Erste Hilfe für die Künstlerseele - Christina Barandun - E-Book

Erste Hilfe für die Künstlerseele E-Book

Christina Barandun

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Beschreibung

Ein praktischer Ratgeber für Mitarbeiter*innen in Kunst- und Kulturbetrieben. Künstlerinnen und Künstler stehen in Theatern, Opern, Orchestern und anderen Kulturinstitutionen unter hohem Druck: Konkurrenz, viel Kritik, herausfordernde Regie- und Führungspersönlichkeiten und kurze Zeitverträge sind nur einige der Belastungen, mit denen sie konfrontiert sind. Trotz widriger Arbeitsumstände, persönlicher Herausforderungen und zwischenmenschlicher Konflikte werden kontinuierlich künstlerische Höchstleistungen gefordert. Die Stress- und Mentalcoachin Christina Barandun leistet mit Tipps und praktischen Übungen "Erste Hilfe" und zeigt in ihrem Ratgeber, wie Kunstschaffende in ihrem komplexen kreativ-chaotischen Arbeitsumfeld besser mit Stress und psychischen Belastungen umgehen, wie sie ihre Ressourcen erkennen und stärken und ihre Kommunikations- und Konfliktfähigkeit verbessern können. "Dieser Ratgeber kommt im richtigen Moment!" Hubert Eckart, Deutsche Theatertechnische Gesellschaft "Christina Barandun schafft es, ihr fundiertes Fachwissen praxisnah, lebendig und kreativ weiterzugeben. Sie sieht die Bedürfnisse des Einzelnen und verliert dabei nicht den Blick auf das ›große Ganze‹." Tanja Krischer, Deutscher Bühnenverein "Ein wirksamer Werkzeugkasten für die Arbeit auf und hinter der Bühne." Katrin Reichardt, Aalto Musiktheater Essen

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Seitenzahl: 230

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Barandun, Erste Hilfe für die Künstlerseele

Photo: © Bettina Fürst-Fastré

Christina Barandun, geb. 1974, ist Theaterwissenschaftlerin und Beraterin für Organisations- und Mitarbeiterentwicklung sowie betriebliches Gesundheitsmanagement in Theatern. Sie lebt in Bonn und arbeitet als Coach für Führungskräfte und Teams. In Verbindung mit Übungen aus der japanischen Kampfkunst Aikido gibt sie auch Seminare zu Stressbewältigung, Kommunikation und Konfliktlösung. (www.barandun.de)

Christina Barandun

ERSTE HILFE FÜR DIE KÜNSTLERSEELE

Stressbewältigung, Kommunikation undKonfliktlösung im Kulturbetrieb

Ein Ratgeber

For Yoshi and Daniela – thank you for your ›yes‹.

C. B.

Originalausgabe

© by Alexander Verlag Berlin 2018

Postfach 19 18 24, D-14008 Berlin

www.alexander-verlag.com | [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/Redaktion: Christin Heinrichs-Lauer

Grafik/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Illustrationen: Bettina von Keitz

ISBN 978-3-89581-558-4 (eBook)

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Warum ertragen, wenn ich gestalten kann?

Erste kleine Schritte zu einem Theater der Zukunft

Um was es mir geht

Kapitel 1: Der Theaterbetrieb – viel Potenzial für Gesundheit

Das Dilemma des Künstlers

Die herausfordernde Arbeitsaufgabe des Künstlers

Mythos des leidenden Künstlers

Ist Kunstfreiheit wirklich grenzenlos?

Der tägliche Theaterwahnsinn

Arbeitsplatz und Arbeitsorganisation

Soziale Strukturen und Beziehungen

Gesundheitsschutz als Chance

Was ist Gesundheit?

Arbeitsschutz – dein Freund und Helfer

Wenn uns die Belastungen psychisch überfordern

Eine große Chance für Künstler

Mentaltraining für den Kunst-Leistungssport?

Geht nicht gibt’s nicht!

Kapitel 2: Kraft der Selbstwirksamkeit

Raus aus der Opferrolle!

Der Frust aus künstlerischer Ohnmacht

Zwischen Sicherheit und künstlerischer Wertschätzung

Haltung einnehmen: Was die Kampfkunstphilosophie uns lehren kann

Budo – die japanische Kampfkunstphilosophie

Ich habe es in der Hand, wie ich reagiere

Verantwortung für sich selbst übernehmen

Im Flow: Der optimale künstlerische Schaffenszustand

Aktiv gestalten

Die Kunst, das Richtige zu beeinflussen

Aus der Ohnmacht zur Selbstbestimmung mit sinnvollen Zielen

Was ist »gute« Kunst?

Vom lähmenden Konkurrenzdenken zum lernenden Weiterwachsen

Vertrauen schaffen

Intrinsische Motivation – das Pfund des Theaters

Motivation von innen: Ein unschätzbares Geschenk

Meine Quelle nähren

Unser eingebauter Veränderungsmotor

Kapitel 3: Unser Gehirn und sein kreatives Potenzial

Unser unbegrenztes Potenzial ausschöpfen

Nachhaltige Änderungen müssen ganzheitlich sein

Ein ewiger Austausch

Neuroplastizität: Wandelbarkeit ein Leben lang

Wenn Stress mein Potenzial verhindert

Das optimale Stressmaß für jede Aufgabe

Das eingebaute biologische Alarmprogramm

Auf die individuelle Bewertung kommt es an

Damit im Theater Neues entstehen kann

Kapitel 4: Methoden zur Stressbewältigung

Die Kunst der Achtsamkeit

Was ist Achtsamkeit?

Erholungsmethoden: Wie komme ich nach stressigen Situationen »runter«?

Wenn man unter Strom steht

Aktive Bewegung – Körperarbeit für die Kunst

Die Kunst der Pause

Passive Entspannungsmethoden

Aktive Entspannungsmethoden

Ruhe – der Anker im Alltag

Gesunde Ernährung

Mentaltraining: Wie bewerte ich die äußeren und inneren Reize?

Die Macht der Gedanken

Unseren inneren Kritiker kennenlernen – und umerziehen

Blick auf das Positive und gesunder Realismus

Das Gute im Theater sehen

Mut zum Scheitern, um zu wachsen – Zukunftsvisionen

Stärken sehen

Nachvollziehbare Ziele setzen

Akzeptanz und Mut

Nimm’s nicht persönlich!

Lästern vermeiden

Sich gegenseitig stützen – Wertschätzung zeigen

Zukunftsplanung

Persönlicher Aberglaube

Statt Perfektionismus das Eigene entwickeln

Grenzen wahren und setzen

Mal nicht leiden? Die Lust am Flow entdecken

Humor pflegen

Reiz-Management: Wie reduziere ich von vorneherein stressauslösende Reize?

Stressfaktor Zeit

Wo ist die Zeit geblieben?

Ausmisten

Prioritäten setzen

Zeitfenster einrichten

Nein sagen und Grenzen setzen

Das soziale Netzwerk pflegen

Kleine Schritte

Lebenssinn statt Liebessehnsucht

Kapitel 5: Wertschätzende Kommunikation

Was ist Kommunikation?

Was kommt an?

Meine ich das, was ich sage? – Die richtige Wortwahl

Die große Bedeutung der Gefühlsebene

Ein Bewusstsein für »kommunikative Fehlbarkeit« pflegen

Jede Sichtweise hat ihre Berechtigung

Das Selbstgespräch

Nonverbale Kommunikation

Bühnensprache ist Körpersprache

Kraft der Körpersprache

Grundtechniken verbaler Kommunikation

Die Kommunikationsbrücke: Die Sender-Seite

Das Was und das Wie · Nur Relevantes erzählen · Begründungen · Wichtige Informationen übermitteln und wiederholen · Den richtigen Zeitpunkt und einen günstigen Ort wählen · Feedback geben · Die innere Grundhaltung · Feedback-Regeln · Augenöffner auch in schwierigen Situationen

Die Kommunikationsbrücke: Die Empfänger-Seite

Die Kunst des Zuhörens · Aktives Zuhören oder andere verstehen · Den Wert der Nachricht vor Augen halten · Von einer positiven Absicht ausgehen · Einfach nur Danke!

Die wandelnde Kraft der Wertschätzung

Jedes Gefühl ist erst einmal richtig

Wer hat angefangen?

Toleranz wachsen lassen

Das Gute sehen oder Warum ist loben so schwer?

Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen

Kommunikation als tägliche Herausforderung

Kapitel 6: Konfliktfähigkeit

Konflikte als Chance

Konflikte sind im Theater strukturell vorprogrammiert

Konflikte sind gut

Drei Schritte zur Konfliktbewältigung – Strategien der Selbststeuerung

1. Schritt: Ruhe bewahren

Stabiler Stand · Körperausrichtung und -haltung · Tempo verlangsamen · Bewusst ausatmen

2. Schritt: Verständnis für die Situation entwickeln

Unsere Konstruktionen von Wirklichkeit · Wichtige Wegweiser: Unsere Emotionen · Emotionen akzeptieren · Empathie – die Kraft der Einfühlung · Kritik als konstruktives Feedback · Selbstbewusst den eigenen Standpunkt wahren · Humor · Vertrauen aufbauen

3. Schritt: Win-win-Lösungen finden

Das Wichtigste: Wertschätzung auf menschlicher Ebene · Geduld aufbringen für einen gemeinsamen Weg · Offen sein für Neues · Kreativität aktivieren · Wandel als Tagesgeschäft anerkennen

Eine Frage der inneren Haltung

Den eigenen Maßstab setzen

Positive, lösungsorientierte Grundeinstellung

Klugheit walten lassen

Ein ewiger Prozess – Geduld und Gelassenheit

Kapitel 7: Meisterschaft des Selbst

Das künstlerische Talent schmieden

Die japanische Tradition der Künste und des Kunsthandwerks

Jenseits des Sichtbaren und der Perfektion – yugen und wabisabi

Die Kunst-Wege

Kunst als Handwerk

Übung als Geisteshaltung

Rituale als Formen der Vertiefung

Der »gelöste« Künstler – ein Wegbereiter

Die Kunst des Loslassens

Danksagung

Literatur und Quellen

Vorwort

»Ich fühle mich nicht mehr so hilflos allen Widrigkeiten des Lebens ausgeliefert! Es ist ein gutes Gefühl, ›Werkzeuge‹ zu haben und damit die Chance, etwas zu verbessern, sich das Leben einfacher und freudiger zu machen!«, schrieb mir eine Chorsängerin nach einem Seminar, das ich in einem Theater zum Thema »Stressbewältigung« gegeben hatte.

Diese Rückmeldung machte mich sehr glücklich. In meinem Leben und in meiner Arbeit als Trainerin und Coach erlebe ich täglich im Umgang mit den verschiedensten Menschen, wie wir allein durch unser Denken, unsere inneren Sichtweisen und – in der Folge – durch unsere Ausstrahlung und unser Verhalten vieles bewirken können, auch wenn die Rahmenbedingungen noch so starr und widerborstig sein mögen. Dass Künstlerinnen und Künstler innerhalb der hierarchisch-starren Strukturen des Theaterbetriebs diese Wirkung erfahren konnten, bestätigte und beflügelte mich, mich noch intensiver auf die Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen zu konzentrieren.

Denn: Wenn wir unsere »deutsche Theater- und Orchesterlandschaft« erhalten wollen, müssen wir auch die künstlerischen Strukturen ins 21. Jahrhundert übertragen. Beneidet und bewundert von vielen, und von Deutschland für die internationale UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes nominiert,1 ist unser deutsches Theatersystem – schaut man genauer hin – seit Längerem in der Krise: Unterfinanzierung, hohe Krankheitsquoten und das Gefühl knirschender Überlastung – als würde es von einem Moment zum nächsten zusammenbrechen.

So radikal und zum Teil beängstigend der gesellschaftliche Wandel sich derzeit vollzieht, so spannend sind die neuen Perspektiven, die sich für die Gestaltung von kreativen Arbeitsplätzen auftun, wie beispielsweise sich selbst organisierende Unternehmen. Das Theater könnte hier Vorreiter für den kulturellen Bereich sein.

In den großen theaternahen Verbänden wird derzeit über Wege der Veränderungen intensiv nachgedacht. Auch in einzelnen Häusern werden erste strukturelle Veränderungen vorgenommen. Doch bis sie tatsächlich spürbar werden, leiden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Künstlerinnen und Künstler in den Theatern weiter.

Mit diesem Buch möchte ich Kunstschaffenden praktische Hilfen bieten, um jetzt und heute in den aktuell schwierigen Strukturen zu einer größeren Selbstwirksamkeit und Zufriedenheit zu finden. Gleichzeitig hoffe ich, dass diese wachsende Selbstwirksamkeit aller Teilnehmenden an den künstlerischen Prozessen im Theater den Wandel von innen heraus vorantreibt und als fruchtbarer Boden für die notwendigen Veränderungen dient.

1Im April 2018 wurde der Antrag zur Nominierung der »Deutschen Theater- und Orchesterlandschaft« als Immaterielles Kulturerbe bei der UNESCO eingereicht. Die Entscheidung fällt im Jahr 2020. Bisher hat Deutschlands Theater- und Musiklandschaft nur einen Eintrag auf der deutschen Liste des Immateriellen Kulturerbes. (Siehe https://www.unesco.de/)

Einleitung:Warum ertragen, wenn ich gestalten kann?

Talentierte junge Künstlerinnen und Künstler1, die frisch von den Hochschulen ihr erstes Engagement im Theater antreten, bekommen meist einen regelrechten Kulturschock. Im Tagesbetrieb eines Theaters angekommen, ist die heilige Aura und der hehre Anspruch gemeinschaftlicher künstlerischer Kreationen rasch dahin, spätestens wenn kurz vor der Premiere komplette Szenen umgestellt werden, wenn die Älteren im Ensemble die eigene Machtposition subtil oder auch weniger subtil ausspielen, wenn gute neue Ideen nicht gehört oder im Keim erstickt werden, sich die ersten Ermüdungserscheinungen nach monatelangen durchgetakteten Probe- und Aufführungsterminen ohne Pause einstellen, man sich nur noch von Fast Food ernährt, wenn erste Versagensängste aufkommen, die ersten Blackouts eintreten und man nicht mehr weiß, wann man das letzte Mal die beste Freundin kontaktiert hat.

Der Betrieb »saugt einen langsam auf«, wobei man nicht, wie gehofft, auf der Wolke der kreativen Glückseligkeit lebt, sondern in der permanenten Überforderung irgendwie »überlebt«.

Die aktuelle Situation für Künstler an Theaterbetrieben kann nicht dramatisch genug geschildert werden. Das Argument »Augen auf bei der Berufswahl« hat sicherlich seine Berechtigung, wenn es um die künstlerspezifischen Anforderungen geht wie der Umgang mit Lampenfieber oder die abendlichen Arbeitszeiten, die einem regulären Familienleben eher im Wege stehen. Dennoch darf dieses Argument nicht als Freibrief für alle Missstände herhalten, wie schlecht belüftete, enge Proberäume, ungünstiges Führungsverhalten oder unnötige Zusatzarbeiten, weil die interne Kommunikation nicht funktioniert und kurzfristige Änderungen nicht bei allen angekommen sind.

Eine Flucht in die Selbstständigkeit ist keine Lösung, denn zum einen ändert das nichts am Theatersystem, das sich vor allem von innen her wandeln muss, zum anderen kennt auch in der freien Szene die Selbstausbeutung kaum Grenzen.

Wir als Gesellschaft, die Kunst erleben wollen, sollten nicht zulassen, dass sich Kunstschaffende für uns und um der Kunst willen ausbeuten und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Der volkswirtschaftliche Schaden wäre enorm. Sowohl die Theaterbetriebe als Arbeitgeber als auch die Künstlerinnen und Künstler selbst sollten deshalb zu einem gesunden Selbstverständnis gelangen, dass auch sie Arbeitsbedingungen und -strukturen benötigen, in denen sie ihre ganze künstlerische Kraft entfalten und nachhaltig entwickeln können.

Glücklicherweise nehmen sich in den Theaterbetrieben die Verantwortlichen nach und nach dieser Zustände an. Wir stehen am Anfang eines vorsichtigen Umdenkens und Handelns, insbesondere weil mittlerweile auch die gesetzlichen Bestimmungen z. B. im Arbeitsschutzgesetz zur Gesunderhaltung der Arbeitnehmer verstärkt wurden; eine große Herausforderung für Theaterbetriebe, denn letztlich ist alles im Theater diametral entgegengesetzt zu einer im Gesundheitsschutz gewünschten »Work-Life-Balance«. Diese Tatsache war bislang auch der gerne angebrachte Grund, dass nichts geändert werden könne: »Im Theater geht das nicht. Da ist alles anders.« – Nun. Sicherlich. Es ist anders, was allerdings guten Entwicklungen und neuen Veränderungen nicht im Wege stehen muss. Wo, wenn nicht an dem Ort, an dem in jeder Spielzeit unzählige Neuproduktionen erschaffen werden, sollten konstruktive Veränderungen möglich sein? In der Oper arbeiten bis zu zweihundert Menschen auf und hinter der Bühne zusammen, um in nur acht Wochen eine koordinative, kreative Höchstleistung zu vollbringen. Gerade in einem Umfeld, das komplexe Arbeitsstrukturen gewohnt ist, sollte es doch machbar sein, die Gesamtstruktur des Betriebes kreativ zu optimieren.

Betrachtet man die aktuelle Arbeits- und Organisationsentwicklung in der Wirtschaft, die sich seit einigen Jahren intensiv mit gesunden, motivierenden Arbeitsformen befasst, ließen sich sicherlich einige Ansätze auf das Theater übertragen. Nichtsdestotrotz müssen für den Kulturbetrieb mit der hohen Fluktuation künstlerischer Mitarbeiter spezifische Lösungen entwickelt werden.

Erste kleine Schritte zu einem Theater der Zukunft

Wenn das Theater die zunehmende Entmenschlichung der Gesellschaft kritisiert und auch eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen will, dann sollte es ein lebendiges Beispiel für diese Vision sein.

Die derzeitigen Strukturen im Theater lassen nicht zu, dass diese Vision umgesetzt wird. Es ist ein Prozess, der von allen Seiten und von oben und unten Offenheit und Kreativität voraussetzt, Qualitäten, die das Theater im Kern auszeichnen (sollte). Mit neuen Organisationsstrukturen wird bereits weltweit experimentiert, Stichworte dazu sind selbstorganisierende Unternehmen und Agilität.2 Unsere gemeinsamen langfristigen Ziele im Theater sollten sein: die Rahmenbedingungen zu verbessern, die Selbstkompetenz der Einzelnen zu erhöhen sowie die Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten zu erweitern, um nach und nach einen Rahmen zu schaffen, in dem Kreativität ihre volle Kraft entfalten kann und eine Arbeitsstruktur für das Theater entwickelt wird, die der Kunst dient – das Theater als Kunstschmiede, in dem sich das Was auch im Wie spiegelt:

Theater als künstlerisch-betriebliches Gesamtkunstwerk.

Um was es mir geht

Dieses Buch soll Impulse bieten, was wir als Einzelne im Theaterbetrieb dazu beitragen können, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und in kreativitätsfördernde Arbeitsbedingungen zu verwandeln. Sicherlich lässt sich ein so komplexes System wie das Theater nur durch kleine aktive Schritte ändern. Umso wertvoller, wenn wir diese Herausforderung annehmen. Denn je mehr von uns diesen Weg gehen, desto größer wird die Wirkkraft. Und jeder Weg beginnt – wie wahr – mit dem ersten Schritt.

In diesem Buch gebe ich Ihnen Hintergrundwissen, Anregungen und praktische Tipps, wie Sie in Ihrem künstlerischen Alltag für sich sorgen und in Ihrem Rahmen Ihren Arbeitsplatz optimieren und möglicherweise eine neue Haltung zu Ihrer Arbeit finden können. Es geht darum, der künstlerischen Gestaltungskraft in uns einen geschützten Raum zu geben; einen Raum, in dem wir von unseren Ängsten, Eitelkeiten, Unsicherheiten, unserer Konfliktscheu oder Streitlust und sonstigen Schwierigkeiten im Umgang mit anderen lassen können und unserem inneren kreativen Potenzial wieder freie Bahn schenken können.

Im ersten Kapitel gehe ich auf den »Arbeitsplatz Theater« ein und beschreibe, wo wertvolle Potenziale liegen, um ihn für den Künstler kreativ und gesund zu gestalten. Um diese Potenziale zu entfalten, bedarf es der Selbstwirksamkeit, die im zweiten Kapitel beschrieben wird; dem Wissen darum, dass wir selbst viel mehr in der Hand haben, als wir oft meinen. Und um diese Selbstwirksamkeit zu unterstützen, folgen in den nächsten vier Kapiteln neben Hintergrundinformationen praktische Hinweise, Anregungen und Übungen, wie sich der anspruchsvolle, kommunikationsreiche Alltag entspannter, gesünder und letztlich effektiver gestalten lässt. Ich zeige, welches kreative (Gehirn-) Potenzial wir noch ausschöpfen können, um gekonnt mit Stress umzugehen, beschreibe Techniken zur Stressbewältigung und erläutere, wie Kommunikation gelingen kann und wie Sie Konflikten und Auseinandersetzungen begegnen sollten.

Im abschließenden Kapitel möchte ich nochmals die Idee des Genies hinterfragen und zu der Haltung eines ganzheitlichen Kunsthandwerks motivieren. Eine Haltung, die ebenso kreativ, umfassend, bewegend, berührend, spirituell und politisch sein kann, allerdings kein sich schnell verbrennendes Künstlerfeuer verlangt, sondern durch kontinuierliche, gesunde Arbeit an sich selbst geprägt ist und die das Geschenk der eigenen künstlerischen Kreativität wertschätzt.

Neben konkreten praktischen Übungen in den Kapiteln 4, 5 und 6 sind am Ende jedes Kapitels Anregungen und Hinweise aufgelistet, die sich auf die Themen und Inhalte des vorangegangen Textabschnitts beziehen. Bereits an dieser Stelle bitte ich Sie, bloß nicht alle Übungen und Anregungen auf einmal umsetzen zu wollen. Das geht nicht und demotiviert nur!

Daher ist mein erster Tipp: Lassen Sie sich von Ihren Interessen leiten. Suchen Sie sich zunächst nur eine Übung aus dem Buch heraus und schauen Sie, was sich verändert. Erfahrungsgemäß ergibt sich aus dem ersten Schritt ein logischer zweiter. Da alles miteinander zusammenhängt, wird eine positive Veränderung an einer Stelle sich automatisch auch auf alles andere auswirken.

Wege zur Zufriedenheit

Eine abschließende Anmerkung: Vordergründig beziehe ich mich auf die »ausführenden Künstler« und deren »Kunst«, auch in den Beispielen, da einige inhaltliche Themen etwas anders gelagert sind als in den ebenso wichtigen technischen und Verwaltungsbereichen. Doch für mich steht fest: Alle Mitarbeiter eines Kulturbetriebes sind Kunstschaffende. Alle gehören einer großen besonderen Gemeinschaft an, die Kunst kreiert und ermöglicht, und alle verdienen gleichermaßen Wertschätzung und Anerkennung. Ich bin mir sicher, dass auch die nicht explizit angesprochenen Bereiche die Tipps in diesem Buch aufgreifen und umsetzen können.

Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Freude bei Ihrer persönlichen Entdeckungsreise!

1Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)

2»Agilität ist die Fähigkeit von Teams und Organisationen, in einem unsicheren, sich verändernden und dynamischen Umfeld flexibel, anpassungsfähig und schnell zu agieren. Dazu greift Agilität auf verschiedene Methoden zurück, die es Menschen einfacher machen, sich so zu verhalten.« Aus: Svenja Hofert: Agiler führen: Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität, Wiesbaden: Springer Gabler, 2016; Kindle-Version, Kindle-Positionen 687–689. Des Weiteren sei auf das spannende Buch von Frederic Laloux: Reinventing organizations (München: Verlag Franz Vahlen, 2015) hingewiesen, das sich mit neuen Organisationsformen befasst.

Kapitel 1:

Der Theaterbetrieb – viel Potenzial für Gesundheit

Werfen wir zunächst einen Blick auf das ganze Ausmaß des künstlerischen Treibens hinter den Theaterkulissen und deren Herausforderungen, die uns jeden Tag jenseits der Pforte begegnen. Mit dem Blick auf den Theaterbetrieb als Arbeitsumfeld können wir in einem nächsten Schritt genauer feststellen, wo Potenziale zur Veränderung und zur Gestaltung eines gesünderen kreativen Arbeitsplatzes vorhanden sind.

Das Dilemma des Künstlers

In Theaterbetrieben befinden sich Künstler in einem Dilemma. Sie sind eingezwängt zwischen einer kreativen, feinfühligen Arbeitsaufgabe und den oft zermürbenden Rahmenbedingungen. Wie die Abbildung zeigt, müsste der feinfühlige Künstler gleichzeitig ein »dickes Fell« haben; im Grunde also künstlerisch sensibel und gleichzeitig menschlich stark sein. Dass das funktioniert, ist unbestritten. Nur wird ein »dickes Fell«, worunter ich in seiner positiven Ausprägung ein geerdetes Selbstbewusstsein, gelassene Souveränität, hohes empathisches Vermögen, einen wertschätzenden höflichen Umgang miteinander und eine gute Konfliktfähigkeit verstehe, weniger intensiv entwickelt als eine oft überbordende Sensibilität. Wie der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun in seinem Werte-Quadrat1 beschreibt, wandelt sich jede einseitig geförderte Tugend oder Qualität in eine entwertete Übertreibung, wenn nicht die entsprechend ausgleichende Schwesterntugend gefördert wird.

Übertragen auf den Künstler heißt das: Wird ausschließlich die Sensibilität und das auf sich selbst gerichtete Empfindsame gefördert, entwickelt sich ein egozentrischer Gefühlskloß, der nur mit Samthandschuhen berührt werden darf. Umgekehrt wird ein mit allzu dickem Fell versehener Künstler starr, unflexibel, gleichförmig und farblos wirken und das Publikum wenig emotional berühren – wie eine zwar verlässliche, aber künstlerische Dampfwalze.

Diese beiden Schwesterntugenden des Künstlers, das »Feinfühlige« und das »menschlich Starke«, gilt es ergänzend auszubilden. Da das Erstere im jeweiligen künstlerischen Ausbildungsweg intensiv entwickelt wird, geht es in diesem Buch um die andere Seite: um das »menschlich Starke«.

Das Dilemma des Künstlers

Die herausfordernde Arbeitsaufgabe des Künstlers

Worin besteht die Arbeitsaufgabe des Künstlers und welche Herausforderungen bringt sie mit sich? Die größte Herausforderung, der beispielsweise ein Schauspieler ausgesetzt ist, liegt darin, dass er sich selbst als Arbeitsinstrument nutzt. Auf der Bühne steht nicht ein Kunstwerk aus Stein, Stahl oder Holz, sondern ein Mensch mit Ausstrahlung, Persönlichkeit, einem Körper und einer Psyche. Die Rolle wird durch die eigene Person dargestellt. Es geht gar nicht anders, als dass das Persönliche mit einfließt. Erfahrungen aus dem privaten Leben werden damit automatisch auf der Bühne als Arbeitsstoff verwendet. Zudem, aus neurobiologischer Sicht betrachtet, ist eine Emotion eine Emotion, auch wenn sie gespielt ist. Wie die Embodiment-Forschung, die Forschung der Wechselwirkung von Körper und Psyche, zeigt, kann auch eine gespielte gute Stimmung, selbst ein künstliches Verziehen des Gesichts zu einem Lächeln, ein entsprechend positives Gefühl auslösen, bzw. die körperliche Darstellung negativer Gedanken kann negative Gefühle erzeugen.

Gefühle auf der Bühne und reale Emotionen lassen sich nicht trennen – außer man nimmt lediglich entsprechende Körperhaltungen als Projektionsfläche für das Publikum ein, wie es beispielsweise in asiatischen Schauspieltraditionen der Fall ist, in denen der Körper im Fokus steht.2 Doch selbst hier werden Emotionen ausgelöst.

Diese Arbeit wird als belastend empfunden, wenn der Darsteller in einer Inszenierung entgegen seiner eigentlichen Emotion fühlen muss, zum Beispiel wenn er nicht hinter der Interpretation steht. Ebenso ist es auf Dauer eine Belastung, unter hohem Druck punktgenau wiederholt negative Gefühle darstellen zu müssen.

Dieser hochemotionale Einsatz der Psyche ist das Grundarbeitsmittel von Künstlern, jedoch wird ein gesunder, selbstschützender Umgang damit selten in den Ausbildungsstätten oder an den Theaterbetrieben thematisiert und noch seltener aktiv trainiert. Ganz im Gegenteil: Der Fokus liegt oft auf der »Entblößung« der eigenen Psyche, der gerne mit dem Argument der notwendigen künstlerischen Grenzüberschreitung gekoppelt wird.

Ich möchte an dieser Stelle einen Vergleich mit der japanischen Kampfkunst Aikido anbringen, deren Körperübungen vielen Schauspielern bekannt sein werden und die ich selbst seit vielen Jahren praktiziere und unterrichte: In den Kampfkünsten, in denen es ebenso zentral um den Umgang mit Emotionen geht – allerdings ausschließlich den negativen wie Ängsten, Unsicherheiten und Aggressionen –, wird im Training dieser Umgang mit der Psyche immer wieder thematisiert. Auch in meinem Unterricht lege ich großen Wert auf eine klare Selbsteinschätzung und Wahrnehmung der eigenen psychischen Verfassung und dem Umgang mit ihr. Denn es kann hochgefährlich werden, die eigene Psyche nicht im Griff zu haben. Wie schnell ist eine Schulter gebrochen, ein Arm ausgerenkt, der Hals verdreht. Das Training des Aikido hat mir in seiner Extremsituation vor Augen geführt, wie sehr wir uns selbst und andere durch einen unbewussten Umgang mit unseren Emotionen schädigen können, gleichzeitig hat es mir aber auch gezeigt, welch enormes Energiepotenzial sich eröffnet, wenn wir unsere Emotionen im Griff haben, oder zumindest gut mit ihnen umgehen können.

Während es in den Kampfkünsten um das Trainieren der eigenen Psyche geht, ist die Herausforderung eines Schauspielers noch größer: Er muss seine Psyche und die von ihm gekoppelte Rollenpsyche trennen und sie dennoch als gegenseitige Befruchtung durchlässig halten. Ist diese enorme geistige Leistung nicht trainiert oder über die Jahre mit den sich wandelnden Herausforderungen und den Erfahrungen nicht weiter ausgebildet worden, ist es nicht verwunderlich, wenn sich ein schwankendes Selbstwertgefühl einstellt. Mache ich mir die Rolle zu eigen und zieht sie mich runter, nehme ich diese negative Stimmung mit in meinen Alltag. Ist die Rolle an einem Abend erfolgreich, bin ich in Höchststimmung. Floppt sie, deprimiert mich dies ebenso, auch wenn es möglicherweise nicht an der Rolle, sondern an einer subjektiven Haltung des Publikums lag. Wenn ich mich mit meiner Rolle komplett identifiziere, fühle ich mich auch als Privatperson in meinem Selbstwert getroffen.

Das Arbeitsinstrument von der Person zu trennen, ist im künstlerischen Bereich schwer, da das Arbeitsinstrument die Person selbst ist. Umso mehr – gerade unter den derzeit wenig förderlichen Rahmenbedingungen eines Theateralltags – müssen die Künstlerinnen und Künstler täglich auf den gekonnten Umgang mit ihrer Psyche achten.

Mythos des leidenden Künstlers

Gerne möchte ich noch mit einem anderen Mythos aufräumen, der in der Kunstwelt herumgeistert und oft genug als schlagendes Argument angeführt wird, warum ein gewisser grenzüberschreitender Druck herrschen müsse: Um erfolgreich zu sein, müsse der Künstler leiden.

Jeder, der in irgendeiner Weise kreativ arbeitet, weiß genau, wie wenig kreativitätsfördernd beispielsweise Existenzangst ist oder die Sorge, die Miete nicht zahlen zu können. Wenn ein Künstler das verdrängen kann und dennoch kreativ ist, dann geht es um seine geistige Leistung, trotz widriger Lebensumstände erfolgreich zu sein. Es gibt allerdings unzählige andere, die an diesem Leiden zugrunde gegangen sind, die derart blockiert waren, dass sie keine Chance hatten und ihre innere Kreativität nie entfalten konnten. Allerdings finden jene nur wenig Beachtung in unserer Gesellschaft.3

Natürlich darf und soll ein Künstler gefordert werden, und solange es eine belebende Art der Herausforderung in einem geschützten Rahmen ist, werden sich gerade kreative Menschen mit großer Lust öffnen. Doch die Vorstellung, das Talent und die Begabung, die wir als Künstler geschenkt bekommen, könne sich nur entfalten, wenn wir uns in Melancholie, Verzweiflung und Düsternis wälzen und leiden, ist schlichtweg falsch und zerstört den Künstler als Kreativquelle eher, als dass es ihn gezielt zur Reife bringt. An diesen Erlebnissen reift er nur, wenn er viel psychische Widerstandskraft aufbringt.

Wenn sich ein Dirigent oder eine Regisseurin über eine Sängerin oder einen Schauspieler aufregt, die/der sich vermeintlich zu wenig einbringt, und über Beleidigungen auf verachtende Weise Druck aufbaut, dann zeugt das nicht von Können, sondern schlicht von schlechtem Führungsstil und mangelnder Menschenkenntnis. Die neuere Motivations- und Kreativitätsforschung belegt, wie wenig Ängste und Depressionen förderlich sind. Für kreatives Arbeiten braucht es bei aller Nähe zum grenzüberschreitenden, flexiblen Denken keinen Geist, der von Ängsten oder Anspannung so gelähmt ist, dass er nichts mehr ordnend und strukturierend zustande bringt. Ebenso wenig benötigt es einen Geist, der träge und müde ist.

Zweifellos gibt es den einen oder anderen Chorsänger oder auch Orchestermusiker, der nicht zum Gelingen des Werkes beiträgt. Doch hier liegt eher ein strukturelles Problem zugrunde. Oftmals fühlen sich Chorsänger und auch Orchestermusiker, die als Solisten ausgebildet wurden, unterfordert und wenig wertgeschätzt. Wenn die Leistung abnimmt, nützen Druck und Beleidigungen auf künstlerischer Ebene wenig. Mit dem Mangel an Motivation umzugehen, ist eine klassische Führungsaufgabe, die zwischenmenschliche Fähigkeiten und grundlegendes Wissen in Organisationspsychologie voraussetzt – Fähigkeiten, die bislang in Theaterbetrieben im künstlerischen Bereich noch zu wenig ausgebildet werden.

Und ja: Augen auf bei der Berufswahl! Ein Künstlerleben ist ein Leben zwischen den Extremen. Umso mehr erfordert es Techniken der Absicherung; wie ein Bergkletterer, der Seile und Haken mitnimmt, um sein Leben und seine Gesundheit zu schützen. Genau hier sollten wir genauer hinschauen und neue Wege suchen, wenn wir die künstlerische Schaffenskraft in der Gesellschaft erhalten, ja uns Kunst überhaupt leisten wollen. Warum soll es nicht möglich sein, die künstlerischen Rahmenbedingungen derart auszubalancieren, dass die psychische Stabilität unserer Künstlerinnen und Künstler erhalten bleibt und dabei ihre flexible Brillanz nicht verloren geht?

Leiden ist kein Garant für Erfolg, und wenn der erhoffte Erfolg ausbleibt, bleibt dem Künstler wenigstens die Gesundheit.

Ist Kunstfreiheit wirklich grenzenlos?

Ein weiterer gerne verwendeter Machthebel kreativer Führungskräfte ist die vielbeschworene Kunstfreiheit, nach dem Motto: Ein Dirigent oder eine Regisseurin darf sich im Namen der Kunstfreiheit alles erlauben: Pulte werfen, verbal angreifen, den meist negativen Emotionen freien Lauf lassen. Diese zentralen Figuren einer Produktion können ein ganzes Haus von mehreren Hundert Mitarbeitern in Atem, manchmal gar in Schrecken halten. Ob »Stars« oder nicht, den künstlerischen Führungspersonen wird viel Macht gegeben unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit. Und selbst wenn partnerschaftliches Kunstwollen als Ideal behauptet wird, gibt es im Zweifelsfall immer den einen Kunstwillen, dem letztendlich alle zu folgen haben. Denn wie sollte man die Arbeitsweise eines vermeintlichen Genies eingrenzen können?

Hier werden zwei Aspekte vermischt – das Bühnenwerk und der Proben- bzw. Schaffensprozess. Was auf der Bühne sichtbar wird, ist eine Sache. Das Werk selbst soll künstlerisch frei sein, auch wenn die Kunstfreiheit natürlich durch die anderen Grundrechte wie Unversehrtheit der Person eingeschränkt ist.

Ganz anders steht es um den Schaffens- und Probenprozess. Diese künstlerische Zusammenarbeit unterliegt eindeutig dem Arbeitsschutz und seinen Bestimmungen. Und an dieser Stelle sticht die Maßgabe, dass keine psychische Gefährdung der Mitarbeiter erfolgen soll. Denn der Arbeitsprozess und der Schutz der körperlichen und vor allem psychischen Gesundheit der Arbeitnehmer darf auch nicht in den Kunstbetrieben ausgehebelt werden.

Natürlich darf und soll niemand den künstlerischen Prozess einschränken. Betrachtet man den betrieblichen Alltag, dann wird mit diesem Vorwurf einiges romantisiert. Am Ende des Tages ist Theater oder Oper ein Handwerk, nicht nur hinsichtlich Bühnenbild und Technik, sondern auch hinsichtlich der Erarbeitung von Texten oder Partituren. Dieses Handwerk erfordert klar geregelte Abläufe, zeitliche Fristen und nüchterne Anweisungen. Wenn diese nicht eingehalten oder die entsprechenden Informationen zu spät geliefert werden, wenn im letzten Moment alles verändert wird und ideenreiche Neugestaltungen in der letzten Probenwoche verlangt werden, die einen logistischen Mammutaufwand und personelle Überforderung auf der Bühne und hinter den Kulissen erfordern würden, dann wird die künstlerische Führungskraft, wie beispielweise die Regisseurin, dem Arbeitsbetrieb des Theaters, für den sie etwas kreiert, nicht gerecht. Sie setzt mit diesem Verhalten eine gesamte Organisation unter unnötigen Druck.

Daher soll hier nochmals ein Bewusstsein geschaffen werden sowohl für die Verantwortung der künstlerischen Führungskräfte als auch für die Rechte und Abgrenzungsmöglichkeiten der Mitarbeiter, die in das feste zeitliche und organisatorische Korsett eines Theaters eingebunden sind.

Der tägliche Theaterwahnsinn

Nicht nur die Arbeitsaufgabe des Künstlers an sich, auch die Rahmenbedingungen im Theater haben es in sich. Manchmal staune ich, dass Premieren tatsächlich stattfinden. Wie eine Sisyphusarbeit wird eine Produktion mit viel Anstrengung, unter Druck, Stress, Schweiß und Tränen auf die Bühne gebracht. Solange Außenstehende – und dies ist die Projektionsfläche Theater – nur die in der Vorstellung dargebotene kreative Leichtigkeit sehen, mag noch alles gut sein. Doch leider zeigt sich die Anstrengung oft auch auf der Bühne. Spätestens dann, wenn eine Hauptdarstellerin mitten im Monolog ohnmächtig wird.

Arbeitsplatz und Arbeitsorganisation

Betrachten wir einmal die äußeren Umstände, unter denen Künstler arbeiten müssen.

Das tägliche Berufsleben im Orchester ist ein Albtraum für