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Wer wird Bürgermeister von Versloh?
In Versloh, der Gemeinde mit den Dörfern Bramschebeck und Pogge, steht die Wahl vor der Tür. Alle paar Jahre wieder wird Fritzwalter Kleinebregenträger hier zum Bürgermeister gewählt. Nie gab es einen Gegenkandidaten. Eines Morgens allerdings liegt Kleinebregenträger tot neben der Bundesstraße. War es Mord? Oder ein Unfall? Erwin Düsedieker, den man im Ort für trottelig hält, weil er mit seinen Enten spricht und in Gummistiefeln Spaziergänge unternimmt, macht sich so seine Gedanken. Und verstrickt sich unversehens in einen schmutzigen Wahlkampf ...
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Das Buch
In Versloh, der Gemeinde mit den Dörfern Bramschebeck und Pogge, steht die Wahl vor der Tür. Bürgermeister Fritzwalter Kleinebregenträger ist sich seiner Sache auch diesmal sicher; schließlich gab es noch nie einen Herausforderer. Die Lage ändert sich jedoch dramatisch, als Kleinebregenträger eines Morgens tot aufgefunden wird. Ein Unfall? Oder ein politischer Mord in Versloh? Schon bald bringt sich ein neuer Kandidat ins Spiel. Erwin Düsedieker beginnt zu ermitteln – und erlebt sein blaues Wunder, als seine Freundin Lina Fiekens ihm ein unerwartetes Geständnis macht …
Wie gut, dass er mit Lothar, Lisbeth und Alfred drei wahre Ermittlungs-Enten an seiner Seite hat. Und wie gut, dass es Hilde Gerkensmeier gibt, die resolute Nachbarin, und Arno Wimmelböcker, Erwins Wacholderschnaps trinkenden Freund. Gemeinsam treten sie gegen den Geist einer undurchsichtigen Politik an, der die Dörfer heimsucht.
Der Autor
Thomas Krüger, geboren 1962 in Ostwestfalen, arbeitete zunächst als Journalist. Heute ist er Hörbuch- und Kinderbuchverleger, Autor zahlreicher Bücher und Sonette. Mit Erwin, Mord & Ente legte er seinen ersten Krimi vor und betrat mit der Figur der »Ermittlungsente« Lothar völlig neues Terrain. Thomas Krüger lebt mit seiner Familie in Bergisch Gladbach.
Lieferbare Titel
Erwin, Mord und Ente
Entenblues
Erwin, Enten und Entsetzen
Danksagung
Ohne die Hilfe von Frauen wäre Erwin aufgeschmissen. Insbesondere Anke, Astrid, und Maren sei gedankt: Sie haben die Romane schon in den ersten Fassungen gelesen und Erwin Halt gegeben.
Dank geht aber auch an Männer: an Oskar, der genau weiß, was Lisbeth und Lothar denken, wenn es um ihren Nachwuchs Alfred geht. Und an Karl-Josef Feischen, der dem Buch mit einer wichtigen Auskunft sehr geholfen hat.
THOMAS KRÜGER
ERWIN,
ENTEN,
PRÄSIDENTEN
Ein Kriminalroman
mit Erwin Düsedieker
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 03/2017
Copyright © 2017 by Thomas Krüger
Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Redaktion: Astrid Roth, Edgar Weiß
Umschlaggestaltung: Der Anton
Karte: Ina Hattenhauer
Satz: KompetenzCenter; Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-19226-6V002
www.heyne.de
Es ist Februar. Winter also. Manchmal ist es kalt. Meist nur nass. Schnee gibt es selten. Die Bäume stehen in der Gegend herum: entlaubte, demente Gestalten. Manchmal bilden sie Wälder, dunkle Zonen. Morgens hält sich Nebel auf den matschigen Feldern. Dann scheint alles zugezogen, verschleiert. Eine Landschaft wie verdeckt von grauen Gardinen, hinter denen Umbaumaßnahmen stattfinden könnten. Doch hier ändert sich nichts. Versloh bleibt Versloh: zwei Dörfer, Bramschebeck und Pogge, dazu einige verstreute Höfe. Eine Landgemeinde. Die Gegend ist gewöhnlich. Aber was heißt das schon? Wer hier lebt, kennt auch Schönheit.
Erwin Düsedieker zum Beispiel.
Also: Erwin ist keine Schönheit, aber er kennt welche. Ländliche …
Ah, da kommt er ja. Wie gerufen.
Erwin stapft über einen Feldweg, in Gummistiefeln. Er trägt Trainingshose und einen alten Bundeswehrparka. Vermutlich auch ein Paar lange Unterhosen, denn es gibt da jemanden, der sich um ihn kümmert. Fast sechzig ist er. Erwin wandert umher, kreuzt Äcker und Wiesen, durchstreift das eine oder andere Waldstück, und hinter ihm erscheinen …
Enten?
Ja. Drei Laufenten. Das sind diese aufrecht gehenden, schlanken Vögel, die grobe Zeitgenossen bisweilen mit Gänsen verwechseln. Gänse allerdings verhalten sich zu Laufenten wie Cindy aus Marzahn zu … Marilyn Monroe. Womit nichts gegen Gänse gesagt sei.
Leicht schaukelnd folgen die Enten Erwin. Das Wort watscheln trifft es nicht. Enten bewegen sich in einem Takt, den ein höherer Geist ihren Körpern vorschlägt. Sie schwingen in einem kosmischen Rhythmus, den nur sie selbst verstehen. Sie und womöglich Menschen wie Erwin Düsedieker.
Fliegen tun sie fast nie. Im Fliegen sind sie nicht gut. Erwin liebt seine bodenständigen Enten, weil er ebenso bodenständig ist. Er ist ein besonderer Mensch. In Versloh – also in Bramschebeck und in Pogge – hält man ihn für zurückgeblieben, für einen Sonderling. Vielen gilt er noch immer als Dorftrottel, obwohl er in den vergangenen Jahren höchst komplizierte Kriminalfälle gelöst hat. Sogar mit einem Seeungeheuer hat er es aufgenommen. Und gewonnen.
Erwin ist allerdings kein Polizist. Sein Vater, Friedhelm, war einst der Dorfpolizist von Versloh. Friedhelm Düsedieker, Jahrgang 1930, gestorben 2001. Ein Mann mit brauner Vergangenheit und der Neigung, seinen Sohn täglich zu verprügeln, um ihm die vermeintliche Dummheit auszutreiben.
Erwin brauchte lange, um aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten. Da war es vielleicht keine so gute Idee, dass er sich nach dem Tod Friedhelms zunächst dessen alte Polizeimütze auf den Kopf setzte, sobald er zu seinen Feld-, Wald- und Wiesenwanderungen aufbrach. In den Augen der Versloher wirkte er nun erst recht wie ein Trottel.
Dennoch konnte Erwin seinen Vater vom Sockel stürzen. Er fand heraus, dass Friedhelm, der Dorfpolizist, zu einem Netzwerk alter Nazis gehörte, die im Land noch immer ihr Unwesen trieben. Daraus wurde Erwins Kriminalfall Nummer eins. Friedhelm lag da schon lange unter der Erde.
Danach blühte Erwin auf. Was anderen erstmals in der Pubertät widerfährt, erlebte er mit fast sechzig. Die Liebe.
Erwin lernte Lina Fiekens kennen und zog mit ihr zusammen. Das heißt, Lina zog zu ihm, in den Grenzweg, in das einsame Haus zwischen Bramschebeck und Pogge. Lina, die Besitzerin des kleinen Dorfladens in Bramschebeck. Seit knapp zwei Jahren lebt sie nun mit Erwin zusammen …
… und mit seinen Enten.
Ach ja, die Enten: Sie heißen Lothar, Lisbeth und Alfred. Lothar ist Erwins engster Freund. Er hat ihm in Kriminaldingen oft geholfen. Lothar ist eine wahre Ermittlungsente, klug und schneeweiß, von geradezu heiliger Leuchtkraft. Lothar kennt Erwin aus einer Zeit, als nur sie beide das Haus am Grenzweg bewohnten. Zusammen unternahmen sie lange Wanderungen und wurden dann und wann von Arno Wimmelböcker besucht.
Arno, der bei Hilde Gerkensmeier auf dem benachbarten Hof lebt und gern mal einen Schnaps trinkt. Oder zwei oder drei oder vier …
Das war die Zeit, bevor Frauen in Erwins und Lothars Leben traten. In Erwins Fall, wie gesagt, Lina. In Lothars Fall Lisbeth. Lisbeth, die resolute, ebenso schneeweiße Liebe Lothars. Lisbeth, die Lothar als Ermittlungsente in nichts nachsteht.
Schließlich kam noch Alfred, ihr Nachwuchs. Alfred ist aus unerfindlichen Gründen pechschwarz, ein Draufgänger, jugendlich ungestüm, für jeden Unsinn zu haben.
Im Haus am Grenzweg ist manches etwas anders als im Rest des Landes. Und das ist auch gut so. Zu sagen bleibt noch, dass der angeblich so schwerfällige Erwin viel liest. Kaum jemand weiß von seiner Bibliothek. Im Wintergarten des Hauses beherbergt er Goethe, Schiller, Shakespeare, Dante, Homer und jede Menge Bücher über Kunst. Schöne, gebundene Ausgaben. Und mitten zwischen den Bücherregalen steht eine vergoldete Badewanne. Umgeben von Büchern nimmt Erwin gern mal ein Sandelholz-Schaumbad oder eines mit Bambusextrakt und Avocadoöl. Das hat ihm oft geholfen.
Alles könnte friedlich sein in Versloh, auf dem Land. Und um ehrlich zu sein, meist ist es das auch, denn die schlimmen Dinge schlummern gern, verstecken sich unter Oberflächen oder hinter …
Was ist das nun wieder?
Wir erinnern uns: Erwin ist mit seinen Enten unterwegs. Alfred, die pechschwarze Ente mit der Neigung zum Risiko, hat etwas gefunden. Einen Fremdkörper am Straßenrand. Der wird sogleich mit dem Schnabel attackiert. Erwin blickt auf und sieht, wie Alfred an etwas herumprokelt. Er zerlegt das untere Ende eines schon mehrfach verwendeten, verblichenen Wahlplakates.
Nach einer Weile fasst Erwin in die Innentasche seines Parkas und zieht ein schwarzes Notizbuch und einen Stift heraus. Seit einem Jahr trägt er Schreibzeug bei sich, macht sich dann und wann Notizen. Noch immer ist seine Schrift ungelenk, und die Buchstaben kommen langsam auf die Welt, wie sehr kleine Elefanten. Doch er macht Fortschritte, und vielleicht wird er in den kommenden Jahren sogar mal ein Buch schreiben. Ein eigenes Buch.
Erwin hat große Reserven.
Erwin Düsediekers Leben nahm knapp zwei Wochen vor seinem Geburtstag eine unerwartete Wendung. Er hatte bereits mehrere Sandelholz-Schaumbäder in seiner vergoldeten Badewanne genommen, um über ein Problem nachzudenken, das ihm ausgerechnet Hilde Gerkensmeier eingebrockt hatte. Schon vor Monaten.
»Mensch, bald wirste sechzig, Äwinn. Das musste feiern. Bei uns auf der Deele. Bist doch wer! Los, komm, ’n richtiges Fest!«
Ein Fest?
»Und denn tanzte mit Lina!«
Auch das noch. Nichts gegen Lina. Aber tanzen?
Dann hatte auch noch Lina die Idee gut gefunden, wegen bist doch wer und auch wegen dem Tanzen. Und Arno? Beim Wort Feier hatte Arno auf Ausnahmezustand geschaltet. In seinen Gedanken klimperten Wacholderpinnchen, da konnte ihn Tanzmusik nicht mehr schrecken.
Seit diesem Tag stand zwischen Erwin und Lina eine gewisse Spannung. Die Idee mit der Feier gefiel ihr immer besser. Ihm immer weniger. Lina liebte Erwin, und Erwin liebte Lina. Es setzte ihr zu, dass man in Bramschebeck noch immer nicht verstanden hatte, was für ein tiefsinniger, kluger und feiner Mensch Erwin war. So eine Feier konnte das vielleicht ändern.
Manchmal war Lina ja doch naiv.
Und Erwin war ein Dickschädel.
Der 18. Februar begann neblig. Kalt war es auch. Nasskalt. Bis zum Mittag hielt sich die träge Bodenwolke um Bramschebeck und Pogge. Erwin brach um kurz nach halb acht Uhr morgens auf und marschierte Richtung Bundesstraße. Der Nebel erlaubte es ihm, einen heimlich gefassten Plan in die Tat umzusetzen. Einen Plan, von dem allein er und die Enten wussten.
Mit denen hatte Erwin noch am Abend zuvor gesprochen. Erwin unterhielt sich öfter mal mit seinen Enten. Sie waren gute Zuhörer, und wenn es zum Beispiel um Frauendinge ging, war Lothar weit erfahrener als Erwin selbst. Lothars und Lisbeths Beziehung hatte mit Alfred, ihrem Nachwuchs, immerhin ein Stadium erreicht, an das Erwin nicht mal in seinen kühnsten Träumen dachte. Immerhin war Lina mittlerweile 73 und Erwin doch eher platonisch veranlagt.
Erwin hatte gewartet, bis Lina im Bett lag. Gegen Mitternacht war er mit Taschenlampe hinaus in den Garten geschlichen, zum Entenhaus, hatte angeklopft und war eingetreten.
»Mensch, Lothar«, hatte er gesagt, »die Lina.«
Lothar hatte bloß geguckt. So reagierte er ja immer. Die drei Enten hockten im Stroh nebeneinander. Lisbeth zuppelte in ihren Federn, und Alfred wirkte abwesend, als würde er im Geist Musik hören.
Die Jugend.
»Bloß keine Feier«, hatte Erwin gesagt und Lothars Schweigen als Zustimmung gedeutet. Alfred hatte leise gequackelt, was vielleicht als Widerspruch gemeint war. Wer nachts Musik hörte, mochte einer Feier offen gegenüberstehen. Alfred war für seine Eskapaden bekannt.
Nach einigen weiteren einseitigen Wortwechseln hatte Erwin genickt.
»Na gut«, hatte er gesagt, »is vielleicht ne Idee. Vielleicht freut se sich und vergisst das mit der Feier.«
Wieder ein Quackeln Alfreds.
»Stell ich mir schön vor, Lina mit Hut.«
Hut?
Lisbeth hatte aufgesehen.
»Können den Tag ja zusammen verbringen. Da anne Fischteiche. Ihr könnt baden. Vielleicht malt se auch ’n Bild von euch, die Lina. Wär doch was, oder? Würd ihr sicher besser gefalln als ne Feier.«
Ein Bild malen? Fischteiche?
Die Enten hatten ihn angesehen, stumm und tiefgründig. Aber sie würden mitmachen bei dem, was er plante.
Vielleicht hatte das Wort Fischteiche sie überzeugt.
Den Kopf voller Gedanken an diese nächtlichen Gespräche stiefelte Erwin morgens also aus dem Haus, direkt hinein in den Nebel. Die Enten folgten zunächst. Bald aber sauste Alfred voraus, und Lothar und Lisbeth jagten ihm nach.
Die Enten tauchten ein in das dichte Grau. Lothar und Lisbeth waren sofort unsichtbar. Das Weiß ihrer Federn verschmolz mit dem gespenstischen Dunst. Alfreds Schwarz hinterließ einen intensiveren Körperschatten. Doch auch der war bald nicht mehr zu sehen, weil Alfred tiefer als seine Eltern in die Nebelsuppe eindrang.
Wo lag die Bundesstraße?
Erwin fühlte sich unsicher. Er hatte die Sichtverhältnisse unterschätzt. Er hätte den Grenzweg nehmen sollen, die schmale Straße, die am Grundstück vorbeiführte. Doch wegen der Enten zog er bei Wanderungen immer die Felder und Wiesen abseits der Straße vor.
Zum Glück bot der Versloher Matschboden Ungeheuern keine Chance. Aber die Tücken des Nebels waren nicht zu unterschätzen. Nur unter großen Mühen fand Erwin zum Bramschebach. Die Enten hatten sich bereits ins Wasser begeben und paddelten dahin. Wenn Erwin mit ihnen dem Bachlauf gegen die Fließrichtung folgte, kam er dem Ziel ein gutes Stück näher. Zudem war die Bachunterführung die einzige Möglichkeit, mit den Enten sicher auf die andere Seite der Bundesstraße zu gelangen.
Erwins Ziel hieß Pogge. Das Dorf, das er schon allein wegen der gefährlichen Bundesstraße selten besuchte. Um Punkt acht wollte er im Gemischtwarenladen von Hanno Hunke stehen. Hanno, bei dem das Angebot größer war als bei Lina und der an diesem Morgen hoffentlich nicht so viel Kundschaft hatte. Was Erwin suchte, würde ihm vielleicht auch Lina besorgen können, aber es ging ja um eine Überraschung …
Dieser Nebel. Eine solche Suppe hatte Erwin in Versloh noch nie erlebt. Der Weg von der alten Polizeiwache bis zur Bundesstraße maß etwa anderthalb Kilometer. Erwin brauchte fast eine Stunde, bis sich vor ihm schemenhaft das Wäldchen an der Bramsche abzeichnete. Unmittelbar links davon lag die Betoneinfassung der Bachunterführung: ein Schattenmaul im Nebel. Weit geöffnet.
Der Verkehr auf der B 61c kroch nur dahin. Das sonst übliche Brausen von Fahrzeugen fehlte. Von der Straße selbst war ganz und gar nichts zu sehen. Erwin hatte das Gefühl, von bleichen Geistern umgeben zu sein: Gestalten, die sich einen Spaß mit ihm machten und mit klammen Fingern am Stoff seines alten Parkas zupften.
Er stoppte. Was war das? Stimmen? Von der Straße her oder vom Ackerland, das ihn umgab, oder aus dem Wäldchen? Die Geräusche waren nicht zu orten. Dumpfe Laute umkreisten einander, stießen vor, zogen sich zurück. Minutenlang. Sie narrten Erwin. Wenn es sich um Stimmen handelte, dann lösten sich die Bedeutungen der Worte auf, bevor sie in Hörweite kamen.
Jetzt startete ein Auto. Oder waren es zwei? Die Geräusche nahmen weitere Geräusche auf, zogen sie mit sich. Als die Fahrzeuge verstummt waren, schwieg auch der Nebel.
Es gab neben der Straße auf Pogge-Seite einen Parkplatz, unmittelbar am Bachlauf, den Feldern östlich Pogges vorgelagert. Hatte dort jemand wegen des dichten Nebels gewartet?
Weshalb aber war der Wagen dann doch weitergefahren?
Die Enten plagten solche Gedanken nicht. Sie paddelten munter dahin. Gegen die Strömung. Das war ein prima Morgentraining, auch wenn die Bramsche ganz und gar nichts Reißendes hatte. Erwin begab sich nun ebenfalls ins Wasser. Er stapfte in den Bach hinein, denn der Schacht unterhalb der Fahrbahn war nur so breit wie der Wasserlauf selbst: etwa zwei Meter. Da die Bramsche nicht sehr tief war und der Bachgrund nicht übermäßig weich, sank Erwin nicht bis über die Stiefelränder ein.
Das wäre unangenehm gewesen.
Und dann, kaum dass er sich im Wasser und ein Stück weit unterhalb der Fahrbahn befand, hörte er wieder Geräusche. Diesmal waren es eindeutig Stimmen.
Ein Streit? Wo? Auf der Straße? Nah dem Fahrbahndamm?
Der Betonschacht wirkte wie ein die Laute der Umgebung verstärkender und verzerrender Trichter.
Zwei Stimmen? Eine Frauenstimme?
Eine Frau, die wütend ist, dachte Erwin.
»Nein, nein! Du darfst das nicht! Hör auf, das …!«
Fast ein Schrei. Ein brausendes Spiel von Stimmen. Nur manchmal klar und deutlich: »Das ist Erpressung! Du weißt, dass ich ihn liebe! Aber ich kann nicht … Das kann ich nicht!«
Die zweite Stimme, schwächer, antwortete. Von dieser zweiten Stimme konnte Erwin nichts verstehen. Sie erschloss sich ihm nicht. Und wieder die aufgeregte Frau: »Die Lizenz ist so wichtig! Das darfst du nicht tun …!«
Hin und her ging es. Mal lauter, mal leiser. Erwin verharrte. Minutenlang.
Er wollte nicht lauschen. Es kam ihm falsch vor. Aber er war dem Geschehen jetzt ausgeliefert.
»Du bist wahnsinnig. Dreißig Jahre Arbeit stecken da drin. Dreißig Jahre! Ein wahnsinniger Egoist bist du. Ich …!«
Sehr laut. Und dann wurde alles übertönt. Ein weiterer Motor sprang an. Erwin nutzte den Lärm, um hastig durch den Bach zu schreiten, raus aus dem Schacht. Auf die andere Straßenseite. Er hörte das Platschen seiner eigenen Schritte nicht. Nun schwappte doch noch Wasser in seine Stiefel. Es kümmerte ihn nicht. Er musste hier weg. Ins Dorf. Zu Hanno Hunke. Auch die Enten eilten los, wie getrieben. Alfred schlug mit den Flügeln, verwandelte sich in ein sehr kleines Rennboot. In Erwins Kopf dröhnte es. Sein Gehirn war eine Zone aus grauem Dunst …
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
Das Gedicht hatte Erwin Wochen zuvor in seiner Bibliothek gefunden. Zufällig. Er wollte jetzt nur noch raus aus diesem Nebel. So schnell wie möglich. Die Verse halfen ihm voranzukommen. Er eilte Richtung Poggsiek, die erste Straße des Dorfs. Er konnte ein Haus am Ende des an den Bachlauf grenzenden Grundstücks ausmachen. Einen dunklen Block im Nebelgrau. Es war kurz vor neun. Hanno hatte den Laden längst geöffnet. Erwin war spät.
Es ging auf zehn zu. Der Nebel war noch immer dicht. Carlotta Ridderbusch, 65, hatte einen Auftrag. Den erfüllte sie, doch ihre Laune war nicht die beste. Ausgerechnet bei solchem Wetter musste sie los. Etwas erledigen. Sie verstand die Sache, um die Lina Fiekens sie gebeten hatte, nicht. Sie hatten sich sogar gestritten deswegen. Kannste das nicht einfach selber besorgen?, hatte sie gesagt, und nur ein genervtes: Ich kenne mich überhaupt nicht aus mit so was erhalten. Und merken soll er doch auch nichts. Also bitte!
Es war verrückt, dass ausgerechnet sie sich auf diese Sache eingelassen hatte. Lina Fiekens war gar keine besonders enge Freundin. Schuld war ihr Mann, Hans-Günther. Der kannte jeden Bachlauf, jeden Teich in der Gegend. Dein Mann ist doch Experte, Carlotta. Frag ihn doch mal! Seine Freunde behaupteten, er könnte es riechen, ob die Fische an einer Stelle beißen würden oder nicht. Also gut, hatte sie gedacht. In Gottes Namen …
Er hatte alles besorgt. Nur das beste Material. Ziemlich teuer, aber Qualität hatte ihren Preis. Hans-Günther, der, wann immer er den Mund beim Sprechen oder Essen bewegte, mehr und mehr an einen Fisch erinnerte.
Man verstand ihn schon kaum noch.
Aber was sollte man nach so vielen Jahren Ehe auch noch reden?
Nun überbrachte sie die Sachen. Ein Freundschaftsdienst. Obwohl es ihr widerstrebte, denn sie tat es ja im Grunde für ihn. Für diesen … Gestörten. Carlotta schüttelte sich. Natürlich hielt sie sich zurück, wann immer sie und Lina bei einer Tasse Tee auch nur in die Nähe des Themas Partnerschaft und Ehe kamen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass …
Sie stoppte. Was war das?
Ihr Mund öffnete sich. Carlotta stieß ein Keuchen aus, was nicht zu ihr passte. Wer seit mehr als dreißig Jahren dem Presbyterium angehörte, vermied solche Laute. Was sich dort im Nebel allerdings abzeichnete, das war …
Ein Akt von Perversion?
Ganz in der Nähe stand, kaum dass sie an ihn gedacht hatte, dieser … Abartige, und er trug einen …
Plötzlich eilte er davon. Er duckte sich und verschwand im Nebel. Was ging in einem solchen Kopf nur vor? War das noch menschlich?
Nein, Carlotta Ridderbusch wusste natürlich, dass Perversionen zum Reich des Animalischen gehörten. Animalisches kannte man hier gut. Sie verfluchte es.
Irgendwo brüllten Tiere. Ein Stall war geöffnet worden. Schweine bei der Fütterung. Ein Trecker sprang an. Der Motor röchelte.
Animalische Laute. Von überall krochen sie hervor.
Carlotta Ridderbusch eilte weiter. Sie musste es hinter sich bringen.
Eine Stunde zuvor. Um Punkt neun Uhr war Erwin am Ziel. Hanno Hunkes Laden mitten in Pogge war durch einen vor wenigen Jahren hinzugefügten Anbau zwar markanter, nicht jedoch schöner geworden. Markant war auch der Namenszug über der Tür: HANNOS ALLERLEI(H). Das H am Ende verwies darauf, dass Hanno neben dem Verkauf von Lebensmitteln, Futtermitteln, Kurzwaren, wenigen Modeartikeln, Drogeriewaren, Schreibwaren, Elektrogeräten, sehr vielen Spirituosen und diversem Krimskrams auch das eine oder andere verlieh, vor allem Erntegeräte, die sich nicht jeder in Pogge oder Bramschebeck leisten konnte. Die Sachen standen auf dem Hinterhof, neben dem länglichen Anbau: Mähbalken, Ballenpresse, Pflüge, eine Kreiselegge, ein Frontlader und diverse Geräte, die aus Betriebsauflösungen der vergangenen Jahre stammten. Hanno war geschäftstüchtig.
Erwin holte tief Luft, bevor er den Laden betrat. Doch dann musste er warten, weil ihn Marga Poppensieker, 97, hinter ihrem Rollator erkannte und mit pfeifendem Atem auf ihn zusteuerte.
Erwin schloss die Augen. Lothar, Lisbeth und Alfred wichen vor der Erscheinung zurück. Sie entdeckten zwischen Laden und der angrenzenden Gaststätte Hemke einen ungepflegten Gartenteich. Der Zustand des Teichs entsprach zwar nicht ihrem Standard, doch im Wasser konnten sie abwarten, ob es Erwin gelänge, Marga wieder loszuwerden. Die sprach ihn sofort auf Friedhelm an, seinen Vater, den ehemaligen Dorfpolizisten, und lobte dessen Arbeit.
Marga lebte in einer Einzimmerwohnung namens Demenz:
»Heu is euner was jümmer uppasst bui de Verbrechers, nä? Musste schön deon wasse sächt, nä, Äwinn? Bissn geoude Jong!«
Erwin nickte. Zum Glück vergaß Marga ihn, noch während sie sprach. Sie verstummte, starrte, zog weiter. Am Nachmittag würde ihre Schwiegertochter sie suchen gehen. Margas Radius war nicht sehr groß. Im Süllbach oder in der Bramsche blieb der Rollator regelmäßig stecken.
Allein die Bundesstraße war manchmal ein Problem …
Erwin öffnete die Ladentür und trat ein. Hanno sah auf.
»Na, dass’s doch …? Machste ne Weltreise?«
»Nee«, sagte Erwin, »nur bis Pogge.«
Hanno lachte: »Biste überhaupt schonn mal weiter gewesen, Äwinn?«
»Ja«, sagte Erwin. »Vorletztes Jahr. Am Meer.«
Irgendwie hatte er keine Lust, den Deppen zu spielen, und sprach deshalb schnell Hannos Geschäftssinn an.
»Wollte was kaufen.«
»Aha«, sagte Hanno.
»Malsachen«, sagte Erwin.
»Malsachen?«, wiederholte Hanno und legte die Stirn in Falten. »Zum Hausstreichen?«
»Nee. Nich fürs Haus. Ölfarben, Leinwand, Staffelei, Pinsel und so.«
Hanno wunderte sich. Aber Erwin kam als Kunde. Und Kunden brachten Geld.
»Hmm«, sagte er, »muss ich bestellen. So richtich Ölfarben?«
»So richtich«, sagte Erwin. Er diktierte Hanno, was er haben wollte. Als Hanno alles notiert hatte, kratzte er sich am Ohr und meinte:
»Dauert aber was.«
»Lange?« Erwin kniff die Augen zusammen.
»Nächste Woche. Sondersachen mach ich nich oft. Die liefern auch nur montags. Komm ma nächsten Dienstag.«
Erwin nickte. »Passt noch«, sagte er. Dann hob er den Zeigefinger und richtete ihn auf eine mit bunten Textilien vollgestopfte Ecke neben einem der ungeputzten Ladenfenster.
»Haste da Hüte? Ich such’n Hut.«
In Hannos Gesicht zuckte was, und er konnte es sich nicht verkneifen, auf jene Phase in Erwins Leben anzuspielen, in der er für alle in Versloh die Lachnummer gewesen war:
»So einen für Polizisten? Nee, hab ich nich. Haste doch selber.«
Hanno grinste. Erwin sah auf.
»Das sind doch Damensachen da, oder?«
»Äh, ja«, sagte Hanno – unsicher.
»Ich such’n Damenhut. N’ Sommerhut. Was Elegantes. Gibt’s das hier?«
Hanno begann an Erwins stoischer Art zu verzweifeln.
»Sommerhut«, seufzte er und bewegte sich hinüber in die Modeecke. Erwin folgte.
Tatsächlich wurden sie fündig. Hanno selbst konnte es kaum glauben. Er stieß unter den zum Teil vergilbten, ausgebleichten, angeschmuddelten Sachen auf einen Hut, den man ihm bei einer früheren Bestellung untergejubelt hatte. Ein zartorangefarbener Hut mit Borte und breiter Krempe. Ein Sommerhut mit Band. Ein Juwel. Es war ein Hut für eine ganz andere Welt. Für einen mondänen Urlaubsort am Meer vielleicht – wobei Hanno weder das Wort mondän kannte noch wusste, wie es am Meer so zuging.
Da war Erwin schon weiter.
Erwin kaufte den Hut, beglückt, und ging. Am nächsten Dienstag würde er noch einmal zum Laden kommen. Wegen der Malsachen. Er hatte eine knappe Stunde in Pogge verbracht, und der Nebel hatte sich noch immer nicht verzogen. Die Enten warteten bereits, als Erwin aus der Tür trat. Sie hatten Erkundungen vorgenommen. Pogge gefiel ihnen. Hätte Erwin gewusst, welche Strecken sie während seines Ladenbesuchs zurückgelegt hatten, er hätte sich gewundert. Vielleicht hätte er sich auch gesorgt, denn Lothar, Lisbeth und Alfred hatten was gefunden.
Einen sehr interessanten Ort …
Nun betrachteten sie Erwin. Der Hut interessierte sie nicht. Auch als sie auf dem Rückweg auf Höhe des Bachlaufs anhielten, weil Erwin einem spontanen Einfall nachgab, wunderten sie sich nicht. Erwin war ja immer für eine Überraschung gut.
Kurz bevor Erwin zurück in die Bramsche trat – unmittelbar vor der Straßenunterführung –, zog er den Hut hervor. Ihn trieb der Gedanke an das, was Lina ihm bedeutete. Lina, seine große Liebe. Erwin konnte sich nicht zurückhalten. Der Nebel schützte ihn. Er musste dem Impuls nachgeben, und so setzte er den Hut auf.
Dann stand er da, ganz allein auf der Welt. Erwin mit dem Damenhut. Die Enten bewahrten ihre Pokerface-Blicke. Allein Lisbeth mochte im Schräglegen des Kopfes etwas andeuten. Erwin wurde durchströmt von der Würde, die der Hut verlieh. Er, der einst eine Polizeimütze getragen hatte und unter ihr geschrumpft war, wuchs nun: in Gummistiefeln, Trainingshose, altem Parka. Der große, orangefarbene Hut verwandelte seinen Kopf in eine Sonne. Dieser Hut würde eine Dame wie Lina krönen. Erwin war froh, ihn gekauft zu haben.
Dann hörte er ein Geräusch, setzte den Hut schnell wieder ab und machte, dass er nach Haus kam.
Erwin suchte lange nach einem Versteck für den Hut. Auf dem Dachboden wurde er fündig. In einem alten Schrank war noch Platz. Lina betrat den düsteren Raum über dem ehemaligen Elternschlafzimmer selten. Die Vergangenheit dort oben war nicht ihre. Und auch Erwin stieg nicht gern die Holztreppe hinauf ins Reich der Hinterlassenschaften von Friedhelm und Gertrude und der ehemaligen Kirchengemeinde. Das Haus am Grenzweg war ja, bevor es die Polizeiwache der Gemeinde wurde, ein Pastorat gewesen. Der Dachboden enthielt Dinge, die Erwin als belastend empfand.
Nachdem er diesen Ort wieder verlassen hatte, blieb Erwin lange unruhig. Die Aufregung des Morgens wollte nicht weichen. Er ging hin und her, putzte die Treppe, besuchte den Garten und sprach mit den Enten. Dann lenkte ihn Blitzwerner ab, der Postbote. Werner Ottensmeier, der am frühen Nachmittag mit der Zeitung erschien, die Lina abonniert hatte: das Dettbarner Kreisblatt. Bevor Lina bei ihm eingezogen war, hatte Erwin selten Post bekommen. Seit dem vergangenen Jahr aber rollte von Montag bis Samstag Blitzwerner vor. Werner hielt diverse Geschwindigkeitsrekorde für Posträder im ländlichen Raum. Das erklärte seinen Spitznamen.
Heute jedoch hatte auch ihm der Nebel tüchtig zugesetzt. Er kam spät, denn er hatte am Achelpöhlerschen Hof just jene Scheunenkante gerammt, die sonst Hinrich Gösemeier in volltrunkenem Zustand vorbehalten war. Werner hatte die Scheune schlichtweg nicht sehen können, als sie ihn aus dem Sattel knockte. Anschließend humpelte er mit blauen Flecken, Schmerzen an Kopf und Kreuz, einer lädierten Schulter und einer Acht im Vorderrad mit der Restpost von Hof zu Hof und erzählte überall eine aufgehübschte Geschichte, denn man fragte nach. Auch Erwin:
»Mensch, Werner, wass’n los?«
»Och, n’ blöder Unfall, Äwinn«, stöhnte Werner, während er die Zeitung aus der Posttasche zog. »Kommt da einer mit’n Trecker durch’n Nebel, unn ich muss ausweichen. Könnt tot sein!«
»Du machs Sachn! Soll ich’n Arzt …?«
»Nee, bloß nich!« Werner winkte ab. »Geht schonn!«
»Hasse den erkannt?«
»Wen?«
»Den Fahrer.«
»Nee. War gleich wieder in’n Nebel. Bestimmt so’n Sportflitzer.«
Erwin stutzte.
»Sportflitzer? Ich denk, n’ Trecker?«
Werners Gehirn pausierte einige Sekunden.
»Ja, nee. Weiß nich.« Er räusperte sich. »War so schnell. N’ schneller Trecker. Wer’n auch immer schneller, die Treckers.«
»Jau.«
Erwin nickte.
»Willste e’ n’ Schnaps?«
Erwin selbst trank nie, aber Schnaps war im Haus. Schon wegen Erwins Freund Arno Wimmelböcker. Blitzwerner und Arno gehörten zur Mehrheit der Wacholdertrinker in Versloh. Man munkelte, dass sämtliche Geschwindigkeitsrekorde Werners unter Wacholder aufgestellt worden waren.
Obwohl ihm auf diversen Höfen bereits Pinnchen mit Hochprozentigem gereicht worden waren, nahm Werner Erwins Angebot dankend an. Er hatte die Scheunenkante am Morgen nüchtern gerammt. Bis zur Vollbetankung war also noch Luft. Und die Schmerzen waren ein guter Grund.
Werner langte zu. Als er den Inhalt eines dritten Pinnchens leerte, fiel Erwin ein gefaltetes Plakat auf, das neben der gelben Posttasche im Korbrahmen des Zustellrads klemmte.
»Was haste da?«, fragte er neugierig.
Werner folgte Erwins Zeigefinger. Und schüttelte den geröteten Kopf.
»Nee. Is … Habbich gefund’n. Bei … Lag da, unn … Wollt ich … Dem Bürgermeister wollt ich das bring’n. Braucht er vielleicht noch. Is da runtergefalln. N’ ganz neues.«
»Aha«, sagte Erwin. Er wusste ganz und gar nicht, worauf Werner hinauswollte. In einem für Erwins zurückhaltende Art geradezu kühnen Akt griff er nach dem Papier, zog es hervor und faltete es auf.
Ein halb zerrissenes Wahlplakat.
Und tatsächlich ein neues. Dieses Motiv sah Erwin zum ersten Mal.
Die Kommunalwahlen standen an. Ende Mai. Wie alle fünf Jahre waren hier und dort Plakate zu sehen. In diesem Jahr allerdings erstaunlich früh – und wie immer ohne Parteimotiv: In Versloh-Bramschebeck regierte der parteilose Fritzwalter Kleinebregenträger über einen Rat aus parteilosen Abnickern. Zur Bürgermeisterwahl trat allein er an. Und allein er war auf Plakaten zu sehen. Solange Erwin zurückdenken konnte, war das so gewesen. Kleinebregenträgers Stellvertreter, Gisbert Gottenströter, wäre nie und nimmer auf die Idee gekommen, sich gegen den Amtsinhaber aufstellen zu lassen. Ebensowenig die übrigen Mitglieder des Rates, die alle paar Monate in Pogge tagten, in Kleinebregenträgers Haus am Poggsiek, um anschließend im inoffiziellen Ratskeller Pogges, der Gaststätte Hemke, zu versacken.
Es gab zu den Wahlen stets dasselbe uralte Plakat. Erwin dachte immer, wenn er es sah, dass ein vergrößertes Foto von Gemeindebürgermeister Fritzwalter Kleinebregenträger nichts sei, was die Natur von sich aus hervorbringen sollte. Auch nicht, wenn der Bürgermeister auf dem Foto etwa zwanzig Jahre und zahllose Schnäpse jünger aussah als in Wirklichkeit.
Vom Rat der Gemeinde und der Politik in Versloh verstand Erwin wenig. Dieses neue Plakat aber erstaunte ihn. Das Foto darauf war jüngeren Datums: Ein glatzköpfiger, dicklicher Kleinebregenträger posierte mit Schuh in der Hand und wild entschlossenem Blick unter den Worten: Wer sonst? Fritzwalter Kleinebregenträger. Am unteren Plakatrand stand dann noch: Manchmal muss man auf den Tisch hauen.
Das martialische Foto verstörte Erwin. Der Schuh war markant: ein grauschwarzer Arbeitsschuh mit Stahlkappe. Einer zum Zutreten. Für Drecksarbeiten. Mehr noch als der Schuh aber irritierte Erwin ein Schriftzug, der gar nicht auf das Plakat gehörte. Mit dickem schwarzem Filzstift hatte jemand in schräg nach oben fliehenden, akkuraten Großbuchstaben die Worte BEKOMMST DU ETWA KALTE FÜSSE? auf Kopf und Brust des Bürgermeisters gesetzt.
Was sollte das?
Werner Ottensmeier guckte betreten, als Erwin den Blick hob und ihn ansah. »Das … das war ich nich! War schonn so!«, stammelte er. »Hing da so anner Scheune, als ich … dagegen …«
Werner verschwieg, dass er beim Aufprall mit Brust und linker Wange gegen die Holzwand gesemmelt war. Dann, abrutschend, hatte sich der Stoff seiner zerschlissenen Dienstjacke an einem der das Plakat haltenden Nägel verfangen, war – Ratsch! – aufgerissen und hatte Nagel mitsamt Plakat von der Wand geholt. Nur drei abgerissene Papierecken hingen noch an Ort und Stelle. An dieser verdammten Straßenecke.
»Is doch ne Sauerei …«, fügte Werner hinzu.
Erwin nickte. Er ahnte, dass Blitzwerner nach seiner Postrunde zum Bürgermeister wollte, um diesem das Werk des unbekannten Schmierfinken zu zeigen. Es konnte von Vorteil sein, sich mit Kleinebregenträger gutzustellen …
Weil die Plakatsache sie so sehr mitgenommen hatte, gingen sie ins Haus. Werner setzte sich in die Küche, kippte drei weitere Beruhigungsschnäpse und regte sich noch über dieses und jenes auf. Anschließend zog er torkelnd ab. Richtung Pogge.
Erwin sah ihm nach. Die Unruhe des Morgens kehrte zurück. Er machte sich einen Pott Kaffee und stellte fest, dass Werner das Plakat vergessen hatte. Erwin überlegte kurz. Dann faltete er das steife Papier zusammen und tat es in eine Holzkiste – eine größere Zigarrenkiste, die er sich mal für Zettelsammlungen und derlei Dinge zugelegt hatte. Die Kiste bewahrte er auf dem Schreibtisch in seinem Schlafzimmer auf. Dort arbeitete er allerdings selten. Zu sehr schätzte er die Bibliothek, den Raum mit Wanne und Gartenblick. Da war mehr Platz für Gedanken als neben dem Bett.
Lina würde erst gegen halb acht aus dem Laden kommen. Vielleicht sollte er ins Dorf gehen, sie besuchen. Aber dann dachte er sich, dass Lina seine Nervosität bemerken und nachfragen würde. Die Gefahr war groß, dass er sich wegen der Malsachen und dem Hut verplapperte. Nein, er blieb im Haus, schlürfte einen zweiten Pott Kaffee und nahm sich schließlich vor, die Dachpappe des Entenstalls zu ersetzen.
Als er jedoch zufällig aus dem Küchenfenster blickte, bemerkte er eine ungewohnte Hektik. In der Ferne. Vor dem Horizont Richtung Fechtelfeld. Blaulichter auf der Bundesstraße.
Der Nebel war abgezogen und hatte einen trüben Wintertag zurückgelassen. Das nervöse Aufblitzen dort draußen passte nicht hierher. Erwin runzelte die Stirn, hoffte, die Fahrzeuge – mindestens drei mussten es sein – würden weiterrasen, Richtung Pökenhagen. Doch dann bremsten sie ab. Wollten sie nach Pogge? Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Hatte Blitzwerner etwa halb betrunken, beim Überqueren der Straße …?
Erwin schüttelte den Gedanken ab. Er verzichtete auf weitere Beobachtungen, verzog sich in die Bibliothek, von wo aus der Blick in den Garten ging. Das beruhigte.
Nach einer Weile dachte er sogar daran, ein Bad zu nehmen. Doch dazu kam er nicht. Es klingelte Sturm, als er auf der Trittleiter stand, um ein Buch über Diktatoren im 20. Jahrhundert zurück ins obere Regalfach zu stellen. Kurz darauf, weil Erwin nicht schnell genug von der Leiter und an der Haustür war, klopfte Arno Wimmelböcker heftig ans Glas des Wintergartens. Das war gegen halb drei.
»Äwinn! Äwinn!?«
»Arno? Wass’n los?!«
»N’ Toter!!«
O nee, dachte Erwin, nich schonn wieder …
»Was?«
»Anne Straße. Da in’n Bach. Da wo’sse unter durch kannz … Mitte Enten, da. Gisbert is da … Da an’n Schacht. Da, wo … nä? Hammse … hat Siggi grad … Unn ich … Mensch, Hilde is … Unn ich …!«
»Arno, ich komm schonn!«, stöhnte Erwin und machte, dass er die Wintergartentür öffnete, bevor der aufgewühlte Arno sie beschädigte. Arno stolperte ihm entgegen.
»Möönsch, Äwinn. Das’s … Nee, das …!«
»Nu komm ma runter!«, schimpfte Erwin, der die Schnapsflasche mit den Resten, die Blitzwerner zurückgelassen hatte, in der Küche wusste. Dorthin bugsierte er Arno, drückte ihn auf einen Stuhl und schenkte ihm ein. Es reichte grade so, um Arnos Erregung zu dämpfen.
»Hilde sacht, dass Siggi sacht, dass … der’s ertrunken, is der …«
»Wer is ertrunken?«
Arnos wässrige Augen blickten Erwin an. Arno Wimmelböcker, dem die Zyklen von Leben und Tod natürlich erschienen, solange sie sich irgendwo zwischen Ferkelwurf und Hausschlachtung abspielten, hatte wieder einmal Einblick genommen in die Grausamkeiten der Welt.
Diesmal die der Politik.
»Der Bürgermeister«, stammelte er. »Der’s tot!«
Erwin stand plötzlich in einem Gewitter von Gedankenblitzen. Er dachte an das Plakat. An den Morgen. Den Bach. Den Nebel. Die Wortfetzen, die er gehört hatte. Die unbekannten Geräusche. Die Motoren.
»Ertrunken … sacht Hilde, sacht Siggi. Also Gisbert … In’n Bach da. Anne Straße.«
Nun bekam Erwin kalte Füße. Sein Herz raste.
»Der Bürgermeister? Kleinebregenträger? Aber der …?«
Der kann nich totgehn. Der wird doch immer wiedergewählt, schoss es durch Erwins Gehirn. Ein absurder Gedanke.
In den folgenden Minuten und mithilfe einer zweiten Flasche Schnaps, die Erwin im Küchenschrank fand, lösten sich aus Arnos wirren Aussagen verwertbare Teile. Um die Mittagszeit war Gisbert Gottenströter mit seinem Trecker vom Hof am Poggholz kommend auf die Bundesstraße eingebogen. So jedenfalls hatte es Siegfried Kinkelbur erzählt, der, anders als die meisten Bramschebecker, gute Verbindungen nach Pogge pflegte. Siegfried, oder Siggi, hatte erfahren, dass Gisbert, als er auf der Bundesstraße Richtung Fechtelfeld beschleunigte, in der Nähe vom Parkplatz am Bach was hatte liegen sehen. Einen Sack Altkleider vielleicht, den ein Autofahrer einfach mal so an die Straße gekippt hatte. Doch beim Nachprüfen – der Ackerstreifen dort am Straßenrand gehörte zu Gisberts Landbesitz – hatte er einen Körper gefunden. Einen Toten. Der Kopf des Toten noch im kalten Wasser der Bramsche.
Der Tote war Fritzwalter Kleinebregenträger. Der Bürgermeister, tot auf dem Land seines Stellvertreters. Was für ein Drama.
Sofort hatte Gisbert Hilfe geholt, Rettungskräfte gerufen. Die waren mit Blaulicht herbeigerast, was Erwin aus dem Küchenfenster gesehen hatte. Helfen können hatten sie nicht mehr. Polizei war gekommen. Die Spurensicherung. Erwin kannte das alles ja schon. Und er dachte immer wieder an die morgendlichen Momente im Schacht der Bachunterführung. Hatte er dort etwas gehört, was mit Kleinebregenträgers Tod zusammenhing?
Ein Streit. Ein Ertrunkener. Ein Unfall?
Gedanken verfilzten sich. Eine der Stimmen war so undeutlich gewesen. Die eines Mannes? Des Bürgermeisters? Erwin schwieg, sagte nichts von seinem Ausflug. Sein Kopf schmerzte. Er hoffte, dass ihn im Nebel niemand gesehen hatte. Aber natürlich wusste Hanno Hunke, dass er zur fraglichen Zeit – der Zeit also, in der Kleinebregenträger vermutlich ertrunken war – in Pogge gewesen war. Im Laden. Den Hut kaufen. Malsachen bestellen.
War das ein Alibi?
Erwin wagte nicht, darauf zu hoffen. Er war an der Straße gewesen. Am Tatort. Am Unfallort. So oder so. Und hätte er gewusst, dass mit Carlotta Ridderbusch am Morgen noch eine zweite Person durch den Nebel geirrt war, es hätte seine Nervenruhe endgültig zerstört.
Als Arno über die Felder zurück zu Hilde Gerkensmeier jachterte, wo er sich weitere Neuigkeiten erhoffte, hielt es auch Erwin nicht mehr im Haus. Er musste wissen, wie und weshalb der Bürgermeister gestorben war. Er machte sich auf zu Lina, in den Bramschebecker Laden, dachte gar nicht darüber nach, dass im Dorf nun helle Aufregung herrschte. Natürlich hatte sich die Nachricht von Kleinebregenträgers Tod verbreitet wie ein Lauffeuer. Hartwin Plöger und Klaus-Dieter Husemann näherten sich zu Fuß aus Richtung Pogge, diskutierten. Sie hatten bei der Bergung der Leiche geholfen. Die Rettungsfahrzeuge, die Polizeiwagen drüben an der B 61c waren wieder abgerauscht.
Hier und da waren Bramschebecker aus ihren Häusern getreten, richteten die Blicke gen Pogge. Erwin erkannte Trine und Harald Jasperneite. Die hatten sich bereits ein Stück Richtung Bundesstraße vorgewagt. Beide waren über neunzig, zogen langsam wie Schnecken am Grünstreifen entlang, wirkten bestürzt.
Niemand sprach Erwin an, auch Gundi Tüssbarns nicht, die sich sonst gern darüber beschwerte, dass sich Lothar, Lisbeth und Alfred bei Erwins Friedhofsbesuchen ihren Salatgarten vornahmen. Heute war das nebensächlich.
Gegen 16 Uhr erreichte Erwin den Laden, aber Lina hatte geschlossen. Ein Summen wie von seltsamen Bienen hing in der Luft. Irritiert guckte er schräg rüber zum Dorfkrug. Dann ging er zu Annemie Pölkens. Bei Annemie stand die Tür offen. Manchmal besuchte sie Lina im Laden. Vielleicht war es nun umgekehrt? Erwin rief ein zaghaftes »Lina?« ins Dunkel des Hausflurs, doch bekam keine Antwort. Aus dem Dorfkrug dröhnten Stimmen. Auf dem Pflaster zwischen den Häusern wurden Schritte lauter. Eine Gruppe von Männern bog um die Ecke, tauchte ab in die Kneipe. Der Dorfkrug bildete das Zentrum eines hektischen Kommens und Gehens. Der düsterte Schankraum mit Gerda Kluckhuhn am Zapfhahn hatte sich in einen Ort verwandelt, an dem die mit der Katastrophe Befassten eine Art Rückzugsraum, ein Hauptquartier, einen Versammlungsort fanden.
»Äwinn! Hasse gehört? Der Bürgermeister is tot!«
Heinrich Höwelkröger. Ohne auf Antwort zu warten, flutschte er durch die Tür, war verschwunden. Erwin registrierte eine Atmosphäre von Kopflosigkeit. Wieder schwollen Stimmen an:
»Ach, hör auf. Das war’n Unfall. Im Nebel. Anne Straße … Vielleicht wollter rüber unn zack …! Fahrerflucht. Ihm fehlte doch’n Schuh.«
Schuh? Erwin dachte an das Plakat, horchte auf.
»Aber was macht er denn da? Nee, Hilla meint, Herzkasper. Hatte zuviel auffe Rippen. Immer nur sitzen. Unn geraucht. War ma dabei, als die bei Hemke Sitzung hatten. Wie’n Schlot!«
»Weiß nich … Ich rauch ja auch … Nee … Was machst du denn bei Hemke? Toter Mann spielen?«
Klaus-Dieter Husemann und Hartwin Plöger bauten sich vor Erwin auf. Sie hatten endlich das Dorf erreicht. Hartwins Mundwinkel zuckte.
»Na, Pollezist? Nix zu tun?«
»Wo hass’n deine Mütze?«, schob Klaus-Dieter nach.
Lachen. Erwin schwoll innerlich der Kamm. Aber er schwieg. Kaum waren die beiden im Schankraum verschwunden, holte er tief Luft und trat ebenfalls ein.
Die Kneipe war rappelvoll, um diese Zeit eine Ausnahme. Gerda hielt den Dorfkrug normalerweise bis spät nachmittags geschlossen. Bernd Sandmann, Mieter eines kleinen Zimmers über den Kneipenräumen, hatte sie, von der Frühschicht aus dem Geflügelmastbetrieb Bioheil-Frischfleisch kommend, aus dem Mittagsschlaf geklingelt. Bernd war auf dem Rückweg Jasper Thiesbrummel samt Trecker begegnet, und sie hatten das Manöver des aneinander Vorbeigleitens für einen kurzen Wortwechsel genutzt. Bernd hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt, und Jasper hatte die Standardsätze des Tages gebrüllt: »Hasse gehört? Der Bürgermeister is tot! Oben anne Hauptstraße!« Bernd hatte zweimal »WAS IS?!« zurückgebrüllt, bis er gegen das Diesel-Husten von Jaspers John Deere verstanden zu haben meinte. Das Hasse gehört wurde ihm zu irgendwas mit Hass und gestört, weshalb Bernd keine Skrupel hatte, unanständig zu beschleunigen und Gerda zu wecken: Kleinebregenträger. Von einem Hass-Gestörten gemeuchelt. Obwohl sich diese Information schnell als falsch erwies, öffnete Gerda den Ausschank. Der Tag sah nach Umsatz aus.
Nun zapfte Gerda Pils im Akkord. Die Stammplätze am Tresen waren besetzt von Dauertrinkern. Andere füllten die Lücken, standen zwischen den wenigen Tischen, im Gespräch. Die Musikbox schwieg. Gerda hatte vorsorglich den Stecker gezogen. Am Stammtisch saßen fünf Leute. Unter ihnen Jasper Thiesbrummel, Bernd Sandmann und Wilhelm Schniggendiller. Dann setzten sich Klaus-Dieter Husemann und Hartwin Plöger dazu, weshalb Sandmann, der an diesem geschichtsträchtigen Möbel ohnehin nichts verloren hatte, weichen musste. Mit ihm erhob sich Rolf-Rüdiger Tilker. Na, was heißt, erhob sich: Man erhob ihn. Er hatte sich in allerkürzester Zeit vollgetankt, sodass er nach dem Anheben gleich wieder wegsackte und seinen Körper dem Raum zwischen Stuhl- und Tischbeinen übergab. Er galt ohnehin als Allergiker, weil er nur wenig Alkohol vertrug.
Im schummrigen Licht kam die talgige Gesichtsfarbe der von Hopfen, Malz und Gebranntem Gezeichneten gut zur Geltung. Über den Köpfen hing Zigarettenrauch wie sehr feine Spinnweben. Schwaden, die immer dichter wurden. Gerda, kaum größer als einsdreißig, verschwand fast hinter der Zapfanlage. Aber sie schien unermüdlich und irgendwie auch unzerstörbar. Was vielleicht damit zu tun hatte, dass die Giftschwaden unter der Decke sie als Allerletzte erreichten. Ihr Mund bewegte sich. Ihre Zunge war scharf. Sie erteilte Befehle, gab mit tiefer Stimme politische Kommentare ab.
Immerhin war die politische Führung des Ortes dahingegangen. Bramschebeck und Pogge waren kopflos, weshalb dann und wann ein: »Wer wird denn jetz gewählt?« durch den Raum bellte, und: »Einer muss doch!«
»Noch zwei Pilz, Gerda!«
Bis zu den Wahlen waren es noch dreieinhalb Monate. Nicht viel Zeit also.
»G-Gisspert machtass! Mmmussermachn …!«, rief Heino Achelpöhler.
»Nee, der macht das nich. So Polittiker. Wär schön blöd …«
Ein Unbekannter. Gemurmel.
»Na, weil er blöd ist, macht er das nich. Kann der gar nich. Der is doch immer nach Fritzwalters Pfeife getanzt. Muss auf seine Schwester aufpassn.«
»Die Wilma? Nee, die passt auf ihn auf!«
»Obwohl se verrückt is.«
»Nee, ne Zurückgebliebene. So wie Äwinn!«
Wieder Gelächter. Erwin zuckte zusammen.
»Ne Feife isser … Soll ma Tauben züchten.«
»Tauben züchten kanner auch nich. Das konnt nur Oppa.«
Gisbert war nicht in der Kneipe. Die Reden über ihn waren schnell respektlos geworden. Gisbert Gottenströter mochte sehr viel Land besitzen, politische Autorität besaß er nicht. Nicht mal bei sich zu Hause hörte man auf ihn. Seine Frau hatte die Hosen an. Gisbert hatte früh seinen Vater und seinen Großvater – in Versloh Oppa Gottenströter genannt – verloren. Er hatte immer am Rockzipfel seiner Mutter gehangen. Die lag nun auch schon seit fast zehn Jahren unter der Erde. Die Tatsache, dass er im Rat der Gemeinde wirkte, hatte mehr mit seiner Frau als mit ihm selbst zu tun.
»Willz du nich, Heino? Wärss bestimmt ’n guter Polittiker!«
»Jau. Heino! Jedn Tach Freibier!«
Lachen. Plus ein Schnauben von Gerda. Von wegen Freibier.
Heino hatte den Witz gar nicht mitbekommen. Er hing apathisch über einem halbvollen Pilsglas. Man unterhielt sich ohne ihn weiter. Hier und da rätselte man über Ungereimtheiten des Todesfalls: »In Socken unn mit Kopp in’n Bach. Wie vorn Fernsehn von’n Soffa gekippt.«
Es erzeugte ein merkwürdiges Bild in Erwins Kopf. Er hatte dieses Wahlplakat, das ihm Blitzwerner gezeigt hatte, noch vor Augen. Der Bürgermeister mit Schuh in der Hand. Manchmal muss man auf denTisch hauen. Jetzt war Kleinebregenträger tot, und der Schuh fehlte. Seltsam.
Weitere Reden drehten sich ums Politische. Frühschoppenstimmung kam auf. Und wurde hitziger. »Aufpassen. Bloß kein Fremder!«, grölte Jasper Thiesbrummel.
»Und keiner aus Pogge!«
Eine jüngere Stimme. Dass auch Bürgermeister Kleinebregenträger aus Pogge gewesen war, fiel nicht ins Gewicht. Vielleicht war seine größte Leistung gewesen, dass sich beide Dörfer von ihm vertreten fühlten. Es hatte ja schon immer diese Nickeligkeiten zwischen Bramschebeck und Pogge gegeben. Erwin fragte sich, ob sich wohl zur gleichen Zeit auch in Pogge die Kneipen gefüllt hatten und man dort Reden gegen Bramschebeck schwang.
»Velleicht is das’n Komplott aus Pogge. Die woll’n jetz alles bestimmen. Passt bloß auf, wen ihr wählt!«
»Ja, aber wen denn, Helmut? Wen willze denn wähln?«
»Weiß ich doch au nich. N’Pilz noch, Gerda! Unn für diesen Scheinsäufer eins mit!«
»Och, du Pappleber. Mach’n Mund ma nich so weit auf wie deine Hose!«
Lachen. Und weiter im Text.
»Sind ne Menge Leute nach Pogge gezogen, in den letztn Jahrn. Darfste nich vergessn.«
»Alles Fremde. Kennt keiner hier.«
»Da in Pogge aber auch nich.«
»Das zählt nich. Da is nich hier.«
»Nee, da is da. Klar.«
»Was isn mit Siggi?«
»Siggi? Ach du Scheiße! Denn regiert uns gleich seine Bank. Weißte, wie viel Schulden der hat?«
Siegfried Kinkelbur hätte sich ohnehin nicht zur Wahl aufstellen lassen. Höhere politische Aufgaben waren nicht sein Ding.
Im Fortschreiten des Nachmittags dämmerte es den Männern im Dorfkrug, dass Bramschebeck kaum gerüstet war für einen Bürgermeisterkandidaten, der Pogge Paroli bieten konnte. Männer. Ja, die Stammkundschaft der Kneipe bestand aus Männern. Der Dorfkrug war nie ein Hort der Emanzipationsbewegung gewesen. Hin und wieder bewies eine Ehefrau, die ihren Gatten heimholte, dass dem weiblichen Geschlecht eine Urkraft innewohnte, die sich von keinem Patriarchat der Welt unterdrücken ließ. Insbesondere, wenn Alwine Thiesbrummel ihren Jasper aufgriff. Aber die Politik überließen auch die Amazonen der Gegend den Männern. Vielleicht aus guten Gründen.
»Äwinn? Was drückste dich da anne Tür rumm?«
Mist. Man hatte ihn wahrgenommen.
»Willze widder ermitteln? Hier gips nix. Nur Bier!«
»Trink ma was!«
»Nee, nee, danke«, sagte Erwin, hob halb die Hand.
»Glaubsse, einer von uns hat den Bürgermeister umgebracht, Äwinn?«
Das begleitende Lachen fiel dünn aus. Von Mord sollte hier niemand sprechen. Nicht in Erwins Gegenwart. Wenn Erwin und Mord zusammenkamen, nahm die Sache beängstigende Dimensionen an.
»Ich such die Lina«, stieß er plötzlich aus. Was er sofort bereute.
»Lina? Is das deine Mama? Alt genuch is se ja. Ihr seid schonn’n seltsames Paar, ihr zwei.«
Ewald Pöhling. Der hatte Erwin schon als 14-Jähriger getriezt. Jetzt war er 62, stiernackig und kippte sich Klaren ins Bier.
»Hasse einglich schonn ma? Mit Lina?«
Ewald grinste, als er den nicht ganz sauberen Bockwurst-Mittelfinger seiner rechten Hand zwischen den aus Zeigefinger und Daumen gebildeten Fleischring der Linken schob. Erwin wurde knallrot. Plötzlich aber floss Ewald Bier über den Kopf, weshalb er bei der Fingerübung nicht zum Höhepunkt kam.
»Die zieht dir gleich die Ohren lang, die Mama!«
Eine schneidende Stimme. Erwin stand der Mund offen. Lina. Was tat sie hier? Ein Teil des Bieres floss sehr unvorteilhaft auf Ewalds Hose.
»Kannst gleich morgen in den Laden kommen und deine Schulden begleichen«, sagte Lina. »Außerdem ist der Katalog gekommen, den du bestellt hast. Der mit Frauenunterwäsche. Du weißt schon. Schönen Tag noch.«
Ewalds Kopf rötete sich noch stärker als der Erwins. Das einsetzende Gegröle im Raum tat ein Übriges. Man machte Lina bereitwillig Platz, als sie auf den Ausgang und Erwin zusteuerte. Er hakte sie geistesgegenwärtig unter, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen, was den Moment, als sie beide durch die Tür schritten, zu einem fast glorreichen Abgang machte.
Bewegen wir uns in der Zeit zurück. Einige Stunden. Alfred mochte diesen Morgen. Sobald es zu dämmern begann, fühlte er den milchigen, feuchten Nebel. Für eine Ente wie ihn war Nebel die ideale Mischung aus Wasser und Luft. Wasser liebte er. Und Luft forderte ihn heraus. Wie auch seine Eltern Lothar und Lisbeth war er nur bedingt in der Lage zu fliegen. Die meisten Laufenten sind, um es noch einmal zu sagen, lausige Flieger. Seinem Charakter gemäß hätte Alfred ein prima Bruchpilot sein können, und er mühte sich. Eine weite Flugstrecke hatte er noch nie bewältigt. Wenn er durch Nebel flitzte, erfasste ihn ein Gefühl von Luftüberlegenheit. Im Nebel konnte er seine Fähigkeiten als Schwimmer und Taucher optimal auf jenes tückische Element übertragen, das über allem stand.
Alfred sauste aus dem Entenhaus, als Erwin am Morgen den Weg Richtung Bramschebach einschlug. Lothar und Lisbeth folgten. Die drei Enten genossen den Nebel. Bald nahte der Bach. Ein Bad war immer willkommen. Sie planschten und schwammen, und Erwin zog eine weite Strecke am Bach entlang.
Nach einer Weile wurden die beiden Älteren ruhiger, vorsichtiger. Sie bemerkten, dass sich Erwin auf etwas zubewegte, was im Kosmos der Tiere mit Fragezeichen umzäunt war.
Die Bundesstraße.
Schnell stellte Lothar fest, dass die Straße heute anders war als sonst. Auch die schlimmsten Raser besaßen in der Regel Resthirn, das sie vor Blindflügen durch Nebelbänke warnte. Es war also ziemlich still auf jenem Asphaltstreifen, den Lothar bereits wahrnahm, als Erwin noch halb orientierungslos dahinstiefelte. Erwins Schritte setzten sanft-dumpfe Lehmlaute in die Luft. Bald würde er den Bachlauf betreten. Lisbeth erschien neben Lothar, blickte streng ins trübe Grauweiß.
Was beobachteten sie? Sorgten sie sich um Alfred, dessen Plätschern von weiter vorne im Bach zu ihnen drang?
Erwin befand sich mittlerweile in der Unterführung unter der Straße. Das wussten Lothar und Lisbeth. Doch sie schlossen nicht auf. Sie warteten ab, einige Meter vor dem Straßendamm.
Die Stimmen. Erwin hörte sie ebenfalls. Er erschrak und verharrte in dem Betonschacht. Lothar und Lisbeth ließen sich von menschlichen Streitigkeiten nicht so leicht einschüchtern. Ihr Lauschen hatte mit Interesse zu tun. Sie hörten die Worte wegen ihrer sehr guten Ohren besser als Erwin, aber leider teilten sie ihre Erkenntnisse niemandem mit. Sie hörten und wussten, ob da Mann und/oder Frau sprachen und wie viele.
Und dann trat Erwin die Flucht aus dem Schacht an. Das war, als es auf der Straße plötzlich lärmte. Die Enten kannten die Geräusche von Automobilen. Sie wussten, dass Autos einen Heidenlärm veranstalteten, weil sie Angeber waren und ihre Umgebung einschüchtern mussten, um wahrgenommen zu werden. Auf dem Land und in weniger gebildeten Kreisen hieß das: Große Fresse, nix dahinter. Autos standen trotz ihrer Ausmaße noch unterhalb der Spezies Vierbeiner. Von Flügeln ganz zu schweigen hatten sie noch nicht einmal Füße, nur Räder. Tanzen oder tänzeln, wie Enten es beherrschten, ging nicht. Autos waren brachial, klebten am Boden, grölten. Allein Alfred ließ sich bisweilen vom Geprotze dieser Dinger beeindrucken.
Ja ja, die Jugend.
Der Lärm der davonbrausenden Fahrzeuge bestätigte sämtliche Vorurteile, die Lisbeth und Lothar hegen mochten. Doch sie nahmen auch wahr. Mehr als Erwin. Sie bemerkten – auch sie durchquerten inzwischen, paddelnd, die Bachunterführung –, dass es sich um drei Autos handelte, die aufbrachen. Zwei davon fast zeitgleich, ein drittes etwas später. Für dieses dritte konnten sie sogar gewisse … Gefühle entwickeln. Der Grund wird noch zu erläutern sein, denn zunächst einmal ging alles sehr schnell. Kurz nachdem der dritte Motor angesprungen war, gab es einen dumpfen Laut, und PLATSCH!, landete ein Körper auf dem Ackerstreifen neben dem Bachlauf. Ein Körper in dunkler, recht guter Hose. Lothar und Lisbeth schlugen mit den Flügeln. Vielleicht sollte es eine Art Hinweis an den Gestürzten sein, wie sein Flugversuch erfolgreicher hätte verlaufen können. Auch wenn die Enten selbst keine guten Flieger waren: Eine solch verunglückte Landung hätte sich vermeiden lassen.
Vergebens. Der Körper lag still. Ein-, zweimal stöhnte er. Leise. Lothar und Lisbeth hörten, sahen und schwiegen. Erwin bekam nichts davon mit.
Und dann näherte sich jemand. Als hätten die Enten im Rahmen ihrer Beobachtungen genug gesehen, sausten auch sie los, folgten Erwin und Alfred.
Kannten sie denjenigen, der sich auf sie zubewegt hatte? Stellte er eine Bedrohung dar?
Alfred war längst am Rand Pogges angekommen. Womöglich hatte er die beiden ersten Fahrzeuge ein Stück weit verfolgt, mit wachen Sinnen: Eines war nach Osten davongebraust. Das zweite brummte gemächlicher, nordwärts, in den Ort hinein –, wohin es auch Erwin und die Enten zog.
Pogge glich Bramschebeck in vielem – und war zugleich ganz anders. Ein schärferer Geruch von Verbrennungsrückständen hing in der Luft. Die Trecker Pogges waren meist größer als die Bramschebecks. Auch die Autos. Es waren in den vergangenen Jahren einige Neusiedler nach Pogge gezogen: Menschen, die mit Landwirtschaft nichts am Hut hatten. Sie hatten Einfamilienhäuser in kitschigem Voralpenstil an den Poggsiek und die Süllheide gesetzt, und sie arbeiteten in Fechtelfeld, Pökenhagen oder Dettbarn. Bürger mit Geld, die den Bürgermeister in Briefen, deren Stil mehr Einbildung denn Bildung verriet, dazu aufforderten, für eine Tankstelle im Ort zu sorgen.
Und dann war da der Schlauchtrupp Pogge, eine Abteilung der Feuerwehr Fechtelfeld. Die Jungs vom Schlauchtrupp bretterten mit ihrem frischblutroten VW-Bulli über die engen Dorfstraßen und bremsten spät oder gar nicht. Dass es noch keinen größeren Unfall gegeben hatte, war allein dem Umstand zu verdanken, dass die kaum 20-jährigen Fahrer auch in volltrunkenem Zustand wussten, welches Schicksal ihnen drohte, sollten sie Marga Poppensieker an ihrem Rollator über den Haufen fahren. Die Macht in Orten wie Pogge lag immer in den Händen der Älteren.
Die Enten hoben die Nasen und guckten sich um. Trotz aller Abgase witterten sie Grün zwischen den Häusern, auch Teiche. Sie wussten, als Erwin ein Haus mit gewissen Ähnlichkeiten zu Linas Dorfladen betrat, dass er länger dort verweilen würde.
Bei Lina blieb Erwin manchmal SEHR lange.
Also prüften sie einen Teich neben dem Laden, hopsten umher, bemerkten andere Tiere: Katzen, Gänse, Ratten, ein entlaufenes Schwein. Das Leben auf dem Land. Drei Enten fielen nicht weiter auf.
Alfred guckte neugierig hinüber zu einem düsteren Nachbarhaus. Dort stand eine Tür offen, und Gerüche breiteten sich aus. Die Nachgeburt einer Nacht voller Blasmusik und schalem Bier. Alfreds Nase nahm auch Lebensmittel wahr, die man zu Bier und Schnaps reichte. Da Enten Dinge für essbar halten, die bei Genussmenschen Brechreiz auslösen, war Alfreds Interesse geweckt. Er watschelte auf die Dunkelheit jenseits des Türrahmens zu und reckte den Kopf vor. Lothar und Lisbeth bemerkten das und folgten.
Die Gerüche und das Dunkel wirkten auf die schwarze Ente magisch. Alfred hatte ein Faible für Düsternis, das hatte er schon häufiger bewiesen. Vermutlich hatte er auch erkannt, dass neben der Tür – sie gehörte zur Gaststätte Hemke – ein Auto parkte, das er bereits zuvor wahrgenommen hatte. Ein dunkles, größeres Fahrzeug, in welches Männer mit …
… ja, mit schwarzen Hosen eingestiegen waren, im Nebel,nah der Bundesstraße. Männer, deren Hosen Alfred nun im Raum wiedererkannte. Enten und Hosen haben eine besondere Beziehung. Das hat mit den Körpermaßen von Enten zu tun. Wenn Enten Menschen begegnen, die größer sind als Gerda Kluckhuhn, dann ist das Erste, was sie wahrnehmen und wozu sie möglicherweise eine Beziehung aufbauen, ein Beinpaar oder eine Hose. Hose und Gummistiefel, wie bei Erwin. Die Beine hier trugen keine Stiefel. Sie trugen schwarze Schuhe. Passend zu den schwarzen Hosen.
So wurde Alfred vom Geruch und gleich mehrfach von Schwarz angezogen. Und nur er selbst hätte sagen können, ob es auch das Schwarz in den Reden der Hosenträger im Kneipenraum war, das auf ihn wirkte.
Lothar und Lisbeth gesellten sich zu ihm, stießen leise schnatternd Warnungen aus. Irgendwann bemerkte man sie. Ein grunzender Ruf von hinter dem Tresen ließ die Tiere zusammenzucken. Als ein Mann laut schimpfend Richtung Tür stürmte, war es auch mit Alfreds Neugier vorbei. Alle drei flüchteten.
Die Tür blieb offen. Die Enten widmeten sich erneut dem Teich nah dem Laden. Alfred hatte in der Kneipe wohl gesehen, was er sehen musste. Aus dem Türloch traten schließlich vier Herren – schwarze Hosen, schwarze Schuhe, dunkle Blicke –, sahen sich mürrisch um und bestiegen das Auto, das neben der Gaststätte parkte. Dann fuhren sie davon, Richtung Bundesstraße.
Schließlich erschien noch ein fünfter Mann. Er hatte länger in der Kneipe verweilt. Dessen Hose kannten Alfred, Lothar und Lisbeth nicht. Doch das musste nichts heißen: Auch die Enten hatten an diesem Morgen nicht alles gesehen. Sie waren bald weitergezogen zu einem friedlichen, feucht-kühlen Ort, der ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.