Erzgebirgskristalle - Karl-Heinz Binus - E-Book

Erzgebirgskristalle E-Book

Karl-Heinz Binus

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Beschreibung

Durch Messerstiche tödlich verletzt liegt Kira am Straßenrand. In ihren fiebrigen Träumen erlebt sie wieder, was in ihrem jungen Leben schief gegangen ist. Sie läuft von zu Hause fort. Die Ehe der Eltern ist gescheitert. Sie muss das vertraute Umfeld verlassen. In der neuen Schulklasse wird sie gemobbt. Sie sucht eigene Wege und gerät an den drogensüchtigen Alex. Sie verfällt ihm restlos. Bald gerät ihr Leben durch Crystal Meth aus den Fugen. Es bleibt nicht bei Diebstählen und Garageneinbrüchen zur Geldbeschaffung für Drogen. Alex zwingt sie zur Prostitution. Obdachlos haust sie in einem leerstehenden Haus. Der undurchsichtige Hauseigentümer nutzt ihre Notlage und erpresst sie zum Sex. Kira vertickt den Stoff selbst und kommt großen Dealern gefährlich nahe. Sie trennt sich von Alex. Sie ist mit dem gewalttätigen Marvin zusammen. Auch diese Partnerschaft scheitert. Sie will ohne ihren neuen Freund aus der Drogenszene aussteigen. Ihr Schulfreund will ihr helfen. Das erregt die Eifersucht seines homosexuellen Partners. Im Morgengrauen liegt sie nun sterbend am Rand einer Straße. Sensibel erzählt der Roman, welche zerstörerischen Auswirkungen aus dem Drogenmissbrauch für die betroffenen jungen Menschen, aber auch für ihre Familien und ihr Umfeld erwachsen und dass die Jugendlichen dringend Hilfe von allen relevanten Gruppen der Gesellschaft benötigen. Als weiterer Handlungsstrang wird die permanent steigende Gewalt an Schulen thematisiert. Der Konsum von Crystal Meth hat insbesondere in der Erzgebirgsregion dramatische Ausmaße angenommen. Aktuelle Untersuchungen zeigen: nirgends werden so viele Crystal Meth-Rückstände im Abwasser gefunden, wie in Chemnitz und in der Erzgebirgsregion. Nach vorliegenden Erkenntnissen ist Sachsen das größte Einfallstor für dieses Rauschgift. Der Roman zeigt nicht nur beispielhaft Lebensläufe von Drogensüchtigen, sondern benennt schonungslos die mit dem intensiven Genuss von Crystal Meth einhergehenden tragischen körperlichen, psychischen und seelischen Folgen für die betroffenen jungen Frauen und Männer. Durch den Autor wurde eine umfangreiche Recherche zu den Ursachen und den Folgen des Drogenkonsums durchgeführt. Durch Interviews mit Therapeuten, aber auch mit Drogensüchtigen, wurden zahlreiche Fakten eruiert und im Roman authentisch verarbeitet.

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Inhalt: Eine junge Frau liegt leblos am Rande der Straße. Jahre ihres jugendlichen Daseins hat sie mit Crystal Meth zugebracht. Sie fristete ihr Dasein in einem unbewohnten Haus. … Viele Menschen sind bestürzt, Fragen werden gestellt. Weshalb ist sie so tief in die Drogenwelt hineingeraten? Wollte sie aussteigen? Kam sie Dealern zu nahe? Warum wurde sie im engsten Umfeld so gehasst? Welche Rolle spielte der undurchsichtige Eigentümer des leerstehenden Hauses? Und wer ist Anton, kann er bei der Verbrecherjagd helfen? Ist vielleicht Pawlak selbst in seiner Familie von dem Dunkelfeld der Drogen betroffen? … Die Spuren weisen in viele Richtungen.

Karl-Heinz Binus befasst sich seit langem mit wissenschaftlicher und belletristischer Literatur und veröffentlichte zahlreiche Fachartikel und Fachbücher. In seinen Kriminalromanen setzt sich der Autor mit aktuellsten Fragestellungen auseinander, die die Menschen vor Ort beunruhigen. Sein dritter Krimi „Erzgebirgskristalle“ beruht wiederum auf vielfältigen Recherchen und greift die erschreckende Problematik des unaufhörlich wachsenden Missbrauchs von Crystal Meth durch immer jüngere Menschen, auffallend in den grenznahen Regionen des Erzgebirges, authentisch auf. Sensibel erzählt der Kriminalroman, welche zerstörerischen Auswirkungen daraus für die betroffenen Menschen, aber auch für ihre Familien und ihr Umfeld erwachsen und dass die verzweifelten Jugendlichen dringend Hilfe von allen relevanten Gruppen der Gesellschaft benötigen.

Sein Roman „Erzgebirgsstürme“ (2023) wendet sich dem Thema des globalen Klimawandels im Erzgebirge zu und verdeutlicht, die Herausforderungen machen um die Region keinen Bogen. Im Krimi „Erzgebirgshass“ (2022) platziert er den packenden Kriminalfall inmitten der Fragen, weshalb sich eine massive Bewegung von Querdenkern entwickeln konnte, welchen Einfluss aktuelle Ereignisse darauf genommen haben und wie der tiefgreifende Transformationsprozess in dieser Region bewältigt wurde.

Was der Mensch träumt, das gewinnt Gewalt über ihn.

Gustav Freytag

Für Marina

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Träume

Aufregung

Dunkle Gedanken

Kopfzerbrechen

Bestürzung

Fritz und Finny

Rätsel

Leblose junge Frau

Wut

Getrennte Wege

Hilfeschrei

Ohne Ausweg

Der

Philip

Ruth Pawlak

Anstöße

Erinnerungen

Feine Freunde

Der Weg zur Hölle

Verstörende Erkenntnisse

Schlimme Nachrichten

Obermüller

Neue Hinweise

Bin ich schuld?

Angst

Erleichterung

Marvin

Verlorene Tochter

Ellen Biedermann

Verlorener Vater

Gespräch unter Freunden

Rafael

Drohung

Wo ist Alex?

Angst

Ohne Erfolg

Ungebetener Gast

Verwirrspiel

Ungewöhnliche Ruhe

Leeres Haus

Erfolgreicher Einsatz

Gewitter

Filz

Wichtige Nachrichten

Geduldiger Patient

Ben Reichelt

Sackgasse

Silberne Kette

Späte Reue

Spuren und Verdächtigungen

Reise nach Varna

Reitzenhain

Großes Rad

Unerwartetes Indiz

Epilog - Gläserner Traum

Prolog – Träume

Verdutzt machte sie einen großen Bogen um das hilflose Bündel am Straßenrand. Wie kann man sich in dieser klirrenden Kälte und bei dem fiesen Nieselregen in der halben Nacht, noch weit vor dem Morgengrauen, nur auf die Straße legen, ging es ihr durch den Kopf, die Menschen sind schon seltsame Wesen. Sie blieb stehen und schaute neugierig zu dem starren Etwas. Bewegt sich überhaupt nicht mehr, die Gestalt, vielleicht finde ich was Essbares bei ihr. Verdammt kalt heute Morgen.

Atmet noch, da muss ich vorsichtig sein, überlegte sie zögernd, als sie langsam näherkam. Habe schon viele schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht. Erst locken sie dich mit leckeren Häppchen, dann wollen sie dir ans Fell. Habe ich alles schon erlebt und manche Narbe davongetragen.

Zaudernd näherte sich die gelbe Katze dem auf dem Boden liegenden menschlichen Körper. Sie blieb stehen und lauschte den schwächer werdenden Atemzügen.

Weshalb schaust du so versteinert auf mich herab? Warum hilfst du mir nicht? Du siehst doch selbst, ich kann mich keinen Zentimeter bewegen. Ich friere so schrecklich. Vorhin war es heiß wie in der Hölle. Und jetzt erfriere ich, nur ein paar Schritte von deiner Wohnung. Mutti, kannst du mich mit nach Hause nehmen und mich in eine dicke Decke einmummeln? … Ja, es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Ehrlich, wenn ich könnte, ich würde die Uhr zurückdrehen, ganz, ganz weit zurück. … Wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen! Bist du weggegangen? Warum antwortest du mir nicht? Bitte komme wieder zurück zu mir, vielleicht können wir leise miteinander reden. … Es gibt so vieles, was ich dir erzählen möchte. Ich will dir die Wahrheit sagen, die ganze trostlose Wahrheit. Aber ich friere so furchtbar. Bitte hilf mir! Mir ist eisig kalt, bitte nimm meine Hand und erwärme sie. Das ist alles meine Schuld, dass ich hier liege, denkst du? Aber ich wollte doch deine Prinzessin sein. … Ich war deine kleine Kira, die dich und Papi angehimmelt hat. … Papi. Ich war im Sommer bei meinem Papi. Dann bin ich weggelaufen. Wo bist du jetzt Papi? Warum hast du uns damals ohne ein Wort verlassen? Ich habe jeden langen Tag auf dich gewartet. Morgens, wenn ich die Augen geöffnet habe, glaubte ich, heute, heute wirst du endlich wieder durch die Tür treten, mich wortlos umarmen und meine Hände nehmen und mich wie ein Karussell wild im Kreise drehen, so wie früher, in unserem kleinen Garten neben dem Haus, wo wir die Glocken von unserer Dorfkirche hörten, wo unsere Ziegen neugierig guckten und eifersüchtig auf uns waren. Du hast uns kein einziges Mal in den Ferien abgeholt, Papi. Hattest du uns vergessen? Warum hast du solange geschwiegen und dich erst jetzt gemeldet?

Sie ist kaum bekleidet. Sie zittert vor Kälte. Soll ich mich auf sie setzen und sie mit meinem Fell wärmen? Oder ist das eine Falle?

Nein, ich weiß, wer das ist, ein junges Mädchen aus der Gegend von hier. Hat mir manchmal was zum Fressen hingehalten.

Sie ist mir ähnlich. Hatte wohl auch kein eigenes Zuhause mehr und streunte in den letzten Monaten Tag und Nacht durch die Straßen und den Park, genau wie ich. Sie sah von Woche zu Woche jämmerlicher aus. Vielleicht kriegte auch sie nicht immer was zu essen. War bald nur noch ein Schatten ihrer selbst, so ausgemergelt war sie.

Ich habe sie bisweilen beobachtet, oft lief sie wie im Traum herum. Manchmal hat sie gesungen und lauthals gekreischt, an anderen Tagen saß sie stundenlang auf einer Bank und schlief tief und fest. Dann war sie einige Zeit überhaupt nicht mehr zu sehen. Einmal hat sie mich gerufen. Ich bin langsam zu ihr hingegangen. Sie saß wieder auf ihrer Bank im Park. Sie war nicht allein. Und sogar streicheln wollte sie mich. Na ja, so nah bin ich sonst nie mehr zu den Menschen gegangen. Sie strich zärtlich über meinen Kopf. Und sie weinte. Sie hat mir von sich erzählt, von ihrem jetzigen Leben und davon, wie es früher gewesen war. Dass sie gern nach Hause gehen möchte und dass sie ihren Papi so sehr vermisst. Immer wieder rannen dicke Tränen über ihre Wangen. Sie schluchzte und brachte kein Wort mehr heraus. … Dann ist der Kerl, der schlafend neben ihr saß, hochgeschreckt, aufgesprungen, hat mich gepackt. Verschwinde, verfluchtes Biest, hat er geschrien, sonst drehe ich dir den Hals um, du verdammter verlauster Teufelsbraten. Erst habe ich meine Krallen in seine Hand gegraben und bin dann mit einem riesengroßen Satz weggesprungen. Ich schlage dich tot, du elende Bestie, schrie er hinter mir her. Ich bin von der Bank so schnell ich konnte davongelaufen und habe mich auf dem höchsten Baum versteckt. Seit der Zeit habe ich gar keinem Menschen mehr vertraut.

Sie wird erfrieren. Sie ist mutterseelenallein. Und heute ist es für so ein zartes Mädchen nicht gut, allein und fast nackt auf der Straße zu liegen. Vielleicht braucht sie mich jetzt. Sie hat die Augen geschlossen. Sie ist verletzt. Sie hat ihre Hände auf ihren Bauch gedrückt. Sie blutet.

Bedächtig und sich nach allen Seiten umblickend lief die gelbe Katze näher zu dem auf dem Boden liegenden Mädchen, schaute neugierig auf das schmale Geschöpf und sprang mit einem kleinen Satz sachte auf den dünnen Oberkörper.

Mutti, Julia, bist du noch da? Du hast mir was Warmes auf meinen Körper gelegt? Danke. Ich kann meine Augen nicht öffnen. Ich bin so schwach. Ich will dir alles erzählen, alles, wie es angefangen hat. … Und jetzt will ich endlich raus aus diesem Teufelskreis. Ich glaube, ich habe die Kraft dazu. Ich bin so müde, so unendlich müde. … Warte bitte einen Moment. Gleich rede ich weiter, ich brauche nur eine Minute, um mich etwas auszuruhen. … Warum liege ich auf der Straße und kann mich nicht mehr bewegen? … Ich werde gleich einschlafen. Bitte bleibe hier an meinem Bett stehen, bitte geh nicht wieder weg!

Ich habe so furchtbare Bauchschmerzen. Mutti, es tut so weh. Ich glaube, ich muss sterben. Bitte hilf mir! … Ich kann dich nicht mehr hören, du bist so weit weg von mir. …

Wo ist Tessa? Warum sitzt sie nicht an meinem Bett wie im letzten Winter, als ich so krank war? Sie hat leise mit mir gesprochen, ich konnte kaum verstehen, was sie sagte, aber ihre Stimme hat mich beruhigt. Dann bin ich fest eingeschlafen und hatte schlimme Träume. Ein böser Mann wollte mich die Treppe hinunterstoßen. Papi hat ihn festgehalten, aber ich konnte nicht erkennen, wer der Mann war. Jetzt wurde er immer kleiner, bis er ganz verschwunden war. Auch Papi war weg. Augenblicklich waren andere Männer da. Ich wollte wegrennen, aber ich konnte meine Beine nicht bewegen, meine Füße waren wie angeklebt. … Dann war Papi wieder da, er lachte und lachte, er nahm mich auf den Arm und drückte mich fest an sich. Ich konnte sein Rasierwasser riechen, so wie damals, als er sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte und ich ihn sofort an seinem Aftershave erkannt habe. … Viel, viel später bin ich aufgewacht. Ich sah, wie kleine Schneekristalle vom eisigen Winterwind an die Fensterscheiben geweht worden waren. Im Zimmer war es so schön warm, da sind die Schneekristalle geschmolzen. Ich hoffte, ich könnte bei euch bleiben, womöglich für immer. Alles könnte gut werden, ich müsste nie mehr zurück zu den anderen. Aber Ben stand vor dem Bett und brüllte, ich solle ein für alle Mal verschwinden, und nie mehr zurückkommen. …

Tessa hat mir nicht geglaubt, dass ich endlich, endlich aussteigen will. Ich habe es ihr geschworen. Ich werde es schaffen. Glaubst du mir wenigstens? …

Mutti, Mutti, ich sehe wieder überall die vielen Schneekristalle, überall sind Schneekristalle. Sie werden immer größer, sie schmelzen gar nicht. Aber es ist nicht mehr so schön warm. Ich bin ganz unter ihnen begraben. … Ich bekomme keine Luft mehr. Ich kann nicht atmen. …

Ich war jeden Tag einsam, als Papi weggegangen ist und als Lukas zu uns zog, fühlte ich mich mutterseelenallein und von allen verraten. Das ist euer neuer Papi, hast du mit großen, verliebten Augen gestrahlt. … Lukas hat mich von Anfang an gehasst.

Ich kriege keine Luft mehr, die Schneekristalle ersticken mich. Ich sterbe. …

Bist du das, Tessa? … Ich spüre deinen Atem im Gesicht. Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? … Tessa, bitte hilf mir jetzt! Ich liege auf der Straße bei dieser Eiseskälte, vorhin war Mutti hier.

Sie war noch nie in der blöden Villa, auch du warst nicht dort. Du weißt nicht, was da vor sich geht. … Er hat mir heute wieder Crystal gegeben. Ich wollte nicht, er hat mich gezwungen. Ich habe geweint und geschrien.

Tessa, du warst so wichtig für mich. Du hast nie etwas mit Speed oder Crystal zu tun gehabt. Du hast niemals zu viel Alkohol getrunken, du kennst weder die Bullen noch hast du in irgendeiner Bude oder auf der Straße gepennt. … War bei mir irgendwann Alltag, aber das weißt du ja selbst. … Liegt alles gar nicht an Mutti und ihren Lover Lukas, sagst du und denkst, ich, nur ich allein, bin an allem selber schuld? … Ich habe solche grausamen Schmerzen, bitte gib mir was, irgendwas! … Tessa, ich sehe dich nicht mehr, wo bist du? Bitte streichle mir über das Gesicht. … Ich verdurste. … Ich habe vorige Woche einen Brief geschrieben, an Mutti. Nein, ich habe ihn nicht weggeschickt, er steckt noch in meiner Jackentasche. ... Ich habe euch verloren an dem Tag als ich ausgerissen bin, auch wenn ich schon am nächsten Tag zurückgebracht wurde. … Hätte ich dich in alles mit reingezogen, wie Ben es immer und immer wieder mit Blicken und mit Worten ausdrückte? Oder hättest du mir geholfen, nicht mehr mit den falschen Freunden unterwegs zu sein, die mich bis an den Abgrund gebracht haben? Ich wusste ja nichts. … Tessa, Tessa! Hörst du mich? Ich bin so müde.

Jetzt zittert sie am ganzen Leib. Ihre Zähne schlagen hart aufeinander. Ich kann dir leider überhaupt nicht helfen, krankes Mädchen. Ich bin nur eine Katze, die jetzt in diesem Augenblick bei dir ist. Die unter dem freien Himmel lebt, obendrein immer auf der Suche nach Wärme und Zuneigung, die keine Freunde, keine Familie hat. Ich konnte das nicht verstehen, was du so leise vor dich hingemurmelt hast, nur dass du von deinem Zuhause weggelaufen bist und nach deiner Mutti und nach deiner Schwester Tessa rufst.

Wer war wirklich schuld daran, dass du jetzt so allein bist? Hast du darüber jemals nachgedacht, du armes Mädchen?

Die gelbe Katze ringelte sich noch fester ineinander und kniff ihre wachen Augen zu einem winzigen Spalt zusammen.

Tessa, weißt du noch, wie wir uns eng aneinander gekuschelt haben und unter die Bettdecke gekrochen sind, als Mutti und Papi sich hasserfüllt anschrien? Mutti kreischte. Schlimme Worte trafen uns. … Wir waren doch kleine Mädchen, die Mutti und Papi so sehr liebhatten. … Am nächsten Morgen dachten wir beide, es sei ein böser Traum gewesen. Papi war verschwunden. Er meldete sich Tage lang nicht mehr. … Mutti heulte. Aber ich gab ihr die Schuld, nur ihr, dass unsere glückliche kleine Familie zerbrach. … Warum schwieg Papi so lange? Und warum ging er dann ohne Worte weg und kam erst zurück, als es zu spät war?

Ich kann nicht mehr sprechen. … Bei mir dreht sich alles. … Gleich werde ich von diesem Karussell runterfallen. Es kreist schneller und schneller. Hilfe, halte mich fest! Tessa, bist du weggegangen? Es ist wieder wärmer geworden. Ich kann dich nicht mehr sehen. … Jetzt endlich wird alles warm und hell, um mich herum strahlt es leuchtend. … Ich, ich schwebe, ich fliege, ich steige immer höher hinauf. Ich glaube, jetzt endlich kann ich den Himmel sehen. Er ist viel schöner als in meinen ärmlichen früheren Träumen, die ich hatte, wenn Crystal mich durch das Universum treiben ließ und meine Phantasie keine Grenzen mehr kannte. …

Die gelbe Katze zuckte kurz zusammen und öffnete verwundert ihre hellwachen grünen Augen. Sie ist mit einem Mal so still und sie atmet nicht mehr, ging es ihr durch den Kopf.

Armes Mädchen, niemand außer mir, einer alten schikanierten Katze, war in den letzten Minuten deines Lebens bei dir. Womit hast du das nur verdient? Du warst so schön und noch so jung, aber auch so verletzlich. Du hättest dein ganzes wundervolles Leben vor dir gehabt. Was ist nur schief gegangen auf dem kurzen Stück deines Daseins? War denn wirklich keiner da, der dir helfen wollte oder konnte?

Langsam ging die gelbe Katze über den Gehweg und setzte sich bekümmert vor eine Hauseinfahrt.

Aufregung

„Was rennst du blöde Kuh mitten in der Nacht durch die Bude und machst einen höllischen Lärm?“ Ärgerlich hatte Ben die Tür zur Küche geöffnet und blickte gereizt auf Tessa, die verschlafen neben dem Kühlschrank stand und langsam aus einem Glas eiskalte Milch trank. „Ihr spinnt doch alle.“ Er ließ sich schwerfällig auf den Stuhl neben dem kleinen Küchentisch fallen und nestelte die letzte Zigarette aus der vor ihm liegenden Schachtel heraus.

„Musst du jetzt mit deinem Qualm die Bude verräuchern?“, beschwor ihn Tessa leise und blickte traurig auf ihren runden Bauch. „Warum bleibst du nicht einfach im Bett? Ich bin in ein paar Minuten wieder zurück.“

„Ich bin jetzt munter. Wenn du wie ein Elefant in der Küche herumtrampelst, kann ich nicht grunzen. Und ich brauche meine erste Kippe. Basta! Kannst ja selber ins Schlafzimmer gehen, wenn es dich stört.“ Ben zog gereizt an der Zigarette und blies den Rauch in Richtung Zimmerdecke. „Ist typisch bei euch. Wenn ich eine Fluppe rauche, gibt es ein Donnerwetter. Hättest immer so verbissen sein müssen, da wäre uns manches erspart geblieben.“

Tessa schaute ihn mit verzweifelten Augen an und schwieg.

„Aber das Thema darf ich ja sowieso nicht ansprechen, darüber will keiner von euch reden, lieber alles totschweigen. Das kotzt mich an!“ Ben war aufgestanden, hatte das Fenster geöffnet und stieß seinen Tabakqualm streitsüchtig in die kühle, nieselregengeschwängerte Morgenluft. „Ich hätte schon viel eher die Notbremse ziehen sollen. Wenn es nach dir gegangen wäre, säße die Drogenbraut noch immer in unserer Bude und lebte auf meine Kosten.“

„Dass ich nicht lache, auf deine Kosten.“ Tessa schüttelte verächtlich ihren Kopf. „Nachdem du sie rausgeekelt hast, war sie bloß ein paar Mal bei uns, das kannst du an einer Hand abzählen. Geblieben ist sie immer nur ein, zwei Tage, hat die ganze Zeit im Bett gelegen und geschlafen, kaum was gegessen. Und sie hat postwendend gecheckt, dass sie verschwinden soll. Sie hat sich kaum getraut den Mund aufzumachen. Als sie so krank war und wegen des hohen Fiebers fast gestorben ist, brauchte sie unsere Hilfe, aber immer wenn sie zögerlich versuchte, etwas zu sagen, hast du sie sofort grob angeblafft.“

„Schon klar, du siehst alles mit deiner rosaroten Brille. Beklaut hat sie mich, die elende Schlampe. Wäre bloß eine Frage der Zeit gewesen, über kurz oder lang hätte sie dich mit auf ihren Trip genommen. Das Thema ist abgehakt. Sie wird nie wieder über unsere Schwelle treten. So wie die sich herumgetrieben hat, hat sie sich gewiss so einiges aufgelesen. Hat doch für jeden Freier die Beine breit gemacht, nur dass sie an Kohle für den nächsten Schuss kam. … Du kannst sie von deinen Kontakten streichen, endgültig. Deine Sister ist für uns gestorben, Ende der Durchsage, sie wird nie wieder unsere Bude betreten.“

Tessa liefen die Tränen über ihr blasses Gesicht. Warum haben wir es nicht geschafft, ihr zu helfen, sie mit unseren Worten und unseren Sorgen zu erreichen? Wann habe ich sie verloren? Weshalb war ich so feige und habe geschwiegen als Ben sie einfach rausgeschmissen hat, als sie noch immer so schlimm krank war? Warum habe ich nicht auf ihrer Seite gestanden, als der neue Macker von Mutti bei uns einzog, sich als neuer Vater präsentierte und Kira schwarzsah und allen Lebensmut verlor? Was können wir jetzt nur machen, um sie von dem Zeug und von der Straße wegzubringen? Wir wissen überhaupt nicht, was sie alles durchgemacht hat. Aber kann ich mich gegen Ben stellen, den Vater meines baldigen Babys? Warum hat Julia sie so schnell aufgegeben, ihre leibliche Tochter? Als ich Kira vorige Woche flüchtig gesehen habe, blickte sie mich flehentlich an. Ich mache eine Entgiftung, hat sie leise, aber sehr bestimmt versprochen, und danach gehe ich in eine Entzugsklinik. Das schwöre ich dir. Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Warum habe ich sie nicht sofort mit zu uns genommen? Sie sah unsagbar zerbrechlich aus. Wie oft hast du das schon beteuert, habe ich leichthin erwidert und habe sie hochmütig stehen lassen. Oder hatte ich Angst vor Ben?

„Komm, bewege deinen Arsch wieder ins Bett. Du sitzt hier und heulst Rotz und Wasser. Solltest froh sein, dass wir sie los sind, die Junkie-Braut. Wir müssen an uns denken, in zwei oder drei Wochen sieht die Welt nämlich ganz anders aus. Soll sich doch deine Mutter oder irgend so ein Amt drum scheren, wenn es denn überhaupt noch was zu kümmern gibt. Über kurz oder lang greifen sie die Bullen auf und dann wandert sie in den Knast oder in eine Anstalt, hoffentlich für immer. Wenn sie nicht vorher ins Gras beißt.“

Ben warf die Zigarette aus dem Fenster und wollte schon zurück in das Schlafzimmer schlürfen, als er plötzlich innehielt. „Ich gehe noch kurz runter zur Tanke, hole mir neue Fluppen“, brummte er in Richtung seiner Freundin, schlüpfte mit seinem Jogging-Anzug in den dicken, langen Anorak und zog die Wohnungstür mit einem donnernden Aufschlag hinter sich ins Schloss. Bald war die rabenschwarz gekleidete Gestalt nicht mehr zu sehen.

Dunkle Gedanken

Martina Pawlak blickte seit mehreren Minuten schweigend aus dem Fenster in die hereinkriechende Dämmerung. Sie war im Innersten aufgewühlt und suchte nach Worten. Sie hatte der fröhlichen Schilderung ihres Mannes über die unbeholfenen Annäherungsversuche des Kriminaltechnikers Manfred Schneider an seine Kollegin Katja Schreiter kaum folgen können. Selbst seine Vorfreude auf das kommende Weihnachtsfest, verbunden mit dem ungeduldigen Frohsinn, endlich das ganze Haus mit den alten Engeln und Bergmännern und Nussknackern traditionell erzgebirgisch schmücken zu können und ebenso die uralte Weihnachtspyramide nach ihrer Ruhepause auf dem Dachboden wieder zu neuem Leben zu erwecken, lösten den düsteren Nebelschleier ihrer Grübeleien nicht auf.

Die beiden dunklen Schatten, die sich außerhalb ihres Gesichtskreises ungefähr fünfzehn Meter vom Haus der Familie Pawlak geisterhaft bewegten und gespannt zu den oberen Fenstern hinaufsahen, blieben für sie unsichtbar.

Lediglich der Golden Retriever Bruno hob unmerklich seinen Kopf und knurrte ärgerlich, um sogleich von Andreas Pawlak angeblafft zu werden: „Gib Ruhe Bruno! Alles gut, wir sind alle zu Hause. Kannst friedlich weiter vor dich hindösen.“

Immer wieder war Martina Pawlak mit ihren Gedanken abgeschweift und dachte über die Diskussionen zum letzten Elternabend in der vorigen Woche und über das kurze Gespräch mit Helen Schönherr unmittelbar im Anschluss daran nach.

Die eindringlichen Appelle des Referenten klangen noch unverwischbar in ihren Ohren: „Viele der Konsumenten sind erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt“, hatte der erfahrene Chefarzt einer Suchtklinik, der als Hauptreferent zu dieser speziellen Elternversammlung eingeladen worden war, betont. „Es ist leider absolut keine Seltenheit mehr, dass sogar elfjährige Patientinnen und Patienten vor unserer Tür stehen“, hatte er besorgt angefügt. „Wir würden uns sehr wünschen, dass die Aufmerksamkeit vom unmittelbaren Umfeld noch viel energischer erfolgt und deutlich früher einsetzt. Bedauerlicherweise erhalten wir kaum Informationen von den Schulen. Selbst aus dem Elternhaus erreichen uns so gut wie keine Hinweise. Gerade Schule und Elternhaus sind die Bereiche, wo Probleme im Grunde schon sehr früh bemerkt werden müssten“, klagte der Referent, „deshalb versuchen wir in Gesprächsrunden wie heute, Eltern und Lehrer über die Gefahren der Drogen und den Umgang mit Suchtgefährdeten besser aufzuklären. Scham, dass so etwas in der eigenen Familie passiert, dass die eigenen Kinder vielleicht sogar selbst Drogen nehmen und die Nachbarn einen mit schiefen Blicken ansehen, hilft niemandem weiter. Und je früher man erkennt, es läuft was falsch, umso größer sind die Chancen, das Ruder herumreißen zu können.“ Er hatte gedankenversunken in die unruhigen Augen der anwesenden besorgten Eltern geschaut:

„Ja, wir haben hier im Erzgebirge eine aggressive Rauschgiftszene. Das wollten Politiker lange nicht so deutlich aussprechen. Und, ja, Crystal Meth dominiert zunehmend dieses gefährliche Umfeld. Crystal Meth ist das gängige Aufputschmittel mit sehr hohem Suchtfaktor. Wir befürchten, dass es nach Cannabis zu Deutschlands meistkonsumierter Droge werden könnte.“

Insgesamt seien durch die Polizei im Jahr 2022 rd. 541 kg Crystal Meth sichergestellt worden. Die Zahl der Drogentoten in Deutschland habe sich gegenüber dem Vorjahr um rd. 9 % auf 1.990 erhöht. Seit 2017 wachse die Zahl der Rauschgifttoten von Jahr zu Jahr, hatte der Mediziner besorgt ergänzt. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sei Sachsen nach wie vor das größte Einfallstor für dieses Rauschgift Crystal Meth. Es werde seit längerem zu Unmengen in tschechischen Laboren hergestellt. Man rechne damit, dass in Tschechien pro Jahr mindestens 10 Tonnen produziert würden. Aber genau wisse das eben keiner. Mutmaßlich die Hälfte davon gehe nach Deutschland. Über die Grenze zwischen Tschechien und dem Erzgebirge oder dem Vogtland werde es teils von Drogensüchtigen selbst, teils von Dealern oder durch illegale Transporte auf den deutschen Markt gebracht. Die Dealer hätten vor allem Großmärkte an der tschechischen Grenze genutzt, wo offiziell Getränke, Zigaretten, Blumen und Kleidung verkauft würden. Aber jeder Drogenkonsument könne ohne weiteres im Hinterzimmer Crystal kaufen. Allerdings nehme nunmehr die Gefahr aus dem Drogenhandel zu, der sich beispielsweise in Chemnitz wie aus dem Nichts massiv etabliert hätte. Dealer seien vor allem junge Mitbürger mit Migrationshintergrund aus Nordafrika oder Asien, großartig darüber berichtet, werde leider nicht.

„Bei denen kostet ein Gramm Crystal manchmal nur 20 Euro. Dealer in Dresden oder Leipzig verlangen aber schon 50 Euro bis 100 Euro“, hatte er erläutert. „Der Preis steigt, je weiter man von der deutsch-tschechischen Grenz weg ist. Aber 20 Euro ist ein Preis, den sich Jugendliche zumeist ohne Probleme leisten können.“

Zwar werde Tschechien auch zunehmend von den Niederlanden als Standort der meisten Crystal-Meth-Drogenküchen abgelöst, es gebe jedoch keinerlei Grund zur Entwarnung.

Dann war er auf die Konsistenz der Substanz, deren Konsumformen und dem Wirkungseintritt der Droge eingegangen, drastisch hatte er die Risiken und die kurz- und langfristigen Folgen skizziert. „Ich kann nur jeder und jedem von Ihnen als Eltern dringend raten, sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, wenn Sie den Eindruck haben, hier stimmt etwas nicht, Ihr Sohn oder Ihre Tochter verändern sich merklich in ihren Gewohnheiten oder es treten gesundheitliche Probleme auf, die Sie stutzig machen. Es gibt professionelle Hilfe. Aber den ersten Schritt müssen Sie selbst gehen!“, hatte er eindringlich seine Ausführungen beendet.

„Frau Pawlak, ich würde gern noch kurz mit Ihnen sprechen“, hatte sich die bei den meisten Schülern sehr beliebte Klassenlehrerin von Friedrich im allgemeinen Aufbruchsgetümmel an Martina Pawlak gewandt, „am besten wir gehen in das Lehrerzimmer.“

Das, was Helen Schönherr zögerlich ansprach, ließ das Blut von Martina Pawlak fast in ihren Adern gefrieren. Ihre Hände zitterten.

Friedrich habe sich in der letzten Zeit fühlbar verändert, nicht zu seinem Besten, hatte die Lehrerin bekümmert hinzugefügt.

Kopfzerbrechen

Er berührte sie sachte an ihrem Arm. „Du weinst ja, ist was passiert? Was ist denn nur los?“ Andreas Pawlak blickte verstört in die großen blauen Augen seiner Frau Martina. Jetzt rannen dicke Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Sie schlang ihre Arme um ihn und konnte zunächst kein Wort herausbringen. Schließlich schluchzte sie: „Andreas, nach dem Elternabend vorige Woche hat mich seine Lehrerin, die Frau Schönherr, angesprochen. … Sie hat angedeutet, dass sich unser Sohn in den letzten Wochen ziemlich verändert hat. Ich befürchte, Friedrich nimmt irgendwelche Drogen. …“

„Wie kommst du denn darauf? Der Fritz ist inmitten der schwierigsten Phase seines Lebens, er muss mit seiner Pubertät irgendwie zurechtkommen. Du weißt doch aus eigener Erfahrung, was das mit einem macht. Wenn du meine Mutter Ruth fragst, kann sie dir tausend Geschichten erzählen, was ich in dieser Zeit so alles angestellt habe. Und bei unserem Großen, dem Max, sind wir fast verzweifelt. Dann war der Spuk ruck zuck vorbei. Da würde ich den Ball erstmal flach halten“, unterbrach sie ihr Mann beruhigend, „musst nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Freilich, er wird langsam ein Mann, ist eitel, kämmt sich hundertmal am Tag die Haare, stibitzt mein teures Aftershave, was ich mir selbst nur zu besonderen Anlässen genehmige. Er will halt bei seinen Freunden Eindruck schinden und ganz bestimmt hat er schon eine Flamme in seiner Klasse, der er imponieren will.“

Martina Pawlak schüttelte entschieden ihren Kopf: „Ich war vollkommen fix und fertig nach dem Gespräch. Am liebsten hätte ich schon in dem Lehrerzimmer losgeheult, habe mich aber beherrscht und versucht, mir erstmal die nüchternen Fakten anzuhören und das für mich selbst zu sortieren. Vielleicht müssen wir beide nochmal in Ruhe und mit etwas Abstand mit der Frau Schönherr reden. Ich kann mir gar nicht ausdenken, was auf uns zurollen könnte.“ Wieder konnte sie ihre aufkommenden Tränen nicht zurückhalten.

„Warum hast du nicht schon früher mit mir darüber gesprochen, was dich so umtreibt?“, zeigte sich Andreas Pawlak irritiert. „Du hast mir nur von dem eindringlichen Vortrag des Chefarztes einer Suchtklinik über Drogenkonsum junger Menschen berichtet und dass Crystal Meth vor allem bei uns in der erzgebirgischen Grenzregion wahnsinnig auf dem Vormarsch ist und die Entwicklung nichts Gutes verheißt. Kann man alles dreimal unterstreichen und dass im Rahmen eines Elternabends so inständig zu diesem Thema sensibilisiert wird, ist mehr als erfreulich. Da macht die Klassenlehrerin auf jeden Fall einen guten Job.“

„Aber genau darum geht es doch!“, schluchzte Martina Pawlak. „Ich konnte nicht mit dir sprechen, ich habe mich nicht getraut. Du warst in den letzten Tagen kaum zu Hause. Ich habe gemerkt, dass dich deine Arbeit wieder einmal so fest im Griff hat und du nicht abschalten konntest. Und da wollte ich dich nicht auch noch mit meinen Befürchtungen und Vermutungen quälen. Aber jetzt halte ich es nicht mehr aus, ich muss mit dir darüber reden.“ Martina Pawlak rieb sich über ihre Augen und sprach leise abermals die entsetzlichen Nachrichten aus, die sie seit einer Woche umtrieben und ihr den Schlaf geraubt hatten. „Nach den Beobachtungen der Lehrerin ist nicht auszuschließen, dass unser Fritz Drogen nimmt. Mich haut es um, ich weiß nicht mehr ein und aus.“ Ihre Stimme versagte, nur ihre Schultern bebten und sie weinte hemmungslos.

Andreas Pawlak nahm sie fest in seine Arme und strich behutsam über ihren Kopf. In Windeseile sah er die Bilder vor sich, die sich bei früheren Kriminaldelikten im Drogenumfeld tief in seine Erinnerungen gegraben hatten. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte er diese Zerrbilder der Vergangenheit, die anscheinend aus einer völlig anderen Welt stammten. „Jetzt erzählst du erstmal ganz ausführlich, was die Lehrerin bei unserem Sohn beobachtet haben will. Dann versuchen wir, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen und überlegen, was wir weiter unternehmen.“

Martina Pawlak wischte mit ihrem Taschentuch über ihre Augen und konzentrierte sich auf die folgenschwersten Informationen. „Der Fritz kann sich nach dem Eindruck von Frau Schönherr manchmal kaum auf den Unterrichtsinhalt konzentrieren und zappelt herum. Er ist nervös, dann wiederum sitzt er schlapp da. Er klagt über ein Schwächegefühl, seine Leistungen werden immer schlechter. In der Pause sitzt er zuweilen allein abgeschlagen in seiner Bank. Beim Sportunterricht hat er sich schon paar Mal an den Rand gesetzt, es sei ihm schwindlig geworden. Das Merkwürdigste aber von allem, er hat sich schon mehrfach in der Pause geprügelt, bisher war er absolut friedfertig, hat stets versucht, zu deeskalieren und Kontrahenten zu versöhnen“, fasste Martina die Schilderungen der Lehrerin zusammen.

„Und wie kommt sie darauf, dass Fritz was mit Drogen zu tun haben könnte?“, wunderte sich Pawlak. „Das, was du beschrieben hast, kann tausend verschiedene Gründe haben. Wie schon gesagt, er ist inmitten einer Pubertätskrise. Da spielen die Hormone zuweilen verrückt. Aber es kann auch sonst was sein.“

„Er ist gesehen worden, wie er was genommen hat!“, wimmerte seine Frau. „Auch anderen Schülern soll er das Zeug angeboten haben.“ Wieder liefen dicke Tränen über ihre Wangen.

„Hat die Frau Schönherr selber mitgekriegt, dass er Drogen nimmt? Und wodurch hat sie Kenntnis erlangt, dass er, naja, dass er selbst sogar mit Drogen dealt?“, hakte Andreas Pawlak misstrauisch nach. „Hat sie ihn wenigstens zur Rede gestellt?“

„Sie hat wohl nur kurz mit ihm gesprochen. Er hat sich zwar wegen seines Verhaltens im Unterricht und in den Pausen schnell entschuldigt. Es gehe ihm manchmal körperlich schlecht, hat er hinzugefügt. Vielleicht brüte er was aus oder so. Gefragt nach den Drogen, hat er aber absolut zugemacht. Deshalb wollte Frau Schönherr nun den Elternabend abwarten und zunächst mit uns reden, ob wir vielleicht selbst bestimmte Anhaltspunkte haben, bevor sie aus Sicht der Schule irgendwas veranlasst. Da ich allein da war, fand das Gespräch unter uns, unter vier Augen, statt“, erwiderte Martina Pawlak. „Sie selbst hat dessen ungeachtet weder gesehen, wie er Drogen genommen hat, noch wie er welche anderen verkaufte oder angeboten hat. Er wurde anonym in einem an sie adressierten Brief beschuldigt. Ob der Hinweis von einem Mitschüler oder von einem Lehrer oder von sonst wem kam, wusste sie naturgemäß nicht. Sie hat dem Fritz nicht gesagt, woher sie von den Drogen wusste. Fritz hat wohl auch nicht näher danach gefragt. Er hat dazu geschwiegen. … Sie hat mehr oder minder deutlich gemacht, das alles sei zuvörderst unsere Sache, zumal du bei der Polizei bist.“

Pawlak horchte auf: „Bei so einem schwerwiegenden Verdacht sollte es zunächst erstmal um den Jungen gehen. Wie ist er vielleicht in irgendwas hineingerutscht, wie können wir ihm helfen, als Eltern, aber natürlich auch als Schule. Da sollte es keine Rolle spielen, ob ich Polizist, Klempner oder Hochschulprofessor bin. Das finde ich seltsam, mit Verweis auf meinen Beruf sich von einer Mitschuld oder Verantwortung befreien zu wollen. Da scheint die Frau Lehrerin im Übrigen ein besonderes Verhältnis zur Wahrheitsfindung zu haben. Das erste wäre doch gewesen, den Fritz mit dem anonymen Schreiben zu konfrontieren, nachzuhaken, ob es Zwischenfälle gab. Schließlich gilt immer noch das Prinzip in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Solange nicht alle ernsthaften Zweifelsfragen geklärt sind, würde ich langsam machen mit den jungen Pferden.“ Andreas Pawlak hatte sich gebührend in Rage geredet.

„War vielleicht auch ein Grund, dass ich es solange vor mir hergeschoben habe, mit dir zu reden. Ich hatte deine Reaktion erwartet. … Aber was ist mit seiner Verhaltensänderung, mit seinen Stimmungsschwankungen, seiner Nervosität, seiner Vergesslichkeit und seinen wiederholten Prügeleien? Das bereitet mir großes Kopfzerbrechen“, beschwor sie ihren Mann, „und weshalb hat er die Anschuldigungen einfach so über sich ergehen lassen?“

„Hast recht, ich komme schnell wieder auf den Boden der Fakten zurück, Polemik hilft niemandem“, entschuldigte sich Pawlak behutsam. „So kennen wir unseren Sohn im Grunde überhaupt nicht“, überlegte Andreas Pawlak laut. „Der Fritz, der lässt sich nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen. Der setzt sich bei unberechtigten Attacken mit den entsprechenden Argumenten gekonnt zur Wehr. Warum hat er so hartnäckig geschwiegen?“

Martina zitterte am ganzen Leib, ihr Gesicht glühte vor Aufregung: „Was sollen wir nur machen? Ich habe immer größtes Vertrauen in unseren kleinen Jungen gehabt, wie konnte er nur so auf die schiefe Bahn kommen? Warum hat er nicht mit uns gesprochen?“

Andreas Pawlak schüttelte energisch seinen Kopf und ergriff die beiden Hände seiner Frau. „Wir kennen unseren Fritz. Er ist ein guter Kerl, manchmal zu gutmütig, aber dass er so mir nichts dir nichts regelmäßig Drogen nimmt, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Vielleicht hat er mal eine Kippe geraucht und Bier und möglicherweise einen Schnaps getrunken. Das gehört gewissermaßen zum Erwachsenwerden dazu. Nein, wir vertrauen ihm … und wir werden offen mit ihm darüber reden. Wenn es geht, sofort.“

„Er sitzt oben in seinem Zimmer, sein Kumpel Finny ist da. Sollen wir nicht besser warten, bis er gegangen ist?“, zögerte Martina Pawlak.

„Passt doch gut zusammen, wir sprechen ganz frisch von der Leber weg mit den beiden Jungs über die Infos vom letzten Elternabend, von dem Referat des Suchtarztes und tasten mal ab, wie sie das selber so sehen“, ergriff Pawlak den Stier sofort bei den Hörnern.

Martina Pawlak war froh, dass ihr Mann so wie zumeist beherzt die Initiative ergriff.

Bestürzung

„Arschkalt heute Morgen, will froh sein, wenn der Winter vorbei ist und die Tage endlich wieder länger werden“, brummte halb verschlafen Udo Felgner, der Fahrer des nagelneuen Faun Heckladers in Richtung seines Beifahrers Sven Täschner, der mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf versuchte, einen Teil des entgangenen Nachtschlafes nachzuholen bis sie ihr erstes Ziel in Waldbach erreicht hatten. Sie klapperten heute die weiter entfernt liegenden Dörfer bis kurz vor der tschechischen Grenze ab. Nach Waldbach standen Fichtenthal, Grünthal und dann noch Oberstammbach, Eichenwalde, Hirschberg und Langenberg auf dem Zettel. Udo Felgner fuhr gern diese Strecke, da er aus dieser abgelegenen Gegend, aus Fichtenthal, um genau zu sein, stammte und viele ansässige Leute seit Jahren kannte. Wenn sie anhielten, kam es zumeist zu einem kleinen Schwätzchen.

„Bei mir ist in diesem Jahr am Donnerstag vor Weihnachten Schicht. Habe einen Haufen Überstunden, sitze dann erst wieder am 3. Januar auf diesem Bock. Hoffentlich gibt es keine Ausfälle durch Krankheit, da holen sie dich von sonst wo und du kannst den ganzen Mist, den die Leute von Weihnachten übrighaben und wegschmeißen, mühselig aufsammeln. Ich war in den letzten Jahren immer Mode, dieses Jahr bleibe ich gemütlich zu Hause. Du hast doch genauso wie ich frei oder musst du zwischendurch antraben?“

„Wenn die mich aus dem Urlaub holen wollen, mache ich Kasse. Mein Doc ist da relativ schmerzfrei. Vor Januar sehen die mich jedenfalls nicht im Betrieb“, murmelte schlaftrunken der Beifahrer Sven Täschner, ohne die Augen zu öffnen.

„Hoffentlich kommen wir heute schnell durch, meine Alte macht schon die ganze Zeit einen riesigen Terz, das Weihnachtszeug muss vom Boden runtergeholt werden. Sicherlich ist wieder einiges zu reparieren, die Fensterbeleuchtung muss angebracht werden, dabei ist heute erst Dienstag und bis zum ersten Advent ist noch ein Haufen Zeit“, brabbelte Udo Felgner weiter vor sich hin, ohne eine Antwort von seinem Kollegen zu erwarten. „Aber sie hat schon recht, meine Alte, Weihnachten ist bei uns im Erzgebirge doch die beste Zeit. Glaube nicht, dass wir weiße Weihnachten haben werden.“ Er kratzte mit seiner Hand über seine kurzgeschorenen grauen Haare. „Hat jedenfalls der Wetterbauer Rolf-Eckart Uebel aus dem Vogtland so vorausgesagt. Es soll viel Regen geben, vielleicht reichts bei uns zum Schnee. Hinterher wissen wir es mit absoluter Sicherheit.“ Er schmunzelte vor sich hin und war in Gedanken schon zu Hause, wenn er am Nachmittag gemeinsam mit seiner Frau das kleine Einfamilienhaus liebevoll in ein Weihnachtshaus verwandeln würde. Heute würde es auch den ersten Glühwein geben, den seine Frau in dieser schneidenden Kälte fürsorglich zubereitete. Auch wenn er es nach außen nicht zeigte, er freute sich wie ein Schuljunge, dass die Advents- und Weihnachtszeit endlich da war und er abends versonnen seine alten erzgebirgischen Schnitzereien und gedrechselten Figuren bei einem warmen Kerzenschein zu neuem Leben erwecken konnte. Seine drei Enkelkinder würden die zahlreichen Räuchermännel, Nussknacker und Engel und Bergmänner gar nicht genug bestaunen können. Der absolute Höhepunkt sollte aber sein nach fast hundert Stunden Bastel- und Schnitzarbeit endlich fertiggestellter Weihnachtsberg sein, der Jahrzehnte in Kisten verpackt auf dem Boden lagerte und noch vom Großvater Edwin aus Fichtenthal stammte. Dass so vieles zu reparieren und zu erneuern war, hätte er sich nicht vorstellen können, aber er freute sich sehr darauf, den Weihnachtsberg in neuem Glanz lebendig werden zu lassen.

Mit einem lauten Tschschsch stand das wuchtige Müllfahrzeug ruckartig auf der Stelle. Beifahrer Sven prallte unsanft mit seinem Kopf gegen die große Windschutzscheibe. „Bist du blöd, Mann? Warum gehst du wie ein Bekloppter in die Eisen? Hast du sie nicht mehr alle? Verdammter Idiot!“, schrie er.

Udo Felgner hielt mit beiden Händen krampfhaft das Lenkrad fest und atmete schwer. Sein Gesicht war aschfahl. Er brachte kein Wort heraus.

„Was ist denn los? Mensch, mach den Mund auf!“, tobte Sven Täschner, sich, die von einer Pudelmütze bedeckte, schmerzende Stirn reibend.

„Um ein Haar wäre ich drübergefahren, hab sie erst im letzten Moment wahrgenommen. … Plötzlich stand wie aus dem Nichts eine große gelbe Katze im Scheinwerferkegel und blickte mich aus ihren grünen Augen vorwurfsvoll an. Sie bewegte sich keinen Zentimeter. Zugleich sah ich aus den Augenwinkeln, da liegt eine Gestalt am Straßenrand. Ich bin fix und fertig. … Komm, wir gucken mal gemeinsam. Wenn das Katzenvieh nicht wie ein Gespenst erschienen wäre, hätte ich den Lkw nicht mehr zum Stehen gebracht“, wandte sich Udo Felgner hilfesuchend an seinen Kumpel. „Ich zittere noch am ganzen Körper. Ein Glück, dass ich noch bremsen konnte, gar nicht auszudenken, wenn ich mit dem schweren Bock drüber gefahren wäre.“

Nahezu gleichzeitig öffneten die beiden Müllmänner die Türen der Fahrer- und der Beifahrerseite und sprangen mit ihren schweren schwarzen Arbeitsstiefeln auf die kalte, feuchte Asphaltstraße, ihre orangenen Arbeitsanzüge reflektierten scharf und unwirklich das harte Licht der grellen Laternenlampen.

Besorgt und ganz Auge und Ohr gingen sie zögernd auf das dunkle Bündel zu, welches unbeweglich am Rande der Straße lag. Nichts rührte sich. Es war ein junges Mädchen, spärlich bekleidet, getrocknetes Blut zeichnete sich auf ihrem T-Shirt ab, die Hände hatte sie krampfhaft auf den Bauch gepresst. Sie trug nur eine dünne Jacke, die vorn offenstand.

Udo Felgner kniete sich unbeholfen nieder und horchte mit seinem linken Ohr dicht an dem halbgeöffneten Mund der jungen Frau. Er legte seinen Zeigefinger an ihre Halsschlagader. Er konnte keinen Puls mehr fühlen. Er richtete sich mühsam auf und schüttelte langsam seinen Kopf. Tränen traten in seine Augen. Dann setzte er sich schwerfällig auf den eiskalten Bürgersteig, stützte seinen Kopf mit seinen beiden schwieligen Händen ab und blickte verzweifelt in das triste Nichts der menschenleeren Straße.

Fritz und Finny

„Hallo Andreas, hallo Martina!“, rief Finny irritiert den beiden Eltern von Fritz zu, als er die Treppe heruntergepol tert kam und sah, dass die Eltern von Fritz offensichtlich ungeduldig auf die beiden Jungs in der Diele warteten. Martina hatte geweint, was war nur geschehen? Wussten sie irgendwas?

Martina und Andreas Pawlak spürten sofort, die Begegnung mit ihnen war ihm unangenehm. Am liebsten würde er fluchtartig das Haus verlassen. „Wir würden uns gern kurz mit euch unterhalten, mit euch beiden“, reagierte Andreas Pawlak augenblicklich, „es geht um die Schule. Dauert auch nicht lange.“

„Tut mir leid, ich muss jetzt schleunigst nach Hause“, entgegnete Finny erregt. „Ich bin eh schon zu spät. Mein Alter wird toben. Tut mir wirklich leid, vielleicht morgen oder übermorgen.“ Mit hochrotem Kopf drehte er sich abrupt um, ergriff blitzschnell seine dicke Jacke und die Mütze und wollte im Nu aus der Tür rennen.

„Es ist schon dunkel, soll ich dich nach Hause fahren, zumal dein Vater schon auf dich wartet?“, fragte Pawlak besorgt.

„Nein, nein, ich laufe lieber. Ist ja nicht weit, ich komme schon klar!“, erwiderte Finny übereilt und rannte aus dem Haus, ohne sich nochmals von Fritz verabschiedet zu haben.

Die beiden dunklen Figuren im tückischen Schatten der großen Bäume blieben unsichtbar, sie waren aber noch nicht verschwunden, wie das erneute erzürnte Grummeln des Hundes Bruno verriet.

Andreas und Martina Pawlak blickten sich verwirrt an.

„Was war das denn jetzt?“, Martina Pawlak schaute zu ihrem Sohn, der zwei Schritte hinter Finny die Treppe heruntergekommen und jetzt wie angewurzelt stehengeblieben war. „So heftig kenne ich den Finny gar nicht. Was hat er denn auf einmal?“, überlegte Martina Pawlak laut. „Hast du wenigstens ein paar Minuten Zeit für uns? Wir müssen dringend reden, das sollte nicht bis morgen warten.“

„Der hatte es heute wirklich ungeheuer eilig hier weg zu kommen“, raunte Pawlak seiner Frau halblaut zu. „Ein Gespräch mit uns wollte er anscheinend lieber nicht führen. Seltsam!“

Fritz, der den Ausruf seines Vaters mitbekommen hatte, zuckte unschlüssig mit seinen Achseln und trödelte ganz langsam die Treppe hinunter und stand mit hängenden Schultern vor seinen Eltern.

„Friedrich, wir setzen uns in mein Arbeitszimmer, brauchst keine Angst zu haben, wir reißen dir den Kopf schon nicht runter“, lächelte Andreas Pawlak, unruhig bemüht, einen lockeren Einstieg in das Gespräch zu finden.

Seine Frau suchte beschwörend Augenkontakt zu ihrem Sohn und öffnete die Tür zum behaglichen Arbeitszimmer. Ihr Herz schlug so laut, dass sie meinte, es sei von ihren beiden Männern überdeutlich zu hören.

„Stört es euch, wenn ich mir eine Pfeife anzünde?“, fragte Pawlak unsicher in die Runde. „Will mal meinen neuen Tabak ausprobieren.“ Beide schüttelten mechanisch den Kopf.

„Geht bestimmt um den Elternabend von voriger Woche“, mutmaßte Fritz und schaute zuerst seinen Vater, dann seine Mutter an. „Die Schönherr hat so eine Andeutung gemacht. … Wieso sollte denn der Finny mit dabei sein? Der hat doch überhaupt nichts damit zu tun! Fucking Pauker, die blöde Tussi, die spinnt sich was zusammen.“

„Lieber Fritz, ganz vorweg, können wir uns darauf einigen, dass wir uns so unterhalten, wie es bei uns üblich ist? Wir verzichten auf Schimpfworte und meiden irgendwelche Kraftausdrücke, einverstanden?“, Andreas Pawlak hatte sich vorgebeugt und legte seine Hand besänftigend auf den Arm von Friedrich.

Dieser nickte wortlos: „Ist ja wahr. Die Frau Schönherr hat mir ziemlich eingeheizt. Dabei habe ich überhaupt nichts angestellt. Ich habe mich auch dafür entschuldigt, dass ich zwei-, dreimal die Hausaufgaben vergessen hatte und dass ich mich in der Pause ein bisschen geprügelt habe. War aber nicht meine Schuld. Der blöde Tim, äh, ich meine der Tim Serig, hat mich dämlich von der Seite angequatscht, der hat angefangen. Gab einfach keine Ruhe, bis ich mich gewehrt habe.“

Andreas Pawlak paffte gelassen an seiner neuen Tabakpfeife und stieß kreisrunde Kringel in die Luft: „Du bringst das alles einigermaßen schnell auf den Punkt, lieber Friedrich“, Pawlak nannte seinen Sohn an und für sich nur dann bei seinem vollen Namen, wenn es um offizielle Anlässe ging oder er sich mit ihm auseinandersetzen musste, sonst verwendete er stets die Kurzform Fritz. „Ich würde schon gern etwas früher einsteigen. Beispielsweise, wie du dein Verhalten in der letzten Zeit im Unterricht und in den Pausen selbst beschreiben würdest, weshalb du manchmal im Sport aussetzen musst, wann du dich körperlich unwohl fühlst und noch so manch anderes mehr.“

„Was meinst du mit `anderes mehr´?“, begehrte Friedrich auf. „Die Schönherr hat euch wohl mächtig aufgepackt? Was wirft sie mir den vor, die alte Schachtel?“

„Fritz, dein Vater hat darum gebeten, dass wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten. Die Frau Schönherr hat dich nicht grundlos verpetzt. Sie macht sich ehrliche Sorgen um dich“, ergriff Martina Pawlak das Wort. „Sie bedrückt es, wie heftig du dich verändert hast. Sie hat mich nach dem Elternabend um ein Gespräch gebeten und schlicht und einfach informiert, dass dein Verhalten auffällig geworden ist. Du bist manchmal unkonzentriert, vergesslich, andererseits zappelig und körperlich angeschlagen“, Martina Pawlak standen selbst wiederum die Tränen in den Augen. „Wir machen uns Sorgen um dich, dein Vater und ich, kannst du das nicht verstehen? Deshalb wollten wir mit dir reden und auch die Meinung von deinem Kumpel hören. Vielleicht gibt es in der Schule Zoff. Wir wollen dir helfen, Fritz! Wenn dich was bedrückt, dann raus mit der Sprache. Bitte, rede mit uns!“

Fritz schniefte laut vernehmlich. Die Worte seiner Mutter hatten ihn getroffen: „Mir fehlt nichts. Ich bin nur manchmal furchtbar kaputt. Ich weiß auch nicht, woher das kommt, vielleicht, weil ich zu schnell wachse oder es ist sonst was mit mir. Mir wird bisweilen alles zu viel. … Im Sport habe ich mich nicht gedrückt, mir ging es einfach nur Scheiße, sorry, richtig schlecht.“

„Der Sache gehen wir auf den Grund. Ich rufe morgen sofort bei Frau Dr. Tischler an und mache einen Termin für einen Gesundheitscheck für dich. Und ich werde dich auf jeden Fall begleiten“, bekräftigte augenblicklich Martina Pawlak, keinerlei Widerstand duldend.

„Muss das wirklich sein, dass ich mit meiner Mutter zum Arzt renne? Die aus meiner Klasse werden mich volle Kanne verspotten und für ein absolutes Muttersöhnchen halten“, begehrte Fritz kleinmütig auf. „Kann ich nicht allein zu unserer Hausärztin gehen?“

„Nein, da lasse ich keine Luft ran! Wir gehen gemeinsam. Basta!“, konterte Martina Pawlak unnachgiebig.

„Gut, da hätten wir schon einen ersten Schritt gemacht. Ihr klärt den Gesundheitszustand verbindlich ab, dann sehen wir weiter“, fasste Andreas Pawlak zusammen. „Gibt es noch andere Dinge, die du uns vielleicht erklären magst?“

„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Wie ich schon sagte, mir geht es seit einiger Zeit körperlich manchmal nicht hundertprozentig gut. Ich habe ab und zu ein Schwindelgefühl, dann bin ich wieder völlig abgeschlagen. Aber das ist schon alles. Was soll ich denn noch erklären?“, wollte Fritz wissen.

Martina Pawlak zögerte, ihr Mann nickte ihr aufmunternd zu. „Deine Klassenlehrerin meint, äh, … sie sagt, … sie gibt an, du hättest Drogen genommen. … Und … es lägen Hinweise vor, dass du das Zeug anderen Kindern oder Mitschülern verkauft hast.“

Fritz starrte wortlos ins Leere. Sein Gesicht schien zu glühen. Er schluckte mehrmals, brachte aber keinen Laut heraus. Schweigsam schüttelte er mehrmals seinen Kopf und blieb stumm.

„Du hast gehört, was deine Mutter geäußert hat. Deine Klassenlehrerin behauptet, du hast in der letzten Zeit Drogen genommen und das Zeug auch vertickt. … Sie beharrt darauf, sie hätte Beweise oder sagen wir mal lieber Belege dafür. Stimmt es? Mensch Fritz, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

„Nein, nein, nein!“, schrie Fritz überlaut. „Ich habe weder heute noch gestern noch in den vergangenen Wochen Drogen genommen. Vermutet ihr das wirklich? Kennt ihr mich so wenig? Ich schwöre euch, dass ich kein Milligramm Drogen genommen habe und werde das auch in Zukunft nicht machen. Nein und nochmals nein! Das kommt doch überhaupt nicht in Betracht.“ Er atmete schwer: „Glaubt ihr diesen Mist wirklich? Wo soll ich denn das Geld herhaben? Haltet ihr euren 15-jährigen Sohn tatsächlich für einen Drogendealer? Vater, du redest immer von Vertrauen und Familie und Zusammenhalten und alles sowas. Ich habe dir das bisher abgenommen, aber mich zu verdächtigen, haut mich um.“ Jetzt konnte der Junge seine Tränen nicht mehr zurückhalten, er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und heulte wie ein kleines Kind.

Seine Mutter war aufgesprungen und nahm ihn in ihre Arme. Sie selbst war tränenüberströmt. „Wir glauben dir doch, wir glauben dir. Aber deine Lehrerin hat mir erzählt, es gäbe Begründungen für ihre Vermutung. Sie hat von einem anonymen Hinweis gesprochen, der ihr zugegangen sei.“

Fritz löste sich jählings aus der Umarmung seiner Mutter und preschte unversehens die Treppe hoch in sein Zimmer, dessen Tür er laut hinter sich ins Schloss fallen ließ.

„Sollen wir hinterhergehen?“, fragte Martina Pawlak unschlüssig ihren Mann. „Wir können doch dieses Gespräch nicht so abrupt beenden!“

Rätsel

„Komm, wir bleiben noch etwas hier sitzen und lassen das soeben Geschehene erstmal in Ruhe sacken“, schlug Andreas Pawlak vor und öffnete eine Flasche Pfälzer Rotwein `Acolon´ und stellte ihre beiden Lieblingsgläser auf den Couchtisch.

„Mach dir keine Sorgen, im Innersten von unserem Fritz laufen derzeit alle Gedanken und Überlegungen auf Hochtouren. Der muss sich momentan selbst sammeln. Er weiß, worum es geht. Ich bin mir sicher, er wird spätestens morgen oder übermorgen von sich aus das Gespräch mit uns suchen, wahrscheinlich eher mit dir als mit mir“, zeigte sich Andreas Pawlak überzeugt. „Und ich vertraue unserem Sohn hundertprozentig, wenn er hoch und heilig bekräftigt, keine Drogen genommen zu haben, stimmt es auch. Mir fehlt nur noch die Erklärung, wie es zu diesen Verdächtigungen kommen konnte und wie die anonymen Hinweise einzuordnen sind.“

„Ja, ich glaube ihm auch, zumindest hoffe ich, dass er uns nichts vorgemacht hat“, pflichtete seine Frau ihm bei. „Die Andeutungen seiner Klassenlehrerin waren jedoch keineswegs aus der Luft gegriffen. Ich habe den anonymen Zettel zwar nicht gelesen, aber es gibt ihn ganz unzweifelhaft. … Sollten wir der Sache nicht lieber objektiv auf den Grund gehen?“

„Was meinst du mit objektiv?“, stutzte Andreas Pawlak.

„Könntest du nicht den Manfred Schneider von eurer KTU bitten, eine Haarprobe von Fritz auf Drogenrückstände zu analysieren?“

Andreas Pawlak schüttelte energisch seinen Kopf: „Nein! Das kommt überhaupt nicht in die Tüte. Erstens trenne ich, und das weißt du selber ziemlich genau, ich trenne immer Dienstliches und Privates. Und zweitens wäre es ein Vertrauensbruch unserem Sohn gegenüber. Er hat überdeutlich betont, nichts mit Drogen am Hut zu haben. Wir sollten ihm schlichtweg vertrauen!“

„Ja, ich weiß! War blöd von mir, dich darum zu bitten, entschuldige!“

Martina und Andreas Pawlak hatten noch eine ganze Weile schweigend beisammengesessen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend, als sich plötzlich das Smartphone von Martina laut summend meldete.

„Martina, hier ist Nadja, Nadja Oettel, die Mutter von Finn“, meldete sich zaghaft eine Frauenstimme.

„Ja, Nadja, ich weiß. Ist der Finny wohlbehalten zu Hause eingetroffen? Der hatte kolossale Angst vor seinem Vater Sebastian, weil er zu spät weggegangen ist. Er hat womöglich bei dem Spiel mit Fritz die Uhr nicht mehr im Blick gehabt, solltet ihr nicht auf die Goldwaage legen“, antwortete Martina versöhnlich.

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

„Bist du noch dran Nadja?“

„Ja, entschuldige. Ich wollte fragen, ob der Finn sich mit dem Fritz geprügelt hat. Der Junge ist einigermaßen lädiert. Er hat eine Beule am Kopf und an der Stirn eine Platzwunde. Er behauptet, gestürzt zu sein. Auf meine Nachfragen hat er vor sich hin geschwiegen und ist ganz bald schlafen gegangen. Ich mache mir Sorgen um den Jungen. Ich wollte nochmal mit ihm reden, aber er hat sich umgedreht, als ich in sein Zimmer kam und nur gesagt, er brauche jetzt seinen Schlaf.“

„Der war völlig okay, als er von uns fort ist. Hatte nur Angst vor seinem Vater, wie ich schon sagte. Geprügelt haben sich die beiden Jungs jedenfalls nicht. Die waren wie üblich ein Herz und eine Seele“, betonte Martina Pawlak.