Erzgebirgshass - Karl-Heinz Binus - E-Book

Erzgebirgshass E-Book

Karl-Heinz Binus

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Beschreibung

Der Mord an einer Studentin, die gemeinsam mit ihrer Kommilitonin in der Geschichte von Treuhandprivatisierungen recherchiert, ruft die Kriminalkommissare Andreas Pawlak und Magda Hoffstein auf den Plan. Fast zum gleichen Zeitpunkt verschwindet die zweite Studentin. Hängen die Fälle zusammen? Oder hat der Freund aus Eifersucht gehandelt? Welche Rolle spielt der charmante Professor ihres Lehrstuhls? Die Spurenlage ist verworren, langsam dämmert den Kommissaren die perfide Inszenierung der Tragödie... Eingebettet in einer an Kultur und Brauchtum überaus reichen Region, dem sächsischen Erzgebirge, erzählt der Autor lebendig eine spannende Kriminalhandlung im Hier und Heute. Er scheut sich nicht, Wunden und Narben zu benennen, die Freunde und Familien entzweien und nicht selten bis in die Neunzigerjahre zurückblicken lassen.

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Der Mord an einer Studentin, die gemeinsam mit ihrer Kommilitonin in der Geschichte von Treuhandprivatisierungen recherchiert, ruft die Kriminalkommissare Andreas Pawlak und Magda Hoffstein auf den Plan. Fast zum gleichen Zeitpunkt verschwindet die zweite Studentin. Hängen die Fälle zusammen? Oder hat der Freund aus Eifersucht gehandelt? Welche Rolle spielt der charmante Professor ihres Lehrstuhls? Die Spurenlage ist verworren, langsam dämmert den Kommissaren die perfide Inszenierung der Tragödie...

Eingebettet in einer an Kultur und Brauchtum überaus reichen Region, dem sächsischen Erzgebirge, erzählt der Autor lebendig eine spannende Kriminalhandlung im Hier und Heute. Er scheut sich nicht, Wunden und Narben zu benennen, die nicht erst seit dem Erstehen einer Bewegung gegen Corona-Maßnahmen Freunde und Familien entzweien und nicht selten bis in die Neunzigerjahre zurückblicken lassen.

Karl-Heinz Binus, Jahrgang 1954, lebt mit seiner Familie und Golden Retriever Lucky im Erzgebirge. Binus veröffentlichte an die hundert Fachartikel und war Autor und Mitautor mehrerer Fachbücher. Mit seinem Kriminalroman „Erzgebirgshass“ spürt er auf einer Makroebene den Fragen nach, weshalb sich gerade im Freistaat Sachsen eine so massive Bewegung von Querdenkern entwickeln konnte, welchen Einfluss aktuelle politische Ereignisse darauf genommen haben und wie der Transformationsprozess der neunziger Jahre von den Menschen dieser Region bewältigt wurde.

Karl-Heinz Binus ist Honorarprofessor für Finanzwissenschaft, studierter Elektrotechniker und promovierter Wirtschaftsingenieur. Er leitete viele Jahre als Präsident eine oberste Staatsbehörde.

Der Hass ist der Zorn der Schwachen.

Alphonse Daudet

Für Martin und Michael

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

1

Die dunkle Gestalt verschwand im allerletzten Moment hinter einer dicken Fichte. Was wollen denn diese Plagen hier zu dieser Zeit an diesem einsamen Flecken im Wald? Haben die irgendwas gesehen und was soll ich mit ihnen machen, waren die sofort aufkommenden Überlegungen.

„Mein Vater darf nichts davon erfahren, hoffentlich verquatschst Du Dich nicht zu Hause. Wir haben mit den Großen der 8. Klasse heute Nachmittag Fußball gespielt, genau das erzählst Du.“ Der größere der beiden Jungs, Finn, genannt Finny, hob drohend die Faust: „Sonst bin ich zum ersten und letzten Mal mitgegangen.“

„Hey Finny, bleib cool. Ich kriege selber ziemlichen Ärger, wenn rauskommt, dass wir mit dem Fahrrad auf der Bundesstraße bis zum Wanderweg gefahren sind und hier im Wald Angeln waren“, antwortete der kleine, schmächtige Friedrich, Spitzname Fritz. „Mein Alter rastet aus und ich darf dann wieder mein Fahrrad vier Wochen abgeschlossen im Schuppen anstarren.“ Er war schon ein paar Mal allein hier gewesen, aber eigentlich war es schon besser, zu zweit zu sein. Dass der kräftige Finny so ein Angsthase ist, hatte er sich nicht vorstellen können. Mit festem Schritt schob er das mit allerhand Angelutensilien bepackte Fahrrad weiter auf dem steinigen, unbefestigten Waldweg voran.

„Ich glaube, da hat sich gerade wieder was bei den großen Fichten bewegt, sah aus wie der Ärmel einer dunklen Jacke“, entgegnete unsicher Finn.

„Ja, im Wald leben Gespenster, schrei hier nicht so rum, Finny, sonst hören uns noch die Waldarbeiter da drüben oder Pilzsucher aus unserem Ort, die dann meinem Vater brühwarm vorhalten, dass er erstmal in der eigenen Familie als Polizist für Ordnung sorgen soll und seinem Sohn Angeln im verbotenen Teich austreibt. Auch die Fische reißen aus bei Deinem Gebrüll. Am besten wird wohl wirklich sein, wenn ich das nächste Mal wieder alleine hier her zum Angeln gehe.“

„Hey Fritz, kannst Du kurz warten, ich muss mal pinkeln.“ Finn lehnte sein ebenfalls voll beladenes Fahrrad an eine alte Fichte.

Wahrscheinlich will er nur nachgucken, was für einen Geist er gesehen hat, war sich Fritz sicher. „Geh nur nicht so weit vom Weg ab, sonst packt Dich das Waldungeheuer und holt Dich ins Wasser“, spöttelte Fritz, selbst nicht so ganz überzeugt, dass es ganz und gar keine Waldgespenster gibt.

Sein Vater erzählte ihm gern von alten Sagen und Legenden aus dem Erzgebirge, wie manches vor Jahrhunderten entstanden war und noch immer als Tradition fortlebte, aber manchmal malte er gruselige Geschichten aus, die der Großvater seiner Frau, also der Urgroßvater von Fritz, vor hundert Jahren als einsamer Gehilfe, der mit dem Handwagen Waren von Ort zu Ort liefern musste, erlebt haben sollte. Da hatte es winzig kleine Gestalten gegeben, kleinen Teufeln gleich, die die Räder des Handwagens mit Holzstangen blockierten oder das Gesicht des Großvaters ganz schwarz gemacht hatten. Jedes Mal wurde seine Mutter bei diesen Geschichten furchtbar ärgerlich, er habe das alles schon hundertmal erzählt und die Kinder könnten dann womöglich vor Angst kaum mehr schlafen. Auch wenn Vater dann geschmunzelt hatte und versicherte, das seien eben erfundene erzgebirgische Geschichten und er wirklich keine Angst zu haben brauche, war er sich nie so ganz sicher, ob nicht doch etwas an den Schilderungen dran sein könnte. Auch deshalb war es viel besser, nicht allein in den Wald zu gehen.

„Hey, Finny, Du heulst ja. Was ist denn passiert?“ Friedrich blickte sich unsicher um, zur Not könnten sie laut schreien, die Waldarbeiter würden sie sicherlich hören.

„Ich, ich, ich …“, stammelte Finn.

„Nun hör schon mit Deinem Stottern auf. Was ist denn los?“, versetzte der eigentlich so gelassene Fritz unsicher.

„Ich, ich … habe was ganz Schlimmes gesehen. Im Wasser liegt etwas total Gruseliges, es sieht aus wie ein Knäuel mit langen roten Haaren. Vielleicht ist es die Wassernixe oder ein Wassergeist.“

„Finny, Du hast wohl zu lange in der Sonne gesessen. Wahrscheinlich guckst Du zu viele Horrorvideos. Lass uns weiter zum Angeln gehen. Dann setzen wir uns einfach ruhig hin, Angeln entspannt“, wiegelte Fritz mit dem Brustton der Überzeugung ab, sein stark klopfendes Herz strafte allerdings dieser Gelassenheit Lügen.

„Hey Fritz, lass uns doch beide mal nachsehen. Da war wirklich was Unheimliches, aber vielleicht hast Du ja selber Schiss.“

„Ich und Schiss, erstens gibt es überhaupt keine Wassergeister und Nixen auch nicht, jedenfalls nicht hier bei uns im Erzgebirge,“ wiegelt Fritz ab. Was, wenn tatsächlich eine Wassernixe aus dem Teich gekommen war? Der erste Verdruss ist der beste, sagte sein Vater immer, und man sollte nicht immer erst eine Zeichnung machen, wenn man etwas zu erledigen hat. Also, sollten sie der Sache auf den Grund gehen, sonst würde Finny nie Ruhe geben und die Angeltour wäre geschmissen. Na ja, für ihn, Fritz, war es auch besser, Gewissheit zu haben und immerhin waren sie zu zweit.

Unsicher überquerten sie einen kleinen Graben, gingen ein paar Schritte Wald einwärts und stießen auf einen eingeengten Trampelpfad, der sich in Richtung Schwarzer Waldsee durch das hohe Gestrüpp schlängelte. Seltsam, der Pfad war eigenartig zerfurcht, so als sei etwas entlanggeschleift worden oder vielleicht hatten Wildschweine mit ihren Rüsseln die Erde aufgewühlt.

„Verdammte Scheiße, jetzt kommen die kleinen Pisser immer näher. Vielleicht haben sie mich doch gesehen. Dann gnade ihnen Gott. Ich hasse diesen unnötigen Stress“, murmelte die dunkle Gestalt und schlich hinter die eng zusammenstehenden mannsgroßen Fichten in ein Dickicht.

2

„Herr Kriminalhauptkommissar, wir sollen alle nochmal zum Herrn Kriminalrat Obermüller in den Beratungsraum 2 kommen. Er will einige Hinweise für das kommende Wochenende geben“, wandte sich Kriminalkommissarin Magda Hoffstein an ihren Chef, Kriminalhauptkommissar Andreas Pawlak.

Andreas Pawlak, 56 Jahre alt, Kriminalhauptkommissar, verheiratet seit über 30 Jahren mit Martina Pawlak, die freiberuflich wirtschaftswissenschaftliche spanische und französische Texte übersetzt, 2 Söhne, ein drahtiger Typ mit kurzen grauen Haaren, manchmal trägt er einen Drei-Tage-Bart, wohnhaft in Wolfsbach, einem Dorf im Erzgebirge, Ortsteil der Kleinstadt Silberberg, rund 900 Einwohner, zwei Bushaltestellen, zwei Gaststätten, ein Sportplatz, ein Vereinshaus, viele Dreiseithöfe, zahlreiche kleine Eigenheime, meistens ein sehr ruhiger Ort, nur abends bellen einige der zahlreichen Hunde im Dorf.

Pawlak blickte unwillig von seinen, präzise geordneten Unterlagen auf. Sie als seine engste Mitarbeiterin sprach ihn immer respektvoll mit Herr Kriminalhauptkommissar oder Herr Pawlak oder einfach Chef an. Auch Dritten gegenüber benutzte sie stets die ordnungsgemäße Dienstbezeichnung.

„Mist, ich habe vor zehn Minuten zu Hause angerufen, dass ich in einer halben Stunde da sein werde und Martina schon Kaffee aufsetzen kann. Endlich mal ein entspanntes Wochenende, Frühstück und Abendessen im Gartenhäuschen, kein Dienst und, was besonders wichtig ist, kein Regen, nur Sonnenschein und Montag überdies dienstfrei“, antwortete Pawlak verdrießlich. „Wenn er uns Freitagnachmittag noch mit einer Dienstberatung beglückt, kann das nichts Gutes heißen. Hoffentlich kommt er recht bald zum Punkt, öh, öh, öh, öh“, ahmte er den Chef der Abteilung, Kriminalrat Detlev Obermüller, nach.

„Ich habe am Wochenende Dienst und wenn nicht die halbe Welt zusammenbricht, werde ich Sie auf keinen Fall behelligen“, zeigte sich Magda Hoffstein zuversichtlich.

Pawlak winkte beschwichtigend ab: „Natürlich können Sie mich zu jeder Tages- oder Nachtzeit anrufen, auch wenn es keinen Weltuntergang gibt. An Wochenenden kann ich in einer guten Viertelstunde in der Dienststelle sein. Ich werde auch keine großen Ausflüge machen, vielleicht mal eine kleine Erzgebirgsrunde mit dem Motorrad.“

„Öh, öh, wenn die Herrschaften, öh, dann soweit sind, können wir, öh, beginnen“, murrte Obermüller durch die halb geöffnete Tür. „Vielleicht können Sie sich später über Ihre, öh, Wochenendgestaltung austauschen!“

Wortlos gingen Pawlak und Hoffstein in den eher spartanisch eingerichteten Beratungsraum 2. Nur ein moderner Beamer, der an der Decke montiert war, verlieh dem Raum eine beachtenswerte Note. Die Temperatur hatte jetzt in der Nachmittagszeit schwindelnd hohe Werte erreicht. Die Jalousien waren an allen Fenstern heruntergezogen worden, so dass helles Kunstlicht den Raum unangenehm für diesen Sommertag erleuchtete.

Die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter saßen bereits ungeduldig wartend am großen U-förmigen Tisch. Einige hatten ihre großen Wasserflaschen auf den Tisch gestellt. Niemand schien begeistert zu sein, am späteren Nachmittag eine Dienstberatung über sich ergehen lassen zu müssen.

Kriminalrat Obermüller erhob sich von seinem Platz vor dem großen Whiteboard: „Öh, es geht heute, öh, nicht um unsere Arbeit, öh, sondern der, öh, Polizeipräsident, öh, öh, hat alle 5 Dezernatsleiterinnen und -leiter persönlich, öh, öh, persönlich verdonnert, allen Damen und Herren, öh, ihres Verantwortungsbereiches, öh, den Ernst der Situation, öh, den Ernst der Situation, deutlich zu machen.“

„Wenn der in dieser Geschwindigkeit weiterredet, sitzen wir heute Abend um neun noch hier“, raunte Pawlak seiner Kollegin Hoffstein zu. Sie verdrehte nur leicht ihre braunen Augen.

Kriminalrat Obermüller war vor ungefähr 15 Jahren von Bayern nach Sachsen gekommen. Er war zunächst an das Innenministerium abgeordnet gewesen und war dann nach einigen Zwischenstationen und rasanten Beförderungen zum Leiter des Dezernates 1 „Höchstpersönliche Rechtsgüter“ mit den Kommissariaten 11 “Leben / Gesundheit / Mordkommission“ und 12 „Gemeingefährliche Straftaten / Sexualdelikte“ ernannt worden.

Mit Begeisterung trug der kräftige Obermüller bayerische Janker, die seinen stattlichen Bauch achtunggebietend betonten. Er trug einen militärisch kurzen Haarschnitt und verbarg seinen angestammten Dialekt kaum. Sein rundes Gesicht wurde von einem, zumeist recht struppigen und nicht sehr gepflegten Bart dekoriert. Auch im Hochsommer trug er durchweg knöchelhohe Schuhe. Seine besondere Note war seine Vorliebe für grellbunte Socken.

Er sah in Pawlak, Leiter des Kommissariats 11 des Dezernates, wohl seinen ernstlichsten Kritiker und Konkurrenten. Was ihn dazu veranlasste, war nicht überliefert.

Wenn er von anderen darauf angesprochen wurde, zuckte Pawlak nur müde mit seinen Schultern. Er sei mit seinem Job wunschlos glücklich und strebe überhaupt nicht nach Veränderungen. Natürlich war Pawlak nicht verborgen geblieben, dass Obermüller ihm gerne Informationen vorenthielt oder zu spät offerierte. Dass er die Ermittlungen von Pawlak besonders kritisch hinterfragte und seine Berichte regelmäßig zerpflückte, hatte Pawlak anfangs heftig geärgert. Vielleicht hat er bisher schlechte Erfahrungen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemacht, versuchte dann Pawlak eine passende Erklärung zu finden. Mittlerweile war er über diese Form der „Qualitätskontrolle“ ganz erfreut. Es war nach seiner Ansicht immer besser, vor Aktenvorlage an die Staatsanwaltschaft oder gar vor Zeugenaussage bei Gericht, alles abgeklopft zu haben, ob es auch hieb- und stichfest war oder wo es eventuelle Lücken in der Beweiskette geben könnte.

Ein leidiges Problem allerdings hatte Herr Kriminalrat Obermüller. Er liebte Pressekonferenzen. Trotz aller Konzentration gelang es ihm kaum, Sätze und Formulierungen ohne permanentes öh, öh vorzutragen. Böse Zungen behaupteten, das Innenministerium hätte schon ein Vermögen für Medienschulungen des Herrn Kriminalrat vernichtet – leider ohne hörbaren Erfolg. Obermüller redete nie über sein Privatleben, fragte aber seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne über ihre Familien, über Hobbies, Reisen und ähnliches aus.

Detlev Obermüller fuhr in seinen Ausführungen fort, dass Polizisten auch in diesen schwierigen Corona-Zeiten andere Menschen schützen müssten. Zunehmend würden sie bei Einsätzen mitunter selbst attackiert. Blanker Hass werde verstärkt sichtbar. Warum das so sei, fragte er neugierig in die Runde, ohne eine Antwort zu erwarten.

Was schon bei PEGIDA angefangen habe, sei durch die Corona-Krise und die damit nunmehr verbundenen Proteste gegen die notwendigen staatlichen Maßnahmen noch viel nachhaltiger zu Tage getreten, belehrte der Kriminalrat die versammelte Gruppe mit den allen bekannten Fakten. Polizisten und Polizistinnen seien vermehrt Ziel von Beleidigungen und Angriffen geworden. Dass zunehmend die Sprache und die Sitten verrohten und sich oftmals der pure offene Hass auf die Polizei entlade, war jedem bewusst. Niemand lässt sich grundlos angreifen und beschimpfen oder bespucken. Stilles Kopfnicken zeigte, dass ihnen ihr Chef aus der Seele sprach.

„Auch wenn sich die Ausbildung unserer Polizistinnen und Polizisten, öh, öh, zunehmend mit diesen Phänomenen, öh, auseinandersetzt, ist es was anderes, öh, wenn man vor Ort angepöbelt und vielleicht sogar tätlich angegriffen wird“, unterstrich Obermüller seine Ausführungen.

Die Lage, auch vor dem kommenden Wochenende, sei schwierig zu beurteilen. Es gäbe zwar nur zwei angemeldete Demonstrationen in Zwönitz und in Freiberg, aber das sei in den letzten Wochen immer so gewesen. Wie aus heiterem Himmel versammelten sich Dutzende der sogenannten Spaziergänger, die als selbsternannte Querdenker und eingefleischte Corona-Gegner mit den abstrusesten Verschwörungstheorien aufwarteten. Manche seien friedlich und meinten wohl tatsächlich, dass sie dazu berufen seien, mit ihren handgeschriebenen Zetteln mit Botschaften gegen das Impfen den Menschen zu helfen. Es gäbe sogar welche, die seien überzeugt, Corona-Impfungen stellten nichts anderes als Biowaffen dar, die durch eine jüdische Bankiersfamilie gezielt eingesetzt würden, um die Weltbevölkerung zu dezimieren. Auch sogenannte Alternativmediziner würden ihre Verantwortung darin sehen, ihre Mitmenschen vor angeblicher staatlicher Freiheitsberaubung zu schützen. Gezielt werde systematisch Angst geschürt. Hunderte, eigentlich rechtstreuer Bürgerinnen und Bürger, treibe diese Besorgnis auf die Straßen. Immer stärker werde aber auch sichtbar, dass verschwörungsideologische Motive durch Rechtsradikale willkommen aufgenommen würden, um systematisch Panik zu schüren.

„Diesen Wirrköpfen geht es nicht um ein, öh, öh, kritisches Hinterfragen von Maßnahmen, sondern, öh, schlichtweg darum, gesellschaftliche und politische Änderungen zu erreichen“, zeigte sich Obermüller überzeugt.

Das alles sei ihnen sicher aber allen bekannt. Die Polizei hätte zunehmend drei Probleme. Zum ersten würden durch die teilweise militanten Corona-Leugner immer mehr Kinder mit zu den Demonstrationen genommen, so dass äußerste Umsicht bei allen polizeilichen Maßnahmen dringend geboten sei. Zweitens gäbe es erhebliche personelle Engpässe. Dutzende der Polizistinnen und Polizisten seien infiziert oder befänden sich in Quarantäne. Und schließlich sei drittens ein möglicher Einsatzort im Vorfeld kaum mehr zu prognostizieren.

In Flashmobs werde kurzfristig ein Aufruf von einem Urheber verfasst und über Online-Communitys, Weblogs, Newsgroups, E-Mail-Kettenbriefe oder per Mobiltelefone verbreitet. Der Polizei gelänge es selten, frühzeitig Treffpunkte und genaue Zeitpunkte exakt zu eruieren. Auch der Ablauf sei schwierig zu fassen. Meist erschienen zunächst nur einzelne oder wenige Teilnehmer zum vereinbarten Termin und begännen mit der abgemachten Aktion. Innerhalb kürzester Zeit stiegen gemeinhin viele weitere Teilnehmer blitzartig ein. Information via Telegram Messenger sei mutmaßlich die entscheidende Plattform. Für unbeteiligte Passanten erschiene diese völlig überraschende Mob-Bildung und das identische Handeln der Personen im Mob oftmals sinn- und inhaltslos. Tatsächlich stecke aber zumeist ein klar deklariertes ökologisches, ökonomisches oder politisches Motiv dahinter.

Woher kommt denn dieser ganze Mist, ging es Pawlak durch den Kopf. Er hatte kürzlich einen Beitrag über den QAnon-Mythos im Fernsehen angeschaut. Dabei ging es um eine krude Erzählung mit Ursprung in den USA, wonach sich eine satanische Elite im Verborgenen an Kindern vergehe. Obwohl es für sie keinerlei Belege gab, nutzten Rechtsradikale auf der ganzen Welt den QAnon-Mythos als Rechtfertigung für zum Teil schwere Straftaten. Auch der Attentäter von Hanau berief sich auf ähnliche Motive. Verschwörungserzählungen wie QAnon seien die Hefe, aus der ein politischer Widerstand im rationalen Sinn erst entstehen muss, hatte der interviewte Chefredakteur des umstrittenen Magazins „Compact“, das in der Corona-Pandemie weiter an Einfluss gewinnen konnte und zwischenzeitlich vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wurde, mit dem Brustton der Überzeugung zu verstehen gegeben. Diese mythischen Übertreibungen seien für die Weiterentwicklung der Gesellschaft dringend notwendig.

„Die Polizei ist gefragt, wie, öh, öh, öh, wie noch nie“, riss Obermüller Pawlak aus seinen Gedanken. „Einerseits müssen wir deeskalieren, andererseits energisch den Rechtsstaat verteidigen. Der, öh, Innenminister steht massiv unter Druck, so schlimm war, öh, öh, die Presse bislang kaum. Im Zweifel bleibt die ganze Chose an uns hängen. Wir werden zwar Unterstützung aus anderen Bundesländern erhalten“, rüttelte Obermüller die anwesenden Kolleginnen und Kollegen auf, „aber am Ende müssen wir selbst mit jedem Mob klarkommen, der nicht nur kleinen Gegenprotest gegen, öh, öh, staatliche Maßnahmen zeigen will, sondern zu massiver Gewalt und zu Hass aufruft. Ein, öh, öh, Impfgegner hat auf seinem Telegram-Kanal sogar von einem Recht geschrieben, einen Polizisten über den Haufen zu schießen, der einen zur Zwangsimpfung schleppt.“

Und ja, in den Polizeiberichten tauchten immer wieder massive Angriffe auf Polizisten auf, konstatierte Obermüller sorgenvoll. Erst vergangenes Wochenende seien zwei Beamte bei der Kontrolle von Corona-Schutzmaßnahmen in Bad Schandau nach zunächst verbalen Beleidigungen verletzt worden. Einem Polizisten sei gegen das Knie getreten worden, seinen Kollegen hätte eine Flasche getroffen. Gerade bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen im Erzgebirge sei es dieses Jahr mehrfach zu Attacken auf Polizisten gekommen, betonte Obermüller mit vorwurfsvollem Blick auf Pawlak.

„Der tut gerade so, als sei ich der Rädelsführer dieser Banditen“, brummte Pawlak bärbeißig.

Obermüller blickte sorgenvoll in die Runde: „Es gibt, öh, öh, klare Vorgaben, der Rechtsstaat lässt sich nicht länger vorführen. Es wird erforderlichenfalls Festnahmen geben, Personalien sind aufzunehmen, Protokolle zügig zu schreiben. Dazu müssen auch wir, öh, öh, d. h. unsere Abteilung, wenn notwendig, Unterstützung geben.“

Der Kriminalrat blickte in die Runde. „Sie kennen die Protokollanforderungen, öh, öh, alle genau. Ich möchte aber nochmals darauf verweisen, öh, öh, dass die Vernommenen die Vernehmungen genau durchlesen sollen und Fehler erforderlichenfalls handschriftlich korrigieren können. Öh, öh, es wird wieder dazu kommen, dass die Unterschrift unter die Vernehmung verweigert wird, dann dokumentieren Sie als Vernehmende mit Ihrer Unterschrift die Richtigkeit der Schilderung, öh, öh, vergessen Sie das nicht!“

Obermüller blickte auf seine Unterlagen. „Noch eine letzte Sache. Wie Sie gehört haben, soll ein Kollege vom LKA selbst Polizisten aus Niedersachsen angegriffen haben, die bei Corona-Protesten im Einsatz waren. Zu seiner Entschuldigung hat er angeführt, dass er privat unterwegs war. Dann gab es eine körperliche Auseinandersetzung mit Bereitschaftspolizisten.“ Obermüller räusperte sich und hob die Stimme und schaute in die Runde: „Ich verspreche jedem und jeder, dass solche, öh, öh, Idioten hochkantig aus dem Dienst fliegen. Dafür, öh, öh, setze ich mich persönlich bis zum Letzten ein. Der, öh, öh, Innenminister hat das Verhalten des LKA-Kollegen vornehm als unentschuldbar bezeichnet. Ich nenne es einfach nur blöd, unkollegial und grottig. Ich hoffe, dass wir uns verstanden haben.“

„Ich will Sie nun nicht mehr von Ihrem Wochenende abhalten“, schloss Obermüller mit einem schiefen Lächeln in Richtung Pawlak. „Ich hoffe, dass wir mit unserem Bereich in Ruhe gelassen werden, aber Sie müssen sich auf etwaige Eventualitäten einstellen. Schönes Wochenende. Sie können gehen, wenn es keine Fragen gibt.“

Stillschweigend erhoben sich die Kolleginnen und Kollegen von ihren Plätzen und kehrten in ihre Dienstzimmer zurück. Hoffentlich hat dieser Spuk bald ein Ende, war auf ihren Gesichtern deutlich zu lesen.

Die Fragen, was eigentlich in diesem Land los ist und insbesondere in seinem geliebten Erzgebirge ließen Pawlak auch nicht los, als er gedankenversunken in seinen Wagen stieg und sich nun endlich auf den Nachhauseweg machen konnte. Glücklicherweise war die PEGIDA-Bewegung nicht in das Erzgebirge hineingeschwappt, aber der massive Protest gegen das Impfen und die verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hatten im friedfertigen und zurückhaltenden Erzgebirge massenhaft Anhänger gefunden. Warum war das nur so gekommen?

Er hatte sich noch kurz von Kollegin Hoffstein verabschiedet und sie erneut ermutigt, ihn anzurufen, wenn sie Hilfe brauchte oder Unterstützung bei einer Entscheidung. Zwei Jahre arbeiteten sie schon zusammen. Er schätzte ihre absolute Zuverlässigkeit, ihre nüchterne Analysefähigkeit und ihr logisches Denken. Im Haus war sie anerkannt, wenngleich sie wegen ihrer kühlen und distanzierten Art von einigen hämisch als „Eiskönigin“ bezeichnet wurde. Aber das störte Pawlak überhaupt nicht.

3

Nirgends ist es so schön wie hier, war er überzeugt, als er auf der sonnendurchfluteten Bundesstraße Richtung Heimat fuhr. Faszinierend immer wieder dieser Blick mit der glasklaren Fernsicht von der Zschopauer Höhe hinüber zum Bärenstein, zum Fichtelberg und zum Keilberg, unmittelbar rechts vor dem Pöhlberg das stolze Bild der alten Bergstadt Annaberg-Buchholz mit dem imposanten Turm der St. Annenkirche.

Es ging kaum ein Lüftchen, keine Wolke war zu sehen. Herrliches Motorrad-Wetter! Er hatte sich unglaublich gefreut, als seinem Versetzungsantrag von Leipzig nach Chemnitz endlich entsprochen worden war. Er konnte nun seine kleine Nebenwohnung in Leipzig aufgeben und täglich von Wolfsbach nach Chemnitz zum Dienst fahren.

Er liebte es, frühmorgens mit seinem Hund durch den Wald zu gehen, wenn auf der Straße noch alles ganz still war, nur die Vogelstimmen durcheinander kreischten und der Dunst sich leicht vom kühlen Boden abhob. An Wochenenden hielt er sich mit Vergnügen in dem großen Garten auf, der zu ihrem Wohngrundstück gehörte. Dabei konzentrierte er sich ganz auf den intensiven Geruch der Erde, den frischen Hauch gemähten Grases oder den zarten Duft der Blüten. Restlos von all dem Alltagsstress abschalten, das gelang ihm dann meist schon nach wenigen Minuten. Im Winter war es jetzt manchmal aufwändiger von Wolfsbach nach Chemnitz zur Dienststelle zu gelangen, als es in Leipzig der Fall gewesen war. Wenn es nachts oder in den frühen Morgenstunden Schnee gab, war der Winterdienst regelmäßig hoffnungslos überfordert. Die hunderten schweren Brummis, die wie ein nicht versiegen wollender Strom Tag und Nacht von Chemnitz Richtung tschechischer Grenze fuhren, drückten den Schnee zu spiegelglattem Eis zusammen und blockierten manchmal für Stunden die Bundesstraße. Pawlak konnte es dann meist gar nicht erwarten, dass sich der Frühling endlich zeigte.

Für Pawlak war der Begriff „Heimat“ nie altmodisch gewesen. „Heimat ist dort, wo Dein Herz lebt – friedlich, ruhig und entspannt. Dort fühlt man sich sicher und geborgen. Man ruht sich aus am Ufer des Bachs, der Herz und Geist beruhigt,“ hatte er mal von Mary Ann L. Reyes von den Philippinen gelesen. Das traf es so ziemlich genau, wie er selbst empfand.

Bodenständig, umgänglich und gesprächsbereit waren die Leute, die er im Ort traf, manchmal auch etwas eigensinnig und stur. Fremden gegenüber waren sie zwar freundlich und herzlich, bewahrten sich aber ein gutes Stück Skepsis. Sicherlich war die Zeit der politischen Wende und insbesondere waren auch die neunziger Jahre, die für die meisten von ihnen erhebliche Umbrüche im gesamten Lebensumfeld mit sich brachten, nicht spurlos an ihnen vorüber gegangen. Könnte das ein Grund für den teilweise irrwitzigen Protest gegen die Corona-Maßnahmen sein, fragte sich Pawlak immer wieder.

Gleichwohl fühlte er Ursprung und Geborgenheit an jeder Ecke. Die Menschen waren in ihren Herzen ehrlich und lebten zumeist in enger und vertrauter nachbarschaftlicher Gemeinschaft. Ohne Worte half man sich. Viele jüngere und ältere Männer, auch einige Frauen, engagierten sich mit Leib und Seele für die freiwillige Feuerwehr. Sie waren bei Bränden genauso zur Stelle, wie zu Sicherungsmaßnahmen bei Verkehrsunfällen, bei Sturmschäden oder bei Katastropheneinsätzen wegen immer häufigeren Hochwassers, wenn kleine Dorfbäche reißende Ströme wurden und tosend Brücken und Gebäude zu Fall brachten und nicht nur einmal menschliche Opfer gefordert hatten.

Gern blieb Pawlak bei seinem Weg durch das Dorf stehen und fragte, wie es gehe, was der Vater oder die Mutter so machten, wo die Kinder sind, die er lange nicht mehr gesehen hatte.

Dass das Erzgebirge in der Weihnachtszeit so märchenhaft in einem verzaubernden Lichterglanz erstrahlte und die Nachbarn ihre Fenster mit Lichterketten und beleuchteten Schwibbögen schmückten, gab es in dieser maßvollen Kunstfertigkeit und schlichten Vollkommenheit nirgends sonst auf der Welt, war sich Pawlak sicher. Allerdings führten blinkende und farblich schrille Lichteffekte fast zu körperlichen Schmerzen bei ihm. Glücklicherweise gab es bislang nur vereinzelte Ausreißer. In seinen Augen war das schlicht und einfach Lichtverschmutzung, Kulturbanausentum und passte überhaupt nicht in die wundervolle und jahrhundertalte besondere Tradition vom Licht im Erzgebirge.

„Jetzt ist aber Schluss mit der Grübelei, in ein paar Minuten bin ich zu Hause und kann nach einer stressigen Woche endlich abschalten“, sagte Pawlak mit klaren Worten laut zu sich selbst.

4

„Da bist Du ja endlich“, begrüßte ihn seine Frau Martina schon am Gartentor. Sie hatte das Garagentor weit geöffnet, so dass er seinen Wagen abstellen konnte, ohne aussteigen zu müssen. „Bruno hat Deine Rückkehr schon sehnsüchtig erwartet“, rief sie ihm scherzhaft zu und nickte mit dem Kopf zu dem abgegrenzten Garten mit der mannshohen Hecke hinter dem Haus. Der fast zehnjährige Golden Retriever-Rüde Bruno hatte sich auf seine Hinterpfoten gestellt und bellte freudig den halben Ort zusammen.

„Da hast Du wenigstens einen treuen Freund, der Dir nicht von der Seite geht und Dich ehrlich vermisst. Dein anderer Kumpel, unser Sohn Friedrich, lässt sich entschuldigen, Fußball mit den Großen!“, foppte seine Frau. „Er soll aber spätestens um halb sieben zu Hause sein, da wir heute Abend noch grillen wollen.“

Als Pawlak die kleine Gartenpforte hinter sich schloss, sprang Bruno fröhlich auf Pawlak zu und stupste ihn mit seiner feuchten Nase immer wieder an. „Jetzt setze ich mich erstmal in Ruhe hin, trinke eine schöne Tasse Kaffee und esse mein Stück Kuchen, solange musst Du schon noch warten. Erst dann gehen wir noch eine Runde in den Wald“, machte Pawlak seinem tierischen Gefährten klar. „Setz Dich hin und gib Ruhe“, beschwichtigte er.

Sein Hund Bruno hatte womöglich jedes Wort verstanden, er stellte sein Bellen ein, legte sich hin und bettete seinen Kopf auf die Vorderfüße und schaute erwartungsfroh sein Herrchen mit seinen sanften dunkelbraunen Augen an.

„Na, wie war Dein Tag, musste der Obermüller am Freitagnachmittag wieder mal beweisen, wie fleißig er ist?“, scherzte Martina und goss die großen Kaffeetassen randvoll, „aber zum Glück hast Du ja ein langes Wochenende vor Dir oder hat Dir der Obermüller noch einen zusätzlichen Dienst reingedrückt?“

„Nein, es bleibt, wie abgemacht. Die Eiskönigin muss bei diesem herrlichen Sommerwetter Dienst schieben. Hoffentlich gibt es nichts Außergewöhnliches in unserem Dezernat. Das, was Obermüller uns mitgeteilt hat, wissen wir zwar alle schon. Die Situation in Sachsen und insbesondere auch im Erzgebirge ist wegen der zunehmenden Konfrontation zwischen den sogenannten Spaziergängern gegen die Corona-Maßnahmen und der Polizei angespannt. Auch wenn mein Bereich nicht unmittelbar betroffen ist, müssen wir erforderlichenfalls mithelfen und Vernehmungen durchführen, dass die notwendigen strafrechtlichen Verfahren ganz schnell eingeleitet werden können. Viele von den Uniformierten sind ziemlich am Ende.“ Pawlak sah sorgenvoll ins Leere.

Martina blickte in seine Augen: „Nun überschattet die Corona-Pandemie unser aller Leben. Wie konnte es auch bei uns im Erzgebirge nur dazu kommen, dass Nachbarn im Streit liegen, ob es nur eine leichte Erkältung oder eine todernst zu nehmende und immer weiter sich ausbreitende schlimme Erkrankung ist? Wenn ich mich mit Leuten aus dem Ort unterhalte, dann spürt man, welche tiefen Risse mitten durch Familien gehen. Und aus ehedem friedlichen Augen entsteht in Sekundenschnelle manchmal purer Hass. Viele der Politiker haben versagt, jeden Tag wird eine neue Sau durch das Dorf getrieben. Wenn der eine Hüh sagt, muss der andere unbedingt Hott sagen. Wie können wir denn wieder zusammenfinden, das ist wirklich die brennende Frage der Stunde, was macht das aus unserer Heimat? Im öfters schämt man sich, wenn man gefragt wird, wo man herkommt und sagt, aus dem Erzgebirge.“ Seine Frau konnte vollständig und schnörkellos das ausdrücken, was ihm selber so stark auf der Seele brannte.

„Jetzt lassen wir erstmal unsere politischen und philosophischen Überlegungen und gehen mit dem Hund in den Wald“, mahnte Pawlak seine Frau, „die ganzen Probleme, die sich da aufgestaut haben, müssen gelöst werden. Ich würde mich dazu gern ausführlich und in aller Ruhe mit unseren Freunden unterhalten. Vielleicht können wir bald mal zu einem kleinen Umtrunk einladen.“

„Können wir gern machen, die Hauptsache ist, dass es sachlich bleibt. Ich merke schon die ganze Zeit, dass Dich das alles sehr aufwühlt“, bejahte Martina, „und nun geht es in den Wald! Komm Bruno, es geht los!“

Pawlak hatte schon die Kofferraumklappe des Kombis geöffnet. Mit einem großen Satz sprang der freudig begeisterte Golden Retriever in den Wagen.

5

Wären wir doch lieber zum Fußballspielen gegangen, grübelte Friedrich, wenn hier was nicht sauber ist, kriege ich mächtigen Ärger mit meinem Vater. Hoffentlich hat sich Finny das alles nur eingebildet. Ein markerschütterndes Aufheulen riss ihn aus seinen Gedanken. Finny schrie so laut er nur konnte. Nun bemerkte auch Friedrich den Kopf mit den langen roten Haaren im Wasser. Der Körper lag auf dem Bauch und die Beine hingen schräg nach unten. Der Kopf bewegte sich sacht und gespenstisch im leichten Spiel der kleinen Wasserwellen.

Finny hatte sich abgewandt und musste sich heftig übergeben. Auch Fritz wurde übel, als die grausige Botschaft in seinem Kopf ankam und er realisierte, dass es sich um eine Leiche handelte.

„Jetzt muss ich nach diesem Geschrei schnellstens abhauen“, zischte die dunkle Erscheinung im Fichtendickicht, „gleich wird hier allerhand los sein. Hoffentlich haben mich die Scheißer nicht gesehen.“ Auf schnellstem Weg rannte die Gestalt einen schmalen Pfad entlang. Geduckt glitt sie in Richtung des am oberen Weg abgestellten Autos. Bald war der geparkte Pkw erreicht. Das wäre geschafft. Kaum eingestiegen, öffnete sich nochmal für einen Spalt die Tür. Etwas wurde auf den Boden geworfen. Ein teuflisches Grinsen huschte über das angespannte Gesicht. Das Auto startete und fuhr ohne Hast auf dem Forstweg zur Hauptstraße. Der Wagen bewegte sich auf den unebenen Asphaltstücken schaukelnd davon. Laute Musik dröhnte aus dem Wageninneren, als die Bundesstraße endlich erreicht war.

„Am besten ist es, wir schauen gar nicht mehr in Richtung Waldsee, damit wir die Leiche nicht mehr sehen. Aber wir müssen jetzt klaren Kopf behalten und Hilfe holen“, übernahm Fritz die Initiative, währenddessen Finny still vor sich hin jammerte. Tränen liefen ihm ungebremst über das Gesicht.

„Ich laufe zu den Waldarbeitern, die wir vorhin an der Biege gesehen haben und Du wartest hier“, wandte sich Fritz an Finny.

„Nein, nein, lass mich nicht allein hier. Ich halte das nicht aus, ich komme mit, bitte, nimm mich mit“, schluchzte Finny.

Gemeinsam liefen sie quer durch den Wald zu den Arbeitern und berichteten atemlos von dem furchtbaren Fund. Ungläubig blickten sich die Männer an, eine Leiche hier im Schwarzen Waldsee? Das hatte es ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.

„Bevor wir die Pferde scheu machen, gehen wir beide, Horst und ich, mit euch zu dieser ominösen Fundstelle. Dann sehen wir weiter“, knurrte der alte Gerlach aus ihrem Ort.

6

„Ich muss mal wieder neue Saiten aufziehen, was der sich eigentlich denkt. Es ist schon fast sieben und von dem Herrn Sohn ist noch immer nichts zu sehen oder zu hören“, knurrte Pawlak gereizt vor sich hin. Dabei hatten sie sich schon die ganze Woche auf den heutigen Grillabend gefreut.

„Dein Telefon, Frau Hoffstein, hoffentlich nichts Ernstes“, gespannt übergab Martina ihm sein Smartphone.

„Wer … wo …? Ich komme sofort.“ Gehetzt schaute Pawlak seine Frau an. „Frau Hoffstein ist am Schwarzen Waldsee. Es wurde eine Leiche gefunden. Fritz und sein Freund Finny haben sie wohl entdeckt. Sie sind beide völlig aufgelöst.“ Hilflos zuckte er die Schultern. „Hoffentlich ist nichts weiter passiert. Ich fahre sofort los. Essen kann ich jetzt nichts“, bedeutete er mit Blick auf den bereits gedeckten Gartentisch, „ich melde mich aber bei Dir, sobald ich was Näheres weiß. Ich nehme Deinen Wagen, dass ich die Fahrräder wegkriege.“

„Soll ich wegen Fritz mitkommen?“, bat seine Frau zaghaft.

„Nein, es ist besser, wenn Du hier bist. Ich bringe die Jungen unverzüglich nach Hause, sobald es geht und bitte sage den Oettels Bescheid, dass die Jungs wohlauf sind.“ Natürlich konnte er die Beklemmungen seiner Frau spüren, aber sie mussten in so einer außergewöhnlichen Situation klar denken und Privates und Dienstliches strikt voneinander trennen.

„Bitte rufe mich sofort an, wenn Du was weißt“, mit flehendem Blick und Tränen in den Augen stand seine Frau sehr zerbrechlich und unsagbar verletzlich da.

Stumm nahm er sie in seine Arme: „Mach ich.“ Hastigen Schrittes ging er zum Kombi und fuhr eilends aus dem Grundstück in Richtung Bundesstraße, die zum Schwarzen Waldsee führte.

7

Schon von weitem waren die blitzenden Blaulichter, die die dunklen Fichten in ihrer leise-rauschenden Ruhe störten, zu sehen. Pawlak stellte seinen Wagen auf dem schmalen Waldweg soweit wie möglich an der rechten Seite ab, so dass Fahrzeuge den Weg noch passieren konnten.

Magda Hoffstein kam mit eiligen Schritten auf ihn zu. „Tut mir leid Chef, aber Sie mussten unter allen Umständen jetzt hier sein. Die beiden Jungs sitzen in dem VW-Bus. Ihr Sohn war sehr tapfer und hat ruhig und konzentriert einige Fragen beantwortet. Seinen Freund hat es heftig erwischt. Er starrt vor sich hin, immer wieder kommen ihm die Tränen. Seien Sie bitte vorsichtig mit den beiden“, sie schaute ihn beschwörend an. „Wenn Sie mit den Jungs gesprochen haben, bringe ich Sie auf den augenblicklichen Stand. Nur so viel, offensichtlich hat Finn Oettel eine Bewegung im Wald wahrgenommen und wurde unsicher. Als er dann Pipi machen musste, hat er ein Büschel roter Haare im Waldsee bemerkt. Gemeinsam wollten die Jungs dann nachsehen und haben die Wasserleiche mit roten Haaren entdeckt. Glücklicherweise sind sie ohne weitere Versuche, sich der Leiche zu nähern, zu Waldarbeitern gegangen, die ganz in der Nähe waren. Zwei der Arbeiter sind mit zu der Fundstelle gelaufen und haben dann unverzüglich die 110 angerufen“, fasste die Kriminalkommissarin kurz zusammen.

Pawlak schob die Schiebetür des Polizei-Transporters energisch auf.

„Vater, ich wollte … wir haben …ich, ich …“ Tränen liefen ohne Halt über das kindliche und empfindsame Gesicht seines Sohnes Friedrich.

Pawlak schnürte es buchstäblich das Herz ab, wortlos bückte er sich nieder und nahm seinen Sohn lange und fest in seine Arme: „Dummer Junge, Du dummer …, wenn es dann keine weiteren Fragen mehr an euch gibt, fahren wir ganz schnell nach Hause.“ In seinen Worten lagen so viel ehrliche Besorgtheit und kraftvolle Beruhigung, dass Fritz und Finn nochmals heftig die Tränen kamen. „Finn, Deine Eltern wissen Bescheid, wo Du bist. Brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Wir kriegen das schon alles hin.“ Er schaute den Beamten an, der mit im Wagen saß.

Dieser schüttelte, offensichtlich mit Verweis auf eventuell offene Fragen, ruhig den Kopf.

„Ich stimme mich noch kurz mit Magda Hoffstein ab, dann fahren wir zurück, dauert höchstens fünf Minuten. Und ihr holt derweil euere Fahrräder zum Kombi, nicht dass wir die noch vergessen.“

Bevor er zur wartenden Kriminalkommissarin trat, die mit dem soeben eingetroffenen Rechtsmediziner sprach, telefonierte er mit seiner Frau. Alles sei gut, er bringe die Jungs in ungefähr zehn Minuten zu Hause vorbei. Er nickte dem Rechtsmediziner Dr. Schönfeld mit einem kurzen „Glück auf“ zu. Mit den Worten: „Frau Hoffstein, Sie geben Herrn Kriminalrat Obermüller Bescheid und fordern einen Fährtenhund an, das müssen wir noch heute Abend unverzüglich sicherstellen, ich bin in 20 Minuten wieder hier“, wandte er sich ab und ging zu seinem Kombi, bei dem die beiden Jungs mit ihren Fahrrädern schon verstört warteten.

8

„Die Tote heißt Anna Sieber, sie wohnt in Schwarzenfeld, einem Nachbarort ganz in der Nähe. In ihrem Umfeld wird sie von vielen wegen ihrer auffallend roten Haare und wohl auch wegen ihres ichbezogenen Auftretens die „Hexe“ genannt“, legte Magda Hoffstein sofort los, als Pawlak wieder am abgesperrten Fundort eintraf. „Das hat jedenfalls der ältere der beiden Waldarbeiter, ein gewisser Konrad Gerlach, ausgesagt. Sie sei mit seinem Enkel in der Schule in der gleichen Klasse gewesen.“

„Er wusste auch, wo sie wohnt. Ihr Vater, Jochen Sieber, hat eine eigene Baufirma und ihre Mutter, Hella Sieber, arbeitet in der Firma mit. Ansonsten wusste Herr Gerlach recht wenig über die Beschäftigung von Anna Sieber.“

„Die Baufirma Sieber kenne ich“, murmelte Pawlak leise.

„Sie ist vermutlich irgendwo Studentin und hält sich anscheinend nur an Wochenenden in ihrem Heimatort auf“, fuhr Frau Hoffstein fort. „Der andere Waldarbeiter, Herr, Herr …, wie hieß der gleich nochmal? – Ah, hier habe ich es, Herr Jentzig, also der, der Gerlach zum Fundort begleitet hat, kannte die Tote nicht. Er konnte überhaupt keine weiteren Angaben dazu machen.“ Frau Hoffstein blickte von ihrem Notizbuch auf. „Da die Kollegen die Personalien der Beiden aufgenommen hatten, habe ich keinen Grund mehr gesehen, dass sie noch hier verbleiben müssten und habe sie nach Hause gehen lassen.“

„Ja, gut, aber gehen Sie bitte nochmal einen Schritt zurück“, bat Pawlak, „ich weiß momentan so viel, dass die beiden Jungs die Tote oder zumindest die auffälligen roten Haare im Wasser haben liegen sehen. Sie sind trotz ihres Schreckens zu den Waldarbeitern gegangen, die sie bei ihrer Fahrt zum Schwarzen Waldsee gesehen hatten und die beiden Männer haben dann die 110 gewählt. Kurz darauf sind die Kollegen des zuständigen Wach- und Wechseldienstes eingetroffen. Und dann wurde unser Fachkommissariat informiert.“

„Ja, das ist soweit richtig. Die beiden Waldarbeiter waren augenscheinlich einigermaßen schockiert. Sie haben mit einem langen Ast den toten Körper aus dem Wasser bugsiert und ihn dann an den Füßen an den Rand des Waldsees gezogen“, berichtete die Kriminalkommissarin sachlich. „Natürlich haben sich damit Veränderungen an der Leiche ergeben und die Spurenlage ist demnach miserabel. Aber es ist schon nachvollziehbar, dass sie quasi einen Rettungsversuch in Angriff nehmen wollten“, fuhr sie mehr zu sich selbst fort, „ihnen war wahrscheinlich sofort klar, dass die aufgefundene Person schon längere Zeit im Wasser gelegen haben musste und haben deshalb nichts weiter unternommen.“ Sie vergewisserte sich nochmals in ihrem Notizbuch. „Das war Angabe gemäß 17:15 Uhr. Die beiden Kollegen sind ungefähr eine viertel Stunde nach dem Anruf hier eingetroffen“, berichtete sie weiter. Die Streifenpolizisten hätten sehr umsichtig gehandelt, die beiden Jungs und die Waldarbeiter ein ganzes Stück abseits des mutmaßlichen Geschehens positioniert und den Fundort entsprechend abgesperrt. Auch wenn das Fachkommissariat umfangreiche eigene Fotos anfertigen würde, hätten die beiden Kollegen sofort einige Fotos gemacht, auch um Veränderungen, die sich durch weitere Maßnahmen ergeben könnten, zu dokumentieren.

„Ich bin 17:49 Uhr informiert worden und habe von der Dienststelle aus zuerst die Tatortgruppe des LKA und die Rechtsmedizin angerufen und sie zu den mir bis dahin wesentlichen bekannten Fakten gebrieft. Im Anschluss bin ich um 18:44 Uhr beim Fundort eingetroffen“, setzte die Kommissarin ihren Bericht fort, „die Tatortgruppe ist kurz nach mir hier erschienen. Die Kollegen von der Spurensicherung haben alle möglichen Spuren von außen nach innen zum Fundort im Umkreis von ca. 15 m gesichert und ausgetafelt. Eine Positionsbestimmung des Opfers konnte nicht mehr erfolgen, da die Leiche von den Waldarbeitern angefasst und bewegt worden war. Die Spusi hat alles vermessen, fotografisch dokumentiert und wird mit Hilfe der Fotogrammetrie ein 3-D-Modell vom Fundort erstellen“, erläuterte Magda Hoffstein den bisherigen Ablauf der Fundortsicherung. „Ich habe dann unverzüglich die Staatsanwaltschaft informiert und um Genehmigung für eine gerichtsmedizinische Obduktion nachgefragt“, setzte die Kommissarin ihren Bericht fort. „Der diensthabende Staatsanwalt wird sich sofort darum kümmern und den Auftrag selbst an die Rechtsmedizin weitergeben. Zum Tatort wird aber niemand von der Staatsanwaltschaft herkommen.“ Mit Blick in Richtung Fundort ergänzte sie: „Die Kollegen haben auch schon die Wasserleiche nach Ausweispapieren und Handy abgesucht, Brieftasche mit ungefähr 80 € und ihr Ausweis waren vorhanden. Handysuche leider ohne Erfolg. Einen Schlüsselbund konnten sie ebenfalls sicherstellen. Raubmord dürfte damit ausscheiden.“ Sie wies mit ihrer rechten Hand auf den am Rand des Waldweges abgestellten Transporter. „Jetzt warten sie unterdessen in ihrem VW-Bus bis der Hundeführer mit einem Fährtenhund eingetroffen ist, vielleicht müssen sie noch an anderen Stellen Spuren sichern“, ergänzte die Kommissarin. „Dr. Schönfeld hatten Sie ja schon gesehen, als Sie die Jungs abgeholt haben. Er hat in seinem Schutzzelt eine erste kriminalistische Leichenschau begonnen und müsste höchstwahrscheinlich gleich zu uns stoßen.“

„Hab gerade meinen Namen gehört“, trat der Rechtsmediziner Dr. Schönfeld von hinten an die beiden Kommissare heran. „Hätte mich gefreut, Andreas, wenn unser Zusammentreffen einen erfreulicheren Anlass gehabt hätte.“

Pawlak und Dr. Erik Schönfeld kannten sich zwar erst seit zwei Jahren, aber nicht nur wegen ihrer erzgebirgischen Herkunft und des wiedergewählten Wohnsitzes im Gebirge hatte sich sehr schnell eine enge Freundschaft zwischen ihnen gebildet. Dr. Schönfeld war ebenso wie Pawlak ein absoluter Fan schöner Oldtimer-Motorräder. So wie Pawlak war er gleichfalls stolzer Besitzer von zwei oder drei toprestaurierten Simson AWO-Motorrädern, die mit ihren mehr als 60 Jahren als laden-neu durchgehen könnten. Sie hatten bereits einige gemeinsame Motorradtouren entlang der Silberstraße durchgeführt. Ihr nächstes Wunschziel bestand in dem Vorhaben, mit den Motorrädern vom Fichtelberg bis nach Kap Arkona, natürlich mit Übernachtungen, durchzustarten. Was sie noch verband, war der Wunsch, Traditionen fortbestehen zu lassen und das schöne Brauchtum des Erzgebirges zu erhalten.

„Das junge Mädel ist seit mindestens einem Tag tot. Sie hat eine schwere Verletzung an der linken oberen Kopfseite. Ich habe auch einige Hämatome an den Oberarmen und im Schulterbereich gefunden. Sie muss sofort auf meinen Tisch.“ Fragend wandte er sich an Pawlak: „Frau Hoffstein hat vorhin erwähnt, dass die Staatsanwaltschaft informiert ist und die Rechtsmedizin mit der gerichtsmedizinischen Obduktion beauftragen wird. Wenn ich zurück bin, liegt die staatsanwaltschaftliche Anordnung sicherlich schon vor. Ich denke, dass ich bis morgen Mittag einen vorläufig abschließenden Bericht vorlegen kann.“ Er schaute Pawlak und Hoffstein an. „Wenn ihr mich dann nicht mehr braucht, warte ich noch bis das Bestattungsunternehmen zum Abtransport der Leiche in das Institut für Rechtsmedizin hier ist und dann verschwinde ich auch“, beendete der Rechtsmediziner seinen kurzen Bericht, „alle weiteren Fragen, die ihr vielleicht jetzt habt, können wir dann morgen erörtern. Ich denke, Andreas, dass Du so gegen elf, halb zwölf bei mir anrufen könntest. Glück auf miteinander!“ Schnellen Schrittes stapfte er zurück in sein Untersuchungszelt.

„Offensichtlich ist die Todesursache noch keineswegs eindeutig, schwere Verletzung am Kopf und Hämatome“, grübelte Pawlak, „und sie lag im Wasser.“

„Also mit höchster Wahrscheinlichkeit Fremdeinwirkung. Insoweit war es gut, dass ich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet habe“, zeigte sich Magda Hoffstein sicher.

„Obermeister Zemski“, wurden sie durch einen hinzutretenden Polizisten in ihrem Gespräch unterbrochen, „melde mich wie angefordert mit meiner Senta zu eurer Unterstützung.“ Er trug das für die Diensthundestaffel typische blaue Barett und den dunklen Einsatzanzug.

„Freue mich, Sie beide kennenzulernen“, sagte Pawlak mit herzlichem Blick zum Hundeführer und den artig platzmachenden Labrador Retriever. „Sie wissen von meiner Kollegin Hoffstein, dass im Schwarzen Waldsee eine tote Person gefunden wurde. Leider wurden von den Waldarbeitern, die zuerst hier waren, verhältnismäßig viele Spuren vernichtet oder auch neue hinzugebracht. Was wir nicht kennen, ist der genaue Tatort. Es ist davon auszugehen, dass der tödliche Vorfall hier in der Nähe stattgefunden haben könnte.“

„Meine treue Senta, sie ist übrigens keine Fährtenhündin, sondern Man-Trailer, hat in ihrer siebenjährigen Berufslaufbahn schon so manche Überraschung zu Tage gebracht. Ich werde mich beeilen, vielleicht werden wir bald fündig“, bedeutete zuversichtlich der Obermeister mit erwartungsfrohem Blick auf seine Hündin.

„Da sieht man es mal wieder, unter Hundefreunden versteht man sich fast ohne Worte“, grinste Pawlak.

„Ich fange dort an, wo Tafel 1 ist, also wo die Leiche nachdem sie aus dem Waldsee gezogen wurde, abgelegt wurde, gehe dann in Richtung Tafel 9. Das ist von hier aus gesehen der letzte Punkt, den die Spusi gekennzeichnet hat. Vielleicht finde ich, oder besser gesagt, Senta findet da schon weiterlaufende Spuren und dann arbeiten wir uns systematisch vor“, klärte der Hundeführer auf, um sofort mit kurzer Leine die Man-Trailer-Hündin zum Ablageort zu führen. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Hund Witterung einer Spur aufgenommen und zog sein Herrchen forsch in Richtung des Trampelpfades, auf dem auch Fritz und Finn sich dem Schwarzen Waldsee genähert hatten. Der Hund ging nunmehr an einer ca. 5 m langen Leine. Nach flüchtigem Zögern schnüffelte der Hund mit seiner gesenkten Schnauze nur wenige Millimeter oberhalb vom Waldboden den Trampelpfad entlang weiter waldwärts.

Gespannt hatten Pawlak und Hoffstein die intensive Arbeit des Tieres verfolgt. Hund und Hundeführer waren jetzt aus ihrem Blickfeld entschwunden. Sie hörten lediglich die halblauten freundlichen und beipflichtenden Rufe des Obermeisters, der seiner Senta ständig eine wohlwollende Rückkoppelung gab.

„Sie hatten mir vorhin aufgetragen, Herrn Kriminalrat Obermüller anzurufen“, wandte sich Frau Hoffstein an Pawlak. „Erst dauerte es ewig, bis er an das Telefon ging und dann war er einigermaßen misslaunig, dass ich ihn nach Feierabend anrufe. Ich habe ihm die bekannten Fakten stichwortartig mitgeteilt, die er schweigend zur Kenntnis nahm. Er will vielleicht eine Sonderkommission einrichten. Vielleicht will er sie selbst leiten. Aber das hat er im Raum stehen lassen. Sie, Herr Kriminalhauptkommissar, sollen ihn morgen Vormittag anrufen, aber nicht vor zehn.“

„Spur voraus!“ ertönte plötzlich der laute Bass des Hundeführers.

So als wären sie bei der Spurensuche selbst dabei gewesen, standen die Kolleginnen und Kollegen der Tatortgruppe augenblicklich bereit, um sich mit der Sicherung ggf. neuer Spuren zu befassen.

Der Hund hatte in einer Entfernung von vielleicht 25 Metern angeschlagen. Da es in den letzten Tagen nicht geregnet hatte, waren die dunklen Spuren, anscheinend von Blut, auch im zunehmenden Dämmerlicht des sich neigenden Tages noch immer sichtbar. Nachdem zwei Mitarbeiter der Tatortgruppe wiederum ein Schutzzelt errichtet hatten, wurde Luminol versprüht, um schon nicht mehr sichtbare Spuren vernehmlich zu machen. Es gab mehrere tiefe Fußabdrücke und deutliche Spuren von Blut, Haaren und kleinen Knochensplittern an einem großen spitzen Stein. Das musste der Ort der Tötung oder zumindest der schweren Verletzung des jungen Mädchens sein.

Der Hund hatte dann noch eine weitere Spur aufgenommen, die entlang eines schmalen Pfades mit einer großen Biegung ca. 100 m bis zu einem anderen teilweise asphaltierten Waldweg führte. Dort war augenscheinlich ein Pkw abgestellt gewesen. Die tiefen Eindrücke an der unbefestigten Seite des Weges zeigten, dass es sich um einen schweren Wagen gehandelt haben musste.

Man-Trailer Senta hatte „Platz“ gemacht und konnte dann aber keine weiterführenden Spuren mehr aufnehmen.

Die Tatortgruppe fand drei Zigarettenstummel an der Stelle, wo das Auto gestanden hatte. Sie setzte wiederum Fotogrammetrie zur späteren Erstellung eines 3-D-Modells ein und nahm mittels Drohne umfangreiche Aufnahmen und Vermessungsarbeiten vor. Fundort und möglicher Tatort mit vermutlichen DNA-Spuren sowie der denkbare Zugangsweg des Opfers und seines Begleiters waren dokumentarisch gesichert.

„Danke Kollegen“, rief ihnen und dem noch immer mit seiner Senta wartenden Hundeführer der Kriminalhauptkommissar Pawlak zu, „das war ausgezeichnete Arbeit. Jetzt haben wir die besten Grundlagen für unsere weitere Ermittlungsarbeit. Ich soll Dr. Schönfeld morgen gegen Mittag anrufen. Könnt ihr mir bis dahin eure wesentlichsten Ergebnisse zur Verfügung stellen?“

„Ja, das müsste zu schaffen sein. Wir müssten jetzt alles im Kasten haben. Ich bringe den ersten vorläufigen Bericht bis gegen 11:00 Uhr bei euch vorbei“, bejahte der Chef der Einsatzgruppe Pawlaks Frage, „für die DNA-Auswertungen müsst ihr euch sicherlich bis nächste Woche gedulden.“

„So, jetzt packen wir langsam alles noch zusammen, wird wohl heute Nacht auch keinen großen Verkehr mehr hier im Wald geben. Die Absperrung ist aus unserer Sicht auch nicht mehr notwendig, nicht dass der einsame Stülpner Karl noch darüber fällt“, neckte er mit Blick auf Pawlak.

„Was der von dem Karl Stülpner weiß, möchte ich wissen“, schnaufte Pawlak nur für Frau Hoffstein hörbar.

„Die Angehörigen müssen benachrichtigt werden, Sie sind ja eigentlich gar nicht mehr im Dienst und bei Ihnen zu Hause herrscht sicherlich auch eine angespannte Lage. Soll ich das jetzt gleich übernehmen und zu Familie Sieber fahren?“, fragte die Kommissarin behutsam.

„Mein freies Wochenende kann ich in den Schornstein schreiben. Wir müssen uns morgen, sagen wir ab 10:00 Uhr, zusammensetzen. Sie könnten am Vormittag alle verfügbaren Informationen aus dem Umfeld von Anna Sieber zusammenstellen und über mögliche Ermittlungsansätze nachdenken. Ich rufe Dr. Schönfeld aus der Dienststelle dann kurz vor Mittag an, wann wir vorbeikommen können. Der erste Bericht der Ermittlungsgruppe sollte dazu ebenfalls bereits vorliegen.“ Pawlak straffte seinen Rücken, „wir beide gehen jetzt gemeinsam zu Familie Sieber. Ich denke, dass ist besser so. Ich kenne Herrn und Frau Sieber zwar nicht näher, aber zu zweit ist diese schreckensvolle Nachricht leichter zu überbringen. Ich gebe meiner Frau noch Bescheid, dass es länger dauert, dann können wir starten.“

9

Pawlak und Hoffstein waren fast zur gleichen Zeit mit ihren beiden Wagen vor der Toreinfahrt der Familie Sieber angekommen. Magda Hoffstein war froh, dass Pawlak selbst die grauenvolle Nachricht den Eltern von Anna Sieber überbringen würde. Aus dem Garten hinter dem sehr eindrucksvollen, villenähnlichen großen Haus war laute Musik zu hören, Uriah Heep erzählte von der Lady in Black, die an einem einsamen Sonntagmorgen zu ihm gekommen war, wobei ihr langes Haar im Winterwind wehte und er nicht wusste, wie sie ihn gefunden hatte …

„Wir müssen jetzt diese Freitagabend-Idylle zerstören.“ Pawlak betätigte den Klingelknopf, woraufhin eine angenehme Tonfolge melodischer Akkorde erklang.

„Hella, geh mal an die Tür! Vielleicht ist es sowieso für Dich.“ In gewohnt befehlsmäßigem Ton rief Jochen Sieber laut durch das große geöffnete Fenster in Richtung seiner Frau, die ganz Auge und Ohr auf einer hellgrauen Ledercouch vor einem riesigen Fernseher saß.

Wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. „Ja, bitte, was können wir für Sie tun?“ Hella Sieber war eine schlanke und sehr sportliche Frau, vielleicht Ende dreißig, höchstens Anfang vierzig. „Mein Mann ist hinten auf der Terrasse, ich kann ihn gleich mal holen“, unsicher blickte sie sich um.

„Warten Sie, Frau Sieber, das ist Frau Hoffstein und mein Name ist Pawlak, wir sind von der Polizei. Können wir vielleicht reinkommen und könnten Sie Ihren Mann bitte rufen.“ Pawlak stand ruhig und konzentriert da, mit der einen Hand hielt er seinen Dienstausweis hoch, die andere Hand hatte er noch immer auf das schwarze schmiedeeiserne Geländer gelegt, das die wenigen Stufen von der phantastisch gepflasterten Einfahrt zur breiten Eingangstür säumte. Drei gusseiserne Laternen vervollständigten das ästhetische Ensemble.

„Um was geht es denn, weshalb kommt die Polizei so spät am Freitagabend zu uns? Was ist denn eigentlich los?“ Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „Jochen, Jochen, Du musst sofort kommen, die Polizei ist da, die Polizei ist hier!“, wiederholte sie immer hysterischer werdend.

„Ah, Pawlak, Du bist es, dachte Du arbeitest in Leipzig“, näherte sich Sieber langsam von der rechten Giebelseite des Hauses aus dem dahinterliegenden Garten. „Und eine attraktive Begleitung hast Du Dir auch gleich mitgebracht!“ Sieber hatte offenkundig schon ein oder zwei „Feierabend“-Biere intus. Breit lächelnd stieg er die Stufen zum Eingangsbereich empor.

„Das ist Frau Kriminalkommissarin Magda Hoffstein“, stellte Pawlak seine Kollegin Jochen Sieber vor, ohne auf die Bemerkung zu Leipzig weiter einzugehen. „Ich wäre dankbar, wenn wir uns drinnen unterhalten könnten.“

Mit großzügiger Handbewegung lud sie Sieber jovial ein, in das Haus einzutreten. Sie gingen bis zum großen, modern eingerichteten Wohnzimmer. Ein übergroßes Fenster über die gesamte Breite des Raums erweckte den Eindruck, als verschmelze das Wohnzimmer mit dem Garten. An den anderen Wänden waren dezente moderne Aquarelle platziert. Allem Anschein nach handelte es sich um sehr teure, handsignierte Originale. Schräg vor dem großen Fenster stand ein spiegelnd weißes Klavier. Der Fußboden war mit ganz hellen, hochglänzenden Marmorplatten ausgelegt. Auf einem Sideboard standen vier Fotografien, die ihre Tochter Anna als vielleicht dreijähriges Kleinkind auf einer Decke im Garten, als Schulanfängerin mit einer riesigen Zuckertüte, dann offensichtlich als erfolgreiche Abiturientin mit einer großen Urkunde und als Studentin vor dem Hauptgebäude der Hochschule zeigten. Das gesamte Haus atmete den Charakter deutlich zu zeigender wohlhabender Eleganz. Pawlak blickte sich sichtlich beeindruckt um. Der Betrieb scheint wirklich nicht schlecht zu gehen, waren seine Erwägungen.

So als hätte Sieber seine Gedanken lesen können, lächelte er und erklärte vielsagend, dass die Geschäfte derzeit absolut brummen würden. Er könne sich vor Aufträgen kaum retten. Nur mit dem Material sei es jetzt schon fast wieder so wie zu DDR-Zeiten. Man müsse monatelang warten, Bauteile würden zu spät geliefert und Holz sei nahezu unbezahlbar geworden. Er habe ein paar ganz geschickte Burschen aus Polen und aus Rumänien, aber wenn die in ihrer Heimat etwas Gescheites finden würden, seien sie von heute auf morgen auch weg. Na ja, um solche Probleme müssten sie sich als Staatsbedienstete wohl kaum sorgen. Bei ihnen sei am Monatsanfang der Kontostand immer aufgefüllt, stichelte Sieber.

„Aber bitte setzt euch doch, darf ich was zu trinken anbieten?“, Sieber näherte sich einem zweiten stylischen Sideboard, auf dem eine ganze Batterie Flaschen und Kristallgläser bereitstanden. „Vielleicht einen Dalwhinnie Single Malt Whisky oder einen Lagavulin Single Malt oder einer der Besten: Chivas Royal Salute Scotch Whisky, 21 Year Old“, las er die englischen Beschriftungen mit erzgebirgischer Intonation genießerisch ab. Er nahm die Flaschen kurz in die Höhe und hielt sie kennerisch gegen die mondäne Deckenbeleuchtung. „Für die Dame vielleicht einen Luigi Francoli Grappa oder einen Herencia de Plata Tequila Anejo?“

„Danke, ein Glas Wasser wäre aber gut“, erwiderte Pawlak unbeeindruckt. Frau Hoffstein und er hatten abwartend und etwas zaghaft auf der hellen Ledercouch Platz genommen.

Frau Sieber stand unverzüglich auf und holte aus der Küche zwei Gläser Wasser und stellte sie vor Hoffstein und Pawlak auf den Couchtisch.

Pawlak räusperte sich. „Wir müssen eine sehr, sehr schlimme Nachricht überbringen. … Heute am späten Nachmittag wurde eure Tochter Anna im Schwarzen Waldsee tot aufgefunden.“ Pawlak sprach mit fester Stimme. „Es tut uns sehr leid und wir möchten euch unser tief empfundenes Beileid aussprechen.“

So als hätte er Pawlak überhaupt nicht gehört, wiederholte Sieber wie aus einer anderen Welt: „Was ist nun mit dem Whisky, Pawlak?“

Hella Sieber war bei den Worten von Pawlak leichenblass geworden, sie sank reglos auf die Couch und blickte von Pawlak zu Hoffstein und zu ihrem Mann. Plötzlich sprang sie auf: „Sie ist tot – hast Du das nicht verstanden. Sie ist tot, sie ist tot, unsere Tochter ist tot.“ Sie nahm ein Kissen von der Couch und drückte es fest gegen ihr Gesicht, ein heftiges Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper. Lähmende Stille dröhnte in ihrer aller Ohren.

„Ihr irrt euch, ihr blöden Bullen, meine Prinzessin ist in ihrem Studentenwohnheim, sie wollte heute oder morgen nach Hause kommen. Was für eine Scheiße erzählst Du eigentlich, Pawlak? Ihr schneit hier unangemeldet rein und erzählt irgendwas davon, dass meine Prinzessin im Waldsee gefunden wurde. Das stimmt nicht, das stimmt nicht, das stimmt doch nicht.“ Die Stimme von Jochen Sieber war immer lauter und bedrohlicher geworden. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und drückte auf einen Anrufkontakt. Nach vergeblichem Ruf-Ton legte er auf und warf das Handy auf die Couch. „Sie ist doch meine kleine Prinzessin, die ich beschützen muss.“ Wenige Augenblicke später brach Sieber erkennbar zusammen. Er weinte nun hemmungslos. „Sie ist doch meine kleine Prinzessin.“

„Ich wollte euch sofort Bescheid geben“, sagte Pawlak in die schutzlose Verlassenheit hinein. „Es gibt bislang noch keinerlei Erkenntnisse, was überhaupt passiert ist“, versuchte er ohne Emotionen den Faden wieder aufzunehmen. „Ich werde euch unverzüglich informieren, wenn es erste Erkenntnisse gibt. Ich werde mich aber in jedem Fall spätestens am Montag nochmal melden, ich rufe vorher an.“

„Pawlak, Du bist doch einer von hier, bring mir den Mörder“, blickte Sieber Pawlak bittend an.

„Herr Kommissar, Frau Kommissarin, bitte, wie ist unsere Tochter ums Leben gekommen, was ist passiert?“, unendlich müde und kraftlos wandte sich Frau Sieber flehentlich an Pawlak und Hoffstein.

„Wie ich schon sagte, wissen wir das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht exakt. Sie hat eine schwere Kopfverletzung und lag im Wasser. Es gibt also möglicherweise Hinweise auf eine gewaltsame Fremdeinwirkung“, Pawlak schaute beide an. „Es sieht im Augenblick danach aus, dass Anna auf dem Weg zum Waldsee auf einen großen spitzen Stein aufgeschlagen ist. Was genau passiert ist, müssen die weiteren Untersuchungen ergeben.“ Pawlak blickte zum großen Fenster mit dem weiten Blick in den an vielen Stellen beleuchteten, professionell angelegten und sehr gepflegten Garten, der mit einem Mal einen sehr einsamen Eindruck machte.

Das Fenster führte unmittelbar zu einer überdachten Terrasse, die mit beigefarbenen ca. 60 cm x 60 cm großen Platten geschmackvoll ausgelegt war. Mehrere Sonnenliegen, vier Sessel und ein großer runder Tisch strahlten eine gediegene Behaglichkeit aus. Ganz links stand ein großer anthrazitfarbener Strandkorb. Wenige Stufen führten hinab zu einem großzügigen Swimmingpool, dessen klares, hellblaues Wasser durch ungefähr ein Dutzend eingebauter Unterwasserstrahler in ein mondänes verträumtes Aussehen verzaubert wurde. Die dunkle Begrenzungshecke am schier endlos sich in die Landschaft hineinziehenden Garten schien nun mit der Nacht eins werden zu wollen. Eine bleierne Dunkelheit näherte sich dem Garten unaufhaltsam.

Pawlak löste sich aus seinen Betrachtungen zurückkehrend an Familie Sieber: „Was könnte Ihre, eure Tochter veranlasst haben zum Schwarzen Waldsee zu gehen?“

Herr und Frau Sieber zuckten die Schulter.

Pawlak kramte in seinem Gedächtnis, wie hieß der Herr Sieber gleich nochmal. „Frau Sieber, Jochen, wir werden alles Menschenmögliche tun, um Licht in das Geschehen zu bringen. Wir wollen euch jetzt nicht weiter behelligen, aber vielleicht können Sie, könnt ihr noch einige wenige Fragen beantworten.“

Stumm nickten Herr und Frau Sieber dem Fragenden zu.

Andreas Pawlak legte sein grünes Notizbuch vor sich auf den prachtvollen Couchtisch.

10

„Hiiiilfe, hiiiilfe,“ nur mehr ein schwaches Krächzen kam aus ihrem Mund. Wie lange war sie schon in diesem kühlen und dunklen Keller gefangen, ob sie überhaupt jemals jemand hören konnte? Wo war sie eigentlich, was war tatsächlich passiert, was würde jetzt mit ihr geschehen? – Immer wieder kreisten dieselben Fragen in ihrem Kopf, wie spät ist es jetzt? Außerdem, was ist für ein Tag heute?