne und über das Tosen des Windes hinweg anspielten. Mit geschlossenen Augen hörte Morten dem Geräusch nach, das immer wieder geduldig die Pausen zwischen dem Donner abwartete, um darin behutsam aufzuleben. Als würde es dem Donner mit Schalk nachtrommeln.

»Nimm die Ellenbogen vom Tisch«, forderte Tom ihn auf.

Morten erschrak und sah, dass dieser ihn prüfend anblickte, als könnte er ihn nicht richtig einschätzen. Wie lange er ihn wohl schon beobachtet hatte? Morten gehorchte. Wie er immer gehorchte, wenn Tom etwas sagte. Sie starrten sich an, auch dann noch, als die Trommeln erneut zu schlagen begannen. Doch da war keine Resonanz in Toms Blick. Nur die Erkenntnis, dass da etwas war, was Morten ihm verheimlichte.

Nachdem sich sein Vater wieder seinem Buch zugewandt hatte, seine Augen jedoch nicht dem Zeilenfluss folgen wollten, löffelte Morten seinen Eintopf zu Ende. Mit klopfendem Herzen versuchte er so zu tun, als könnte er dieses beständige Trommeln, das auch jetzt nicht nachlassen wollte, mit einer wissenschaftlichen Erklärung rechtfertigen. Nur wollte sich das Unerklärliche einfach nicht fassen lassen.

Mit trockenem Mund kaute Morten am Hirschfleisch. Dabei warf er Tom immer wieder verstohlene Blicke zu. Er konnte nicht recht glauben, dass Tom nicht die Macht, die ganze Wucht, die dieses geisterhafte Trommeln über ihn hatte, wahrnehmen konnte. Er aß hastig auf, schob seine Schüssel von sich und als er den Flur erreicht hatte, rief er Stanislaus Woyken an.

Morten hätte nicht mehr sagen können, wie alles angefangen hatte. Wie und welches Wort ihn das erste Mal an diesen fuchshaarigen Jungen gebunden hatte. Welcher Kiesel es gewesen war, der dazu geführt hatte, dass Stanislaus Woyken, von ihm liebevoll nur Stan genannt, an ihn gebunden war und zwei Einzelgänger einander gefunden hatten und sich nicht nur akzeptierten, sondern wunderbar ergänzten. Stan, der auf der anderen Seite des Kolm in einem Kellerzimmer Bücher sammelte, lebte ähnlich wie er, abgeschieden und ungezwungen, unter den vernachlässigten Augen zweier betagter Zahnärzte.

Stans fiebrige Stimme, mit Argwohn durchdrungen, antwortete so knapp, wie es sich Morten nur wünschen konnte.

»Was soll ich hören?«, wollte er wissen, nachdem Morten, ohne zu zögern, ohne Begrüßung, die drängendste Frage gestellt hatte.

»Den Donner«, wiederholte Morten. »Den Donner. Und dann das Trommeln. Ein Nachhall ist es. Wenn du die Augen schließt und dich konzentrierst, dann ist da doch dieser trommelnde Nachhall!«

Diesem mutigen Bekenntnis, denn es klang ganz und gar verrückt, folgte eine lange Stille. Nur ein leises Atmen war durch den Hörer zu vernehmen.

»Stan?«, fragte Morten nach. »Da. Schon wieder. Hast du es dieses Mal gehört? Es ist nur ganz leise. Aber es ist deutlich da. Wie …«, er zögerte, »wie ein Ärgernis für die Welt. Verstehst du?«

»Geht’s dir gut?«, fragte Stan.

Morten beeilte sich, vielleicht ein wenig zu schnell, während im Hintergrund noch der Donner hallte, seinem Freund zu versichern, dass es ihm hervorragend ging.

»Ich frage nur«, fuhr Stan fort. »Weil es sich so gehört. Wenn jemand von dunklen Mächten spricht und Dinge hört, die doch sonst niemand wahrnimmt, dann muss man eben fragen, ob es einem gut geht. Auch wenn die Frage eine Beleidigung ist, denn wieso sollte es dir nicht gut gehen? Die Frage allein sagt dir dennoch, dass es so ist und etwas in dir gärt, wie beim Bierbrauen, was unrein ist und dort nicht hingehört.«

»Ja, aber hörst du es denn wenigstens?«, fragte Morten, der doch so dringend die Antwort hören wollte.

Stan fragte ihn, ob er noch ganz bei Sinnen wäre. »Natürlich höre ich den Donner. Und jetzt wird es Zeit, wieder normal zu reden.« Dann ein Seufzer in den Hörer. »Ich wollte zwar erst morgen kommen, aber jetzt bin ich in einer Stunde da. Setz mir keinen Tee auf. Ich will Kaffee. Und schwarz soll er sein. Bis gleich also.«

Es gab ein lautes Geräusch. Stan hatte aufgelegt, noch bevor sich Morten verabschiedet hatte.

»Stan«, sagte Morten in den Hörer. »Ich glaube, es hat begonnen.«

Doch als er gewahr wurde, dass seine Worte gar keinen Sinn machten und er nicht einmal wusste, was es überhaupt sein sollte, blickte er das Telefon verwundert an und legte auf.

3

Als Stan eine exakte Stunde später durch Mortens Tür kam, triefte sein rotes Haar, die Hosenbeine waren mit Schlammspritzern übersät und der Kaffee, den Morten für ihn zubereitet hatte, war schwarz und stark. Stans Miene war ernst. Er blies seine dünnen Backen auf und blickte seinen Freund streng an.

»Als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Stan. »Ein wahrhaftiges Gespenst und noch viel Schlimmeres.«

Morten war bleich aber froh, seinen Freund zu sehen. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten, Stan in die Arme zu schließen. Die strenge und nur selten zu erschütternde Miene resonierte mit Mortens Seele. Wo Morten eine Wand errichtet hatte, mit einer Selbstverständlichkeit, als könnten ihm der Kolm und Tom sein Innerstes stehlen, wenn er nicht aufpasste, riss Stan sie mit einer Leichtigkeit ein, die es unmöglich machte, ihn nicht zu mögen. Er ging den Dingen auf den Grund. Mortens Wesen war ihm bekannt. Schon längst hatte er alle seine notdürftig gestrickten Taschenspielertricks, mit denen er im Leben zurechtkam, durchschaut.

Dennoch zögerte Morten, nur mit Mühe kamen die Worte über seine Lippen.

»Aber das Trommeln. Du hast es nicht gehört? Hörst du es wenigstens jetzt?«

Beide lauschten. Der versteckte Nachklang des Donners. Unmöglich konnte er Stan verborgen bleiben.

Dieser nahm nur kräftige Schlucke vom Kaffee und blickte Morten in die Augen. »Donner: Ja. Trommeln: Nein.«

»Es ist aber da. Wenn du es nicht hörst, meinetwegen. Aber es ist da, Stan. Es ist schon immer da gewesen.«

»Schon immer da gewesen?«

Mit einer Geste, halb Unwillen, halb Neugier, blickte er Morten unter gesenkten Augenbrauen hervor an. Morten hatte schon zu viel verraten. Von den Geistern berichtet, die in seinem Kopf, halb fertig und verschwommen, Einlass begehrten und an seiner Seele zupften. Doch niemals hatte er das Trommeln so deutlich gehört. Es war bis jetzt nur ein Schatten seiner Träume gewesen, ein Störfaktor, den er aber nicht definieren konnte. Er war da, im tiefsten Grund seiner Seele. Aber mehr vermochte Morten nicht in Worte zu kleiden. Er biss sich auf die Lippen, erwiderte trotzig Stans Blick und ließ das Gelehrtenbuch in seinem Hosenbund verschwinden.

»Komm«, sagte Morten und griff nach Stans Hand. »Ich höre das Trommeln, aber will es gerade gar nicht. Lass uns hinaus gehen. Noch einmal die Probe wagen.«

Stan hatte keine Einwände. Als sie Mortens Zimmer verließen und die Haustür hinter sich zuschlugen, hielt Tom sie nicht zurück. Pechschwarz hingen die Wolken über ihren Köpfen, als sie in den Wald eintauchten. Durch satte, fette Erde hasteten sie voran, während das Rumpeln über ihnen hing und Morten mit gehöriger Willensanstrengung das Trommeln ignorierte, das auch hier draußen laut an seine Ohren drang. Es gehörte sich nicht, Angst zu haben.

»Was hast du gesagt?«, fragte Stan in die Nacht.

Morten, dabei ertappt, wie er den Gedanken laut ausgesprochen hatte, schwieg betroffen. Sie liefen durch Pfützen und Morten hatte sich einen dicken Ast gegriffen, mit dem er lustvoll auf das Gebüsch einschlug, um jedem zu zeigen, dass er keine Angst in seinem Kolm hatte.

»Nur zwei Sprünge«, sagte Stan wie selbstverständlich, als sie den Hügel zur Burgruine hinaufgestiegen waren und vor dem eingefallenen Bergfried stehen blieben. »Dann hast du den Treppenlauf erreicht und kannst aufsetzen. Der Rest ist ein Kinderspiel.«

Nur zwei Sprünge. Ein Kinderspiel. Stan grinste.

Nicht umsonst führten sie hier in dem verfallenen Bergfried ihre Mutprobe durch. Nicht umsonst wurde das Gebäude aus denselben Gründen gemieden, aus denen es Morten und Stan immer wieder hierher zog. Hier herrschte Einsamkeit. In der Ruine waren sie die Herren, die dunkle Orte erkundeten, wenn ihnen die Wipfel des Kolm beizeiten zu langweilig wurden. Verfallen lag die Burg da, thronte auf ihrem Hügel und niemand hatte sich je die Mühe gemacht, diesem vergessenen Ort einen neuen Nutzen zu schenken. Die Ruine störte niemanden, lag versteckt im Wald und unzugänglich. Wer hier einst gelebt hatte, blieb Morten ein Rätsel. Nicht, dass er sich die Frage mehr als nur flüchtig gestellt hatte. Der Ort war für sie beide ein wunderbarer Spielplatz, das war ihnen Nutzen genug.

Also nur zwei Sprünge. Der Rest war ein Kinderspiel. Stans Worte.

Doch es war schon mehr als das. Erst musste man die rostigen Stangen des Absperrzaunes umgehen, der den Eingang des Bergfrieds versperrte, sich an einer abgenutzten Stelle zwischen Mauer und Zaun ganz dünn machen und sich hindurchquetschen. Hatte man das geschafft, war man im Bergfried – und hier begann die eigentliche Mutprobe. Eine Wendeltreppe, oder das, was von ihr übrig geblieben war. Es war eine Treppe, die ein Baumeister vielleicht nur mäßig verfugt hatte und jetzt so viele Stufen wie Löcher aufwies. Der Aufgang – oder das, was von ihm übrig geblieben war – zog sich an der Innenwand des Bergfriedes nach oben zu den Zinnen.