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Kostenlose Leseproben aus dem Penguin Verlag

Entdecken Sie mit David Foenkinos das Musee d’Orsay in Paris und eine ganz besondere Liebe. Folgen Sie Regina Scheer auf Spurensuche in einem Haus im Berliner Wedding. Meike Winnemuth entführt Sie in ihren Garten an der Ostsee und Paolo Cognetti entflieht dem hektischen Großstadtleben in die Stille und Abgeschiedenheit der italienischen Alpen.

Dieses eBook enthält Leseproben zu

- David Foenkinos: "Die Frau im Musée d'Orsay"

- Meike Winnemuth: "Bin im Garten"

- Gary Shteyngart: "Willkommen in Lake Success"

- Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding"

- Paolo Cognetti: "Mein Jahr in den Bergen"

- Asli Erdogan: "Das Haus aus Stein"

- Vivian Gornick: "Ich und meine Mutter"

- Martin Horvath: "Mein Name ist Judith"

- Antonio Munoz Molina: "Schwindende Schatten"

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Penguin Verlag (Hg.)

Es gibt viel zu entdecken – die besten Romane des Sommers

Leseproben aus dem Penguin Verlag

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © Penguin Verlag

ISBN 978-3-641-25777-4

V002

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Entdecken Sie mit David Foenkinos das Musee d’Orsay in Paris und eine ganz besondere Liebe. Folgen Sie Regina Scheer auf Spurensuche in einem Haus im Berliner Wedding. Meike Winnemuth entführt Sie in ihren Garten an der Ostsee und Paolo Cognetti entflieht dem hektischen Großstadtleben in die Stille und Abgeschiedenheit der italienischen Alpen.

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David Foenkinos: Die Frau im Musée d’Orsay

Meike Winnemuth: Bin im Garten

Gary Shteyngart: Willkommen in Lake Success

Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding

Paolo Cognetti: Mein Jahr in den Bergen

Asli Erdogan: Das Haus aus Stein

Vivian Gornick: Ich und meine Mutter

Martin Horvath: Mein Name ist Judith

Antonio Munoz Molina: Schwindende Schatten

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LeseprobeDavid FoenkinosDie Frau im Musée d'OrsayRomanPenguin VerlagHier geht’s zum Shop

Warum nur flieht Antoine Duris Hals über Kopf aus seinem bisherigen Leben? Er war Professor an der Kunsthochschule in Lyon und zieht nun nach Paris, um im Musée d’Orsay, wo die farbenfrohen Gemälde von Manet, Monet und Modigliani hängen, Wärter zu werden. Keiner kennt die Gründe für diesen plötzlichen Wandel, keiner weiß, wie sehr ihn das Schicksal seiner hochbegabten Studentin Camille mitgenommen hat. Erst als er Mathilde kennenlernt, findet Antoine einen Weg, sich der Freude, dem Genuss und der Liebe wieder hinzugeben …

Ein kluger, feinfühliger Roman, der vom Mut erzählt, dem Leben eine neue Wendung zu geben – und eine Liebesgeschichte voller Momente der Schönheit.

»Wie ›Charlotte‹hat auch diese Geschichte etwas Strahlendes, Vitales.« Le Figaro Littéraire

»Von der Hässlichkeit des Verbrechens zur Schönheit von Bildern … ein wunderbarer Roman über das Leid und die heilende Kraft der Kunst.« Le Journal du Dimanche

»Eine Geschichte, die uns nicht mehr loslässt, die uns verblüfft und erschüttert.« RTL

David Foenkinos, 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Neben den Romanbiografien, »Charlotte« (2015) und »Lennon« (2018), finden auch seine Komödien begeisterte Leserinnen und Leser, darunter die Bestseller »Nathalie küsst« (2011) und »Das geheime Leben des Monsieur Pick« (2017), dessen Verfilmung 2019 ins Kino kommt. »Die Frau im Musée d’Orsay« ist Foenkinos’ neuester Roman, der wochenlang in Frankreich auf der Bestsellerliste stand.

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DAVID FOENKINOS

Die Frau im Musée d’Orsay

Roman

Aus dem Französischen vonChristian Kolb

ERSTER TEIL

1

Das Pariser Musée d’Orsay ist ein ehemaliger Bahnhof. Die Gegenwart wandelt somit auf ungewöhnliche Art auf den Spuren der Vergangenheit. Man kann die Gedanken schweifen lassen und sich vorstellen, wie zwischen Gemälden von Manet und Monet die Züge einfahren. Auch eine Form des Reisens. Auf dem Platz vor dem Museum hat mancher Besucher vielleicht Antoine Duris gesehen. Still und verdutzt stand er da, als wäre er vom Himmel gefallen. Verdutzt ist wohl das richtige Wort, um seine Gefühlslage zu beschreiben.

2

Er kam viel zu früh zu seinem Termin mit der Personalchefin. Seit Tagen bereitete er sich innerlich auf dieses Vorstellungsgespräch vor. Er wollte unbedingt im Musée d’Orsay arbeiten. Mit ruhigem Schritt ging er auf den Mitarbeitereingang zu. Mathilde Mattel hatte am Telefon ausdrücklich betont, er solle auf keinen Fall den Besuchereingang nehmen. Ein Mann vom Sicherheitsdienst forderte ihn auf, stehen zu bleiben.

»Haben Sie eine Zugangskarte?«

»Nein, aber ich werde erwartet.«

»Von wem?«

»…«

»Von wem werden Sie erwartet?«

»Pardon … von Madame Mattel.«

»In Ordnung. Melden Sie sich bitte am Empfang.«

»…«

Ein paar Meter weiter erklärte er erneut den Grund seines Erscheinens. Eine junge Frau warf einen Blick in ein großes schwarzes Kalenderheft.

»Sind Sie Monsieur Duris?«

»Ja.«

»Darf ich Ihren Ausweis sehen?«

»…«

Das war doch absurd. Wer würde sich schon für ihn ausgeben wollen? Brav holte er seinen Ausweis hervor und überspielte seine Unsicherheit mit einem verständnisvollen Lächeln. Das Vorstellungsgespräch schien bereits beim Sicherheitsdienst und der Empfangsdame anzufangen. Es galt, vom ersten Bonjour an auf der Höhe zu sein, sich bloß kein holpriges Merci zu erlauben. Nachdem die junge Frau überprüft hatte, ob er wirklich Antoine Duris war, beschrieb sie ihm den Weg. Er sollte einem Flur folgen, an dessen Ende sich ein Aufzug befand. »Das ist ganz einfach, Sie können das Büro gar nicht verfehlen«, fügte sie hinzu. Antoine schwante, dass er sich aufgrund dieser Äußerung nun garantiert verlaufen würde.

In der Mitte des Flurs angelangt, wusste er schon nicht mehr, wohin. Hinter einer Glasfront entdeckte er ein Gemälde von Gustave Courbet. Die Schönheit war immer noch das beste Mittel gegen den Zweifel. Seit Wochen kämpfte er dagegen an, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er spürte, dass er mit seinen Kräften am Ende war, die beiden kurzen Gespräche, die er hinter sich hatte, hatten ihn schon erhebliche Anstrengungen gekostet. Dabei war es nur darum gegangen, ein paar Worte zu sagen, völlig harmlose Fragen zu beantworten. Sein Weltverständnis war in ein Primärstadium zurückgefallen, er hatte oft irrationale Angstzustände. Er merkte, dass das, was er erlebt hatte, Spuren hinterlassen hatte. Würde er es wenigstens schaffen, mit der Personalchefin des Musée d’Orsay, Madame Mattel, ein Vorstellungsgespräch zu führen?

Als er mit dem Aufzug in den zweiten Stock fuhr, stellte er bei einem flüchtigen Blick in den Spiegel fest, dass er Gewicht verloren hatte. Es wunderte ihn nicht, er nahm zurzeit nicht viel zu sich, vergaß manchmal schlicht das Mittag- oder Abendessen. Sein Magen nahm es ohne Knurren hin, sein ganzer Körper war so etwas wie eine betäubte Stelle. Nur der Kopf sagte: »Antoine, du musst was essen.« Es gibt zwei Arten von menschlichem Leid. Leid, gegen das der Körper sich wehrt, und Leid, gegen das der Geist sich wehrt. Dass beide sich wehren, ist selten.

Im zweiten Stock wurde er von einer Frau empfangen. Normalerweise erwartete Mathilde Mattel ihre Gäste in ihrem Büro, doch für Antoine Duris setzte sie sich in Bewegung. Sie hatte es furchtbar eilig, die Gründe seiner Bewerbung zu erfahren.

»Sind Sie Antoine Duris?«, fragte sie dennoch, um sicherzugehen.

»Ja. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?«

»Nein, wieso?«

»Unten hat man ihn sehen wollen.«

»Das ist wegen des Ausnahmezustands. Tut mir leid.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wer auf die Personalchefin des Musée d’Orsay einen terroristischen Anschlag verüben sollte.«

»Man kann nie wissen«, antwortete sie lächelnd.

Was sich als geistreicher oder scherzhafter Kommentar verstehen ließ, war eigentlich eher eine kühle Bemerkung. Mathilde wies ihm mit einer Handbewegung den Weg zu ihrem Büro. Sie liefen einen langen, engen, leeren Flur entlang. Während er hinter ihr herging, dachte Antoine, dass diese Frau, die zu einer Zeit, zu der das übrige Personal noch gar nicht da war, potenzielle künftige Angestellte begrüßte, ein ziemlich langweiliges Leben haben musste. Er dachte recht ungeordnet und nicht allzu logisch.

In ihrem Büro bot ihm Mathilde alles Mögliche zu trinken an, Tee, Kaffee, Wasser, aber Antoine sagte Nein, Nein, Nein, danke. Also begann sie mit dem Vorstellungsgespräch:

»Ich muss sagen, ich war sehr überrascht, als ich Ihren Lebenslauf bekommen habe.«

»Warum?«

»Warum? Sie fragen, warum? Sie sind Hochschulprofessor …«

»…«

»Sie haben einen gewissen Ruf. Ich glaube, ich bin sogar schon einmal auf einen Artikel von Ihnen gestoßen. Und Sie bewerben sich als … Saalaufsicht.«

»Genau.«

»Kommt Ihnen das nicht komisch vor?«

»Nicht sonderlich.«

»Ich habe mir erlaubt, bei der Kunsthochschule in Lyon anzurufen«, sagte Mathilde nach einer Weile.

»…«

»Man hat mir bestätigt, dass Sie Ihre Stelle dort aufgegeben haben. Einfach so, von heute auf morgen, ohne irgendeine Erklärung.«

»…«

»Haben Sie keine Lust mehr zu unterrichten?«

»…«

»Haben Sie … Depressionen? Ich habe für so etwas Verständnis. Burn-outs sind weitverbreitet.«

»Nein. Nein. Ich brauche einfach mal eine Pause. Bestimmt werde ich irgendwann wieder anfangen zu unterrichten, aber …«

»Aber was?«

»Hören Sie, Madame, ich habe mich hier um eine Stelle beworben und würde gerne wissen, ob ich Aussicht darauf habe, sie zu bekommen.«

»Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen überqualifiziert sind?«

»Ich mag Kunst. Ich habe sie auch studiert, ich habe sie gelehrt, in Ordnung, aber im Augenblick möchte ich eben nur dasitzen und von schönen Bildern umgeben sein.«

»Saalaufsicht ist aber nicht unbedingt eine geruhsame Arbeit. Man wird ständig mit Fragen gelöchert. Und es kommen auch viele Touristen hierher. Man muss die ganze Zeit aufpassen.«

»Vielleicht können Sie mich ja zur Probe einstellen, wenn Sie an mir zweifeln.«

»Wir brauchen Leute, nächste Woche wird die große Modigliani-Ausstellung eröffnet. Da werden die Massen strömen. Das wird ein Riesenereignis.«

»Das trifft sich gut.«

»Wieso?«

»Modigliani war das Thema meiner Doktorarbeit.«

Mathilde erwiderte nichts. Antoine hatte gedacht, diese Auskunft könnte sich zu seinen Gunsten auswirken. Doch sie schien der Personalchefin vielmehr noch einmal vor Augen zu führen, wie merkwürdig sein Vorhaben doch war. Was wollte ein Gelehrter wie er hier? Stimmte es, was er sagte? Er wirkte wie ein verängstigtes Tier, das sich offenbar nur durch die Flucht in ein Museum retten konnte.

3

An nicht einmal einem Tag hatte Antoine seine Wohnung aufgelöst und die Schlüssel abgegeben. Sein Vermieter sagte zu ihm: »Sie haben zwei Monate Kündigungsfrist, Monsieur Duris … Sie können nicht einfach so weggehen. Ich muss mich ja wieder nach jemandem umschauen.« In völlig verzweifeltem Ton setzte er noch ein paar Sätze hinzu. Antoine fiel ihm ins Wort: »Keine Sorge. Ich zahle Ihnen die zwei Monate.« Er mietete einen kleinen Lastwagen und belud ihn mit seinen Kisten. In den meisten waren Bücher. Er hatte einmal einen Artikel gelesen über Leute, die von einem Tag auf den anderen ihr ganzes bisheriges Leben aufgaben. In Japan nannte man sie die, die sich in Nichts auflösen. Der wunderbare Ausdruck verschleierte ein wenig ihre dramatische Lage. Häufig handelte es sich um Männer, die ihren Job verloren hatten und in einer Gesellschaft, in der es darauf ankam, den äußeren Schein zu wahren, den sozialen Abstieg nicht verkrafteten. Lieber sein Heil in der Flucht suchen und auf der Straße leben als einer Frau, der Familie, den Nachbarn ins Auge sehen. Das war jedoch überhaupt nicht Antoines Situation, der als geachteter und renommierter Professor auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand. Dutzende von Studentinnen und Studenten hofften jedes Jahr, bei ihm ihre Abschlussarbeit schreiben zu dürfen. Was also war passiert? Louise hatte ihn verlassen, aber diese Wunde war in den vergangenen Monaten praktisch schon geheilt. Und so ein Liebesleid musste doch jeder mal ertragen. Deswegen ließ man nicht alles liegen und stehen.

Er hatte sämtliche Kisten und die paar Möbel, die er besaß, in einem Container in Lyon eingelagert. Und war mit einem einzigen Koffer in den Zug nach Paris gestiegen. Nachdem er die ersten Nächte in einem Zwei-Sterne-Hotel in der Nähe des Bahnhofs geschlafen hatte, fand er ein kleines Apartment in einem beliebten Viertel der Hauptstadt. Er brachte keinen Namen am Briefkasten an und musste weder einen Strom- noch einen Gasversorgungsvertrag abschließen. Alles lief auf den Namen des Vermieters. Niemand konnte ihn mehr aufspüren. Freunde und Verwandte machten sich freilich Sorgen. Um diese Sorgen zu zerstreuen oder vielmehr um in Frieden gelassen zu werden, schickte er eine Sammelmail an alle:

Meine Lieben,

es tut mir sehr leid, dass ich euch Kummer bereite. Die vergangenen Tage waren so hektisch, dass ich nicht dazu gekommen bin, eure Nachrichten zu beantworten. Kein Grund zur Unruhe, bei mir ist alles in Ordnung. Ich bin unterwegs auf einer langen Reise. Wie ihr wisst, habe ich seit Langem vor, einen Roman zu schreiben, deswegen nehme ich mir jetzt eine einjährige Auszeit. Ich bin ziemlich spontan aufgebrochen, insofern hat es gar keine Abschiedsparty gegeben. Seid mir nicht böse, wenn ich mich von der Welt abkapsle, um meinen Traum zu verwirklichen. Ich bin telefonisch nicht mehr erreichbar. Ich schreibe euch ab und zu eine Mail.

Alles Liebe

Antoine

Manche schrieben zurück, dass sie seinen Entschluss bewunderten, andere hielten ihn für leicht verrückt. Doch vielleicht war es tatsächlich der richtige Moment, diesen Plan umzusetzen, schließlich war er alleinstehend und kinderlos. Viele verstanden ihn. Er las ihre Mails, beantwortete sie nicht. Nur seine Schwester glaubte ihm nicht. Eléonore und Antoine standen sich zu nah, als dass sie sich vorstellen konnte, dass ihr Bruder einfach verschwand, ohne noch einmal zum Essen vorbeizukommen. Ohne seiner Nichte, mit der er so gerne spielte, einen Abschiedskuss gegeben zu haben. Irgendetwas passte da nicht zusammen. Eléonore überhäufte ihn mit Nachrichten: »Bitte sag mir, wo du steckst. Erklär mir, was los ist. Ich bin deine Schwester, ich bin für dich da, bitte lass mich nicht einfach so hängen. Rede mit mir …« Nichts zu machen. Keine Antwort. Eléonore versuchte alles, schlug andere Töne an: »Das kannst du mir nicht antun. Das ist gemein. Die Geschichte mit dem Roman ist Quatsch, ich glaube dir kein Wort!« Sie überschüttete ihn mit noch mehr Nachrichten. Aber Antoine schaltete sein Handy gar nicht mehr ein. Einmal tat er es doch und las die unzähligen Vorwürfe seiner Schwester. Er brauchte ihr nur ein paar beruhigende Worte zu schreiben. Nur ein paar Worte. Warum brachte er das nicht über sich? Eine geschlagene Stunde starrte er den Bildschirm an. Wie blockiert. Eine Art Schamgefühl überkam ihn. Eine Scham, die es ihm unmöglich machte, sich zu äußern.

Endlich antwortete er ihr: »Ich brauche ein wenig Zeit für mich. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich melde mich bald wieder. Gib Joséphine einen Kuss von mir. Dein Bruder Antoine.« Er stellte augenblicklich das Handy ab, weil er fürchtete, Eléonore könnte ihn gleich anrufen, wenn sie die Nachricht las. Er nahm auch die SIM-Karte heraus, wie ein Verbrecher, der Angst hatte, ertappt zu werden, und legte sie in eine Schublade. Er war für niemanden mehr erreichbar. Eléonore war erleichtert, als sie die Mitteilung sah. Sie begriff sofort, dass das mit dem Roman gelogen war und dass es Antoine große Mühe gekostet haben musste, diese höflichen Worte zu verfassen. Sie war nach wie vor besorgt. Es ging ihm offenbar schlecht. Sie wunderte sich, dass er mit »Dein Bruder Antoine« unterschrieben hatte. Die Formulierung benutzte er sonst nie, es war, als müsste er sich vergewissern, dass sie Geschwister waren. Sie hatte keine Ahnung, was er durchmachte und warum er sich so verhielt, sie wusste aber immerhin, dass er sich nicht von ihr abwenden würde. Letztlich beruhigte sie seine Nachricht doch nicht, sie bestärkte sie eher in dem Gedanken, dass sie ihn dringend treffen musste. Überraschenderweise sollte ihr das auch gelingen, es nahm jedoch viel Zeit und Energie in Anspruch.

4

Beim Verlassen seiner neuen Wohnung begegnete Antoine einem Nachbarn. Einem alterslosen Herrn zwischen vierzig und sechzig. Er musterte Antoine und fragte dann: »Wohnen Sie hier? Sind Sie der Nachmieter von Thibault?« Antoine stotterte ein Ja und entschuldigte sich, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, er sei sehr in Eile. Wieso musste man andauernd Auskunft geben, wer man war, was man machte, warum man gerade hier war und nicht anderswo? Das gesellschaftliche Leben hörte nie auf, das merkte er, seitdem er auf der Flucht war, es war so gut wie unmöglich, die Leute abzuschütteln.

Wenigstens in der Arbeit würde er niemandem auffallen. Museumswärter sind unsichtbar. Man schlendert an ihnen vorbei, den Blick aufs nächste Bild gerichtet. Ein besonderer Beruf, bei dem man ganz allein in der Menge ist. Am Ende des Vorstellungsgesprächs hatte Mathilde Mattel ihm mitgeteilt, er könne nächsten Montag anfangen. An der Türschwelle hatte sie noch hinzugefügt: »Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum Sie sich hier bewerben, aber eigentlich können wir uns ja glücklich schätzen, jemanden wie Sie im Haus zu haben.« Ihre Stimme hatte so herzlich geklungen. Sie war seit über einer Woche der erste Mensch gewesen, mit dem der weltabgewandte Antoine eine richtige Unterhaltung geführt hatte. Auf einmal hatte diese Begegnung für ihn an Bedeutung gewonnen. In den folgenden Tagen hatte er öfter an sie gedacht, als würde er sich auf einen hellen Punkt in der Nacht konzentrieren. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Wie wird man Personalchefin im Musée d’Orsay? Mochte sie die Filme von Pasolini, die Bücher von Gogol, die Impromptus von Schubert? Indem Antoine sich seiner Wissbegier überließ, spürte er, dass er doch nicht ganz tot war. Die Neugier scheidet die Welt der Lebenden von der der Toten.

In einem unauffälligen Anzug saß er auf seinem Stuhl. Man hatte ihm einen Platz in der Modigliani-Ausstellung zugewiesen. Gegenüber einem Porträt von Jeanne Hébuterne. Was für ein merkwürdiger Zufall. Jeanne Hébuterne, mit deren Leben, mit deren tragischem Schicksal er so vertraut war. An diesem Eröffnungstag drängte eine solche Menschenmenge in die Ausstellung, dass er das Bild gar nicht in Ruhe betrachten konnte. Die Leute standen sich gegenseitig auf den Füßen. Wie wohl der Maler diesen Auflauf empfunden hätte? Es hatte Antoine immer fasziniert, wenn der Erfolg sich erst im Nachhinein einstellte. Wenn Künstler Ruhm, Anerkennung und Geld erwarben, aber zu spät. Ein Knochenhaufen erntete den Lohn. Dieser nachträgliche Wirbel hatte etwas geradezu Abartiges, wenn man wusste, welches Leid und welche Demütigungen Modigliani zu Lebzeiten hatte erdulden müssen. Wer möchte schon posthum die große Liebe erleben? Und Jeanne … ja, die arme Jeanne. Hätte sie sich träumen lassen, dass die Menschen einmal in Scharen herbeiströmen würden, um ein in einen Rahmen gefasstes Bild ihres Gesichts zu sehen? Das heißt vielmehr, um einen kurzen Blick darauf zu erhaschen. Antoine verstand nicht, was für einen Nutzen es hatte, unter solchen Bedingungen in ein Museum zu gehen. Der Schönheit nahe zu sein, war natürlich ein Glück, aber warum musste man es bedrückt und bedrängt im Gewühl erfahren und dabei die Sprüche der anderen Ausstellungsbesucher über sich ergehen lassen? Er bemühte sich, darauf zu achten, was die Leute redeten. Manche waren ehrlich ergriffen und verliehen ihrem Entzücken Ausdruck, Modigliani im Original zu sehen. Und manche gaben katastrophale Kommentare von sich. Von seinem Stuhl aus beobachtete er die gesamte Bandbreite der Gesellschaft. Viele Touristen »besuchten« das Museum nicht, sie meinten: »Das Musée d’Orsay ist jetzt erledigt.« Was einen gewissen sozialen Zwang verriet. Abgehakt, so wie man Dinge auf einer Einkaufsliste abhakt. Der Ausdruck ließ sich auch auf ein ganzes Land anwenden. »Japan haben wir schon letztes Jahr erledigt …« So wird heutzutage eins nach dem anderen erledigt. Fährt man nach Krakau, erledigt man Auschwitz.

Antoines Gedanken waren sicherlich etwas boshaft, aber zumindest machte er sich überhaupt welche. Besser als die Lethargie, in die er seit einer Weile versunken war. Das unaufhörliche Gewimmel half ihm, sich selbst zu entkommen. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen, an denen ihm jede Minute im Kleid der Ewigkeit erschienen war, verging die Zeit wie im Flug. Als Kunststudent und später als Professor hatte er sein halbes Leben in Museen verbracht. Auch diese Räume, die Räume des Musée d’Orsay, hatte er oft durchschritten, erinnerte er sich. Niemals hätte er gedacht, dass er hier einmal Aufsicht führen würde. Diese Arbeit würde seinen Blick auf den Museumsbetrieb wahrscheinlich völlig verändern. Seine Getriebenheit würde sein Verständnis der Kunstwelt bereichern. Aber wozu sollte er es bereichern? Würde er denn je wieder nach Lyon und in seinen Job zurückkehren? Das war alles andere als gewiss.

Während er über die Unwägbarkeiten des Lebens grübelte, kam ein Kollege auf ihn zu. Er hieß Alain und bewachte die andere Seite des Raums. Im Laufe des Tages hatte er Antoine mehrmals vorsichtig freundliche Zeichen gegeben. Antoine hatte sie mit einem leicht verkrampften Nicken beantwortet. Sitzt man im selben Boot, steht man sich bei.

»Wahnsinn … Was für ein Tag, oder?«, begann er keuchend.

»Ja.«

»Endlich Pause.«

»…«

»Soll ich dir mal sagen, was ich auf dem Weg hierher heute Morgen gedacht habe? Ich habe gedacht, da kommen bestimmt nicht viele Leute zu der Ausstellung. Mir war dieser Modigliani überhaupt kein Begriff. Aber jetzt muss ich echt sagen, Hut ab.«

»…«

»Wie wär’s, wenn wir nachher noch auf ein Bier gehen? So ein Bier wird uns guttun, wir sind doch total alle.«

»…«

Der Klassiker einer ausweglosen sozialen Situation. Wenn Antoine Nein sagte, hielt man ihn gleich für einen Muffel. Man würde Notiz von ihm nehmen, über ihn sprechen, sich ein Urteil über ihn bilden. Er wollte auf keinen Fall Aufsehen erregen. Aber um nicht aufzufallen, war es immer noch das Beste, sich unter die Leute zu mischen, was für ein unerträglicher Widersinn. Der einzige Ausweg wäre gewesen, rasch ein Alibi zu erfinden: eine wichtige Verabredung oder die Familie, die zu Hause wartete. Doch dazu wäre ein gewisses Reaktionsvermögen vonnöten gewesen, eine instinktive Gabe, Ausweichmanöver einzuleiten. Eigenschaften, die Antoine abhandengekommen waren. Je länger man mit der Antwort zögert, desto geringer werden die Fluchtmöglichkeiten. Und so sagte er schließlich, obwohl er eigentlich nur nach Hause wollte: »Sehr gute Idee.«

Zwei Stunden später saßen die beiden Männer in einer Bar am Tresen. Antoine trank mit einem völlig Fremden ein Bier. Das Ganze erschien ihm irgendwie unnatürlich. Selbst das Bier schmeckte eigenartig.* Alain redete unaufhörlich, und das war gut so. Antoine brauchte sich nicht um Gesprächsthemen zu bemühen. Er blickte den anderen an, was zur Folge hatte, dass ihm das meiste von dem, was dieser sagte, entging. Manchen Leuten fällt es schwer, andere Menschen anzusehen und ihnen gleichzeitig zuzuhören. In diese Kategorie gehörte Antoine. Alain war ein stämmiger Kerl, er wirkte wie ein Klotz. Und auch wenn er ein etwas grobschlächtiges Äußeres hatte, waren seine Gesten keineswegs schroff, eher zärtlich. Man spürte, er strengte sich an, ein kultivierter Herr zu sein, ihm fehlte nur das, was man gemeinhin als Charme bezeichnet. Er war nicht hässlich, doch er ähnelte einem Roman, den man gar nicht erst aufschlagen möchte.

»Du bist anders als die anderen«, verkündete er nach einer Weile.

»Ach, wirklich?«, gab Antoine zurück, leicht besorgt bei dem Gedanken, sich von der Masse abzuheben.

»Du machst so einen geistesabwesenden Eindruck. Irgendwie bist du da, aber irgendwie auch nicht.«

»…«

»Ich habe heute öfter mal zu dir hinübergeschaut, und es hat immer ein bisschen gedauert, bis du reagiert hast, wenn ich dir zugewinkt habe.«

»Aha …«

»Ich dachte mir, wahrscheinlich bist du ein Träumer. Es gibt ja kein genaues Anforderungsprofil für diese Stelle. Das macht sie interessant. In unserem Job sind völlig unterschiedliche Leute. Kunststudenten, Künstler, aber eben auch Typen, die überhaupt keinen Bezug zur Malerei haben. Das sind einfach Angestellte, die auf Stühlen sitzen. So wie ich. Früher war ich Nachtwächter auf einem Parkplatz. Irgendwann konnte ich keine vorbeifahrenden Autos mehr sehen. Das Gute an den Bildern ist ja, dass sie wenigstens stillhalten.«

...Ende der Leseprobe

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Die Originalausgabe erschien 2018

unter dem Titel Vers la beauté

bei Éditions Gallimard, Paris.

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde von der Kunststiftung NRW und vom Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen gefördert.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © der Originalausgabe David Foenkinos 2018

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben

Umschlagabbildung: plainpicture/Sime Photo/Massimo Ripani

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23924-4V003

www.penguin-verlag.de

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LeseprobeMeike WinnemuthBin im GartenEin Jahr wachsen und wachsen lassen - Mit vielen Fotos und IllustrationenPenguin VerlagHier geht’s zum Shop

Das Jahr des großen Wachsens – Meike Winnemuths neues Abenteuer

Weltreisende sucht Ort zum Bleiben: Ihr Bestseller Das große Los hat Hunderttausenden Lust gemacht, aufzubrechen und die Welt zu sehen. Inzwischen will Meike Winnemuth nur eins: ankommen, Wurzeln schlagen, festen Boden unter den Füßen. Und zwar einen, den sie persönlich dorthin geschaufelt hat. Sie startet das Projekt »Garten«. Obwohl sie nie einen hatte und nicht mal ahnt, wie man Tomaten zieht. Einzige Regel für den Anfang: Das Grüne muss nach oben. Träumen und planen, schuften und graben, säen, pflanzen, ausprobieren, ernten, essen. Mit Tempo und Witz erzählt Meike Winnemuth in ihrem Tagebuch vom großen Wachsen (Muskelkater!) und Werden (plötzlich: geduldig!). Und sie entführt uns an einen paradiesischen Ort wahren Lebens, mit Radieschen und Schnecken, mit Rittersporn und anderen blauen Wundern.

Meike Winnemuth, 1960 in Neumünster geboren, ist freie Journalistin, Autorin und preisgekrönte Bloggerin (www.meikewinnemuth.de). Ihr Buch Das große Los. Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr wurde ein enormer Publikumserfolg. Sie lebt in Hamburg und an der Ostsee.

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Copyright © 2019 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Fotos: Felix Amsel, Meike Winnemuth; mit Ausnahme von:

[siehe hier] Getty Images/The LIFE Picture Collection/Ralph Morse

[siehe hier] Marsha Arnold

Bildbearbeitung: Lorenz & Zeller, Inning a. Ammersee

Illustrationen: Inka Hagen, www.inkahagen.de

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen: Felix Amsel; GoodStudio/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-16588-8V003

www.penguin-verlag.de.

»Do I contradict myself?

Very well, then I contradict myself,

(I am large, I contain multitudes.)«

WALT WHITMAN, SONG OF MYSELF

VORWORT

»Was machen Sie denn hier? Das sind doch Sie, oder?«, fragt die Dame auf dem Parkplatz.

»Ähm … Wen genau meinen Sie denn?«

»Na, Sie sind doch diese Weltreisende? Ich habe Sie mal im Fernsehen gesehen. Beim Jauch gewonnen, ein Jahr unterwegs …?«

»Ja«, sage ich. »Das bin ich. Oder war ich. Ist schon ein paar Jahre her.«

Wir plaudern ein bisschen über das Reisen, über die Welt, über das Weltreisen. Sie blickt in meinen Einkaufswagen. »Und was wollen Sie damit?«

Wir stehen vor einem Gartencenter, im Wagen liegen drei Sack Pflanzerde, zwei Sack Hornspäne, eine Packung Urgesteinsmehl, ein Paar Gartenhandschuhe, obenauf eine Palette mit etwas ramponiertem Wald-Geißbart von der Resterampe, Stück ein Euro, ein Mitleidskauf.

»Das ist für meinen Garten«, sage ich.

»Ach! Wohnen Sie denn jetzt hier in der Nähe?«

»Ja.«

»Soso. Da bin ich ja mal gespannt, wie lange Sie es bei uns aushalten.«

Ich will antworten, aber sie ist schon in ihr Auto gestiegen. Seufzend wuchte ich die Säcke in den Kofferraum.

Auf dem Weg nach Hause denke ich über die Begegnung nach, sie ist nicht die erste dieser Art. Es scheint immer noch erklärungsbedürftig zu sein, dass ich jetzt hier bin, fern der Welt, so scheinen es alle anderen wahrzunehmen. »Ach, Sie reisen gar nicht mehr?« Das klingt immer enttäuscht. Als ob ich Verrat am schönen Leben begehe, als ob sich ein Zugvogel freiwillig in einen Wellensittichkäfig gesetzt hat.

Zur Urlaubszeit rufen immer noch Frühstücksradioredaktionen an, ob ich nicht morgen um viertel vor sieben live on air fünf super Kofferpacktipps geben könne. Nee, sage ich, tut mir leid. Mal abgesehen davon, dass ich zu der Zeit keinen geraden Satz rausbringe: Ich bin längst woanders.

Ich habe ein Blechschild mit dem Aufdruck »Bin im Garten«, das ich immer an die Haustürklinke hänge, wenn ich hinten arbeite, aber eigentlich ist es nicht mehr nötig. Der Postbote und die meisten anderen Besucher gehen sowieso automatisch hinten rum, die wissen schon, wo ich bin.

Bin im Garten, das ist inzwischen ebenso sehr eine Orts- wie eine Zustandsbeschreibung. Ich grabe Pflanzlöcher und verwurzele mich, ich schaufele Erde und finde festen Boden unter den Füßen, ich bin an einem Ort angekommen, den ich vorher noch nicht kannte: zuhause. Ein selbstgeschaffenes Reich, in dem mein Wille geschehe – dachte ich vorher. Die Natur hat sich kaputtgelacht, und ziemlich bald habe ich mitgelacht.

Beim Reisen geht es nicht darum, sich durch die Welt zu bewegen, sondern von der Welt bewegt zu werden, berührt und verändert. Das funktioniert auch auf ein paar hundert Quadratmetern, wie ich in diesem Jahr festgestellt habe. Wenn man die Reisemetapher endgültig zu Tode reiten möchte: Mein erster Ausflug in den Garten war in vielem eine Abenteuerreise in ein fremdes Land mit anfangs noch undurchschaubaren Gesetzen. Terra incognita. Aber es ist ein sehr gastfreundliches Land, in das ich da geraten bin, es hat mich umarmt und reich beschenkt, mit Blumen und Bohnen, mit Erbsen und Erfahrungen.

Und es liegt nur ein paar Schritte weit entfernt.

Dieses Buch ist das Logbuch eines Gartenjahrs, ein Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben: die Freude, das Staunen, die tiefe Verbundenheit mit einem kleinen Fleckchen Erde, das bis zum Himmel reicht. Was es nicht ist, das muss ich warnend vorausschicken: ein Buch voller Gartentipps und -tricks. Das soll lieber jemand schreiben, der deutlich mehr Erfahrung hat als ich. Ich lerne es ja selbst gerade erst, und würde man sich von einer Dreijährigen das Laufen beibringen lassen wollen?

Wenn man von seinem Garten spricht, habe ich schnell gemerkt, ist das so, als ob man von seinem Säugling oder von seinem Haustier erzählt: endlos faszinierend für den Gartenbesitzer oder die Mutter oder den Hundehalter, zum Augenrollen für alle, die das Pech haben, zuhören zu müssen. Tja. Nun haben Sie leider das Buch gekauft, da müssen Sie jetzt durch. Aber mit Glück haben Sie selbst einen Garten, den Sie lieben, dann haben Sie sich vermutlich denselben Virus eingefangen wie ich. Und falls Sie keinen Garten haben, aber gern einen hätten: Vielleichthabe ich Sie hinterher angesteckt, es einfach zu probieren, idealerweise mit dem goldenen Leitsatz im Herzen, der für das Reisen, den Garten und praktisch alles im Leben gilt: Einfach mal machen – es könnte ja gut werden.

JANUAR

1. Januar

Es ist spät geworden gestern, es war viel Champagner im Spiel und ab einem gewissen tragischen Punkt viele Gläser »Lütje Minze« bei meinen Nachbarn Uwe und Helga, zu denen wir nach Mitternacht gezogen waren. »Lütje Minze« ist ein Produkt der örtlichen Schnapsbrennerei, es vernichtet bei jedem Schluck zehntausend Gehirnzellen, die Mehrheit der Geschmacksknospen und nahezu die gesamte Restwürde, die man an einem Silvesterabend noch hat.

Jetzt ist früher Nachmittag, Zeit fürs Frühstück. Und Zeit, das neue Jahr zu begrüßen. Ganz, ganz leise.

»Nie wieder Lütje Minze«, murmelt meine beste Freundin Katharina in ihren Kaffee.

»Nie wieder«, sage ich.

Sie blickt in den trüben Garten hinaus. »Und du willst wirklich das ganze Jahr hierbleiben?«

»Jepp.«