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Von der Autorin des Bestsellers ›Was man von hier aus sehen kann‹ Die Erzählerin arbeitet aushilfsweise in einem Kleintierladen. Sie wohnt bei Sylvester, einem Frauenschwarm, der viel damit zu tun hat, sich vor seinen Verehrerinnen verleugnen zu lassen. Bei den beiden klopft eines Abends Matilda an, um zusammen mit dem größten Hund der Welt Unterschlupf zu suchen. Matilda hat ein Problem: Sie glaubt, den Verstand zu verlieren. Das durch Not und Zuneigung zusammengeschweißte Trio macht sich auf, ein unsichtbares Ungeheuer zu besiegen. Mariana Leky gelingt es, diesen Kampf gegen schwindelerregende Windmühlenflügel klingen zu lassen wie eine Filmkomödie: ein ebenso vergnüglicher wie bewegender Roman über Panik und andere Plagen. Die Angst überwindet nur, wer sie herausfordert. Mariana Lekys erster Roman erzählt von Freundschaft und Angst: ein Erste-Hilfe-Kasten für die Tücken des ganz alltäglichen Lebens. Ihre zaghaften Helden halten zusammen, weil sie sich anders gar nicht zu helfen wissen – und verweisen damit bereits auf das liebenswert skurrile Personal aus ›Was man von hier aus sehen kann‹. Ein Gespräch mit Mariana Leky über ihren ersten Roman ›Erste Hilfe‹: „Wie hilft man einer Freundin, die Angst davor hat, die Straße zu überqueren? In Ihrem Roman ›Erste Hilfe‹ nehmen drei Freunde den Kampf mit einem unheimlichen Gegner auf." ML: „In Freundschaften teilt man alles Schöne, und auch das, was unheimlich ist. Das unheimliche ist in diesem Fall eine Angst, die derartig an einem rüttelt, dass man glaubt, den Verstand zu verlieren. Mich hat interessiert, was geschieht, wenn eine so sperrige Angst in einer Freundschaft herumsteht – was man sich einfallen lässt, um das Leben wieder leichter zu machen." „Es ist bemerkenswert, wie fürsorglich die drei Freunde miteinander umgehen und manchmal sehr lustig, auf welche Ideen sie kommen, bei dem Versuch die Angst zu bezwingen. Ist dieser Umgang mit psychischen Störungen in unserer Gesellschaft üblich?" ML: „Nein, es ist ja auch nicht leicht, unverkrampft mit einer Verkrampfung umzugehen. Außerdem werden solche 'komischen' Ängste und Phobien ja oft als peinlich bewertet. Oder als kindisch. Deswegen passieren sie, solange es geht, im Stillen. Ich glaube, keiner, der Angst vor Supermärkten hat, wird sich Ihnen – wenn er überhaupt noch einkaufen geht – zwischen Kühlregal und Wursttheke mit den Worten 'Ich fürchte mich' in die Arme werfen. Solche Ängste laufen größtenteils unsichtbar ab." „Matilda hat Angst davor, über die Straße zu gehen. Warum haben Sie gerade diese Angst gewählt, gibt es einen besonderen Grund?" ML: „Ich habe mir diese Angst ausgesucht, weil man mit ihr sofort aufgeschmissen ist. Eine Mäusephobie oder eine Flugangst macht das Leben nur in bestimmten Situationen kleiner. Eine Angst vor Straßen lässt den Lebensradius sofort zusammenschrumpeln. Man kann dieser Angst kaum ausweichen. Außerdem hat mir diese Angst gleich eingeleuchtet (allerdings leuchten mir fast alle Ängste gleich ein). Straßen können zu Ungeheuern werden. Jeder, der – wie ich gestern – gefühlte fünf Minuten lang auf einer vierspurigen Straße stand, mit drei Einkaufstüten in den Armen, umrauscht von Autos, wird bestätigen können: schön ist was anderes." „Man hat beim Lesen das Gefühl, dass diese Geschichte nur in einer Stadt spielen kann." ML: „Stimmt, Matildas Angst benötigt ein städtisches, größeres Publikum. Aber vor allem brauchte ich für die Liebesgeschichte einen großzügigen Stadtplan." „Apropos Liebe! Schon in Ihren Erzählungen ›Liebesperlen‹ schienen Ihre Figuren nicht besonders viel Glück mit der Liebe zu haben." ML: „Ich habe eher den Eindruck, dass die Figuren – bei aller Untröstlichkeit – trotzdem Glück in der Liebe haben; sie rütteln nur an den falschen Türen. Es stehen immer welche mit offenen Armen um sie herum."
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Seitenzahl: 192
Mariana Leky
Erste Hilfe
Roman
eBook 2014
© 2004 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Ausstattung und Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg)
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook: 978-3-8321-8803-0
www.dumont-buchverlag.de
Für Nicolas Dickner
Erstes Kapitel
in dem Matilda lieber nicht bleiben möchte. Es wird erklärt, warum Sylvester fast jede Nacht auf den Haaren der Erzählerin liegt.
»Ich liebe dich«, sagt Sylvester, und er sagt das, als würde ihn jemand dabei fotografieren. Wir sind in der Küche. Ich sitze auf der Spüle, Sylvester hat zerknittertes Geschenkpapier in der Hand. An dem Geschenkpapier hängt ein Kärtchen, »Alles Gute«, steht darauf.
Sylvester und ich sind kein Paar, und ich kann es nicht leiden, wenn Sylvester »Ich liebe dich« sagt. Vor allem, weil ich ihm dann »Ich liebe dich« zurücksagen soll, und zwar möglichst prompt.
Früher habe ich Sylvester gefragt, ob auch »Ich hab dich lieb« gilt, aber Sylvester behauptet, das gelte nicht. Früher habe ich Sylvester erklärt, dass »Ich liebe dich« sich abnutzt, je öfter man es sagt. Die Amerikaner beispielsweise, habe ich erklärt, sagen »Ich liebe dich« so oft, dass »Ich liebe dich« auf amerikanisch nicht mehr bedeutet als »Bis nachher«.
Es klingelt. Sylvester legt das glatt gestrichene Geschenkpapier auf den Kühlschrank, ich rutsche von der Spüle und gehe durch den Flur, in dem kleine Kartons mit Luftlöchern stehen. Sylvester geht mir hinterher, überholt mich und stellt sich vor die Wohnungstür. »Du willst also sagen«, sagt er, »dass du eine bist, die alles, was kostbar ist, verwahrt und aufspart für seltene Sonntagsbesuche.«
Um den Betrieb nicht aufzuhalten, weil es noch mal klingelt und seltene Sonntagsbesuche nach Kondensmilch klingt, sage ich Sylvester »Ich liebe dich« zurück, wie er es mir beigebracht hat, nicht zu laut, nicht zu leise, und Sylvester sagt: »Mit Namen.«
Ich sage: »Du hast auch nicht mit Namen.«
Sylvester sagt: »Natürlich habe ich mit Namen.«
Also sage ich: »Ich liebe dich, Sylvester«, wegen des Betriebes. Sylvester grinst, und ich frage: »Können wir dann jetzt bitte aufmachen?«
»Gern«, sagt Sylvester und öffnet die Tür.
Vor der Tür steht Matilda und sagt: »Guten Tag, es tut mir leid, dass ich so wenig gesagt habe.«
Matilda sagt aber eigentlich nie viel, und wenn, dann sagt sie es sehr leise. Wir haben uns daran gewöhnt und halten unsere Ohren nahe an ihr Gesicht. Nur manchmal sagen wir: »ein bisschen, nur ein bisschen lauter bitte, Matilda.«
»Ihr spinnt ja«, sagt Matilda dann, »ich schreie.« Wir sagen, sie schreie ganz und gar nicht, dann redet sie ein bisschen lauter, wir lehnen uns zwei Sätze lang zurück, bis Matilda wieder leise wird.
»Komm rein«, sage ich. Matilda kommt rein und sieht verfolgt aus. »Du siehst irgendwie verfolgt aus«, sage ich.
»Was?«, fragt sie.
»Du siehst aus, als wäre jemand hinter dir her gewesen«, sage ich.
»Mir geht's gut«, sagt Matilda, schiebt Geschenkpapier und eine Schüssel zur Seite und stellt eine Tüte Milch auf den Tisch. Der Tisch ist voll mit schmutzigen Tellern, Töpfen und Schüsseln.
»Habt ihr überhaupt geschlafen?«, fragt sie. »Kaum«, sagt Sylvester und tut drei Löffel Nutella und die Milch in einen Topf.
Ich setze mich wieder auf die Spüle, Matilda stellt sich neben mich. Ich gucke sie an. Sie legt den Arm um meine Schulter und lächelt. »Guck nicht so«, sagt sie, »ich habe auch nicht viel geschlafen.«
»Ach so«, sage ich.
»War doch aber schön gestern«, sagt sie. »Klar war's schön«, sagt Sylvester, und ich sage, »eigentlich schon.«
Matilda und Sylvester gucken mich ernst an. Sie hatten darauf bestanden. Matilda ist gut im Beteuern, und sie und Sylvester hatten beteuert, dass sie alles übernehmen würden, das Kochen, das Reden, das Tanzen und das Nachschenken, und also sage ich, »ja, schön.«
Ich wollte meinen Geburtstag nicht feiern, weil mir Feiern immer missraten sind, und habe behauptet, die wirklichen Feste fänden im Kopf statt, weil ich das auf einer Postkarte gelesen hatte. Ich hatte das auch dieses Jahr behauptet, aber Matilda und Sylvester hatten gesagt, mit den Festen im Kopf sei das ja wohl so eine Sache.
Die Feste im Kopf seien Reinfeierfeste, untröstliche Veranstaltungen, bei denen alle Gäste auf zwanzig nach zwölf warten, weil man dann gehen kann. Also haben Matilda und Sylvester angefangen mit ihren Beteuerungen, sie würden schon reden, kochen, tanzen und nachschenken, und es ist dann auch alles gut gegangen, und um zwanzig nach zwölf hat keiner außer mir gewusst, dass es zwanzig nach zwölf ist.
Um zwanzig nach zwölf hat Sylvester die Nachbarin geküsst, die schon lange darauf gewartet hatte, von ihm geküsst zu werden. Sylvester und die Nachbarin standen in einem Türrahmen und küssten sich insgesamt bis viertel vor zwei. Sylvester hatte seine eine Hand im Nacken der Nachbarin und in der anderen ein halb volles Weinglas, das er wegen der Küsse der Nachbarin ab und zu vergaß und in eine Schräglage geraten ließ, dann ging ich hin und drehte Sylvesters Handgelenk wieder gerade.
Um zwanzig nach zwölf ließ Matilda den stehen, mit dem sie versucht hatte, sich zu unterhalten. Sie hatte beteuert, sich zu unterhalten, aber der, mit dem sie es versucht hatte, hatte immer »wie bitte« gefragt, »was bitte« und »noch mal«. Dabei hatte er immer hilfloser und trauriger ausgesehen, weil man sich ausschließlich freuen möchte, wenn Matilda versucht, sich mit einem zu unterhalten, weil man sie verstehen möchte und weil es riskant ist, zu nicken oder den Kopf zu schütteln und so zu tun, als hätte man etwas verstanden.
Matilda fängt an, das verklebte Geschirr einzuweichen. Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Handflächen und sehe ihr dabei zu. Matilda lächelt mich an. »Geh mal von der Spüle runter«, sagt sie, »sonst wirst du nass.«
»Ich kann mich nicht mehr bewegen«, sage ich und rutsche ein Stück zur Seite, um dem sauberen Geschirr Platz zu machen.
Sylvester stellt drei Tassen auf den Tisch und kippt Schokolade hinein. Die Schokolade ist dick und braucht lange, bis sie in der Tasse angekommen ist. Ich tue nichts und tippe Matilda auf die Schulter. »Jetzt sag doch mal«, sage ich.
Matilda dreht sich um und streicht sich mit dem Handgelenk eine Strähne aus der Stirn.
»Was denn?«, fragt sie und stellt einen nassen Teller neben mich.
»Was mit dir los ist«, sage ich.
»Mit mir ist ganz bestimmt nichts los«, sagt Matilda und kratzt in einer Schüssel. »Aber du siehst komisch aus«, sage ich. »Du siehst auch komisch aus«, sagt Matilda, »du musst dich mal ausschlafen.«
»Genau«, sagt Sylvester und rührt in seiner ledrigen Schokolade. Matilda wischt sich die Hände an der Jeans ab und streicht mir über die Wange.
»Bleib doch besser hier«, sage ich. Matilda setzt sich zu Sylvester an den Tisch und guckt in ihre Tasse. Sie überlegt etwas länger als sonst. »Nein«, sagt sie dann, »ich wollte nur ein bisschen aufräumen helfen.«
»Wie du willst«, sage ich.
»Bis dann«, sagt Matilda.
Ich gehe durchs Wohnzimmer, durch eine Landschaft aus kleinen Salzhügeln, die Sylvester auf die Rotweinflecken gestreut hat, und lege mich ins Bett.
Wir wohnen unter dem Dach, und über meinem Bett ist ein Fenster, aus dem man ins Blaue und sonst fast nichts sieht, außer ab und zu einem Flugzeug und ein paar Regenschlieren.
Als Sylvester zum ersten Mal in mein Zimmer kam, hat er sich aufs Bett gesetzt und gesagt: »Da kann man durchsehen.« Blödsinnigerweise hat er das gesagt, und ich habe blödsinnigerweise geantwortet, ja, da könne man durchsehen.
Seither gucken wir meistens zusammen durch das Fenster ins Blaue, bis man nicht mehr hindurchsehen kann, weil Sylvester das Licht anmacht und man nur noch mein Gesicht und ein aufgeschlagenes Buch vor Sylvesters Gesicht sieht. Ich lese im Fenster die Titel und Untertitel vor Sylvesters Gesicht in Spiegelschrift. Manchmal versuche ich mich am Text auf dem Buchrücken im Fenster, bis ich müde werde und das Umblättern der Seiten, das einzig übrig gebliebene Geräusch, immer lauter wird und sich immer mehr anhört, als würde Sylvester neben mir kein Buch lesen, sondern die Seiten eines Fotoalbums umblättern, das schon lange nicht mehr angesehen worden ist.
Ich habe noch nie tagsüber im Bett gelegen, höchstens bei Entzündungen. Matilda und Sylvester sitzen in der Küche und haben Sylvesters dickflüssige Schokolade ausgetrunken oder weggekippt und ich überlege, ob Matilda nicht doch hier bleiben sollte, weil sie aussieht, als sei etwas hinter ihr her, aber Matilda ist noch nie hier geblieben, egal wie spät es war. »Du kannst gerne hier schlafen, Matilda«, haben wir oft gesagt, weil man sich freut, wenn Matilda da ist, und gern hätte, dass Matilda so lang wie möglich bleibt, und Matilda hat gesagt, nein, sie gehe dann doch lieber nach Hause. Ich habe aufgehört zu beteuern, dass sie wirklich gerne hier schlafen könne, weil ich nicht gut im Beteuern bin und auch immer lieber nach Hause gehe.
Die Haustür wird leise zugezogen. Kurz darauf klopft es. »Ja«, sage ich. Sylvester kommt rein, lässt sich rücklings aufs Bett fallen und bewegt sich nicht mehr.
»Du liegst auf meinen Haaren«, sage ich.
Sylvester setzt sich mühsam auf und lächelt mich an.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagt er.
Sylvester kenne ich von einem Plakat. Es hing an der Bushaltestelle. Auf dem Plakat war eine leere Wohnung mit Parkett, Kisten und einer Zimmerpflanze. Sylvester saß mit einer Frau auf einer Kiste und freute sich, weil er eine Bank hat, die für einen da ist. Weder die Frau noch Sylvester sahen aus wie Leute auf Plakaten, damit man nicht denkt, dass die Bank nur für Leute auf Plakaten da ist.
Ich kannte das Plakat genau, weil man sich um acht Uhr morgens am liebsten vor das nächstliegende stellt und das so lange anguckt, bis der Bus kommt.
Daher wusste ich, dass Sylvester ein blaues und ein grünes Auge hat, dass seine Haare blond gefärbt sind und sein linker oberer Eckzahn schief ist. Ich kannte die Telefonnummer des Plakatdruckers von Sylvesters Plakat und ich wusste, dass es auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt war.
Weil ich außerhalb der Bushaltestelle nichts von dem Plakat wusste, habe ich Sylvester nicht erkannt, als er sich an den Cafétisch neben mir setzte. Weil ich jeden Tag ein paar Minuten lang aber einiges von dem Plakat mit Sylvester darauf wusste, kam er mir diffus bekannt vor, wie einem später jemand bekannt vorkommt, der in der zehnten Klasse von der Schule abgegangen ist und den man acht Jahre später plötzlich hinter einem Schalter sieht. Sylvester war kein abgegangener Mitschüler, und ich überlegte weiter bis tief in die Grundschule hinein, weil er mich von dem Tisch neben mir aus anguckte, als hätten wir früher zusammen ein Baumhaus gebaut oder uns sonstwie gemeinsam verdreckt oder verschrammt.
Sylvester setzte sich an den Tisch neben mir, trank Kaffee und versuchte manchmal, Dinge aufeinander zu stapeln, die sich nicht stapeln lassen.
»Darf ich?«, fragte er, als er irgendwann zwischen Montag und Freitag vor meinem Tisch stand.
»Bitte sehr«, sagte ich. Sylvester setzte sich hin.
»Du hast da eine Feder auf der Schulter«, sagte Sylvester. »Oh«, sagte ich.
»Du hast überhaupt oft Federn an dir dran«, sagte Sylvester und lächelte.
»Kleintierbedarf«, sagte ich.
»Ach so«, sagte Sylvester.
Zuerst haben wir nicht viel gesagt und dann sehr viel. Zuerst haben wir uns nur gegenüber gesessen, Sylvester hat versucht, den Salzstreuer auf den Zuckerstreuer zu stellen, und mich angesehen und sonst nichts getan, ich habe den Salzstreuer angesehen, so lange, bis die Reiskörner im Salz sich bewegt haben wie Mehlwürmer, und sonst nichts getan.
Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu fragen, warum Sylvester mich anguckt, als hätten wir einen Baumhausbau oder eine ganze verschrammte Kindheit hinter uns, und versucht, Sylvester möglichst genauso anzugucken, was mir nicht gut gelungen ist. Ich habe es seither oft probiert.
Von dem Plakat hat Sylvester nichts gesagt. Dann hat er angefangen, sehr viel zu erzählen, von acht Geschwistern, zwei Vätern, drei Stiefmüttern und einer gerade abgelegten Meisterprüfung zum Konditor. Er hat mit zwölf Zigaretten und Salz- und Zuckerstreuer auf der Marmorplatte diverse Dramen zwischen acht Geschwistern, zwei Vätern und drei Stiefmüttern nachgestellt. Weil zu Dramen auch immer das Umfallen gehört, ist sehr viel Zucker, Salz und Tabak auf die Tischplatte und dann in unsere Ärmel geraten.
In Sylvesters Dramen auf dem Marmortisch rannten Väter, Geschwister und Stiefmütter hin und her, Sylvester hatte jeden Tag ein neues Drama.
Hinterher haben wir uns Zucker, Salz und Tabak von den Ärmeln geschüttelt, und erst viel später habe ich erfahren, dass nichts davon stimmt.
Wenn man Sylvester darauf hinweist, dass etwas oder einiges von dem, was er erzählt, nicht stimmt oder gar nicht stimmen kann, wenn man ihm mit Fragen und Beweisen kommt, kümmert Sylvester das nicht, er hat keine Angst, überführt zu werden. Als ich viel später gesagt habe: »Sylvester, du hast nicht acht Geschwister, sondern gar keine und auch keine Stiefmütter, du hast keine zwei Väter, sondern nur einen einzigen herkömmlichen Vater, und ein Konditor hast du immer nur werden wollen«, hat Sylvester gefragt, ob er das wirklich alles behauptet habe.
Sylvester hat keine Angst, überführt zu werden, und er kam jetzt oft an meinen Tisch.
»Meine Großtante hat sich aufgehängt«, sagte Sylvester, nachdem ich gesagt hatte, dass ich umziehen müsse. Ich hatte gerade gesagt, dass der Vermieter Eigenbedarf angemeldet habe, als Sylvester mich unterbrach und sagte, seine Großtante habe sich aufgehängt.
»Das tut mir leid«, sagte ich.
Ich wusste nichts von einer Großtante, weil eine Großtante nie in Sylvesters Dramen vorgekommen war, nie wurde ein Salzstreuer oder eine Zigarette stellvertretend für eine Großtante auf dem Cafétisch hin- und hergeschoben. Ich überlegte, ob das mit der Großtante stimmen könnte.
»Ich habe sie nicht besonders gemocht«, sagte Sylvester.
»Trotzdem tut es mir leid«, sagte ich.
»Sie hat eine schöne Wohnung«, sagte Sylvester, »aber man kann sie nur zu zweit bezahlen.«
»Ach so«, sagte ich. »Ja«, sagte Sylvester und versuchte, den Salzstreuer auf den Zuckerstreuer zu stellen. Es ging nicht.
Zweites Kapitel
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