Erzgebirgsstürme - Karl-Heinz Binus - E-Book

Erzgebirgsstürme E-Book

Karl-Heinz Binus

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Beschreibung

Eine grausam entstellte Person wird unter einer umgestürzten Fichte aufgefunden. Erst die Suche in der Vermisstendatei und ein zahnforensischer Abgleich bringen Anhaltspunkte zur Identität. Das Opfer, ein erfolgreicher Unternehmer, hat sich ehrenamtlich für Windkraftanlagen eingesetzt. Gerüchte über zweifelhafte Kontakte kursieren. Es gab Auseinandersetzungen mit Windkraftgegnern. Er hatte eine Geliebte, seine Ehefrau würde alles tun, um ihn an sich zu binden. Kurze Zeit später wird seine neue Partnerin überfallen und lebensgefährlich verletzt. Sie wurde von ihrem Exfreund gestalkt. Auch er ist Windkraftgegner. Die Handlung spielt sich im Hier und Heute ab. Bezugsrahmen sind die massiven Änderungen des Klimas mit Stürmen, Orkanen und Starkniederschlägen und der damit einhergehenden, Besorgnis erregenden Zustand des Waldes. Der Autor wendet sich belletristisch dem höchst aktuellen Thema des globalen Klimawandels erstmals auf der regionalen Ebene des Erzgebirges in Form einer Kriminalhandlung zu. Der Autor erzählt eine lebhafte und bis zur letzten Seite spannende Kriminalgeschichte. Unbeirrt und sensibel fügt er viele Facetten der Kultur und der Traditionen sowie der unverwechselbaren Natur des Erzgebirges ein. Das Buch nähert sich über eine angeregte Kriminalerzählung den aktuellen, wichtigen Umweltfragestellungen, die im Erzgebirge beispielsweise bei der Frage des Neubaus von Windkraftanlagen aus Freunden und Nachbarn manchmal sogar Gegner werden lassen. Die Besonderheit des Romans besteht darin, dass harmonisch und unaufgeregt das lokale Colorit der erzgebirgischen Region, seien es die Bergbaugeschichte, die naturhafte Landschaft und teils bekannte, teils weitgehend unbekannte traditionelle Bräuche einbezogen werden. Der Autor belässt es jedoch nicht bei der dramaturgisch reizvollen Inszenierung zweier, möglicherweise ineinander verschachtelter Kriminalfälle im für einen Regionalkrimi typischen Umfeld, sondern nimmt an zahlreichen Stellen die ungelösten Streitfragen unserer gesellschaftlichen Debatte zur Fortentwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf und setzt sich mit Argumenten und Gegenpositionen behutsam und nachdenklich auseinander. Erzgebirgsstürme setzt viele reizvolle Appetitshäppchen zu Orten und Sehenswürdigkeiten in Szene ein, die einladen, besucht zu werden. Alltägliche Auseinandersetzungen ziehen Leserin und Leser in ihren Bann. Die augenzwinkernd aufs Korn genommenen Schwächen der Akteure lockern den Roman kurzweilig auf.

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Inhalt: Eine grausam entstellte Person wird nach einem Orkan unter einer umgestürzten Fichte aufgefunden. Erst die Suche in der Vermisstendatei und ein zahnforensischer Abgleich bringen Anhaltspunkte zur Identität des Toten. Das Opfer, ein erfolgreicher Unternehmer, hat sich ehrenamtlich für den Bau von Windkraftanlagen eingesetzt. Gerüchte über zweifelhafte Kontakte kursieren im Umfeld. Es gab heftige Auseinandersetzungen mit Windkraftgegnern. Er hatte eine Geliebte, seine Ehefrau würde alles tun, um ihn an sich zu binden. Kurze Zeit später wird seine neue Partnerin überfallen und lebensgefährlich verletzt. Sie wurde von ihrem Exfreund gestalkt. Auch er ist Windkraftgegner. …

Karl-Heinz Binus, Jahrgang 1954, lebt mit seiner Familie und Golden Retriever Lucky im Erzgebirge. Nach dem 2022 erschienenen Krimi „Erzgebirgshass“, der den Fragen nachspürt, weshalb sich in Sachsen eine so massive Bewegung von Querdenkern entwickelte, welchen Einfluss aktuelle Ereignisse darauf nahmen und wie der Transformationsprozess der neunziger Jahre bewältigt wurde, wendet sich sein neuer Kriminalroman „Erzgebirgsstürme“ dem Klimawandel auf der regionalen Ebene des Erzgebirges zu. Inmitten der packenden Kriminalhandlung wird eindringlich bewusst, die globalen Änderungen machen um das Erzgebirge keinen Bogen. Alltägliche Auseinandersetzungen ziehen Leserin und Leser in ihren Bann. Die gelegentlich augenzwinkernd aufs Korn genommenen Schwächen der Akteure, aber auch unserer Gesellschaft, lockern den Roman kurzweilig auf.

Karl-Heinz Binus ist diplomierter Elektroingenieur, promovierter Wirtschaftsingenieur und Professor für Finanzwirtschaft. Er leitete bis 2021 als Präsident eine oberste Staatsbehörde.

Am Ende wird alles gut sein. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.

Oscar Wilde

Für Enie, Emilia und Melinda.

Inhaltsverzeichnis

Sieben Brücken

Somewhere Over The Rainbow

Entsetzen

Ausgeliefert

Mörderlohn

Zwiespalte

Spurensuche

Ylenia, Zeynep, Antonia

Nadel im Heuhaufen

Fridays for future

Vermisstendatei

Sündengeld

Zur Alten Schmiede am Eisenweg

Bürger Liefern Uns Energie

Nur über unsere Leichen

Bauchgefühle

Albträume

Unausweichliche Fragen

Hammerschläge

Du gehörst mir

Gegenseitigkeit

Überraschender Besuch

Spurenknäuel

Große und kleine Herausforderungen

Wut

Grober Klotz

Kummer

Zigarettendunst

Fragen und Antworten

Mühlsteine

Flaschenpost

Unverschämter Hausherr

Neugieriger Beobachter

Rätselhafter Besucher

Hörensagen

Teufel vom Leibe halten

Ostergedanken

Gescheiter Esel

Unheilvolle Botschaft

Brainstorming

Zweifel

Verblüffender Auftakt

Wortloser Augenzeuge

Emma Findeisen

Der Doktor

Diagnosen

Organisierte Kriminalität?

Verräterische Indizien

Paukenschläge

Misstrauen

Dunkle Fenster

Späte Anrufer

Bargeld

Neue Anhaltspunkte

Spreu und Weizen

Hastige Flucht

Hubert Artmann

Rote Linien

Giftige Vorwürfe

Heimtückische Täuschung

Rad-Pumpe

Ermittlungshoffnungen

Erwartungsvolle Ausblicke

Grüße von Gerhard

Viele Freunde

Lennard Kohlmann

Ruth Pawlak

Garotte

König der Welt

Viele offene Fragen

Vergangenheit und Zukunft

Blaulicht

Schlimme Wendung

Verspätetes Geständnis

Der neue Chef

Geldscheine

Telefonanruf

Sieben Brücken

„Manchmal scheint die Uhr des Lebens still zu stehn, manchmal scheint man nur im Kreis zu gehen, manchmal ist man wie von Fernweh krank, manchmal sitzt man still auf einer Bank, manchmal greift man nach der ganzen Welt, manchmal meint man, dass der Glücksstern fällt, manchmal nimmt man wo man lieber gibt, manchmal hasst man das, was man doch liebt.

Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehn, sieben Mal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der he-helle Schein!“

Der Lautsprecher in dem alten Mercedes brüllte so laut, dass er scheppernd Worte verschluckte und die Höhen nur noch krächzend wiedergab. Karsten Schuster sang mit seiner tiefen, sonoren Stimme aus voller Kehle diesen über 40 Jahre alten Hit von Karat, einer der erfolgreichsten DDR-Bands, leidenschaftlich mit.

Hatte er wirklich schon sieben Brücken überschritten oder lauerten noch weitere Abgründe, vor denen er in seinem Leben stehen würde und die er heute mit noch keinem Blick schon sehen konnte?

Er nahm seine linke Hand vom Lenkrad und zählte: Mobbing in der Schule, Rausschmiss aus dem Orts-Box-Club, immer wieder Schläge von seinem Vater, Jugendstrafe wegen Körperverletzung nach der Annaberger Kät, Jugendstrafe nach einer Klubveranstaltung, Verhaftung wegen der Körperverletzung eines Polizisten bei einer Corona-Gegendemonstration in Zwönitz und schließlich dringender Tatverdacht, seine ehemalige Freundin Anna ermordet und ihre Kommilitonin Lisa entführt zu haben. Das war das Schlimmste gewesen.

Sein langjähriger Kumpel Sven Roscher hatte einen perfiden Plan ausgeheckt, um ihn als Mörder und Entführer der Polizei auf einem silbernen Tablett zu präsentieren. Fast hätte es funktioniert und er hätte für Jahre oder Jahrzehnte eine Strafe für Taten verbüßen müssen, die er überhaupt nicht begangen hatte. Er war am Ende gewesen. Welchen Sinn sollte es haben, weiter zu leben, hatte er sich wieder und wieder gefragt. Ich gehe nicht in den Knast, das hatte er sich geschworen. Lieber fahre ich mit der Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h, die mein coloradobeiger Benz 240 D W123 noch schaffen sollte, nicht angeschnallt, frontal gegen einen Brückenpfeiler auf der Autobahn. Niemand wird mich lange vermissen, war er sich sicher gewesen.

Karsten Schuster bremste scharf und bog jetzt von der Hauptstraße in einen breiten, frisch geschotterten Waldweg ab. Er musste seine Geschwindigkeit deutlich drosseln. In zwanzig Minuten kann ich bei dem gerade sturmgeschädigten Waldstück angekommen sein, überlegte er. Sein gepolsterter schwarzer Lederfahrersitz seufzte bedeutsam, als der Wagen eine weitere Bodenwelle querte.

Somewhere Over The Rainbow

Alles war völlig anders gekommen, als er es je erwartet haben konnte. Die Polizei fand im allerletzten Augenblick eine Reihe von Spuren und Beweisen, die die Indizien, die wie eine stählerne Fessel ihn umklammerten und ihm den Verstand raubten, nicht nur platzen ließen. Nein, der Kripo war es tatsächlich gelungen, lückenlos die letzten Stunden bis zum furchtbaren Tod von Anna und der danach folgenden Entführung von Lisa nachzuzeichnen. Die miteinander so irrwitzig verknoteten Stränge der Nachweise und der Fährten waren mit einem Mal entwirrt. Der Chemnitzer Kriminalpolizist Andreas Pawlak, der hier im Erzgebirge in dem Nachbarort Wolfsbach wohnte, hatte einen guten Job gemacht.

Er schmunzelte vor sich hin. Wenn einer so eine Geschichte erzählte, würde wohl jeder sagen, das gibt es nur im schlechten Film.

Er hatte gewusst, Gert Pilz, sein Vermieter, vielmehr aber auch sein väterlicher Freund, würde in der bislang schwierigsten Situation seines Lebens zu ihm stehen. Aber dass auch die meisten von der Laube, ihrem gemeinsamen Jugendtreff in Adlerstein, ihm halfen, hatte ihn schlichtweg umgehauen.

Er hatte ruhelos und tief besorgt der schon lange ausstehenden Verhandlung wegen Körperverletzung des Polizisten in Zwönitz vor dem Amtsgericht entgegengeblickt.

Er war nach den Tagen der Aufklärung der furchtbaren Taten von Sven Roscher nicht mehr in die Laube zu seinen Freunden gegangen. Er schämte sich, die Beherrschung verloren und auf den wehrlosen Polizisten bei dieser unsäglichen Demo eingetreten zu haben. Wie sollte er den anderen jetzt wieder offen in die Augen blicken können?

Dann war die Beisetzung von Anna Sieber gewesen. Du musst von Anna Abschied nehmen, hatte Gert Pilz nur zu ihm gesagt, das bist du ihr und dir und der Familie, aber auch eurer Clique schuldig.

Das Begräbnis hatte auf dem kirchlichen Friedhof in Schwarzenfeld stattgefunden. Hunderte waren gekommen. Der sachte Nieselregen wollte seinen eigenen Anteil an der unvergänglichen Traurigkeit beitragen. Karsten hatte sich verstohlen sehr weit hinten eingereiht. Verena und Hans-Gerd Roscher, die Eltern von Sven Roscher, dem Mörder von Anna, standen schräg vor ihm. Verena Roscher weinte, ihr Mann schaute mit leerem Blick zur Kirche.

Tom Uhlig, genannt Kitt, blies auf seiner Trompete „Imagine“ von John Lennon, ein ganz besonderes Lieblingslied von Anna, und danach schloss er behutsam das „Ave-Maria“ von Schubert an.

Karsten sah, alle aus der Laube waren gekommen. Sie standen eng beieinander. Jeder trug eine kleine weiße Lilienblüte, die sie sanft auf den Sarg in das Grab von Anna hinabgleiten lassen würden.

Als Emma Findeisen ihn erblickte, kam sie schnell auf ihn zu. „Du gehörst doch zu uns, komm mit nach vorn und nimm bitte auch eine Lilie“, erklärte sie ihm unnachsichtig. Emma hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Sie war nach Abschluss ihres Studiums jetzt Lehrerin am Gymnasium in Annaberg-Buchholz. Gemeinsam mit einigen Studienfreunden hatte sie sich mit aller Leidenschaft dem Klimaschutz verschrieben und zweifelsohne etliche aus der Clique der Laube angesteckt.

Er folgte ihr zu seinen Freunden und nahm eine der letzten Blüten aus dem Weidenkorb, der vor ihnen stand.

Viele Menschen hatten keinen Platz mehr in der Kirche gefunden. Sie warteten sehr still und unendlich traurig, bis der geschlossene Sarg von sechs Sargträgern zum Grab getragen wurde. Tom Uhlig gab mit seiner Trompete Anna das Lied „Somewhere Over The Rainbow“ von Israel Kamakawiwoʻole mit auf ihren letzten Weg. Die meisten Trauergäste wischten sich mit ihren Taschentüchern in ihren Augen.

Er hatte Angst gehabt, zu Hella und Jochen Sieber, den Eltern von Anna und seinen Fast-Schwiegereltern, hinzugehen und ihnen sein aufrichtiges Beileid zu bekunden. Würden sie ihm überhaupt ihre Hand geben? Was, wenn Jochen Sieber ausrastete?

Du kannst nicht das ganze Leben auf der Flucht sein, auch nicht vor dir selber, hatte damals Gert Pilz zu ihm gesagt, als er blind vor Verzweiflung wegen seiner Gewalttat gegen den Polizisten ziellos geflohen war. Er hatte sich im Wald versteckt. Er hatte brennende Angst vor den Konsequenzen gehabt, die seine Aggressivität dem Polizisten gegenüber zur Folge haben würde. Du musst dich stellen, das waren die nüchternen Worte von Gert Pilz gewesen.

Deshalb stelle ich mich jetzt und trete den Eltern von Anna gegenüber, hier und heute, an ihrem Grab, war er sich mit einem Mal sicher geworden.

Als er sich ihnen näherte, war Hella Sieber einen Schritt auf ihn zugegangen und hatte ihn spontan herzlich umarmt. „Wenn Anna doch nur bei dir geblieben wäre“, hatte sie geflüstert, „danke, dass du gekommen bist!“

Auch der unduldsame Jochen Sieber hatte ihm fest seine Hand gedrückt. „Verzeih mir Karsten, ich war nicht immer fair zu dir“, sagte er mit Tränen in den Augen.

Emma hatte ihn eingeladen, sie wollten noch etwas in der Laube zusammensitzen und an Anna denken. Er sollte doch bitte mitkommen. Ein seltsames Gefühl beschlich sie alle, niemand setzte sich auf den Platz, den Sven Roscher immer eingenommen hatte.

Dann fragte Julian Theobald, Spitzname Theo, der in Leipzig Jura studierte: „Wie weit bis du eigentlich mit deinem Prozess gekommen?“

Karsten hatte nur die Schultern gezuckt: „Es gibt noch keinen Verhandlungstermin. Und ich habe Angst, sogar sehr große Angst davor.“ Er hatte über seine Verzweiflung das erste Mal mit anderen gesprochen.

„Wir haben manchmal über dich geredet“, hatte sich Emma an Karsten gewandt. „Wir wollen dich nicht wieder hängen lassen“, sagte sie mit Blick zu Theo.

„Ich habe eine gute Bekannte in Leipzig, die nach ihrem erfolgreichen zweiten Staatsexamen endlich ihre Zulassungsurkunde von der Rechtsanwaltskammer in der Tasche hat. Vielleicht hilft sie dir im Prozess und übernimmt sogar deine Verteidigung“, hatte Theo Karsten Hoffnung gemacht. „Ich werde sie jedenfalls sehr darum bitten.“

Annika Neugebauer, die Bekannte von Theo, war überhaupt nicht sofort bereit gewesen, seine Verteidigung im Strafprozess wegen der Körperverletzung des Polizisten zu übernehmen. Sie und eine weitere Jura-Absolventin hatten erst kürzlich ihre gemeinsame junge Kanzlei in Leipzig eröffnet. Ihren anwaltlichen Einstieg mit einem vorbestraften Gewalttäter zu beginnen, war so ungefähr das Letzte, was sie sich vorgestellt hatten. Wahrscheinlich hatte sich aber Theo irgendwie in der Pflicht gesehen, sie umzustimmen. Schließlich hatte sie zugesagt, ein unverbindliches Gespräch mit ihm in ihrer Kanzlei zu führen.

Karsten war bei dieser Zusammenkunft völlig gehemmt gewesen und hatte ihr stotternd und unzusammenhängend alles erzählt, was sie wissen wollte.

Am Ende der Unterredung hatte sie nur gesagt: „Ich mache das vielleicht. Ich werde erstmal in die Laube nach Adlerstein kommen und mich mit euerer Clique, aber auch mit jedem Einzelnen, unterhalten. Mal sehen, was die von dir so halten. Und ich verlange von dir, dass du dich bei dem Polizisten Auge in Auge entschuldigst. Da führt kein Weg dran vorbei. Wenn du das nicht machen willst, können wir das Gespräch hier und heute beenden!“

Er hatte sofort zugestimmt, aber nicht gewusst, wie er an den Polizisten herankommen sollte. Nach zwei, drei Anrufen von ihr, der Anwältin, war der verletzte Polizist schließlich bereit gewesen, dass Karsten zu ihm nach Hause kommen durfte.

„Meine Frau war überhaupt nicht begeistert, wenn jemand, der vielleicht über Leichen geht und blind vor Wut zuschlägt oder zutritt, bei uns zu Hause herumkriecht“, begrüßte ihn der junge Polizist wenig freundlich.

Karsten hatten anfangs die richtigen Worte gefehlt, der Polizist hatte einfach von seiner Arbeit, den Ängsten, die viele hatten, von der zunehmenden Verrohung und vor allem von seinen beiden Kindern erzählt. Schnell waren sie beim Du gelandet.

„Ich kann das noch immer nicht so einfach wegstecken, dass du mir mit dem Fuß in den Bauch getreten hast, als ich schon auf dem Boden lag und dir absolut nichts getan hatte. Dass du dich bei mir entschuldigt hast, war das Mindeste, was ich erwarten konnte. Dran geglaubt hatte ich eigentlich nicht mehr. Hoffentlich ziehst du daraus paar Lehren für die Zukunft“, verabschiedete der Polizeibeamte Karsten Schuster nach dem Gespräch an der Haustür. Die Hand gab er ihm nicht.

Die junge Rechtsanwältin Annika Neugebauer hatte eine ziemlich clevere Strategie entwickelt. Sie redete in ihrem Plädoyer über seinen Vater, der ständig gereizt und unzufrieden war, keine Liebe für seinen Sohn aufbrachte. Sie erzählte vom Mobbing in der Schule, von falscher Freundschaft. Viele aus der Clique, die als Zeugen benannt waren, schilderten glaubhafte Gegenbilder zu dem, was eigentlich nach der tristen Aktenlage so offensichtlich schien. Für Lisa Paulig, Tom Uhlig, Julian Theobald, Emma Findeisen und Lea Töpfert war Karsten jemand, der die Freundschaft wert war.

Der Polizeibeamte heizte die Stimmung in keiner Weise an. Und dann war natürlich noch Gert Pilz gewesen. Karsten hatte den Eindruck, selbst für sein eigenes Kind hätte sich der Gert nicht stärker aus dem Fenster gelehnt. Seine eigenen Eltern waren nicht zu der Gerichtsverhandlung erschienen. Löffle die Suppe, die du dir eingebrockt hast, gefälligst selbst aus, hatte ihn sein Vater rüde angeblafft. Seine Mutter hatte dazu wieder einmal geschwiegen.

Das Gericht hatte letztlich eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bestimmt und ihre Vollstreckung zur Bewährung auf ein Jahr ausgesetzt.

„Sieben Mal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein!“, hieß es im Refrain des Songs von Karat.

Der Motor des Mercedes knurrte beim Zurückschalten an der starken Steigung gereizt auf. Karsten hatte sein Ziel erreicht. In wenigen Minuten wird mein Chef hier sein, ich bereite schon mal alles vor und fahre zu den nächsten vom Sturm wie Streichhölzer umgeknickten oder mit gesamter Wurzel herausgerissenen Bäumen, dachte Karsten und schaute nachdenklich auf die noch immer schnell vorüberziehenden Wolken am grauen Himmel.

Entsetzen

Das letzte Stück des Waldwegs bis zu seinem Einsatzort war an mehreren Stellen durch umgestürzte Bäume nahezu unpassierbar geworden. Glücklicherweise handelte es sich nur um kleinere Nadelbäume und drei Birken. Mit professionellem Geschick teilte Karsten Schuster die versperrenden Baumstämme in für ihn allein tragbare Stücke. Er räumte eine Durchfahrt frei und setzte seine Fahrt langsam fort.

Die dunklen Wolken schickten wieder stärker werdenden Regen auf den oberflächlich nassen, aber seit Monaten tief ausgetrockneten Waldboden. Der Wind war heftiger geworden, die kleineren Bäume schienen sich vor den Böen wegducken zu wollen und schwankten unschlüssig hin und her. Sie empfanden die seit Tagen anhaltenden Windstöße wohl immer mehr als lästig und hofften, wie die Menschen auch, auf eine baldige Beruhigung. Dem Sturmwind mit seinen unberechenbaren Schlägen der letzten Wochen hatten sie manchmal kaum noch ausweichen können.

Hoffentlich nimmt der stürmische Wind nicht weiter zu, sorgte sich Karsten Schuster, sonst wird es heute zu gefährlich hier anzupacken. Die Zufahrt hatte viel länger gedauert, als er heute Morgen vermuten konnte. Wahrscheinlich ist mein Chef, der von der anderen Seite des Berges kommen würde, noch nicht vor mir da, überlegte Schuster, sonst meckert er wieder blöd rum.

Wie bei einer Gedankenübertragung meldete sich sein Handy mit seiner Melodie von Deep Purple – Child In Time.

Er schaffe es nicht, zu ihm rauszukommen, teilte ihm sein Chef kurzangebunden mit. Er solle Schneisen schaffen, so dass sie morgen mit dem Harvester losmachen könnten.

Karsten Schuster stellte seinen Mercedes-Benz Oldtimer ca. fünfzehn Meter vor dem Waldstück ab, welches sie zu beräumen hatten, setzte den Schutzhelm auf und nahm seine 7,5 kg schwere Husqvarna-Kettensäge. Etwa ein Dutzend Fichten lag entwurzelt am Boden. Vier Fichten waren an anderen Bäumen im Winkel von vielleicht 70 ° hängengeblieben und standen in dieser gefährlichen Schräglage, jederzeit bereit, ganz umzufallen. Diese Bäume zu fällen war stets mit besonderem Risiko verbunden. Mit routiniertem Blick schätzte Karsten die akute Gefahrenlage ein und wandte sich den bereits liegenden Bäumen zu, die sich außerhalb des möglichen Schadensbereiches durch ein unvermitteltes Abrutschen der noch halbwegs aufrechtstehenden Bäume befanden. Er wollte gerade beginnen, Schritt für Schritt eine Zuwegung freizuschneiden, als ihm ein ungewöhnlicher Gegenstand auffiel.

Ist das ein dunkelblauer Plastiksack oder hat der Wind eine Plane herangewirbelt? Karsten Schuster stutzte, setzte seine Säge ab und lief auf das unerklärliche Bündel zu.

Es verschlug ihm den Atem. Da liegt ein menschlicher Körper, blitzte es in ihm mit kalter Gewissheit auf. Das, was von unten wie eine Wagendecke oder ein Plastiksack ausgesehen hatte, war unzweifelhaft ein Mensch. Halb unter einer durch den Orkan entwurzelten Fichte lag tatsächlich eine regungslose Gestalt. Karsten Schuster ging bis auf zwei, drei Schritte auf die Stelle zu. Es handelte sich um einen Mann mit grauen Haaren. Er sah aber nur den Hinterkopf. Das Gesicht war abgewandt und lag halb unter dem Baumstamm. Er trug eine schwarze Laufhose und eine blaue Laufjacke mit einem breiten schwarzen Streifen am Rücken. An seinem rechten Fuß steckte ein weißer Laufschuh. Der andere Fuß war nur mit einer verdreckten grauen Socke bedeckt.

Karsten Schuster ging hinter den herausgerissenen Wurzelballen auf die andere Seite der Fichte. Er atmete beängstigt aus und ein. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihm, als er das Gesicht oder das, was davon übrig war, erblickte. Er zwang sich, sein Grauen zu überwinden und nochmals hinzuschauen. Das gesamte Gesicht war blutverkrustet. Die Nase fehlte. Die Augenhöhlen waren so entsetzlich leer.

Warum muss mir das passieren, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht denkt die Polizei wieder, ich habe was damit zu tun. Soll ich nicht lieber abhauen? Er bebte heftig und musste sich übergeben.

Ausgeliefert

Die Welt ist überhaupt nicht mehr so, wie ich sie gekannt habe. Drei schwere Stürme oder sogar Orkane innerhalb weniger Tage, daran kann ich mich bis in meine Kindheit zurück nicht erinnern, sinnierte Kriminalhauptkommissar Andreas Pawlak, als er mit festem Griff der rechten Hand seinen dunkelblauen Parka am Hals zuhielt und die wenigen Schritte gegen den starken Wind ankämpfend zum Dienstgebäude der Kriminalpolizei über den Parkplatz lief. Noch immer fegten unangenehme Regenschleier über den asphaltierten Platz. Zahlreiche alte Äste waren von den Bäumen, die das Areal umsäumten, abgerissen worden. Papierfetzen, Kartons, Plastiktüten und Zweige wirbelten unentschieden aufeinander zu.

Pawlak war um Mitternacht von dem immer stärker werdenden Brüllen des Sturmes wach geworden. Sein Hund, der Golden Retriever Bruno, ging leise jaulend ruhelos durch die Wohnung.

Die Schiefer an der Giebelverkleidung seines Hauses in dem kleinen Erzgebirgsort Wolfsbach klapperten in einschüchternder und provozierender Weise unablässig gegen die Holzschalung. Ein wortloses Gefühl der Beklommenheit hatte von dem eigentlich so ausgeglichenen Pawlak Besitz ergriffen. Angespannt und aufgewühlt hatte er immer wieder in den Garten geschaut, alles schien der Kraft des Sturmes bislang getrotzt zu haben. Nur die Tür zum Gartenpavillon hatte sich geöffnet und schlug mitleidslos gegen die Außenwand. So, als würden Riesen sich einen Spaß daraus machen und die Bäume bis zum Äußersten hin und her schütteln, zauste der Sturm unbarmherzig die nahestehenden Fichten und Birken und Buchen. Pawlak zog seinen dicken Anorak drüber und lief hastig in den Garten, um mit einem großen Stein die schlagende Tür zu arretieren. Selbst Hund Bruno zeigte keinerlei Interesse, sich mit ihm in den Garten zu begeben, sondern reckte nur scheu seine feuchte dunkle Nase in die stürmische Nacht. Seine Frau Martina lag noch immer tief schlafend in ihrem Bett, der aufmüpfige Sturm schien nicht einmal den kleinsten Platz in ihren Träumen zu finden.

Andreas Pawlak fühlte die verwirrende Unheimlichkeit dieser Geschehnisse, die die Menschen auf sich zurückwarf und die eigenen Beschwerden und Möglichkeiten überdeutlich relativierte. Wie aus einer Betäubung erwachend, erkannte er in dieser Stunde mit glasklarer Einsicht, dass die menschlichen Geschöpfe noch immer den Naturgewalten schwach und trotz aller ingenieurtechnischer Schutzmaßnahmen oftmals wehrlos ausgesetzt sind. Fast wie zu unvordenklichen Urzeiten.

Die Welt kann nicht mehr länger sagen, dass die globale Erwärmung vielleicht geschehen kann und der Klimawandel möglicherweise Auswirkungen in der Zukunft haben könnte. Die täglichen Fakten bis hinein in unser Erzgebirge zeigen, dass das alles definitiv stattfindet und spürbare Auswirkungen schon heute und in noch viel stärkerem Maße in der Zukunft haben wird. Die Überflutungen, Stürme und Hitzewellen nehmen mächtiger zu, als die Erdbevölkerung wächst. Die Probleme werden nicht kommen, sondern sie sind schon da, fiel es Pawlak so deutlich wie noch nie mit einem Mal wie Schuppen von den Augen, als er ohnmächtig das Wüten des orkanartigen Sturmes mit Blick auf sein Grundstück verfolgte und sich fröstelnd wieder in sein schützendes Wohnhaus zurückgezogen hatte.

„Wir dürfen keine Minute länger warten, wir müssen uns sofort auf den Weg machen!“ Mit diesen Worten platzte Andreas Pawlak, sich die Nässe von seinem langen Anorak schüttelnd, in das wohlig warme Dienstzimmer des Kommissariats 11 “Leben / Gesundheit / Mordkommission“. Als Leiter des Kommissariats teilte sich Pawlak das Dienstzimmer mit seiner Mitarbeiterin, Kriminalkommissarin Magda Hoffstein. Im Hause wurde sie wegen ihrer unbeirrbaren Stringenz und ihrer kühlen Sachlichkeit scharfzüngig von einigen hämisch die „Eiskönigin“ genannt.

Nur die wenigsten wussten, dass sich Magda Hoffstein schon als junges Mädchen frühzeitig einen dicken Panzer um sich herum hatte schaffen müssen und manchmal ganz entgegen ihrem tatsächlichen Naturell schroff und abweisend reagierte. Ihren leiblichen Vater hatte sie kaum gekannt. Er war infolge eines tragischen Unfalls verstorben, als Magda gerade einmal vier Jahre alt war. Ihre Mutter hatte immer wieder neue Männer mit nach Hause gebracht und war jedes Mal aufs Neue fest davon überzeugt gewesen, endlich den Traummann für das Leben gefunden zu haben. Magda war meist auf sich selbst angewiesen gewesen. Sie war klug, strebsam und gewissenhaft, fand bei ihrer Mutter aber kaum Anerkennung. Frühzeitig hatte sie das Elternhaus verlassen. Sie war in den Westen gegangen, hatte zunächst eine Lehre als Rechtsanwaltsgehilfin abgeschlossen und später in einer Anwaltskanzlei in Münster gearbeitet. Dass der Seniorchef nach einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier sexuell übergriffig geworden war und sie sich vergeblich mit Händen und Füßen zur Wehr setzte, hatte sie niemandem erzählt. Sie hatte umgehend die Firma gewechselt. Schließlich hatte sie ein Jurastudium in Leipzig absolviert und war nach dem ersten Staatsexamen, trotz des entschiedenen Protests ihrer Mutter, in den Polizeidienst eingetreten. Eine enge Verbundenheit in all den Jahren bestand lediglich zu ihrem Onkel, dem Bruder ihres leiblichen Vaters. Heute war er sehr krank und lebte in Leipzig. Magda Hoffstein kümmerte sich rührend um ihn. Mindestens einmal in der Woche telefonierte sie mit ihm. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, fuhr sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen, oft aber auch allein, zu ihrem Onkel. Sie liebte seine Geradlinigkeit, seinen unbesiegbaren Humor, seine tiefe Weisheit und sah bangen Herzens, wie sehr sich sein Zustand in den letzten Monaten immer weiter verschlechtert hatte. Ihre gelegentliche eisige Distanziertheit, die sie zu ihrem eigenen Schutz anderen Menschen zeigte, wich bei diesen Begegnungen einer packenden Zugewandtheit. Zu ihrer Mutter fühlte sie sich zunehmend in keiner Weise mehr hingezogen. Sie verabscheute die Feiertage, an denen ihre Mutter sie besuchte und zumeist mehrere Tage blieb. Nichts konnte sie ihr recht machen, der Wein war zu kalt oder zu süß, das Essen zu scharf, ihre Söhne schlecht erzogen. Warum sie überhaupt arbeiten gehe und noch dazu als Polizistin, fragte sie immer wieder boshaft. Jedes Mal schwor sich Magda Hoffstein, dass dies der letzte lästige Besuch ihrer ungerechten Mutter sein sollte. Aber immer wieder gelang es ihrem Mann, sie letztlich dann doch noch umzustimmen.

Kriminalkommissarin Magda Hoffstein erhob sich hastig von ihrem Schreibtischstuhl und schaute ihren Chef fragend an: „Müssen wir sofort zu einem Einsatz? Wo ist denn der Tatort? Um was geht es?“

Pawlak schüttelte unwillig den Kopf: „Glück auf erstmal. … Nein, so meine ich das nicht. Ich rede davon, dass nichts mehr so ist, wie es mal war. Der Klimawandel ist endgültig und tatsächlich bei uns angekommen. Früher hat man nach wochenlangem Regen oder nach einer Bullenhitze immer gesagt, das Wetter bleibt sich nichts schuldig. Das entspannt sich wieder und gleicht sich aus. Aber das scheint überhaupt nicht mehr zu stimmen. Die langjährigen Durchschnittstemperaturen im Sommer weisen nur in eine Richtung. Im Jahr 2019 wurde in Deutschland ein neuer Hitzerekord mit fast 43 ° C gemessen und im August 2021 stieg das Thermometer in Sizilien auf fast 50 ° C. Wir hören immer öfter von Überschwemmungen, Hochwasser, Starkregen, der in drei, vier Stunden so viel Wasser bringt, wie sonst in einem ganzen Monat. Die Probleme werden nicht irgendwann kommen, sondern sie sind schon da. Wir werden so schlimme und unerwartete Ereignisse wie die jetzigen, unmittelbar aufeinander folgenden Orkane nicht vermeiden können. Aber wir müssen uns schnellstens und überall auf den allgegenwärtigen Wandel der Welt vorbereiten. Das muss jetzt geschehen.“

„Da kann ich Ihnen nur aus vollstem Herzen zustimmen“, Magda Hoffstein war zum Fenster gegangen und schaute mit leerem Blick auf den trostlosen Platz vor dem großen Gebäude, „auch wenn der Orkan nicht so stark wie im oberen Erzgebirge war, hatten wir hier in Chemnitz ebenfalls schwerste Verwüstungen. Im Radio wurde immer wieder von historischen Schäden gesprochen. Ich habe mich tüchtig darüber aufgeregt. Wenn von historischen Extremsituationen geredet wird, wird bei manchen vielleicht der Eindruck erweckt, den Sie gerade beschrieben haben: Es wird schon wieder alles gut werden. Es ist nur ein außergewöhnlicher Ausreißer des Wetters. Das ist ein fataler Irrtum, da bin ich mir ebenso sicher wie Sie, Chef. Es ist eine pure Illusion, wir bringen die defekten Dächer in Ordnung, räumen die umgeknickten Bäume weg und dann fahren wir in unserem gleichlaufenden Takt fort.“ Magda Hoffstein hatte sich in die gleiche Rage geredet, die schon Andreas Pawlak umtrieb. „Mein Auto hat übrigens eine herabfallende Alu-Platte von einem Gerüst abbekommen. Das Dach ist völlig verbeult. Hoffentlich zahlt die Versicherung.“

Das Telefon klingelte und unterbrach ihre leidenschaftliche Debatte: „Hoffstein, … Wo? … Wann? … Ist alles gesichert? … Ist schon der Rechtsmediziner informiert? … Wir kümmern uns darum. … Wir sind in ungefähr einer halben Stunde da. … Bitte sehen Sie zu, dass nichts verändert wird. … Die Tatortgruppe haben Sie schon informiert? … Gut bis dann.“

„Wenn Sie das gewusst hätten, hätten Sie gleich zu Hause bleiben können“, wandte sich Magda Hoffstein angespannt an ihren Chef, „die uniformierten Kollegen vom Polizeivollzugsdienst sind über die Leitstelle heute Morgen gegen 7:30 Uhr von einem Waldarbeiter informiert worden, dass er eine leblose Person unter einer umgestürzten Fichte in einem Waldstück oberhalb von Höhenwalde ungefähr bei der sogenannten Bleichen Höhe aufgefunden hat. Die Tatortgruppe ist bereits unterwegs. Man ging wohl zunächst von einem Unfall aus. Ob es sich aber um einen Unfall, um Suizid oder um Körperverletzung mit Todesfolge handelt, ist den Kollegen jetzt mehr und mehr unklar. Wir müssen noch die Rechtsmedizin informieren.“

Pawlak nickte Magda Hoffstein zustimmend zu, die das als Zeichen deutete, sogleich die Rechtsmedizin anzurufen.

Der Kriminalhauptkommissar hatte seinen dunkelblauen Parka bereits wieder übergezogen und wartete auf seine Kollegin Hoffstein, die gerade ihr Telefongespräch beendet hatte.

„Der Gerichtsmediziner Dr. Erik Schönfeld fährt selber sofort los“, informierte sie ihren Chef und schlüpfte in ihren dicken grünen Anorak.

Mörderlohn

Es sind schon fast zwei Wochen vergangen. Offensichtlich ist das Verschwinden von Holznagel noch gar nicht aufgefallen. Gut so, überlegte der Mörder. Ich hatte ja auch einen wasserdichten Plan gemacht und diesen genauestens eingehalten. Die Polizei dürfte für sehr lange Zeit, hoffentlich für immer, im Dunkeln herumstochern. Er feixte in sich hinein.

Nun muss ich mir aber noch ein größeres Stück von dem Kuchen nehmen. Bei mir lag das restlose Risiko. Wenn es schief gegangen wäre, hätte ich ganz allein ziemlich in der Scheiße gesessen, war er sich sicher. Und es kann immer noch alles auffliegen. Aber so billig mache ich es euch nicht. Zwanzigtausend Euro waren ein guter Anfang, aber bedauerlicherweise für euch nur ein Anfang. Da ist viel mehr zu holen, deshalb muss eindeutig noch was rüberwachsen. Ich habe nur eurer „Bitte“ entsprochen. Sogar die Garotte habe ich eingesetzt. Wie nennt man das? Auftragsmord. Ich warte jedoch noch ein paar Tage, dann wird noch mal kassiert, sonst fliegt ihr auf, schwor er sich.

Mein Plan war brillant, schlichtweg perfekt, blickte er überheblich zurück. Von euch wollte ich nur wissen, wann und wo ich ihm ungestört auflauern kann. Wie ich vorgehe, habe ich euch nicht erzählt. Wer zu viel weiß, stirbt früher. Er kicherte.

Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach geht. Vielleicht kam noch etwas Glück hinzu. Kein Mensch war an dem kühlen, windigen Morgen zu sehen gewesen. Dass dann wenige Stunden später das Unwetter mit orkanartigen Stürmen und heftigem Regen das Erzgebirge überzogen hatte, war das Sahnehäubchen. Aber da war er längst über alle Berge gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes. Niemand hatte sich in den letzten zwei Wochen ohne Gefahr für Leben und Gesundheit in das Waldgebiet hineinbegeben können. Das brachte wertvolle Zeit. Spuren dürften nach dieser langen Dauer nicht mehr zu finden sein, wenn er denn überhaupt welche hinterlassen hatte.

Er hatte sich kolossal abrackern müssen. Allein war der alte Sack kaum zu bewältigen gewesen. Aber er hatte keinen Mitwisser gebraucht. Das letzte Stück hatte er ihn einfach unter die Arme gefasst und über den Waldboden geschleift. Die Leiche unter den Baumstamm zu schieben hatte ihn fast an das Ende seiner Kräfte gebracht. Der blöde Baum war keinen Millimeter zu bewegen gewesen. Deshalb hatte er den leblosen Körper von der anderen Seite des Stammes brutal darunter gezerrt. Zuvor hatte er noch eine wichtige „Operation“ an dem leblosen Mann vorgenommen – der war nun eindeutig als Verräter zu identifizieren.

Das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen, hatte er sein teuflisches Werk zufrieden betrachtet. Dann war er den ruppigen Waldweg in aller Ruhe zurückgefahren. Sein Auto hatte er unbeobachtet auf dem Wanderparkplatz abgestellt gehabt und blieb nach der Rückkehr erschöpft im Pkw von Holznagel sitzen. Dieses Auto musste weg. Er hatte es wohlüberlegt an einen Ort gebracht, der der Polizei weitere unlösbare Fragen aufgeben sollte.

Zwiespalte

Kriminalhauptkommissar Pawlak und Kriminalkommissarin Hoffstein saßen auf ihrer Fahrt zu dem mutmaßlichen Tatort gedankenversunken nebeneinander im Dienst-Pkw. Ihre emotionale Diskussion über die Bedrohung der Zukunft der Menschheit durch den Klimawandel mit Treibhauseffekt und Erderwärmung, Schmelzen der Polkappen und zunehmenden Stürmen hatten sie noch nicht wieder aufgenommen.

Andreas Pawlak bereitete sich gedanklich auf den vor ihnen liegenden neuen Fall vor. Das Schlimmste für ihn war stets, wenn besonders schwere Straftaten, vor allem Tötungsdelikte, scheinbar gar nicht aufgeklärt werden konnten und die Spuren versiegten. Man weiß, der Täter ist unentdeckt, fühlt sich sicher und vielleicht motiviert, eine weitere Straftat zu begehen. Für die Betroffenen ist das die furchtbarste Hölle, war sich Pawlak sicher.

Wie wird das heute sein? Werden wir, auch dank der Arbeit der Kriminaltechnik und der Rechtsmedizin, die erforderlichen Ausgangsinformationen zeitnah und wirklichkeitsgetreu erhalten? Am Ende bleibt es in der Wahrnehmung der Leidtragenden und der Öffentlichkeit immer an uns hängen, wenn wir die Täterin oder den Täter nicht überführen können. Noch viel entmutigender war es nach seiner Beurteilung, wenn die Indizien eindeutig auf Schuld hindeuteten, der letzte stichhaltige Beweis aber nicht beizubringen war. Er konnte eine Reihe dieser ungelösten Fälle aus dem Effeff benennen. Anders als in den Fernsehkrimis fehlten jetzt zumeist Personal, Zeit und Ressourcen, um sogenannte Cold-Case-Fälle auch nach langer Zeit wieder neu aufrollen zu können, musste sich Pawlak ernüchtert selbst eingestehen.

Natürlich hatten sich die Möglichkeiten, alte Spuren mit neuen Methoden nochmal anschauen zu können, kolossal verbessert.

Mit Sicherheit überschaue ich das alles nicht bis zum letzten Fakt, aber wer kann im laufenden Geschäft auf alte Asservate zugreifen und sie auf neue Spuren prüfen? Da fehlt einfach die notwendige Bewegungsfreiheit bei der Ermittlungsarbeit. Andreas Pawlak schüttelte schweigend seinen Kopf.

Bin ich eigentlich noch auf der Höhe der Zeit, fragte sich der Endfünfziger selbstkritisch. Zu Beginn meiner Tätigkeit haben die Möglichkeiten der DNA-Analyse unsere Arbeit in der Kriminalistik revolutioniert. Heute haben wir genau wieder so einen unermesslichen Umbruch. Alles wird digitalisiert. Es gibt fast immer digitale Spuren, die jeder Täter permanent hinterlässt. Daraus können wir oftmals die richtigen Rückschlüsse auf die jeweilige menschliche Handlungsweise ziehen. Unsere Kriminaltechniker können Fahrtstrecken rekonstruieren, sie wissen, welche Geschwindigkeiten gefahren wurden und erstellen daraus Bewegungsbilder. Das hilft mir dann als Kriminalisten massiv, Zusammenhänge zu finden, Übereinstimmungen zu identifizieren und letztlich das Verbrechen aufzuklären.

Die Zusammenarbeit mit den vielen Spezialisten ganz unterschiedlicher Fachbereiche wird immer bedeutungsvoller. Manchmal stehe ich aber wie die Kuh vor dem neuen Tor, etwa, wenn es um die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz geht. Das kriege ich in meinem Kopf noch nicht zusammen. Was habe ich über diesen neuartigen Textgenerator ChatGPT alles gehört und gelesen? Die Künstliche Intelligenz kann Interviews geben, selbstständig ihre Funktionsweise erklären, sogar Gedichte über beliebige Themen erzeugen, Fantasierezepte erfinden. Ein studentischer Essay könne grundsätzlich nicht mehr von maschinell erstellten Texten unterschieden werden, hatte es geheißen. Wird es damit noch viel mehr Fake-News geben, als das schon bisher der Fall ist, können möglichenfalls findige Anwälte logisch scheinende Aussagen kombinieren? Und wird das alles Arbeitsplätze vernichten? Was bedeutet das für die Polizeiarbeit, für Vernehmungen und Protokollierungen? Dass Tatorte virtuell dreidimensional nachgebaut werden und wir uns in ihnen bewegen können, ist andererseits eine feine Sache. Hoffentlich verliere ich nicht den Anschluss in dieser digitalen Welt, die so komplex ist, dass man mit ihrer Entwicklung wohl nie immer Schritt halten kann. Pawlak stöhnte leise auf.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, wandte sich seine Kollegin Hoffstein besorgt an ihn. „Sie sind seit unserer Abfahrt so schweigsam und sehen ziemlich bedrückt aus.“

„Bei mir ist fast alles in bester Ordnung“, erwiderte lächelnd Andreas Pawlak, „ich habe nur an unseren nächsten Fall gedacht: Welcher Druck auf uns zukommen wird, dass der Tathergang schnellstens aufgeklärt wird und eine mögliche Täterin oder ein Täter überführt werden. … “

„Noch wissen wir ja gar nichts“, wiegelte Magda Hoffstein ab, „wie die Kollegen mitteilten, ist es unklar, ob es sich um einen Unfall, um Suizid oder um ein Kapitalverbrechen handelt.“

„Gehen wir mal vom Schlimmsten aus“, murmelte Pawlak. „So, wir müssten in ein paar Minuten da sein.“

„Das sieht ja wirklich bedrohend aus, wenn man sich rechts und links umschaut!“, rief Magda Hoffstein erschrocken aus. „Es wird wohl Jahre dauern, bis sich der Wald einigermaßen erholt hat.“

Pawlak bremste und bog in einen steilen Waldweg ein, der in Richtung Bleicher Höhe führte. Langsam kroch der Pkw über die holprige und vom Regen ausgewaschene Straße. „Dieses Gebiet wird wahrscheinlich nie wieder so aussehen, wie es mal war“, nahm Pawlak den Ausruf von Magda Hoffstein auf, „es sollen ungefähr fünf Prozent des Waldes zum Naturwald entwickelt werden. Eine Nutzung durch den Menschen soll nicht mehr stattfinden. Die meisten Erzgebirger verstehen das gar nicht. Waldnutzung gehört seit Jahrhunderten zu unserer Tradition. Das sieht zwar für den Moment seltsam aus, aber Naturwälder leisten einen unschätzbaren Beitrag für biologische Vielfalt und Klimaschutz, sagen jedenfalls die Experten. Die Bäume können ungestört alt werden. Sie bleiben auch im abgestorbenen Zustand im Wald liegen. Damit entstehen neue Lebensräume mit Nistmöglichkeiten für vom Aussterben bedrohte Vögel. Allerdings stellen die vertrockneten Äste und Stämme eine nicht zu unterschätzende Gefahr bei großer Trockenheit dar. Sie brennen nämlich wie Zunder. Diese naturnahen Wälder sind andererseits viel anpassungsfähiger als die Fichtenmonokulturen. Ideal ist es, wenn viele alte und dicke Laubbäume vorhanden sind. Mit ihrem dichten Blätterdach und der großen Menge an lebendem und abgestorbenem Holz schafft sich dieser Urwald ein eigenes Klima und schützt vor extremer Hitze und auch vor Dürreperioden.“

Magda Hoffstein hatte interessiert zugehört. Sie war wieder einmal beeindruckt von den vielfältigen Interessensgebieten, in die ihr Chef mit enormem Fachwissen eindrang. Vieles hatte sich seit den vergangenen dreißig Jahren vollkommen verändert. Werden wir damit Schritt halten können und was bedeutet das alles für unsere Kinder und Enkel, waren ähnliche Bedenken, die schon Pawlak bewegt hatten.

„Da vorn scheint der Tatort zu sein!“, Kriminalkommissarin Magda Hoffstein zeigte auf die abgestellten Polizeifahrzeuge und die in weißen Schutzanzügen wie Außerirdische agierenden Beamtinnen und Beamten. „Unsere Kollegen von der Kriminaltechnik dürften schon mittendrin bei der Spurensicherung sein.“

Spurensuche

Der Chef der Kriminaltechnik, Manfred Schneider, kam sogleich auf Pawlak und Hoffstein zugestürmt, als er sie erblickt hatte. Sein langer und dichter Vollbart war vom weißen Schutzanzug genauso versteckt, wie sein straff nach hinten, gebundener Pferdeschwanz.

„Frau Hoffstein, Andreas, ich grüße euch beide. Es sieht grässlich aus“, begrüßte er die Kommissare mit seinem tiefen, vollen Bass, „wir haben soweit alles im Kasten. Die Spurenlage ist, wie zu erwarten war, saumäßig. Der Regen der vergangenen beiden Wochen hat alles durchgeweicht. Durch den Sturm sind Äste abgeknallt und durch die Luft gesegelt, an paar Stellen versperren frisch umgefallene Bäume den Zutritt. Und der Tote liegt bereits seit einigen Tagen hier. Das wird euch alles die Rechtsmedizin haarklein darlegen. Es gibt ein paar Fußabdrücke, die aber von sonst woher stammen können. Die Lichtung ist außerdem übersät mit Spuren von Wildtieren.“ Er seufzte: „Wir werden den Leichnam noch auf DNA-Spuren absuchen, schätze, wird kaum was dabei rauskommen.“ Schneider blickte in Richtung des Toten. „Die Person ist stark verunstaltet. Ich gehe von Wildverbiss aus. Die Nase ist weggefressen, auch die Augen wurden mutmaßlich von großen Rabenvögeln herausgehackt. Kein schöner Anblick. … Er trägt keine Papiere, Schlüssel oder dergleichen bei sich. Ja, es handelt sich eindeutig um einen Mann. … Wir machen jetzt auf jeden Fall ein 3-D-Modell mit unserer Fotogrammetrie und kartieren und vermessen den Tatort. Dazu nehmen wir ein paar Bodenproben vom unmittelbaren Umfeld des Fundorts des Leichnams. Einstweilen müsst ihr euch noch gedulden. Bleibt solange außerhalb unserer Absperrung.“

„Gab es sonst Auffälligkeiten?“, erkundigte sich Pawlak gewohnheitsmäßig.

„Auffälligkeiten?“, wiederholte der Kriminaltechniker mechanisch. „Abgesehen von der sehr schlechten Spurenlage und dem abscheulichen Zustand des Leichnams eigentlich nichts, halt, da ist doch noch was. Er trägt nur an seinem rechten Fuß einen weißen Sneaker. Den linken Schuh haben wir in einer Entfernung von ungefähr acht Metern gefunden. Könnte auch von Viechern dorthin geschleppt worden sein. Nach weiteren zehn Metern ist das abgestorbene Gras tiefer in den Boden eingedrückt. Dort könnte ein Wagen gestanden haben. Tiefe Radspuren, muss ein schweres Fahrzeug, vielleicht ein SUV oder sowas in der Art, gewesen sein. Profile usw. aber – Fehlanzeige. Wir könnten lediglich grobe Vergleichsanalysen anstellen, wenn wir den Wagen hätten. Aber das ist reiner Kaffeesatz!“

„Damit müssen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit von Fremdverschulden ausgehen?“, schlussfolgerte Kriminalkommissarin Hoffstein.

„Es hätte ein Unfall sein können, wenn der Mann als Jogger hier entlanggelaufen und plötzlich von einer umfallenden Fichte erschlagen worden wäre. Das ist meines Erachtens auch wegen des zweiten Schuhs eher auszuschließen. Suizid kommt gar nicht in Betracht. Kein Mensch wartet bei Orkan unter einem Baum, der umfallen und ihn erschlagen könnte. Nein, ich sehe mit absoluter Sicherheit Fremdverschulden.“ Manfred Schneider dachte kurz nach: „Unsere Erkenntnisse werden leider wohl nur sehr wenig zur Lösung beitragen können. Momentan fehlt seine Identität, wir können nichts zum möglichen Pkw beisteuern, der ihn höchstwahrscheinlich hierhergebracht hat. Wir werden zwar seine Klamotten akribisch analysieren. Ich habe schon mit Schönfeld gesprochen, er wird den Trainingsanzug, die Socken und die Unterwäsche vor der Obduktion zu uns rüberschicken. Ob sich daraus Anhaltspunkte ergeben, bleibt abzuwarten. Wir haben die Fingerabdrücke abgenommen und lassen sie durch unsere Datei laufen, hoffentlich gibt es einen Treffer. Bleibt dann nur noch der genetische Fingerabdruck. Vielleicht ist seine DNA in der Datei gespeichert. Dann hätten wir wenigstens seine Identität. Bis wir das sicher bestätigen können, dauert es aber noch etwas.“

„Wann ungefähr können wir mit eurem Bericht rechnen?“, wollte Kriminalhauptkommissar Pawlak jetzt noch wissen.

„Morgen nach dem Mittag, spätestens Übermorgen liegt unser Bericht auf eurem Tisch“, sicherte Schneider zu und näherte sich geschwind wieder seinem Team.

„Ah, das scheint der Forstarbeiter zu sein, der den grausigen Fund gemacht hat“, hatte Magda Hoffstein beobachtet.

Pawlak und Hoffstein gingen zu dem jungen Mann, der unschlüssig am Rande des Geschehens wartete und die Arbeit der Kriminaltechniker wachsam verfolgte.

„Karsten Schuster, du bist das! Du hast den Toten hier gefunden?“, rief Pawlak überrascht aus, als er den Forstarbeiter in seinem Arbeitsanzug und mit einem Schutzhelm bedeckt beim Näherkommen erkannt hatte. „Da wird dir der Schreck ganz schön in die Glieder gefahren sein. Glück auf erstmal.“

„Glück auf“, Schuster zitterte, ob vor Kälte oder vor Aufregung war nicht genau auszumachen, „ich muss hier nach den Stürmen den Weg freischneiden. Wir werden in den nächsten Tagen mit dem Harvester die umgefallenen Bäume auf Länge schneiden und abtransportieren. Eigentlich wäre mein Chef auch mit hier. Er konnte heute aber nicht weg und deshalb sollte ich allein anfangen.“

„Sie haben nichts berührt oder verändert?“, wollte Magda Hoffstein mit schneidender Stimme wissen. „Sie haben auch sofort die Polizei verständigt? Kennen Sie den Toten?“

Andreas Pawlak richtete einen missmutigen Blick auf seine Kollegin und schüttelte leicht seinen Kopf: „Was meine Kollegin meint, wir sind dir dankbar, dass du so schnell reagiert hast. Vielleicht kannst du nochmal ganz kurz schildern, wie du den Toten gefunden hast, auch wenn du das den uniformierten Kollegen schon dargelegt hast.“

„Ich bin ziemlich schlecht bis hierher durchgekommen“, hob Schuster mit leiser Stimme an, „ich musste immer wieder kleinere Bäume zurechtschneiden, um den Weg einigermaßen frei zu bekommen. Ich war dann so halb acht hier. Da fiel mir etwas Ungewöhnliches auf. Ich dachte, es sei eine Plane oder ein Plastiksack. Erst als ich fast an dem Baum heran war, habe ich bemerkt, da liegt ein Mensch. Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Am Hinterkopf war Blut. Ich bin um den Baum herumgegangen, da ist mir speiübel geworden. Das Gesicht war völlig entstellt, blutverschmiert. Ich konnte kaum hinschauen. Es fehlte die Nase, auch die Augen waren herausgehackt. Dann musste ich kotzen, … Entschuldigung, mich übergeben. Habe dann sofort die 110 gewählt und gewartet, bis die Polizei eintraf. … Ich habe mich der Leiche nicht wieder genähert und habe auch nichts verändert. … Ich weiß auch nicht, um wen es sich handelt.“

„Die Kollegen haben das sicher alles schon protokolliert“, stellte Pawlak sachlich fest. „Aus unserer Sicht gibt es keine weiteren Fragen, das heißt, du kannst dann zu deinem nächsten Einsatzort oder wieder zurückfahren“, der Kriminalhauptkommissar unterbrach sich, „oder gibt es von Ihnen noch Fragen, Frau Hoffstein?“

Diese schüttelte kurz den Kopf und Schuster nahm sein Werkzeug und lief zurück zu seinem Pkw.

„Tut mir leid, wenn ich nicht den richtigen Ton getroffen habe“, räumte Magda Hoffstein zerknirscht ein, „tut mir wirklich leid. Ich war nicht professionell.“

Andreas Pawlak schwieg. Es hatte ihn geärgert, wie seine Kollegin den unbeteiligten Schuster, der zufällig die Leiche gefunden und alles richtig gemacht hatte, attackierte. Er hätte, weiß Gott, mehr Freundlichkeit verdient gehabt.

Die Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit beendet und packten ihre Gerätschaften in den unmittelbar neben dem Tatort abgestellten VW-Bus.

Der Rechtsmediziner Dr. Erik Schönfeld war bereits vor einiger Zeit eingetroffen und hatte vor wenigen Minuten, als sie sich mit Karsten Schuster unterhielten, eine äußere Leichenschau vorgenommen. Jetzt kniete er neben der leblosen Person.

Pawlak und Hoffstein schritten unverzüglich auf ihn zu.

„Morgen“, begrüßte sie der Arzt kurzangebunden, „Sieht schon von außen nicht besonders gut aus, das Gesicht vor allem. Aber es kommt noch scheußlicher. … Man hat ihm die Zunge herausgeschnitten.“

„Die Zunge wurde ihm herausgeschnitten? … Das hatten wir schon lange nicht mehr“, stutzte Pawlak, „kannst du schon was sagen, wie er zu Tode kam und wann seine Zunge entfernt wurde?“

„Ich brauche ausreichend Zeit für die Obduktion. Er hat am Hinterkopf eine Verletzung, die von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand oder einem Sturz herrühren dürfte. Und er hat eine schwere Schnittverletzung quer am Hals. Sieht aus, als hätte ihn jemand mit einer Stahlschlinge erdrosselt. Ob das ursächlich für seinen Tod war, muss ich noch verifizieren. … Die Zunge dürfte wohl postmortal herausgeschnitten worden sein. … Ihr könnt euch schon mal um die unvermeidliche staatsanwaltschaftliche Anordnung zur gerichtsmedizinischen Obduktion kümmern. … Der Tote liegt seit ungefähr mindestens zehn bis zwölf Tagen, möglicherweise auch schon länger hier, das wolltest du doch auf jeden Fall noch wissen, Andreas. Nach meiner ersten kursorischen äußeren Leichenschau gehe ich davon aus, dass das Opfer zwischen 45 und 60 Jahre alt sein könnte. Alles Weitere nach der Obduktion. Erforderlichenfalls melde ich mich bei euch nochmal, wenn es Neuigkeiten geben sollte. Die Kleidung des Toten lasse ich zur Kriminaltechnik bringen, wenn ich zurück bin.“ Ohne jegliches weitere Wort wandte er sich verdrießlich ab und schritt schnellen Schritts davon.

Nachdenklich und kopfschüttelnd schaute Andreas Pawlak seinem Freund Erik Schönfeld hinterher. „Die Zunge abzuschneiden gilt zumeist als Rache für Verrat oder Beleidigung“, grübelte Kriminalhauptkommissar Pawlak laut. „Haben wir es mit einer Straftat aus dem organisierten Verbrechen zu tun oder soll uns die Tat auf eine falsche Fährte locken? Auch das Erdrosseln mit einer sogenannten Garotte spricht eine seltsame Sprache.“

Ylenia, Zeynep, Antonia

Andreas Pawlak und Magda Hoffstein saßen innerlich aufgewühlt in ihrem Wagen und fuhren in abweisendem Schweigen zurück in das Kommissariat. Schlimmer hätte es kaum kommen können, überlegte Pawlak, keine oder kaum Spuren, das Opfer vorerst nicht zu identifizieren. Vielleicht eine Mordtat im Umfeld der Organisierten Kriminalität, hier bei uns im Erzgebirge? Pawlak konzentrierte sich auf den abschüssigen Weg. Wir brauchen zunächst die Ergebnisse der Spurensicherung und der Rechtsmedizin.

Der wolkenverhangene Himmel war aufgerissen. Der Wind blies noch immer mit großer Heftigkeit, aber bei weitem nicht in der Stärke der letzten Tage.

„Wenn Sie jetzt in die nord-östliche Richtung schauen, haben Sie einen phantastischen Blick auf die Krone des Erzgebirges, das Schloss Augustusburg.“

„Herrlich, dieser freie Ausblick“, entfuhr es Magda Hoffstein, „so einen schönen Blick auf das Schloss Augustusburg hat man sonst wahrscheinlich nirgends.“

Andreas Pawlak legte seine Stirn in Falten: „Bis vor zehn, fünfzehn Jahren war hier alles von einem dichten Fichtenwald bedeckt. Dann gab es fast jedes Jahr schwere Stürme und Orkane. Am schlimmsten hauste Orkan Kyrill im Januar 2007. In Deutschland wurden 75 Millionen Bäume ausgerissen. Manche haben das schon wieder vergessen. Später folgten im Jahr 2008 Sturm Emma, 2012 Sturm Andrea und so weiter und so weiter bis zuletzt 2022 die Orkane Ylenia und Zeynep sowie Antonia. Diese heftigen Stürme haben massenhaft von unserer traditionellen Landschaft einfach weggeschluckt. Die Bäume stehen wegen der geringen Niederschlagsmengen der letzten Jahre unter massivem Trockenstress. Sie wurden vom Sturm abgeknickt oder mit gesamter Wurzel herausgerissen wie Fliegengewichte. Heute haben wir eine total veränderte Landschaft“, Pawlak seufzte, „das wird mit aller Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren nicht viel besser werden.“

Er blickte bekümmert über den geplagten Höhenzug des Erzgebirges. „Wenn ich die Augustusburg sehe, habe ich nicht nur zwei, sondern sogar immer drei Seelen in meiner Brust“, nahm Andreas Pawlak seinen Exkurs zum Ausblick auf das monströse Schloss wieder auf. „Einerseits ist das Jagd- und Lustschloss Augustusburg nach meiner Überzeugung eines der schönsten Renaissance-Schlösser in Sachsen, wenn nicht sogar das schönste überhaupt. Es schaut seit seiner Fertigstellung im Jahr 1572 seit nunmehr über 450 Jahren majestätisch weit in das Land hinaus. Der Bau des Schlosses ist eng mit dem Leipziger Bürgermeister Hieronymus Lotter verknüpft. Lotter war bekanntlich Ratsherr, Baumeister und Kaufmann. Er wurde vom Kurfürsten von Sachsen, August dem Ersten, zum Oberlandbaumeister ernannt und mit dem Bau des Schlosses Augustusburg beauftragt. Bald verlor er die Gunst des Kurfürsten. … Als Kaufmann hatte er ein Zinnbergwerk in Geyer im Erzgebirge erworben. Die Spekulation scheiterte und verschlang viel Geld. Darüber hinaus musste Lotter große Teile seines Vermögens selbst in den Bau des Schlosses hineinstecken. … In Ungnade gefallen, verstarb er ganz in der Nähe von hier, nämlich genau dort in der erzgebirgischen Bingestadt Geyer.“ Andreas Pawlak wischte sich mit seiner Hand nervös über das Gesicht.

„Sie sollten die Augustusburg unbedingt besuchen“, setzte er seinen Exkurs fort, „das Schloss ist zu jeder Jahreszeit eine Stippvisite wert. Interessant, auch für Ihre beiden Söhne und Ihren Mann, sind sicherlich das Motorradmuseum, ein Kutschenmuseum und ein Museum für Jagtier- und Vogelkunde. Man kann sogar auf der Augustusburg in einer Jugendherberge preiswert übernachten. … Das Schloss Augustusburg ist aber andererseits ein lebendiges Beispiel dafür, mit welcher Brutalität und Unmenschlichkeit Bauwerke in dieser Zeit errichtet wurden“, kam Pawlak auf eine zweite bemerkenswerte Erklärung zu sprechen. „Ein besonderes Problem war der Bau eines Brunnens, den man heute übrigens noch besichtigen kann. Wasser war für die Hofhaltung auf dem Schloss außerordentlich wichtig. Deshalb wurde neun Jahre lang ein Brunnen in die Erde geschlagen. Nach reichlich 130 Metern Tiefe konnte erst Wasser gefunden werden. Anfangs wurden Bergleute mit der Arbeit betraut, später wurden gefangene Wilderer in den Brunnen geschickt, die jahrelang unter Tage unter unmenschlichsten Bedingungen schuften und später größtenteils sogar unten schlafen mussten. Manche haben das Tageslicht überhaupt nie mehr wiedergesehen.“ Pawlak verstummte kurz in Gedanken versunken.

„Und was ist das Dritte, was Sie mit der Augustusburg verbinden?“, wollte nun Magda Hoffstein, neugierig geworden, wissen.

Pawlak schmunzelte: „Schon seit 1971 findet immer am zweiten Wochenende im Januar ein Wintertreffen für Biker statt. Hunderte Motorräder, vor allem Oldtimer, werden im Schlosshof geparkt und von tausenden Zuschauern interessiert bestaunt. Ganz hartgesottene Motorradfans zelten auf dem Schlossgelände, wenn es sein muss, bei deutlichen Minusgraden und Schneestürmen. Abends sitzen die Damen und Herren am Lagerfeuer und erzählen einander die tollsten Stories. Ich versuche, jedes Jahr dabei zu sein. Natürlich nicht bei den Campern, sondern nur als jemand der mit seinem Motorrad dahinfährt und es den bewundernden Massen präsentiert. Meine beiden alten Damen, meine Simson AWOs, Baujahr 1955 und 1961, freuen sich immer sehr auf diese Ausfahrt. Erik Schönfeld ist übrigens auch meistens mit von der Partie. Leider hat die Corona-Pandemie in den letzten Jahren einen Strich durch die Rechnung gemacht. In diesem Jahr wurde das 50-jährige Fest dieses Biker-Treffens nachträglich gefeiert, zum Glück gab es keine Einschränkungen wegen Corona mehr. Das Wetter war außerdem für Anfang Januar ungewöhnlich frühlingshaft schön.“

Magda Hoffstein konnte sich überhaupt nicht in die Euphorie von Motorradfahrern hineinversetzen, die hunderte Kilometer bei Eis und Schnee aufbrechen, sich an einem zugigen Ort treffen und schließlich sogar mitten im Winter in unbeheizten Zelten übernachten.

Nadel im Heuhaufen

Im Kommissariat herrschte ungewöhnliche Ruhe. Der Chef des Dezernates, Kriminaloberrat Detlev Obermüller, befand sich auf einer Tagung in Köln zu neuen Herausforderungen an die Polizeiarbeit durch Organisierte Kriminalität, Online-Betrug und neue Formen der Internet-Kriminalität. Kann uns vielleicht gerade im aktuellen Fall wichtige Impulse geben, wenn er über neue Aspekte der OK, der sogenannten Organisierten Kriminalität, auf dem Laufenden gehalten wird, spekulierte Pawlak in seinen Gedanken. Allerdings würde der Fall dann wohl an das LKA, das Landeskriminalamt, abgegeben werden müssen.

Kriminalhauptkommissar Andreas Pawlak trug für die fünf Tage der Abwesenheit des Dezernatsleiters die Verantwortung für die Führung des Dezernates 1 „Höchstpersönliche Rechtsgüter“ mit seinem eigenen Kommissariat 11 “Leben / Gesundheit / Mordkommission“, dazu kamen das Kommissariat 12 „Gemeingefährliche Straftaten“ sowie das Kommissariat 13 „Sexualdelikte“. Die Kommissariate 12 und 13 waren erst vor wenigen Monaten durch Teilung des ehemaligen Kommissariats 12 entstanden. Die Chefin des Kommissariats 12, Kriminalhauptkommissarin Christine Habermalz, war eine engagierte und umsichtige Kollegin, die eigenständig die Ermittlungen in ihrem Bereich vorantrieb und allenfalls seine Unterstützung bei der Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft oder der Vorbereitung einer Pressekonferenz benötigte. Das gleiche galt für Kriminalhauptkommissar Max Ewald, der das neue Kommissariat 13 leitete und erst vor wenigen Monaten nach Chemnitz überhaupt versetzt worden war. Pawlak hatte morgens dem großen Chef, dem Polizeipräsidenten Ingolf Nestler, eine kurze Zusammenfassung zur Lage zu schicken und für Rückfragen jederzeit verfügbar zu sein.

Obermüller war dank der erfolgreichen Arbeit „seines“ Dezernates im letzten Jahr wieder ein Stück auf der Karriereleiter nach oben gestiegen und vom Kriminalrat zum Kriminaloberrat befördert worden, den nächsten Sprung zum Kriminaldirektor fest im Blick. Unverkennbar hatte das Kommissariat 11, im allgemeinen Sprachgebrauch die Mordkommission, samt und sonders zur positiven Bilanz beigetragen. Pawlak und Hoffstein hatten ihrem Chef von ganzem Herzen gratuliert und sich mit ihm über die Anerkennung gefreut.