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In Rudyard Kiplings Werk 'Erloschenes Licht' taucht der Leser ein in eine düstere Welt der Verluste, Hoffnungslosigkeit und menschlichen Abgründe. Der Autor präsentiert eine Sammlung von Geschichten, die von den Schattenseiten des Lebens und der Vergänglichkeit der Existenz handeln. Mit einer prägnanten und fesselnden Erzählweise schafft es Kipling, die Leser in seinen Bann zu ziehen und zum Nachdenken über die Bedeutung von Verlust und Erlösung anzuregen. Der literarische Kontext des Werkes spiegelt die Zeit des späten 19. Jahrhunderts wider, geprägt von sozialen Umbrüchen und gesellschaftlichen Konflikten.
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»Was, denkst Du, wird sie mit uns anfangen, wenn sie uns erwischt? Wir durften ihn nicht kaufen, wie Du weißt,« sagte Maisie.
»Mich durchprügeln und Dich in Dein Schlafzimmer einsperren,« erwiderte Dick, ohne sich zu besinnen. »Hast Du auch die Patronen mitgenommen?«
»Ja, sie stecken in meiner Tasche, aber sie werden schrecklich zusammengerüttelt. Gehen Zündnadelpatronen nicht von selbst los?«
»Das weiß ich nicht. Nimm Du den Revolver, wenn Du dich fürchtest, und laß mich sie tragen.«
»Ich fürchte mich gar nicht!« Maisie schritt rasch weiter, mit einer Hand in der Tasche und kühn erhobenem Gesichte, Dick folgte ihr mit einem kleinen Zündnadelrevolver.
Die Kinder waren zu der Ueberzeugung gelangt, daß ihr Leben unerträglich sein würde, wenn sie nicht im Pistolenschießen sich üben könnten. Nach vielem Ueberlegen und mit großer Selbstverleugnung hatte Dick sieben Shilling und einen Sixpence erspart, den Preis eines schlecht konstruirten belgischen Revolvers. Maisie konnte nur eine halbe Krone in die gemeinschaftliche Kasse, zum Ankauf von hundert Patronen, beisteuern. »Du kannst besser sparen als ich, Dick,« hatte sie diesem erklärt, »ich esse sehr gern etwas Gutes, und Du machst Dir nichts daraus. Außerdem müssen Jungens mit Revolvern schießen.«
Dick murrte zwar etwas über diese Anordnung, doch fügte er sich, ging fort und besorgte den Einkauf der Sachen, welche die Kinder jetzt probiren wollten. Revolver waren keineswegs einbegriffen in dem Plane ihres täglichen Lebens, wie er von ihrer Behüterin, die in nicht ganz korrekter Weise bei den beiden Kindern Mutterstelle vertrat, festgestellt worden. Dick befand sich seit sechs Jahren unter ihrer Obhut; Mrs. Jennet war während dieser ganzen Zeit eifrig bemüht gewesen, möglichst viel Vorteil aus dem Zuschusse zum Kostgelde der ihr zur Anschaffung von Kleidungsstücken für ihre Pfleglinge bewilligt worden war, für sich herauszuschlagen. Sie war eine Witwe in reiferen Jahren, mit dem lebhaften Wunsche, sich wieder zu verheiraten, und hatte, teils aus Gedankenlosigkeit, teils aus angeborener Sucht, andere zu quälen, auf die jungen Schultern von Dick Lasten gelegt, die schwer genug zu tragen waren. Wo er sich nach Liebe gesehnt, gab sie ihm erst Widerwillen und dann Haß. Wo er, als er herangewachsen, ein wenig Teilnahme und Sympathie gesucht, hatte sie ihn lächerlich gemacht. Die zahlreichen Stunden, welche sie nach der Besorgung ihrer kleinen Haushaltung übrig hatte, verwandte sie dazu, Dick Heldar eine häusliche Erziehung zu geben, wie sie es nannte. Ihre Religion, ein Produkt ihres eigenen Verstandes und eines eifrigen Studiums der heiligen Schrift und frommer Bücher, kam ihr bei dieser Arbeit vortrefflich zu statten. In Zeiten, wenn sie persönlich nicht unzufrieden mit dem Betragen von Dick war, gab sie ihm zu verstehen, daß er eine schwere Abrechnung mit seinem Schöpfer auszugleichen habe; die Folge davon war, daß Dick lernte, seinen Gott ebenso aufrichtig zu verabscheuen, wie er bereits Mrs. Jennet verabscheute, ein Gemütszustand, der keineswegs ein heilsamer für die Jugend ist. Seitdem es ihr beliebte, ihn als einen hoffnungslosen Lügner zu betrachten, als die Androhung von Strafe und Schmerz ihn zu seiner ersten Unwahrheit getrieben, entwickelte er sich natürlich zu einem Lügner, doch zu einem mäßigen und sich selbst beherrschenden, der niemals die geringste unnötige Unwahrheit aussprach und nie vor der schwärzesten sich scheute, wenn es ihm klar war, daß dieselbe sein Leben einigermaßen erträglicher machen könnte. Diese Behandlung lehrte ihn schließlich die Kunst, allein zu leben, eine Erwerbung, die ihm von großem Nutzen war, als er in eine öffentliche Schule kam und die anderen Knaben seiner Kleider wegen, die ärmlich und vielfach ausgebessert waren, über ihn lachten. An den Feiertagen kehrte er zu den Lehren der Mrs. Jennet zurück und wurde, damit die Kette der Disziplin nicht durch die Gemeinschaft mit der Welt gelockert würde, meistens durchgeprügelt für das eine oder das andere Vergehen, bevor er sich noch zwölf Stunden unter ihrem Dache befand. Im Herbste eines Jahres erhielt er eine Gefährtin in der Knechtschaft, ein langhaariges, grauäugiges, kleines Wesen, ebenso zurückhaltend wie er selbst, das sich schweigend im Hause bewegte und während der ersten Wochen nur mit ihrer Ziege sprach, ihrer teuersten Freundin auf Erden, die in einem Garten hinter dem Hause lebte. Mrs. Jennet widersetzte sich dem Verkehre mit der Ziege aus dem Grunde, weil dieselbe unchristlich sei, – was sie sicherlich auch war. »Dann,« sagte das kleine Wesen, »dann werde ich an meinen Vormund schreiben und ihm mitteilen, daß Sie eine sehr böse Frau sind. Amomma ist mein, mein, mein!« Mrs. Jennet machte eine Bewegung nach dem Hausflur zu, wo in einem Ständer mehrere Sonnenschirme und Stöcke sich befanden. Das kleine Wesen begriff ebenso gut wie Dick, was das bedeutete. »Ich bin früher geschlagen worden,« sagte sie mit ebenso leidenschaftloser Stimme wie vorher; »ich bin viel schlimmer geprügelt worden, wie Sie mich jemals prügeln können. Wenn Sie mich schlagen, so schreibe ich meinem Vormunde, daß Sie mir nicht genug zu essen geben. Ich fürchte mich gar nicht vor Ihnen.« Mrs. Jennet ging nicht in den Hausflur, und das kleine Wesen begab sich nach einer Pause hinaus, um sich zu versichern, daß alle Kriegsgefahr vorüber sei, und weinte bitterlich an Amommas Halse.
Dick lernte sie als Maisie kennen und mißtraute ihr anfänglich sehr, da er befürchtete, daß sie sich in die geringe Freiheit, die ihm geblieben, einmengen würde. Sie that es indes nicht und zeigte nicht eher Freundschaft ihm gegenüber, als bis Dick die ersten Schritte gethan. Lange bevor die Feiertage zu Ende waren, hatte der Druck der gemeinschaftlich geteilten Strafen die Kinder einander genähert, wenn es auch nur geschehen war, um bei den für Mrs. Jennet vorbereiteten Lügen sich gegenseitig zu unterstützen. Als Dick in die Schule zurückkehrte, lispelte Maisie: »Nun werde ich ganz allein sein, um mich selbst zu behüten; aber ich kann es ganz gut thun,« fügte sie hinzu, tapfer mit dem Kopfe nickend. »Du versprachst mir, für Amomma ein Grashalsband zu schicken; thue es bald.« Eine Woche später forderte sie ihn auf, das Halsband umgehend mit der Post zu schicken, und war sehr unzufrieden, als sie erfuhr, daß es viel Zeit erfordere, dasselbe anzufertigen. Als dann schließlich Dick sein Geschenk absandte, vergaß sie, ihm dafür zu danken.
Manche Feiertage waren seit jener Zeit gekommen und vorübergegangen; Dick war inzwischen zu einem schmächtigen Burschen herangewachsen, mehr als je sich seiner schlechten Kleider bewußt. Mrs. Jennet hatte keinen Augenblick in ihrer zärtlichen Sorge für ihn nachgelassen, doch die kräftigen Prügel in einer öffentlichen Schule – Dick wurde ungefähr dreimal im Monate mit Stockschlägen bestraft – erfüllten ihn mit Verachtung ihrer Gewalt und ihrer Kraft. »Sie thut mir nicht weh,« erklärte er Maisie, die ihn zum Widerstande aufreizte, »und sie ist freundlicher gegen Dich, wenn sie mich ordentlich durchgewalkt hat.« Dick lebte dahin, schlecht gehalten, was den Körper anbelangte, und wild von Gemütsart, wie die kleineren Knaben in der Schule bald erfuhren; denn wenn der Geist über ihn kam, prügelte er sie weidlich durch, mit Geschick und Gründlichkeit. Derselbe Geist veranlaßte ihn mehr als einmal, zu versuchen, Maisie zu quälen, doch das Mädchen weigerte sich, noch unglücklicher zu werden. »Wir sind beide elend genug so, wie es jetzt ist,« sagte sie; »was hat es für einen Zweck, zu versuchen, die Dinge noch schlimmer zu machen? Laß uns etwas ausfinden, was uns Vergnügen macht, und das Böse vergessen.«
Der Revolver war das Ergebnis dieses Suchens. Derselbe konnte nur auf dem schlammigsten, äußersten Strande der Bucht benützt werden, weit entlegen von Bade-Einrichtungen und den Spitzen der Molen, unterhalb der mit Gras bewachsenen Böschungen des Forts Keeling. Die Ebbe lief beinahe zwei Meilen vom Strande hinaus, wobei die mannigfach gefärbten Schlammbänke unter den Strahlen der Sonne einen widerlichen Geruch von verfaultem Kraut aushauchten. Es war ziemlich spät nachmittags, als Dick und Maisie ihr Terrain mit Amomma, die geduldig hinter ihnen hertrabte, erreichten.
»Muff!« rief Maisie aus, die Luft einziehend. »Ich möchte wissen, was die See so stinken macht. Ich liebe das gar nicht.«
»Du liebst überhaupt nie etwas, das nicht gerade für Dich gemacht worden ist,« bemerkte Dick grob. »Gib mir die Patronen, ich will den ersten Schuß versuchen. Wie weit mag wohl einer von diesen kleinen Revolvern tragen!«
»O, eine halbe Meile!« sagte Maisie schnell. »Wenigstens macht er einen schrecklichen Lärm. Sei vorsichtig mit den Patronen; ich mag diese am Rande befestigten, eingekerbten Dinger nicht leiden. Dick, sei vorsichtig!«
» All right! Ich weiß, wie man laden muß. Ich will nach dem Wellenbrecher da draußen schießen.«
Er feuerte, und Ammoma lief meckernd davon. Die Kugel warf einen Strahl von Schlamm auf, rechts von den mit Seegras bewachsenen Pfeilern.
»Halte hoch und nach rechts. Du schießest jetzt, Maisie. Denke daran, daß er vollständig geladen ist.«
Maisie ergriff den Revolver und schritt vorsichtig bis an den Rand des Schlammes vor, mit der Hand fest den Kolben umfassend, den Mund und das linke Auge aufgesperrt. Dick setzte sich auf einen Büschel am Strande und lachte. Amomma kehrte sehr behutsam zurück. Sie war an seltsame Erfahrungen während dieser Nachmittagsspaziergänge gewöhnt und stellte, da sie die Schachtel mit den Patronen unbewacht fand, mit ihrer Nase einige Untersuchungen an. Maisie schoß, konnte indes nicht sehen, wohin die Kugel geflogen war.
»Ich denke, sie traf den Pfosten,« sagte sie, ihre Augen beschattend und über die See blickend, auf der kein einziges Segel wahrzunehmen war.
»Ich weiß, sie ist hinausgeflogen nach der Marazion-Glockenboje,« bemerkte Dick kichernd. »Schieße niedrig und nach links, dann wirst Du vielleicht die Boje treffen. – O, sieh doch die Amomma! Sie frißt die Patronen auf!«
Maisie drehte sich um, den Revolver in der Hand, gerade in dem Augenblicke, als Amomma vor den Kieseln davonsprang, die Dick hinter ihr her warf. Nichts ist heilig für eine lüsterne Ziege. Obschon wohl genährt und der Liebling ihrer Herrin, hatte Amomma natürlich zwei gefüllte Zündnadelpatronen hinuntergeschluckt. Maisie eilte herbei, um sich selbst zu überzeugen, ob Dick sich auch nicht verzählt habe.
»Ja wohl, sie hat zwei Stück aufgefressen!«
»Abscheuliches kleines Tier! Nun werden sie in ihrem Bauche durch einander gerüttelt werden und losgehen, was ihr ganz recht ist … O, Dick, habe ich Dich totgeschossen?«
Revolver sind gefährliche Dinge in jungen Händen. Maisie konnte sich nicht erklären, wie es geschehen, doch ein Schleier von Rauch trennte sie plötzlich von Dick und sie war fest überzeugt, daß der Revolver ihm gerade ins Gesicht losgegangen sei. Dann hörte sie ihn schnaufen und, an seiner Seite in die Kniee sinkend, rief sie weinend aus: »Dick, Du bist nicht getroffen, nicht wahr? Ich wollte es nicht absichtlich thun.«
»Natürlich thatest Du es nicht absichtlich,« sagte Dick, aus dem Rauche hervortretend und seine Wange abwischend. »Aber Du hast mich beinah blind gemacht. Das schmierige Pulver sticht schrecklich!«
Ein schmaler kleiner Spritzer von grauem Blei auf einem Steine zeigte, wohin die Kugel geflogen war. Maisie begann zu jammern.
»Weine nicht,« sagte Dick, auf seine Füße springend und sich schüttelnd. »Ich bin nicht ein bißchen verletzt.«
»Nein, aber ich hätte Dich totschießen können,« protestirte Maisie, deren Mundwinkel herabhingen. »Was hätte ich dann nur angefangen?«
»Nach Hause gehen und es Mrs. Jennet erzählen.« Dick grinste bei diesem Gedanken; dann sagte er, sie beruhigend: »Bitte, ängstige Dich nicht deswegen. Außerdem verlieren wir unnötig Zeit. Wir müssen zum Thee wieder zu Hause sein. Ich werde nun den Revolver nehmen.«
Maisie würde bei der geringsten Veranlassung jetzt geweint haben, doch die Gleichgiltigkeit von Dick, obschon seine Hand etwas zitterte, als er den Revolver aufhob, hielt sie davon zurück. Sie lag schluchzend auf dem Strande, während Dick methodisch den Wellenbrecher bombardirte. »Doch noch zuletzt getroffen!« rief er aus, als ein Büschel Seegras von dem Holze fortflog.
»Laß es mich auch versuchen,« sagte Maisie gebieterisch. »Mir ist jetzt wieder ganz wohl.«
Sie schossen abwechselnd bis der gebrechliche kleine Revolver beinahe selbst in Stücke ging, während Amomma, die Verstoßene – weil sie in jedem Augenblick hätte auffliegen können – im Hintergrunde weidete und sich wunderte, weshalb Steine nach ihr geworfen wurden. Darauf fanden sie einen Balken von Zimmerholz in einer Pfütze unterhalb der seewärts gekehrten Böschung des Fort Keeling und setzten sich vor dieser neuen Scheibe nieder.
»In den nächsten Feiertagen,« sagte Dick, als der nun vollständig verdorbene Revolver gewaltig in seiner Hand stieß, »werden wir einen andern Revolver haben – einen mit Zentralfeuer – der wird weiter tragen.«
»Für mich wird es keine nächsten Feiertage geben,« erwiderte Maisie. »Ich gehe fort.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Mein Vormund hat an Mrs. Jennet geschrieben, daß ich irgendwo erzogen werden soll – vielleicht in Frankreich – ich weiß nicht, wo; doch ich werde froh sein, von hier fortzukommen.«
»Ich bin nicht ein bißchen froh. Ich vermute, daß ich hier bleiben muß. Höre, Maisie, ist es wirklich wahr, daß Du fortgehst? Dann werden diese Feiertage wohl die letzten sein, an denen ich etwas von Dir zu sehen bekomme; ich muß in der nächsten Woche wieder nach der Schule zurückkehren. Ich wünschte …«
Das junge Blut färbte seine Wangen scharlachrot. Maisie rupfte Grasbüschel aus und warf sie die Böschung hinunter nach einem gelben Seemohn, der einsam und allein dastand und zu den unbegrenzten Flächen des Schlammes und der milchweißen See hinabnickte.
»Ich wünschte,« sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich könnte Dich zuweilen wiedersehen. Du wünschest das auch, nicht wahr?«
»Ja, doch es wäre besser gewesen, wenn … wenn Du dort unten geradezu geschossen hättest, da unten bei dem Wellenbrecher.«
Maisie blickte einen Augenblick mit weitgeöffneten Augen vor sich hin. Das war der Knabe, welcher erst vor zehn Tagen Amommas Hörner mit Krausen von ausgeschnittenem Papier verziert, mit einem großen Barte geschmückt und so auf den öffentlichen Weg hinausgeführt hatte! Sie schlug ihre Augen nieder; das war nicht derselbe Knabe.
»Sei nicht einseitig,« sagte sie vorwurfsvoll und griff mit raschem Instinkte seine schwache Seite an. »Wie selbstsüchtig Du bist! Denke doch nur, was ich empfunden hätte, wenn das schreckliche Ding Dich getötet hätte! Ich bin deswegen schon unglücklich genug.«
»Weshalb? Weil Du von Mrs. Jennet fortgehst?«
»Nein.«
»Von mir also?«
Es erfolgte lange Zeit keine Antwort. Dick wagte es nicht, sie anzublicken. Er fühlte, obschon er sich dessen nicht bewußt war, was die letzten vier Jahre für ihn gewesen, und zwar um so mehr, als er nicht wußte, wie er seine Gefühle in Worten ausdrücken sollte.
»Ich weiß es nicht,« sagte sie endlich. »Ich vermute, es ist so.«
»Maisie, Du mußt es wissen. Ich vermute es nicht.«
»Laß uns nach Hause gehen,« sagte Maisie wehmütig.
Dick war jedoch nicht in der Stimmung, nachzugeben.
»Ich kann die Dinge nicht so sagen,« fuhr er fort, »und bin schrecklich betrübt darüber, daß ich Dich neulich so wegen Amomma geplagt habe. Jetzt ist alles ganz anders, Maisie; kannst Du das nicht sehen? Auch hättest Du mir wohl sagen können, daß Du fortgehst, anstatt es mich herausfinden zu lassen.«
»Du hast es nicht herausgefunden, ich habe es Dir gesagt. O Dick, was hat es für einen Nutzen, sich zu betrüben?«
»Gar keinen; aber wir sind doch Jahre und Jahre bei einander gewesen, und ich wußte gar nicht, wie sehr ich mich um Dich sorgte, wie gern ich Dich hatte.«
»Ich glaube nicht, daß Du jemals etwas gern gehabt hast.«
»Nein, ich that es nicht; doch ich thue es jetzt – ich habe Dich schrecklich gerne, Maisie,« sagte er schluckend, »Maisie, Liebling, sage, daß Du mich auch gern hast, bitte.«
»Ich habe Dich gern, wirklich, es ist so; es wird jedoch gar keinen Zweck haben.«
»Weshalb?«
»Weil ich fortgehe.«
»Ja, doch wenn Du mir etwas versprichst, bevor Du gehst. Sage es doch nur – willst Du?« Ein zweites »Liebling« kam auf seine Lippen, leichter als das erstemal. In Dicks häuslichem Leben oder in der Schule hatte er nur sehr wenig Zärtlichkeit erfahren; er fand sie aus Instinkt. Dick erfaßte die kleine Hand, welche von dem Rauche des Revolvers geschwärzt war.
»Ich verspreche es,« sagte sie feierlich, »doch wenn ich Dich gern habe, so bedarf es erst gar keines Versprechens.«
»Und Du hast mich gern?« Zum erstenmal während der letzten Minuten begegneten sich ihre Augen und sprachen für sie, die kein Geschick zum Sprechen hatten …
»O Dick, thu es nicht! Bitte, thu es nicht! Es war alles recht, wenn wir uns guten Morgen sagten; doch nun ist es ganz anders!« Amomma sah von weitem herüber. Sie hatte schon häufig über ihren Besitz streiten, doch noch niemals zuvor Küsse austauschen sehen. Der gelbe Seemohn war weiser und nickte beifällig mit dem Kopfe. Als Kuß betrachtet war es ein Mißlingen, doch, da es der erste war, ein ganz anderer als die von der Pflicht erheischten, der erste, den jeder von den beiden jemals gegeben oder empfangen hatte, so erschloß ihnen derselbe neue Welten, so köstliche, daß sie jeder Betrachtung irgend einer Welt überhaupt entrückt wurden – besonders derjenigen, in welcher Thee notwendig ist; sie saßen ruhig da, Hand in Hand, ohne ein Wort zu sprechen.
»Jetzt kannst Du mich nicht mehr vergessen,« sagte Dick endlich. Auf seiner Wange war etwas, das heftiger stach als Schießpulver.
»Ich würde Dich so wie so nicht vergessen haben,« erwiderte Maisie; sie blickten einander wieder an und bemerkten, daß jeder ein anderer geworden als der Spielgefährte, der er vor einer Stunde gewesen, zu einem Wunder und einem Geheimnis, das sie nicht begreifen konnten. Die Sonne begann sich zum Untergehen zu neigen und der Abendwind strich längs den Biegungen des Vorstrandes.
»Wir werden schrecklich spät zum Thee kommen,« sagte Maisie. »Laß uns nach Hause gehen.«
»Wir wollen erst den Rest der Patronen verschießen,« entgegnete Dick; er half Maisie darauf von der Böschung des Forts nach der See hinunter – ein Abstieg, den sie vollkommen befähigt war, in vollem Laufe zu bewerkstelligen. Ernsthaft nahm sie die beschmutzte Hand. Dick neigte sich ungeschickt vorwärts; Maisie zog ihre Hand zurück und Dick errötete.
»Sie ist wirklich hübsch,« sagte er.
»Puh!« machte Maisie mit einem kleinen Lächeln befriedigter Eitelkeit. Sie stand dicht neben Dick als er den Revolver zum letztenmale lud und über das Wasser hin schoß, mit einem unbestimmten Gefühle, daß er Maisie vor allen Uebeln der Welt beschützen möchte. Ein Wasserpfuhl weit draußen im Schlamme spiegelte die letzten Sonnenstrahlen wider, wie eine grimmige rote Scheibe. Der Schein fesselte Dicks Aufmerksamkeit für einen Augenblick, und als er den Revolver erhob, überkam ihn wiederholt das Gefühl des Wunderbaren, daß er bei Maisie stehe, die versprochen, ihn lieb zu haben für eine unbegrenzte Zeit, bis zu einem Tage, an welchem … Der stärker werdende Wind trieb das lange schwarze Haar des Mädchens ihm über das Gesicht, wie sie bei ihm stand, die eine Hand auf seine Schulter gelegt, Amomma eine kleine Bestie nennend; einen Augenblick lang befand er sich im Dunkeln, – ein Dunkel, das ihn prickelte. Die Kugel flog singend hinaus in die See.
»Mein Ziel verfehlt,« sagte er kopfschüttelnd. »Jetzt sind keine Patronen mehr da; wir wollen nach Hause laufen.«
Doch sie liefen nicht, sondern gingen ganz langsam, Arm in Arm. Es war ihnen gleichgiltig, ob die vernachlässigte Amomma, mit zwei Zündnadelpatronen im Leibe, in die Luft flog oder neben ihnen her trabte; denn sie hatten eine goldene Erbschaft angetreten und disponirten über dieselbe mit der ganzen Weisheit ihrer Jahre.
»Und ich werde sein …« sagte Dick kräftig. Dann schwieg er plötzlich. »Ich weiß nicht, was ich sein werde. Es scheint nicht, daß ich fähig bin, irgend ein Examen abzulegen, aber ich kann schreckliche Karikaturen von den Lehrern zeichnen. Ho! Ho!«
»Dann werde ein Künstler,« sagte Maisie. »Du lachst immer über meine Versuche zu zeichnen, aber für Dich wird es gut sein.«
»Ich werde niemals über etwas lachen, was Du thust,« antwortete er. »Ich will ein Künstler werden und alles mögliche ausführen.«
»Künstler brauchen immer Geld, nicht wahr?«
»Ich habe hundertundzwanzig Pfund jährlich als mein Eigentum erhalten. Meine Vormünder sagten mir, daß ich das Geld bekommen würde, sobald ich großjährig wäre. Das wird genug sein, um damit zu beginnen.«
»O, ich bin reich,« sagte Maisie. »Ich habe dreihundert jährlich, die mir ganz allein gehören, wenn ich einundzwanzig Jahre alt bin. Deswegen ist Mrs. Jennet auch freundlicher gegen mich als gegen Dich. Ich wünschte jedoch, daß ich irgend jemand hätte, der zu mir gehörte – einen Vater oder eine Mutter.«
»Du gehörst mir für immer und ewig,« rief Dick aus.
»Ja, wir gehören einander – für immer. Es ist wirklich hübsch.«
Sie zwickte ihn in den Arm. Die gütige Dunkelheit umgab beide, und, ermutigt dadurch, daß er nur gerade Maisies Profil sehen konnte mit den langen, die grauen Augen verschleiernden Augenwimpern, wagte Dick an der Vorderthüre die Worte auszusprechen, über welche er während der letzten zwei Stunden gebrütet hatte: »Und ich – ich liebe Dich, Maisie,« sagte er in flüsterndem Tone, der ihm durch die ganze Welt zu klingen schien, – die Welt, welche zu erobern er morgen oder am folgenden Tage ausziehen wollte.
Es gab eine große Scene, als Mrs. Jennet über ihn herfiel, erstlich wegen schändlicher Unpünktlichkeit und zweitens weil er sich mit einer verbotenen Waffe beinahe getötet.
»Ich spielte mit dem Ding, als es plötzlich von selbst losging,« sagte Dick, als die Wange voll Pulverkörner nicht länger verborgen bleiben konnte, »doch wenn Sie meinen, mich deswegen schlagen zu können, so irren Sie sich. Sie sollen es nie mehr wagen, mich anzurühren! Setzen Sie sich und geben Sie mir meinen Thee. Sie können uns nicht darum betrügen, durchaus nicht.«
Mrs. Jennet schnappte nach Luft und wurde leichenblaß. Maisie sagte nichts, ermutigte jedoch Dick, der sich den ganzen Abend über höchst abscheulich benahm, mit den Augen. Mrs. Jennet prophezeite ein unmittelbar eintreffendes Gericht der Vorsehung und später eine Niederfahrt zur Hölle, nach Tophat, doch Dick wandelte im Paradiese und wollte nichts hören. Erst als er zu Bett gehen wollte, erholte sich Mrs. Jennet und begann wieder zu sich zu kommen. Er hatte mit niedergeschlagenen Augen und aus der Entfernung Maisie »Gute Nacht!« gesagt.
»Wenn Du auch kein Gentleman bist, so solltest Du wenigstens versuchen, Dich wie ein solcher zu betragen,« sagte Mrs. Jennet zornig. »Du hast Dich schon wieder mit Maisie gezankt.«
Das bezog sich darauf, daß der gebräuchliche Gute Nacht-Kuß unterblieben war. Maisie, blaß bis an die Lippen, reichte ihre Wange mit einer allerliebsten Miene von Gleichgiltigkeit hin und wurde pflichtschuldigst von Dick geküßt, der, rot wie Feuer, aus dem Zimmer stolperte. In jener Nacht hatte er einen wilden Traum. Er hatte die ganze Welt gewonnen und brachte dieselbe in einer Patronenschachtel zu Maisie, doch diese stieß sie mit dem Fuße um und rief, anstatt sich zu bedanken:
»Wo ist das Grashalsband, das Du mir für Amomma versprochen hast? O, wie selbstsüchtig bist Du!«
»Ich bin nicht ärgerlich über das britische Publikum, aber ich wünsche doch, wir hätten hier einige Tausend davon zwischen den Felsen zerstreut; sie würden dann gewiß nicht in solcher Eile sein, ihre Morgenzeitung zu erhalten. Könnt Ihr Euch den pedantischen Hausherrn – den Freund der Gerechtigkeit, den ständigen Leser, Paterfamilias und all das Zeug – vorstellen, schmorend auf heißem Kies?«
»Mit einem blauen Schleier über seinem Haupte und zerrissenen Kleidern. Hat irgend jemand hier eine Nadel? Ich habe ein Stück von einem Zuckersack bekommen.«
»Ich will Ihnen eine Stecknadel leihen für sechs Quadratzoll davon. Meine beiden Kniee sind durchgescheuert.«
»Weshalb nicht gleich sechs Quadrat-Acres, da Sie doch einmal beim Fordern sind? Doch leihen Sie mir die Nadel, und ich will sehen, was ich mit dem Fetzen anfangen kann. Ich glaube nicht, daß genug davon vorhanden ist, um meinen königlichen Leib gegen den kalten Zug zu beschützen, der augenblicklich weht. Was machen Sie denn mit Ihrem ewigen Skizzenbuche, Dick?«
»Studien von unserem Spezialkorrespondenten, seine Hosen ausbessernd,« antwortete Dick ernsthaft, während der andere Mann ein Paar sehr abgetragener Reithosen hervorzog und anfing, ein viereckiges Stück grober Sackleinwand auf die am meisten sichtbaren offenen Stellen zu setzen. Er murrte entmutigt, als sich die ungeheure Ausdehnung des leeren Raumes vor ihm entfaltete.
»Kaffeesäcke, in der That! Heda! Du, Lotse dort, leihe mir die sämtlichen Segel Deines Walfischbootes!«
Ein mit einem Fez bedeckter Kopf richtete sich in den Sternschooten auf, in zwei genau gleich große Hälften durch ein aufblitzendes Grinsen geteilt, und verschwand dann wieder. Der Mann mit den beschädigten Hosen, nur mit einem Norfolk-Jaquet und einem grauen Flanellhemd bekleidet, fuhr mit seiner Näharbeit fort, während Dick über seiner Skizze kicherte.
Einige zwanzig Walfischboote lagen mit der Nase auf einer Sandbank, die mit sich badenden oder ihre Kleider waschenden englischen Soldaten von einem halben Dutzend Corps bedeckt war. Ein Haufen von Bootwalzen, Kommissariatskisten, Zuckersäcken, Mehl-und Munitionskisten für Handfeuerwaffen zeigte, wo eins der Walfischboote gezwungen gewesen war, hastig seine Ladung zu löschen; ein Regimentszimmermann fluchte laut, als er versuchte, mit einem gänzlich unzureichenden Stück Zinn die von der Sonne ausgedörrten offenen Fugen des Bootes zu verstopfen.
»Erst bricht das verflixte Ruder ab,« sagte der Mann vor sich hin, »dann geht der Mast zum Henker, und zuletzt öffnet sich das Boot wie ein hahnenäugiger chinesischer Lotus!«
»Genau der Fall wie mit meinen Hosen,« sagte der Nähende, ohne aufzublicken. »Dick, ich bin wirklich neugierig, wann ich wieder einen anständigen Laden zu Gesicht bekommen werde.«
Er erhielt keine Antwort, nur das unaufhörliche starke Murmeln des Nil ließ sich hören, der um die Basaltufer einer Biegung strömte und eine halbe Meile stromaufwärts über ein Felsriff schäumte. Es war, als ob die braune Masse des Flusses die weißen Männer in ihr eigenes Land zurücktreiben wollte. Der unbeschreibliche Geruch des Nilschlammes verkündete, daß der Strom im Fallen begriffen sei und daß es für die Walfischboote keine leichte Arbeit sein würde, die nächsten paar Meilen zu überwinden. Die Wüste stieg bis zu den Ufern hinab, wo zwischen grauen, roten und schwarzen Hügeln ein Kamelcorps lagerte. Niemand durfte es wagen, auch nur für einen Tag die Fühlung mit den langsam sich vorwärts bewegenden Booten zu verlieren; seit Wochen hatte kein Gefecht stattgefunden und während der ganzen Zeit der Nil ihnen viel zu schaffen gemacht. Eine Stromschnelle war der andern gefolgt, ein Fels dem andern und Inselgruppe auf Inselgruppe, bis die ganze Kolonne seit langem jede Berechnung bezüglich der Richtung und beinahe auch der Zeit verloren hatte. Sie bewegten sich irgendwohin und wußten nicht, weshalb, und verrichteten Dinge, ohne zu wissen, was. Vor ihnen lag der Nil und am andern Ende desselben befand sich Gordon, kämpfend um sein teures Leben, in einer Stadt, genannt Khartum. In der Wüste, oder in einer der zahlreichen Wüsten, marschirten Kolonnen britischer Truppen, andere Kolonnen befanden sich auf dem Strome, während noch mehr Truppenkörper warteten, sich ebenfalls auf dem Flusse einzuschiffen; frische Fahrzeuge warteten in Assiut und Assuan; Lügen und Gerüchte waren von Suakim bis zum sechsten Katarakt über die ganze Ausdehnung des hoffnungslosen Landes verbreitet, und man vermutete allgemein, daß irgend jemand an der Spitze stehen müsse, welcher den Generalplan aller dieser mannigfachen Bewegungen dirigire. Die Aufgabe dieser besonderen Flußkolonne war, die Walfischboote flott auf dem Wasser zu erhalten, zu verhindern, daß die Ernte der Dorfbewohner niedergetreten werde, wenn die Leute die Boote mit Tauen von der Mitte des Stromes ans Ufer zogen, drittens so viel Schlaf und Nahrung als möglich zu sich zu nehmen und vor allem ohne Aufenthalt so weit als möglich den sprudelnden Nil aufwärts vorzudringen.
Mit den Soldaten gemeinschaftlich schwitzten und plagten sich die Korrespondenten der verschiedenen Zeitungen; sie waren meistens ebenso unwissend als ihre Gefährten über das, was vorging. Aber es war vor allen Dingen absolut notwendig, daß England beim Frühstück sich unterhielt, zitterte und sich interessirte, ob Gordon lebte oder tot sei, oder die Hälfte der britischen Armee im Wüstensande zu Grunde gegangen. Der Feldzug im Sudan war ein pittoresker und eignete sich vortrefflich dazu, eine Schilderung mit Worten durch Skizzen zu beleben. Hin und wieder richtete ein Spezialkünstler es so ein, daß er erschlagen wurde – was nicht immer gerade ein Nachteil für das Blatt war, das ihn angestellt hatte – und noch häufiger bot der Verlauf der meistens aus Handgemengen bestehenden Gefechte Gelegenheit, wunderbare Rettungen und merkwürdiges Entrinnen, zu achtzehn Pence das Wort, nach der Heimat zu telegraphiren. Bei den verschiedenen Corps und Kolonnen gab es Korrespondenten aller Art, von den Veteranen, die der Kavallerie bei der 1882 ausgeführten Einnahme von Kairo, als Arabi-Pascha sich selbst noch König nannte, auf dem Fuße gefolgt waren, und dann die ersten elenden Schanzen rings um Suakim gesehen hatten, wo die Schildwachen des Nachts aufgehoben und ermordet wurden – von diesen Veteranen bis zu den telegraphisch berufenen jungen Korrespondenten, die an Stelle von getöteten oder invalid gewordenen, besseren Leuten treten sollten.
Zu diesen Senioren, die jeden oft überraschenden Wechsel in den Posteinrichtungen ebenso gut kannten wie den Wert des elendesten Karrengauls in Kairo oder Alexandrien, die es verstanden, einen Telegraphenbeamten bis zur Liebenswürdigkeit zu bringen und die geräuschvolle Eitelkeit eines frisch ernannten Offiziers des Stabes zu besänftigen, wenn die Bestimmungen über die Presse zu lästig wurden – zu diesen Senioren gehörte auch der Mann im Flanellhemde, der schwarzhaarige Torpenhow. Er repräsentirte im Feldzuge das Central Southern Syndikat, wie er dasselbe bereits im ägyptischen Kriege und anderswo repräsentirt hatte. Das Syndikat befaßte sich selbst nicht besonders mit Kritiken über Attaken und dergleichen. Es sorgte für die Unterhaltung der Massen, und alles, was es verlangte, waren Skizzen und zahlreiche Einzelheiten; denn in England ist mehr Freude über einen Soldaten, der subordinationswidrig aus dem Carré heraustritt, um einen Kameraden zu befreien, als über zwanzig Generale, die mit den einfältigen Details des Transportes und der Verpflegung sich abquälen, bis sie kahlköpfig werden. Er hatte in Suakim einen jungen Mann angetroffen, der auf dem Rande einer vor kurzem verlassenen Redoute saß, die etwa die Gestalt einer Hutschachtel hatte, und einen Haufen von Leichen skizzirte, die, von Granaten zerrissen, auf der mit Kies bedeckten Ebene lagen.
»Für wen sind Sie hier?« fragte Torpenhow. Die Begrüßung eines Korrespondenten gleicht derjenigen eines Geschäftsreisenden auf der Landstraße.
»Auf eigene Hand,« antwortete der junge Mann, ohne aufzublicken, »Haben Sie etwas Tabak?«
Torpenhow wartete, bis die Skizze beendigt war, und als er dieselbe betrachtet, sagte er: »Was für eine Beschäftigung haben Sie hier?«
»Gar keine; es bot sich mir Gelegenheit zu einer Ruderfahrt dar, und so kam ich her. Man nahm an, daß ich hier unten etwas an den gemalten Streifen der Boote zu thun hatte, oder auch beauftragt sei, den Kondensator auf einem der Wasserschiffe zu beaufsichtigen. Ich habe vergessen, auf welchem.«
»Sie haben Keckheit genug, um überall durchzukommen,« sagte Torpenhow und nahm die Skizzenmappe seines neuen Bekannten auf. »Zeichnen Sie immer so wie das hier?«
Der junge Mann zeigte ihm noch andere Skizzen.
»Ruderfahrt auf einem chinesischen Schweineboot,« sagte er erläuternd, ihm eine der Zeichnungen zeigend, »Obersteuermann, erdolcht von einem Comprador. – Dschunke an der Küste von Hakodate. – – Ein Somali-Maultiertreiber, der gepeitscht wird. – Eine Granate, über dem Lager von Berbera platzend. – Sklaven-Dhau in der Tajurrah-Bai gejagt. – Ein toter Soldat im Mondlicht außerhalb Suakims, die Kehle von Fuzzies durchgeschnitten.«
»Hm!« sagte Torpenhow, »kann gerade nicht behaupten, daß ich Werestschagin besonders liebe; aber über den Geschmack kann man nicht streiten, haben Sie jetzt irgend etwas zu thun?«
»Nein, ich amüsire mich hier.«
Torpenhow betrachtete die schreckliche Trostlosigkeit des Platzes.
»Wahrlich, Sie haben sonderbare Ansichten über Amusement. Haben Sie noch Geld?«
»Genug, um weiter zu gehen. Doch wohlan; können Sie mich für Kriegsarbeit gebrauchen?«
»Ich nicht, doch mein Syndikat vielleicht, Sie können mehr als ein bißchen zeichnen und ich vermute, Sie bekümmern sich nicht viel darum, was Sie bekommen können, nicht wahr?«
»Jetzt nicht. Ich warte auf die erste günstige Gelegenheit.«
Torpenhow betrachtete nochmals die Skizzen und nickte mit dem Kopfe, »Ja, Sie haben recht, Ihre erste günstige Gelegenheit zu benützen, wenn Sie eine ergreifen können.«
Er ritt schnell davon durch das Thor der »Zwei Kriegsschiffe«, klapperte über den Damm in die Stadt und telegraphirte an sein Syndikat: »Einen Mann hier gefunden, Maler. Gut und billig. Soll ich Sache arrangiren? Wird Skizzen liefern!«
Der Mann auf der Redoute saß da, mit den Beinen schlenkernd, und murmelte:
»Ich wußte, daß die Gelegenheit kommen würde, früher oder später. Bei Gott! Sie sollen schwitzen dafür, wenn ich lebendig aus diesem Geschäfte hier davonkomme!«
An demselben Abende war Torpenhow im stande, seinem jungen Freunde anzukündigen, daß die Central Southern Agentur willens sei, ihn auf Probe anzunehmen und alle Unkosten für die nächsten drei Monate zu bezahlen. »Und, beiläufig, wie ist Ihr Name?« fragte Torpenhow.
»Heldar. Läßt man mir freie Hand?«
»Man hat Sie auf Risiko angenommen; es ist an Ihnen, diese Wahl zu rechtfertigen. Sie würden besser thun, sich an mich anzuschließen. Ich gehe mit einer Kolonne das Land aufwärts, und will für Sie thun, was ich kann. Geben Sie mir einige von Ihren Skizzen, die Sie hier gemacht haben, ich will sie den Leuten hinschicken.« Zu sich selbst sagte er: »Das ist der beste Handel, den die Central Southern jemals gemacht hat; und sie hatten mich selbst doch billig genug bekommen.«
So ereignete es sich denn, daß, nachdem er einige Einkäufe von Pferdefleisch und finanzielle wie politische Arrangements getroffen, Dick als Geselle freigesprochen wurde von der »Neuen und Ehrenwerten Brüderschaft« der Kriegskorrespondenten, die alle das unveräußerliche Recht besitzen, so viel zu arbeiten, wie sie können und dafür so viel zu empfangen, wie es der Vorsehung und ihren Prinzipalen beliebt, ihnen zu geben. Zu diesen Vorrechten kommt noch die Macht hinzu, so eindringlich zu sprechen, daß weder Mann noch Weib widerstehen können, wenn es sich um eine Mahlzeit oder ein Bett handelt; ferner besitzt er das Auge eines Roßtäuschers, das Geschick eines Kochs, die Konstitution eines Stieres, die Verdauung eines Straußen und eine unbegrenzte Fähigkeit, sich allen Verhältnissen anzupassen. Indes sterben manche, bevor sie es zu diesem Grade von Vollkommenheit gebracht haben, und die Meister in der Kunst erscheinen meistenteils in elegantem Anzuge, wenn sie wieder in England sind, wodurch natürlich ihr Ruhm der großen Menge verborgen bleibt.
Dick folgte Torpenhow überall, wohin es dessen Phantasie beliebte, ihn zu führen, und sie fertigten zu zweien manche Arbeit an, die meistens sie selbst sehr befriedigte. Es war in keiner Hinsicht ein leichtes, gemächliches Leben, das sie führten, doch wurden sie durch dasselbe wirklich innig zu einander hingezogen; denn sie aßen aus derselben Schüssel, teilten dieselbe Wasserflasche mit einander und schickten, was sie am meisten verband, zusammen ihre Postsendungen ab. Dick war es, dem es gelang, einen Telegraphenbeamten in einer Palmenhütte, weit jenseits des zweiten Kataraktes, gewaltig betrunken zu machen und sich dann, während der Mann selig auf dem Fußboden lag, in den Besitz einiger mühsam erlangten, geheimen Informationen zu setzen, die von einem vertrauten Korrespondenten eines konkurrirenden Syndikates abgesandt worden waren. Er fertigte ein sorgfältiges Duplikat des Berichtes an und brachte Torpenhow das Resultat seiner Arbeit; der sagte, alles sei erlaubt in der Liebe oder in der Kriegskorrespondenz, und fertigte dann einen vortrefflichen Artikel aus seines Nebenbuhlers wortreichem Aufsatz an. Torpenhow war es – doch die Erzählung ihrer Abenteuer, gemeinschaftlicher und einzelner, von Philae bis zu der weiten Wildnis von Herawi und Muella, würde Bücher anfüllen. Sie waren Seite an Seite in einem Carré eingeschlossen gewesen, in der größten Gefahr, von den aufgeregten Soldaten erschossen zu werden; sie hatten in der kalten Dämmerung mit den Bagagekamelen gekämpft; sie waren in der blendenden Sonne auf unermüdlichen, kleinen ägyptischen Pferden schweigend dahingetrabt, und sie hatten sich abgemüht auf den Untiefen des Nils, wenn die Walfischboote, in denen sie einen Platz gefunden, auf einen verborgenen Felsen stießen und die Hälfte ihrer Bodenplanken aufgerissen wurde.
Jetzt saßen sie auf der Sandbank, während die Walfischboote die Nachzügler der Kolonne heranbrachten.
»Ja,« sagte Torpenhow, als er die letzten ungeschickten Stiche in seinen schon lange vernachlässigten Kleidern anbrachte, »es war eine schöne, herrliche Beschäftigung, die wir gehabt.«
»Das Flicken oder der Feldzug?« fragte Dick. »Ich, meinerseits, halte nicht besonders viel von beiden.«
»Sie wollen den ›Euryalus‹ bis oberhalb des dritten Kataraktes hinaufgebracht haben, nicht wahr? und Einundachtzig-Tonnen-Geschütze nach Jakdul? Nun, was mich anbetrifft, so bin ich sehr befriedigt über meine Hosen.« Er drehte sich ganz ernsthaft um sich selbst, um seine Person zu zeigen, auf die Art, wie es die Clowns machen.
»Es ist wirklich sehr hübsch, besonders die Buchstaben auf dem Sacke: G. B. T. ›Gouvernements-Büffel-Train‹. Das ist ein Sack aus Indien.«
»Es sind die Anfangsbuchstaben meines Namens: Gilbert Belling Torpenhow. Ich stahl das Zeug nur deswegen. Was für Unheil stiftet denn das Kamelcorps dort hinten an?« Torpenhow beschattete seine Augen mit der Hand und blickte über den Kies.
Ein Horn ertönte aus aller Macht; die Leute am Ufer liefen zu ihren Waffen und ihrer Ausrüstung.
»Eingeborene Soldaten beim Baden überrascht,« bemerkte Dick ruhig. »Erinnern Sie sich des Gemäldes? Es ist von Michel Angelo; alle Anfänger kopiren es. Der Kies wimmelt von lauter Feinden.«
Der Befehlshaber des Kamelcorps am Ufer schrie der Infanterie zu, sich mit ihm zu vereinigen, während ein heiseres Geschrei stromabwärts verkündete, daß die Nachzügler der Kolonne von dem Ueberfalle Wind bekommen hatten und sich beeilten, an dem Gefechte teilzunehmen. So plötzlich wie eine Fläche ruhigen Wassers vom Winde gekräuselt wird, so rasch belebten sich die felsigen Höhen und die mit Gesträuch bedeckten Hügel mit bewaffneten Männern. Glücklicherweise standen diese letzteren eine Zeit lang ziemlich entfernt und begnügten sich, laut zu schreien und lebhaft zu gestikuliren; ein Mann hielt ihnen sogar eine lange Rede. Das Kamelcorps feuerte nicht; die Soldaten waren sehr froh, einen Augenblick verschnaufen zu können, bis eine Art von Carré formirt werden konnte. Die Leute auf der Sandbank liefen dorthin und stellten sich seitwärts auf, während die Walfischboote, als sie bis auf Rufweite sich herangequält hatten, am nächsten Ufer anlegten und alle Gesunden ausschifften, nur die Kranken und einige Leute an Bord behaltend, um die Boote zu bewachen. Der arabische Redner hatte seine Ansprache beendigt, worauf seine Gefährten ein fürchterliches Geheul ausstießen.
»Sie sehen gerade so aus wie die Leute des Mahdi,« sagte Torpenhow, sich Bahn machend in das Gedränge des Carrés hinein, »aber wie viel Tausende von ihnen sind dort! Die Stämme hier aus der Umgegend sind uns nicht feindlich gesinnt, so viel ich weiß.«
»Dann haben die Truppen des Mahdi wieder eine Stadt eingenommen,« erwiderte Dick, »und alle diese bellenden Teufel losgelassen, um uns aufzufressen. Leihen Sie mir Ihr Glas.«
»Unsere Späher hätten uns von dieser Geschichte benachrichtigen sollen. Wir sind in eine Falle geraten,« bemerkte ein Subalternoffizier. »Werden denn die Kanonen des Kamelcorps nicht bald zu feuern anfangen? Rasch, ihr Leute, beeilt euch!«
Es bedurfte gar keines Befehles hierzu. Die Soldaten flogen von selbst keuchend nach den Seiten des Carrés, denn sie wußten nur zu gut, daß diejenigen, welche sich außerhalb desselben befanden, wenn das Gefecht begann, sehr wahrscheinlich auf eine außerordentlich unangenehme Weise getötet würden. Die kleinen, hundertundfünfzig Pfund schweren Geschütze des Kamelcorps, die an den Ecken des Carrés aufgestellt waren, eröffneten den Ball, als das Carré sich nach rechts vorwärts bewegte, um Besitz von einem kleinen Erdhügel auf dem ansteigenden Boden zu nehmen. Alle hatten auf diese Art bereits manchesmal gefochten, es war demnach nichts Neues mehr für die Soldaten; stets dieselbe heiße und erstickende Formation, der Geruch von Staub und Leder, derselbe plötzliche, blitzartige Ansturm des Feindes, dasselbe Gedränge und Drücken auf der schwächsten Seite des Carrés, einige Minuten lang ein verzweifeltes Handgemenge und darauf das Schweigen der Wüste, nur unterbrochen von dem Geschrei derjenigen, welche die Handvoll Kavallerie zu verfolgen versuchte. Die Leute waren sorglos geworden. Die Geschütze ließen in Zwischenpausen ihre Stimme ertönen, während das Carré inmitten der widerspenstigen Kamele langsam vorrückte. Darauf kam der Angriff von dreitausend Mann, die nicht aus Büchern gelernt hatten, daß es für eine undisziplinirte Truppe unmöglich ist, in geschlossener Ordnung ein mit Hinterladern bewaffnetes Carré anzugreifen. Einige wenige vereinzelte Schüsse verkündeten ihre Annäherung; einige Reiter führten die Angreifer an, doch die Masse des Feindes bestand aus nackten Menschen, wahnsinnig vor Wut, mit Speer und Schwert bewaffnet. Der Instinkt der Wüste, in der stets Krieg geführt wird, sagte ihnen, daß die rechte Flanke des Carrés die schwächste sei, denn sie schwenkten von der Front ab. Die Kamelkanonen beschossen sie, als sie vorüberstürmten, und öffneten für einen Augenblick förmliche Straßen mitten durch sie hindurch, ähnlich den sich rasch schließenden Durchblicken, wenn ein Eisenbahnzug bei einem Hopfengarten vorüber saust, während das Gewehrfeuer der Infanterie, bis zum günstigsten Augenblick zurückgehalten, sie in dichten Massen zu Hunderten über den Haufen warf. Keine zivilisirten Truppen der Welt hätten die Hölle ertragen, durch welche die Araber des Mahdi kamen, die Ueberlebenden hoch aufspringend, um die Sterbenden zu vermeiden, die sich an ihre Fersen anklammerten, die Verwundeten verfluchend und nur vorwärts stürzend, bis sie – gleich einem schwarzen Strom – wie das über einen Mühlendamm gleitende Wasser – auf die rechte Flanke des Carrés sich warfen. Dann verschwand die Linie der mit Staub bedeckten Soldaten und der hellblaue Himmel der Wüste über ihnen in dem aufwallenden Rauche, während die kleinen Steine auf dem erhitzten Boden und die zu Zunder gedörrten Haufen von Gestrüpp zu Gegenständen des größten Interesses wurden, denn sterbende Männer suchten hinter denselben Schutz und einen Augenblick Erholung, sich mechanisch einen Weg hauend durch die Zweige und hinter den Steinen sich verbergend. Der ganze Kampf zeigte nicht die mindeste Aehnlichkeit mit einem vorher geplanten, regelrechten Gefechte. Soviel die Soldaten aus Erfahrung wußten, würde der Feind versuchen, alle vier Seiten des Carrés zu gleicher Zeit anzugreifen; ihre Aufgabe bestand deshalb darin, alles zu vernichten, was vor ihrer Front sich befand, mit dem Bajonett diejenigen von hinten niederzustoßen, die über sie hinweggesprungen, um noch sterbend ihren Feind niederzureißen, bis irgend ein Gewehrkolben denselben den Kopf zerschmetterte.