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50 irre Sonntage, viele Ängste und eine große Liebe
Esthers Familie ist ungewöhnlich. Das ist das Mindeste, was man sagen kann. Ihr Vater wagt sich nicht mehr aus dem Keller, der Bruder kann nur bei Licht schlafen und die Mutter hat panische Angst vor allem, was Unglück bringen könnte. Was Esthers größte Angst ist, weiß sie nicht. Aber vorsichtshalber notiert sie alles, was infrage kommen könnte, in einer Liste. Und die gerät ausgerechnet in die Hände von Jonah Smallwood – ihrem Schwarm aus der Grundschule. Doch statt sie auszulachen, hilft Jonah ihr, sich ihren Ängsten zu stellen. Gemeinsam arbeiten sie die Liste ab und kommen sich immer näher. Bis Esther erfährt, was Jonah getan hat.
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Seitenzahl: 463
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen
von Henriette Zeltner
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1. Auflage 2019
© 2017 by Krystal Sutherland
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»A semi-definitive list of worst nightmares«
bei G. P. Putnam’s Sons in der
Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York.
© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlagillustration: Renata Wolf (HausNr26)
kk • Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-19877-0V004
www.cbj-verlag.de
Für Chelsea und Shanaye.
Und für alle anderen, die jemals Angst hatten:
Ihr seid mutiger, als ihr glaubt.
1
Der Junge an der Bushaltestelle
Esther Solar hatte schon eine halbe Stunde draußen vor dem Pflege- und Rehazentrum Lilac Hill gewartet, als sie erfuhr, dass das Schicksal schon wieder zugeschlagen hatte.
Ihre Mutter Rosemary Solar erklärte ihr am Telefon, dass sie sich unter keinen Umständen mehr in der Lage sehe, ihre Tochter abzuholen. Eine Katze, schwarz wie die Nacht und mit dämonengelben Schlitzaugen, hatte sich auf der Motorhaube der Familienkutsche niedergelassen. – Ein denkbar schlechtes Omen, das sie davon abhielt, loszufahren.
Esther reagierte gelassen. Das spontane Auftreten von Phobien war in der Familie Solar nichts Neues. Und so machte sie sich in ihrem roten Umhang, der sich in der abendlichen Brise bauschte und seltsame Blicke einiger Passanten auf sich zog, auf den Weg zur vier Häuserblocks von Lilac Hill entfernten Bushaltestelle.
Unterwegs fragte sie sich, wen normale Menschen in so einer Situation anrufen würden. Ihr Vater saß immer noch im Keller fest, wozu er sich selbst vor sechs Jahren verdammt hatte, Eugene war nicht aufzufinden (Esther vermutete, dass er mal wieder durch einen Spalt in der Realität gerutscht war – das passierte ihm von Zeit zu Zeit), und ihr Großvater besaß nicht mehr die feinmotorischen Fähigkeiten, die man zum Lenken eines Fahrzeugs benötigte (ganz zu schweigen von der Erinnerung, dass sie seine Enkelin war).
Im Grunde genommen gab es also nur sehr wenige Menschen, die Esther im Krisenfall beistehen konnten.
Die Bushaltestelle war für einen Freitagabend relativ leer. Nur eine weitere Person saß dort. Ein großer schwarzer Junge, angezogen wie eine Figur aus einem Film von Wes Anderson: mit limettengrüner Cordhose, Wildlederjacke und einer über die Haare gezogenen Baskenmütze. Der Junge schluchzte leise, weshalb Esther genau das tat, was man eigentlich tun soll, wenn ein völlig Fremder in der Öffentlichkeit seinen Gefühlen freien Lauf lässt – sie ignorierte ihn komplett. Erst setzte sie sich neben ihn, dann zog sie ein zerlesenes Exemplar von Der Pate aus ihrer Tasche und bemühte sich sehr, konzentriert darin zu lesen.
Die Lampen über ihnen brummten wie ein Wespennest und gingen flackernd an und aus. Hätte Esther ihren Blick gesenkt gehalten, dann wäre das nächste Jahr ihres Lebens völlig anders verlaufen. Aber sie war nun mal eine Solar, und die Solars besaßen die schlechte Angewohnheit, ihre Nasen in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen.
Der Junge schluchzte dramatisch. Esther schaute hoch. Quer über seinen Wangenknochen blühte eine Prellung im fluoreszierenden Licht dunkelviolett auf. Aus einem Riss in der Augenbraue tropfte Blut. Das gemusterte Oberhemd – eindeutig eine Kleiderspende aus der Mitte der 1970er-Jahre – war am Kragen eingerissen.
Wieder schluchzte der Junge auf, dann schielte er zu ihr rüber.
Esther vermied es eigentlich, mit Menschen zu reden, wenn es nicht zwingend nötig war. Manchmal mied sie Menschen sogar dann, wenn es eigentlich absolut nötig war.
»Hey«, sagte sie schließlich. »Alles okay?«
»Ich glaub, ich wurde überfallen«, sagte er.
»Glaubst du?«
»Kann mich an nichts erinnern.« Er zeigte auf die Wunde an seiner Stirn. »Man hat mir Handy und Geldbörse abgenommen, deshalb glaube ich, dass es ein Überfall war.«
Und in diesem Moment erkannte sie ihn. »Jonah? Jonah Smallwood?«
Die Jahre hatten ihn verändert, aber da waren noch immer dieselben großen Augen, das ausgeprägte Kinn, der durchdringende Blick, den er schon als Kind draufhatte. Natürlich hatte er inzwischen mehr Haare: einen Bartschatten und eine schwarze Mähne, die er im Pompadour-Style trug. Esther fand, er ähnelte Finn aus Star Wars: Das Erwachen der Macht, was, zumindest ihrer Ansicht nach, bedeutete, dass jemand ziemlich gut aussah. Er betrachtete sie, das Jackson-Pollock-Muster der dunklen Sommersprossen auf ihrem Gesicht, Hals und Armen sowie ihr erdbeerblondes Haar, das ihr bis über die Taille fiel. Er versuchte anscheinend, sie einzuordnen. »Woher weißt du, wie ich heiße?«
»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Sie waren damals mit acht nur ein Jahr lang befreundet gewesen, aber trotzdem. Esther spürte einen Anflug von Trauer, weil er sie anscheinend vergessen hatte. Sie hatte ihn jedenfalls nicht vergessen.
»Wir waren zusammen auf der Grundschule«, erklärte sie. »Ich war mit dir in der Klasse von Mrs Price. Du hast mich gefragt, ob ich deine Valentine sein will.«
Jonah hatte ihr eine Tüte Zuckerherzen gekauft und eine Karte gebastelt. Darauf hatte er zwei Birnen gezeichnet und dazu geschrieben We make the perfect pear.Wir sind das perfekte Paar. Als sie die Karte aufklappte, stand dort, sie solle ihn in der Pause treffen.
Esther hatte gewartet. Jonah war nicht aufgetaucht. Sie hatte ihn nie mehr gesehen.
Bis jetzt.
»Ach ja«, sagte Jonah zögernd, während man sah, dass es ihm endlich dämmerte. »Ich mochte dich, weil du, ungefähr eine Woche nachdem der Film rausgekommen war, vor der Buchhandlung gegen den Tod von Dumbledore demonstriert hast.«
So erinnerte sie sich daran: Die kleine Esther, sieben Jahre alt und mit leuchtend rotem Topfhaarschnitt, demonstriert vor dem örtlichen Buchladen mit einem Schild, auf dem steht: RETTET DIE ZAUBERER. Und dann ein Schnipsel aus den 18-Uhr-Nachrichten. Ein Reporter geht neben ihr in die Hocke und fragt: »Weißt du eigentlich, dass das Buch schon vor Jahren erschienen ist und man den Schluss nicht mehr ändern kann?« Sie hatte dazu stumm in die Kamera geblinzelt.
Zurück in der Realität: »Schrecklich, dass es davon einen Videobeweis gibt.«
Jonah deutete mit dem Kopf auf ihr Outfit. Das blutrote Cape, das am Hals von einer Schleife zusammengehalten wurde, und den Weidenkorb zu ihren Füßen. »Sieht aus, als wärst du immer noch seltsam. Oder warum bist du wie Rotkäppchen angezogen?«
Esther hatte schon seit ein paar Jahren keine Fragen mehr zu ihrer Vorliebe für Kostüme beantworten müssen. Fremde Leute auf der Straße gingen einfach immer davon aus, sie sei gerade auf dem Weg zu oder dem Heimweg von einem Kostümfest. Die Lehrer konnten – zu deren großem Bedauern – an ihrer Kleidung im Hinblick auf die geltenden Kleidervorschriften nichts bemängeln. Und ihre Klassenkameraden hatten sich längst daran gewöhnt, dass sie sich als Alice im Wunderland oder Bellatrix Lestrange aus Harry Potter verkleidete. Es war ihnen mehr oder weniger egal, solange sie weiter Gebäck für sie schmuggelte. (Mehr dazu gleich.)
»Ich habe meinen Großvater besucht. Dafür fand ich es passend«, erwiderte sie, was Jonah zufriedenzustellen schien, denn er nickte verständnisvoll.
»Hör mal, hast du ein bisschen Bargeld bei dir?«
Esther hatte mehr als ein bisschen Bargeld in ihrem Rotkäppchenkorb. Exakt fünfundfünfzig Dollar, komplett für ihre Hau-verdammt-noch mal-aus-diesem-Kaff-ab-Kasse gedacht, in der inzwischen 2.235 Dollar waren.
Aber zurück zum bereits erwähnten Gebäck. Dazu muss man wissen, dass es an der East River High, als Esther die elfte Klasse besuchte, zu grundlegenden Veränderungen in der Cafeteria kam, bis man dort nur noch gesundes Essen kaufen konnte. Vorbei die Zeiten von Pizza, Chicken Nuggets, Kartoffelplätzchen, Pommes und Burgern, die den Schulbesuch halbwegs erträglich machen. Der Name »Michelle Obama« wurde jetzt jedes Mal wütend gezischt, wenn ein neues Gericht wie Suppe aus Lauch und Blumenkohl oder Brokkoliquiche auf dem Speiseplan auftauchte. Esther hatte darin eine vielversprechende Geschäftsidee gesehen und aus einer Backmischung Double Chocolate Fudge Brownies gebacken. Die brachte sie am nächsten Tag mit in die Schule, verkaufte jeden Brownie für fünf Dollar und erwirtschaftete so den krassen Profit von fünfzig Dollar. Seit damals war sie zum Walter White des Junkfood aufgestiegen. Ihr Imperium hatte sogar dazu geführt, dass die Kundschaft an der Schule sie inzwischen »Kuchenheimer« nannte.
Erst kürzlich hatte sie ihr Territorium auf das Alten- und Pflegeheim Lilac Hill ausgeweitet. Dort waren die aufregendsten Sachen auf dem Speiseplan geplatzte Hotdogs und Kartoffelbrei ohne alles. Das Geschäft boomte.
»Warum?«, fragte sie zögernd.
»Ich brauche Geld für eine Busfahrkarte. Du gibst mir Bargeld und ich kann es mit deinem Handy direkt von meinem Konto auf deins überweisen.«
Das klang verdammt unseriös, aber Jonah hatte blaue Flecken, blutete und heulte. Außerdem sah sie in ihm immer auch noch ein bisschen den süßen kleinen Jungen, der sie mal so sehr gemocht hatte, dass er ihr zwei Birnen gezeichnet hatte.
Also fragte Esther: »Wie viel brauchst du?«
»Wie viel hast du? Ich nehme alles und überweise es dir gleich.«
»Ich habe fünfundfünfzig Dollar.«
»Dann nehme ich fünfundfünfzig Dollar.«
Jonah stand auf und setzte sich direkt neben sie. Er kam ihr jetzt viel größer vor und auch dünner. Irgendwie erinnerte er sie an eine Maispflanze. Sie sah ihm dabei zu, wie er die Banking App auf ihrem Handy öffnete, sich einloggte, die Kontodaten eingab, die sie ihm nannte, und die Überweisung in Auftrag gab.
Überweisung erfolgreich, stand in der App zu lesen.
Also bückte sie sich, öffnete ihren Korb und gab ihm die 55 Dollar, die sie heute im Lilac Hill verdient hatte.
»Danke«, sagte Jonah und gab ihr die Hand. »Du bist echt in Ordnung, Esther.« Dann stand er auf, zwinkerte ihr noch mal zu und war verschwunden. Wieder mal.
So war es Jonah Smallwood an diesem warmen, feuchten Spätsommerabend gelungen, ihr nicht nur fünfundfünfzig Dollar abzuluchsen, sondern innerhalb von etwa vier Minuten auch folgende Dinge zu klauen:
– Das Armband ihrer Großmutter, direkt von ihrem Handgelenk
– ihr iPhone
– ein Fruit Roll-Up aus ihrem Korb, das sie sich für die Heimfahrt aufgehoben hatte
– ihren Büchereiausweis (mit dem er später noch 19,90 Dollar ergaunerte, weil er die Strafgebühr für das Bekritzeln eines Exemplars von Romeo und Julia mit Hummergraffiti darauf buchen ließ)
– ihr Exemplar von Der Pate
– und ihre Würde
Esther hatte noch die oberpeinliche Erinnerung an ihren Dumbledore-Protest im Kopf, die sie bis heute zusammenzucken ließ, und bemerkte erst mit Eintreffen des Busses sechs Minuten und neunzehn Sekunden später, dass sie ausgeraubt worden war. Als sie dem Fahrer zurief: »Ich bin beklaut worden!«, erwiderte der nur: »Kein Gesindel!«, und machte ihr die Bustür vor der Nase zu.
(Vielleicht hatte Jonah doch nicht ihre gesamte Würde geklaut. Denn der Busfahrer nahm die Fetzen davon mit, die Jonah ihr nicht von den Knochen hatte kratzen können.)
Die Geschichte, wie Esther Solar von Jonah Smallwood ausgeraubt wurde, ist also ziemlich einfach. Ein bisschen komplizierter wird dagegen die Geschichte, wie sie sich in Jonah Smallwood verliebte.
2
Das Haus der Lichter und Geister
Esther benötigte exakt drei Stunden, dreizehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden bis zu ihrem Haus, das sich am Rand des Stadtrands befand. Die Stadt hatte sich in die Richtung ausgedehnt, die genau entgegengesetzt zu der von den Stadtentwicklern geplanten lag. Deshalb lag dieses Viertel nun mitten im Nirgendwo.
Auf dem langen Fußweg dorthin öffnete der Himmel seine Schleusen, sodass Esther, als sie die Stufen am Eingang erreicht hatte, tropfnass, dreckig und durchgefroren war.
Das Haus der Solars war wie immer von einem hellen Schein umgeben, ein fluoreszierendes Juwel in einer ansonsten düsteren Straße. Eine leichte Brise wehte durch die Bäume in ihrem Vorgarten. Ein Wäldchen inmitten der Vorstadt. Ein paar Nachbarn hatten sich vor Jahren darüber beschwert, dass bei ihnen ständig Licht brannte. Darauf hatte Rosemary Solar reagiert, indem sie acht Eichen pflanzte, die von Setzlingen zu Riesen herangewachsen waren und nun ihr Anwesen etwa sechs Monate im Jahr verdeckten. Als sie größer wurden, hatte Rosemary Nazar-Amulette in die Zweige gehängt. Hunderte von den Scheiben aus blau-schwarz-weißem Glas ließen seither bei jedem Windhauch eine unheimliche Melodie erklingen. Eigentlich sollten sie den bösen Blick abwehren, tatsächlich hatten sie bisher Pfadfinderinnen, Zeugen Jehovas und Kinder an Halloween ferngehalten.
Eugene saß auf den Stufen, die zur hell erleuchteten Veranda hinaufführten, und sah aus wie ein Zeitreisender aus einem Beatles-Konzert: mit dem Haarschnitt von Ringo Starr und dem modischen Style von John Lennon.
Esther und Eugene waren Zwillinge, auch wenn das eigentlich niemand glauben wollte. Sein Haar war dunkel, ihres hell. Er war groß, sie klein, er schlaksig, sie besaß üppige Formen. Ihre Haut war von Sommersprossen übersät, seine völlig frei davon.
»Hey«, sagte Esther.
Eugene schaute hoch. »Ich habe Mom gesagt, dass du noch am Leben bist, aber sie schaut sich im Internet schon Särge an. Das Farbschema für deine Beerdigung wird Pink und Silber sein, wenn ich recht gehört habe.«
»Igitt. Dabei habe ich doch schon bestimmt hundert Mal erklärt, dass ich eine geschmackvolle Beerdigung in Schwarz und Elfenbein will.«
»Sie hat sich vorhin schon die Slideshow für den unerwarteten Todesfall angesehen, die sie letztes Jahr zusammengestellt hat. Die endet nach wie vor mit dem Song Time of your life.«
»Mein Gott, wie primitiv. Ich weiß noch nicht, was tragischer wäre – mit siebzehn sterben oder die klischeehafteste Beerdigung aller Zeiten.«
»Ach, komm schon. Eine Beerdigung in Pink und Silber ist nicht klischeehaft, nur wahnsinnig kitschig.« Eugene sah sie mit echter Sorge im Blick an. »Bist du okay?«
Esther wrang ihr langes Haar aus. In nassem Zustand sah es noch rötlicher aus. »Yeah. Ich wurde ausgeraubt. Oder eigentlich nicht wirklich ausgeraubt. Übers Ohr gehauen. Von Jonah Smallwood. Erinnerst du dich noch an den Jungen, der mich mal am Valentinstag in der Grundschule versetzt hat?«
»Du meinst den, in den du so schrecklich verliebt warst?«
»Genau den. Wie es aussieht, ist er inzwischen ein ziemlich talentierter Taschendieb. Er hat mir gerade fünfundfünfzig Dollar und ein Fruit Roll-Up geklaut.«
»Doppelt betrogen also. Ich hoffe, du sinnst schon auf Rache.«
»Na klar, Brüderchen.«
Eugene stand auf, legte einen Arm um ihre Schulter, und so gingen sie gemeinsam hinein, unter dem über den Türsturz genagelten Hufeisen hindurch, vorbei an den getrockneten Flohkrautzweigen, die am Türstock hingen, und über die Reste der am Vorabend ausgestreuten Salzlinie.
Das Haus der Solars war ein riesiges viktorianisches Gemäuer, in dem sogar das Licht irgendwie diesig und verblasst wirkte. Es gab jede Menge dunkler Holzvertäfelungen, rote Perserteppiche und Wände in blassem Schimmelgrün. Es war die Art von Haus, in dem Geister durch Wände gehen oder bei dem Nachbarn glauben, die Bewohner könnten verflucht sein. Auf die Solars traf beides zu.
Hätten sie jemals fremde Leute hereingelassen, wären diesen vermutlich folgende Dinge aufgefallen:
– Alle Lichtschalter waren mit Isolierband in der Stellung »an« fixiert. Die Solars liebten es hell und Eugene liebte es am allermeisten. Ihm zuliebe waren die Flure mit Lichterketten geschmückt. Außerdem standen auf jeder nur möglichen Abstellfläche von Möbeln sowie auf großen Teilen des Fußbodens Lampen und Kerzen.
– Brandflecken vom Großen Panikfeuer im Jahr 2013. Damals fiel der Strom aus, woraufhin Eugene aus seinem Zimmer auf den Flur rannte. Dabei stieß er ungefähr zwei Dutzend der bereits erwähnten Kerzen um und setzte so die Rigipswand in Brand.
– Die Treppe zum ersten Stock war von einem Durcheinander aus ausrangierten Möbeln blockiert. Das lag vor allem daran, dass Peter Solar die obere Etage fast fertig renoviert hatte, als er seinen ersten Schlaganfall erlitt und alle Arbeit abrupt zum Erliegen kam. Außerdem glaubte Rosemary aber auch, dass es im ersten Stockwerk tatsächlich spuke. (Als würde ein Geist nur im halben Haus spuken und die Bewohner im Erdgeschoss höflicherweise von allen paranormalen Aktivitäten verschonen. Also bitte.)
– Es gab nichts an den Wänden. Abgesehen von den Lichtschaltern mit Isolierband und Jalousien an den Fenstern, die abends heruntergelassen wurden. Keine Bilder. Keine Poster. Und definitiv keine Spiegel. Niemals.
– Die Kaninchen in der Küche.
– Der bösartige Hahn namens Fred, der Rosemary Solar auf Schritt und Tritt folgte und bei dem es sich laut Rosemary sowieso um einen Kobold aus der litauischen Folklore handelte.
Tatsächlich war aus dem Wohnzimmer leise Musik von Green Day zu hören. Rosemary Solar saß mit ihren Anfang vierzig auf der Couch vor dem Fernseher und sah sich die Beerdigungs-Diaschau für Notfälle an, die sie vor einigen Jahren zusammengestellt hatte. Für den Fall, dass eines ihrer Kinder plötzlich starb. Das braune Haar fiel ihr bis auf die Schultern, und sie klirrte leise, sobald sie sich bewegte. An ihren schmalen Handgelenken und Fingern steckten jede Menge Silberringe und Glücksbringer. In ihre Kleidung waren mit Metallic-Garn Münzen eingenäht – in den Saum, die Ärmel und jede Tasche. All das klimperte wie Regentropfen.
Folgende Aspekte fielen Esther ein, wenn sie ihre Mutter genau beschreiben sollte:
– In jüngeren Jahren war Rosemary eine gefeierte Roller-Derby-Spielerin mit dem Kampfnamen »Das Biest«. Auf Esthers Lieblingsfoto von ihr befand sie sich in Spielmontur auf der Bahn und sah wie Eugene aus: das gleiche dunkle Haar, die gleichen braunen Augen, die gleiche blasse Haut, frei von den Sommersprossen, die Esther überall hatte. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
– Rosemary war mit achtzehn schon einmal verheiratet gewesen. Und zwar mit einem Mann, der ihr eine feine C-förmige Narbe hinterlassen hatte, die ihre linke Augenbraue teilte. Der Name und das Schicksal dieses Mannes wurden nie erwähnt. Esther gefiel die Vorstellung, er sei, kurz nachdem Rosemary ihn verlassen hatte, einen langen und schmerzhaften Tod gestorben. Vielleicht hatten wilde Hunde ihn gefressen oder er war langsam in einem Kessel voller Öl gekocht worden.
– Als ausgebildete Gärtnerin besaß Rosemary die Fähigkeit, Pflanzen allein durch eine Berührung gedeihen zu lassen. Blumen schienen in ihrer Gegenwart aufzublühen und sich ihr zuzuneigen, wenn sie an ihnen vorbeiging. Die Eichen im Vorgarten hatten auf sie gehört, als sie ihnen flüsternd aufgetragen hatte zu wachsen. Schon immer hatte sie etwas Magisches an sich gehabt.
Dieser letzte Aspekt war das, was Esther am meisten an Rosemary liebte. Sie hatte ihn schon immer gespürt – auch noch als sie nicht mehr an Feen, den Weihnachtsmann und Briefe aus Hogwarts glaubte. Irgendeine klimpernde oder summende Kraft schien von ihrer Mutter auszugehen.
Esther stellte sich Magie als Verbindung vor. Eine unsichtbare Silberschnur, die ihre Herzen verband, egal wie weit sie gerade voneinander entfernt waren. Sie sorgte dafür, dass Rosemary in ihr Zimmer kam, wenn Esther einen Albtraum hatte. Oder sie ließ Kopfweh, Zahnschmerzen und einen verdorbenen Magen verschwinden, einfach indem ihre Mutter die Hand auf Esthers Stirn legte.
Dann hatte das Unheil sie getroffen, wie es das nun mal zu tun pflegte. Peter erlitt einen Schlaganfall und zog sich ins Kellergeschoss zurück. Das Geld wurde knapp. Rosemary begann mit Glücksspiel, und aus der ständigen Panik, zu verlieren, wurde eine allgemeine Angst vor Pech, die sie nach und nach überwältigte. Die unsichtbare Schnur zwischen Mutter und Tochter begann zu verwittern, wurde brüchig und zerfiel. Esther liebte ihre Mutter deshalb nicht weniger, aber ihre Magie hatte begonnen zu schwinden. Langsam, aber sicher war Rosemary durch und durch schauerlich normalsterblich geworden.
Dabei gab es auf dieser Welt nur wenig, was schlimmer war, als normalsterblich zu sein.
Jetzt sprang Rosemary von der Couch auf und umarmte Esther so heftig, dass diese fast erstickte. Dabei hielt sie einen völlig unbeeindruckten Fred unter ihren Arm geklemmt. Die Luft um sie herum roch nach Salbei und Zedernholz. In ihrer Kleidung hing das Aroma von Beifuß und Gewürznelken. Ihr Atem roch leicht minzig. All diese Düfte sollten Pech fernhalten. Rosemary Solar roch wie eine Hexe. Die meisten Nachbarn hielten sie genau dafür und vielleicht gefiel ihr diese Vorstellung sogar selbst. Doch Esther wusste es besser.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, sagte Rosemary und strich ihrer Tochter das feuchte Haar aus dem Gesicht. »Wo warst du denn? Und warum bist du nicht an dein Handy gegangen?«
Esther genoss die Berührung, die Sorge und verspürte das Bedürfnis, sich in die Arme ihrer Mutter zu schmiegen, um sich von ihr trösten zu lassen, wie sie das früher getan hatte. Aber die nur noch fadenscheinige schmerzlindernde Kraft ihrer Hände genügte nicht, um wiedergutzumachen, dass Rosemary sie im Stich gelassen hatte. Wieder einmal. Und so schob sie sie von sich weg.
»Wenn du mich wie ausgemacht abgeholt hättest, dann wäre ich vielleicht auf dem Heimweg nicht brutal überfallen worden.« Jonahs Taschendiebstahl konnte man zwar kaum als Überfall bezeichnen, aber das musste Rosemary ja nicht wissen. Manchmal machte Esther ihr gern ein schlechtes Gewissen.
»Du wurdest überfallen?«
»Brutal überfallen. Du hättest mich eben abholen sollen.«
Rosemary sah sie schmerzerfüllt an. »Ich hatte eine schwarze Katze gesehen.«
Nicht zum ersten Mal empfand Esther den seltsamen Impuls, der ihr Verhältnis zueinander in den letzten Jahren prägte: Einerseits wollte sie die Mutter an sich ziehen, ihre Wange streicheln und ihr versichern, dass alles gut würde; andererseits hätte sie sie am liebsten von sich gestoßen. Dieses dunkle Verlangen fühlte sich an wie Säure, die in ihrem Inneren auslief. Weil es einfach unfair war. Unfair, dass ihre Mutter so geworden war. Unfair, dass alle Solars dazu verdammt waren, in so lächerlicher Angst zu leben.
»Geh und sag deinem Vater, dass du in Sicherheit bist«, sagte Rosemary schließlich.
Esther ging zum Speiseaufzug in der Küche und griff nach dem Stift und dem Block, die dort immer lagen. Dann schrieb sie folgende Nachricht: Ich bin in Sicherheit – bitte betrachte alle anderslautenden Meldungen als gegenstandslos. Du fehlst mir. Alles Liebe, Esther. Dann rollte sie den Zettel zusammen, steckte ihn in den Aufzug und betätigte den Flaschenzug, der die kleine Kabine in den Keller transportierte. Früher war er vielleicht einmal benutzt worden, um Brennholz für den Heizkessel nach oben zu befördern. Jetzt diente er nur noch der Kommunikation.
»Hallo Esther«, hallte Peter Solars Stimme eine Minute später durch den Schacht herauf. »Freut mich zu hören, dass du nicht mehr als vermisst giltst.«
»Hi Dad«, rief sie zurück. »Was siehst du dir diese Woche an?«
»Ich bin bei Mork vom Ork. Das habe ich bei der Erstausstrahlung nie gesehen. Witzige Serie.«
»Schön.«
»Hab dich lieb, Kleines.«
»Hab dich auch lieb.« Esther schloss die Tür des Speiseaufzugs und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Auf dem Flur zischten Hunderte von Kerzen, wenn Wassertropfen aus ihren Haaren und Kleidern darauf fielen. Ihr Zimmer sah ein wenig aus wie diese Bunker in Filmen, die nach einer Apokalypse spielen. Als hätte man die Schätze aus dem Louvre, dem Rijksmuseum und dem Smithsonian darin gelagert, um von der Menschheit zu retten, was noch zu retten war. Die meisten Möbel hatten ihren Großeltern gehört: das schwarze, eiserne Bettgestell, der Schreibtisch aus Teakholz, die geschnitzte Truhe, die ihr Großvater aus Asien mitgebracht hatte, und die Perserteppiche, die den Großteil des Dielenbodens bedeckten. Das war alles, was sie aus ihrem idyllischen kleinen Zuhause hatte retten können. Im Gegensatz zum Rest des Hauses mit seinen kahlen Wänden und nicht viel mehr als Lichtschaltern, Lampen und Kerzen schmückten die Wände ihres Zimmers gerahmte Bilder, indische Wandteppiche und vollgestopfte Bücherregale, sodass die rote Tapete kaum noch zu sehen war.
Und Kostüme. Überall Kostüme. Sie quollen aus dem Kleiderschrank, hingen in unterschiedlichen Stadien ihrer Fertigstellung von der Decke oder waren an eine der drei altmodischen Schneiderpuppen gepinnt. Riesige Reifröcke, schimmernde schwarze Roben und blaugrüne Lederstreifen, so weich, dass sie sich anfühlten wie geschmolzene Schokolade. Pfauenfedern, Perlenketten und Taschenuhren aus Messing, die alle unterschiedliche Zeiten anzeigten. Eine Singer-Nähmaschine – von ihrer verstorbenen Großmutter –, auf der Bahnen von Samt und Seide zum Zuschneiden bereitlagen. An jedem Bettpfosten hing ein Dutzend Masken. Die Schubladen einer ganzen Kommode waren voll mit Make-up: Töpfchen mit Goldglitter, türkisfarbener Lidschatten, knochenweiße Gesichtsfarbe, flüssiges Latex oder Lippenstift in einem Rot, das in den Augen brannte.
Eugene weigerte sich in der Regel, das Zimmer zu betreten, weil all das Zeug es dunkler wirken ließ, als es tatsächlich war. Aber auch weil der Lichtschalter nicht auf eingeschaltet festgeklebt war und so theoretisch jederzeit von einem rachsüchtigen Geist ausgemacht werden konnte, dem gerade danach war. (Über rachsüchtige Geister machte Eugene sich große Sorgen. Er dachte oft an sie. Sehr oft.)
Esther stellte ihren Korb ab und wollte gerade ihr nasses Cape abnehmen, als sie ein Gespenst bemerkte, das neben einem überladenen Kleiderständer im entferntesten Winkel des Zimmers stand. Hephzibah Hadid war halb hinter einem Gewirr aus Tüchern verborgen und riss die Augen auf wie ein Geist, der aus Versehen bemerkt worden ist.
»Heph, zum Teufel«, sagte Esther und schlug sich mit einer Hand auf die Brust. »Das haben wir doch schon besprochen. Du kannst dich nicht einfach so hier reinschleichen.«
Hephzibah sah sie entschuldigend an und kam aus der Ecke hervor.
In den ersten drei Jahren ihrer Freundschaft war Esther absolut überzeugt davon gewesen, dass Hephzibah ihre unsichtbare Freundin sei. Dazu muss man wissen, dass sie mit niemandem sprach und die Lehrer sie auch niemals darauf ansprachen, eben weil sie mit niemandem sprach, sondern einfach nur um Esther herumschwebte und ihr auf Schritt und Tritt folgte. Esther störte das nicht, weil sie ein extrem unbeliebtes Kind war und kaum andere Freunde hatte.
Alles an Hephzibah war schlaksig und dünn: dünnes Haar, dünne Arme und Beine. Dazu waren ihre Haare auch noch aschblond und ihre Augen ungefähr so hell wie die von Bar Refaeli.
Bevor Esther auch nur ihr Cape fertig ausgezogen hatte, packte Hephzibah sie und umarmte sie stürmisch – ein seltener Beweis ihrer Zuneigung. Danach kehrte sie wieder auf ihren Platz in der Ecke zurück und sah sie mit einer Miene an, die »Was ist passiert?« ausdrückte. In den zehn Jahren, die sie sich inzwischen kannten, waren sie ziemlich gut im Sprechen ohne Worte geworden. Esther wusste, dass Heph sprechen konnte – sie hatte mitbekommen, wie sie mit ihren Eltern geredet hatte. Doch hatte Hephzibah sie beim Lauschen ertappt und danach einen Monat lang nicht mit ihr gesprochen. Oder besser gesagt: nicht nicht mit ihr gesprochen. Aber egal.
»Ich wurde von Jonah Smallwood ausgeraubt. Erinnerst du dich noch an den Jungen in Mrs Price’ Klasse, der mich so aus dem Konzept brachte, dass ich mich in ihn verknallt habe, und der dann verschwunden ist?«
Hephzibah sah sie so grimmig an, dass sie es als »Ja, ich erinnere mich« interpretierte. Dann fragte sie in Zeichensprache: »Hat er dich wieder aus dem Konzept gebracht?«
»Ja, hat er. Er hat mir fünfundfünfzig Dollar abgeluchst und mir das Armband meiner Großmutter, mein Handy und ein Fruit Roll-Up geklaut.« Hephzibah sah richtig wütend aus. »Ja, ich weiß, das Fruit Roll-Up war ein echter Tiefschlag. Ich bin auch richtig sauer.«
»Wir gehen aber trotzdem noch zu der Party, oder?«, deutete sie. Auch wenn sie als Kinder ziemlich gut im Kommunizieren gewesen waren, wurde jetzt deutlich, dass sie als Jugendliche vielleicht doch ein etwas komplexeres System brauchten, das über ihre Mimik hinausging. Deshalb hatten Hephzibahs Eltern für sie drei – für Heph, Eugene und Esther – bezahlt, damit sie die Gebärdensprache lernten.
Esther wollte nach wie vor nicht auf diese Party. Von Anfang an war sie dagegen gewesen. Partys bedeuteten Menschen, und Menschen bedeuteten Augen, Augen bedeuteten bohrende Blicke, die ihr wie kleine voreingenommene Rüsselkäfer unter die Haut gingen. Und derart beurteilt zu werden bedeutete, in der Öffentlichkeit zu hyperventilieren, was noch mehr fremde Urteile nach sich zog. Aber Heph verschränkte die Arme und deutete mit dem Kopf Richtung Haustür, was Esther als eine Geste interpretierte, die hieß: »Das ist ein nicht verhandelbarer Freundschaftsdienst.«
»Uaah, na gut. Ich muss mich aber erst noch fertig machen.«
Hephzibah lächelte. »Wir sollten wahrscheinlich Eugene mitnehmen«, deutete sie in Gebärdensprache.
»Stimmt. Wenn Mom weggeht … Wir können ihn auf keinen Fall hier allein lassen.«
Eugene fand nicht nur Dunkelheit unerträglich. Er hielt es auch nicht aus, abends allein zu Hause zu sein. Alles Mögliche kommt dich holen, wenn du allein bist – oder so ähnlich drückte er das aus.
Also ging Esther ihren Bruder holen.
Eugenes Zimmer war das Gegenteil von ihrem: kahle Wände und keine Möbel, bis auf sein schmales Bett, das direkt unter der Deckenleuchte in der Zimmermitte stand. Eugene lag lesend auf seiner dünnen Matratze, umgeben von einem Dutzend Lampen und dreimal so vielen Kerzen. Das sah aus wie auf seiner eigenen Trauerfeier. Und in gewisser Weise war es das auch. Denn jeden Abend bei Sonnenuntergang wurde er durch eine hohlwangige Gestalt ersetzt, die still durchs Haus schlich und versuchte, so viel Licht in sich aufzunehmen, dass seine Haut hell genug strahlte, um die Dunkelheit abzuwehren.
»Eugene«, sagte sie, »möchtest du auf eine Party gehen?«
Er schaute von seinem Buch auf. »Wo?«
»Draußen in der alten Nickelfabrik. Es wird auch Lagerfeuer geben.«
Feuer war für Eugene die einzige vertrauenswürdige Lichtquelle. Daher verehrte er es mehr als jeder Höhlenmensch. Nie verließ er das Haus ohne seine Taschenlampe, Ersatzbatterien, ein Feuerzeug, Streichhölzer, Kienspan, einen ölgetränkten Lumpen, angespitzte Holzstäbe, einen Feuerbohrer, Feuerstein und ein paar Feueranzünder. Seit seinem achten Lebensjahr konnte er dank der Pfadfinder selbst ein kleines Feuer entfachen. Eugene wäre für jede Gruppe Überlebender einer Apokalypse eine Bereicherung, sofern man von der lästigen Tatsache absah, dass er es von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen draußen ohne ein Licht nicht aushielt.
Eugene nickte und schloss sein Buch. »Ich komme mit euch auf die Party.«
Esther kostümierte sich als Wednesday Addams, und dann zogen die drei seltsamsten Teenager der Stadt los: ein Geist, der nicht sprach, ein Junge, der die Dunkelheit hasste, und ein Mädchen, das sich stets als jemand anders verkleidete.
❊ ❊ ❊
Die Nickelfabrik tauchte eine Stunde später vor ihnen auf. Wie eine Burg aus Metall und Rost, innen von den Lagerfeuern in ihrem Bauch wie von Hochöfen erleuchtet. Hinter den Fensteröffnungen ohne Glas zuckten Schatten, während Teenager wie Motten um die Flammen tanzten.
»Na, dann lasst uns das hier mal aufmischen«, sagte Esther während sie auf die Lagerhalle zugingen.
Manchmal veranstalteten Künstler Ausstellungen in der Fabrik oder es wurden avantgardistische Filme gezeigt. Es gab auch Hipsterpaare, die ihre Hochzeitsbilder hier fotografieren ließen. Hauptsächlich wurde das Areal aber von Möchtegern-Banksys genutzt und von Kids aus der Highschool, die sich am Wochenende betranken. Vor dem Eingang der Lagerhalle hatte man einen Maschendrahtzaun errichtet. Als ob das ausreichen würde, um eine Horde tollwütiger Teenager fernzuhalten, die am letzten Wochenende der Sommerferien feiern wollten. Eine Ecke war bereits mit Drahtscheren zerschnitten und aufgebogen worden. Sie waren wie Füchse, die in den Hühnerstall wollten: Da würde sich immer ein Durchschlupf finden.
Aus tragbaren Boxen tönte Musik. Lachen und Gespräche hallten in der riesigen Lagerhalle wie verstärkt wider. Drei Meter vom Zaun entfernt stieß Esther gegen das Kraftfeld. Heph und Eugene machten noch fünf Schritte, bevor sie überhaupt merkten, dass sie nicht mehr neben ihnen ging. Die beiden blieben stehen und sahen sich nach ihr um.
»Geht schon mal vor, Leute«, sagte Esther. »Ich schnappe hier noch ein bisschen frische Luft.«
Heph und Eugene schauten sich an, sagten aber nichts. Weil Hephzibah sowieso nicht sprach, war das keine große Überraschung. Doch Eugene sagte auch nichts, weil er sonst wie ein gottverdammter Heuchler dagestanden wäre.
»Kipp dir deinen flüssigen Mutmacher rein und komm dann nach«, sagte er schließlich. Dann hakte er sich bei Heph unter und die beiden gingen hinein.
»Okay, Sozialphobie«, sagte Esther zu sich selbst und öffnete eine der wohltemperierten Flaschen Rotwein, die sie aus dem Vorrat ihrer Mutter beschlagnahmt hatte. »Zeit, dich zu ertränken.«
Sie nahm drei Schlucke. Der Nachgeschmack war exotisch und faulig, aber das störte sie nicht. Teenager konsumierten Alkohol nicht wegen seines gefälligen Geschmacks, sondern weil er ein nützliches Mittel war, um cooler und witziger und in Gesellschaft weniger verlegen und ungeschickt zu sein.
Das Schlimmste war, dass die Angst sich nicht nur auf das Denken und die Sprechweise oder das Sozialverhalten auswirkte. Sie beeinflusste auch den Herzschlag. Die Atmung. Essen. Schlaf. Angst, die sich wie ein vierzackiger Anker anfühlte, den man ihr in den Rücken gerammt hatte. Je eine Spitze schien sich durch einen Lungenflügel, das Herz und die Wirbelsäule zu bohren. Das Gewicht zog einen gebeugt nach unten, wie zu den trüben Tiefen des Meeresbodens. Die gute Nachricht lautete: Nach einer Weile gewöhnte man sich irgendwie daran. An das Nach-Luft-Schnappen und das Gefühl, kurz vor einer Herzattacke zu stehen, egal wo man sich gerade befand. Das Einzige, was man dann zu tun hatte, war eine der Spitzen zu packen, die unter dem Brustbein herauskam, ein bisschen daran zu rütteln, und zu sagen: »Hör zu, du Arschloch. Wir sterben nicht. Wir haben nämlich noch was vor.«
Esther versuchte genau das. Sie holte ein paarmal tief Luft, versuchte, ihre Lungen zu weiten, obwohl der Brustkorb immer enger zu werden schien. Das nützte nicht viel, weil die Angst eine Bitch ist. Also trank sie noch etwas Wein und wartete darauf, dass der Alkohol gegen ihre Dämonen in die Schlacht zog. Denn schließlich war sie eine total normale gesunde Siebzehnjährige.
3
Der Junge am Lagerfeuer
Esther marschierte am Eingang der Lagerhalle auf und ab und balancierte dabei auf einer rostigen Strebe, die vom Dach gefallen sein musste. Gelegentlich riskierte sie einen Blick auf die langen Schatten, die der flackernde Schein des Lagerfeuers auf den Beton warf. Sie überlegte, zu der Party hineinzugehen. Vielleicht wollte sie sogar hinein. Sie machte einen Schritt von der Strebe weg und zog das Loch im Zaun auf. So stand sie da und versuchte, sich selbst zu zwingen, hindurchzukriechen. Such Eugene. Such Hephzibah. Dir wird nichts passieren. Du stehst das durch.
Doch da trampelte eine Gruppe betrunkener Elftklässler auf sie zu. Sie ließ den Zaun wieder zufallen und huschte wie ein aufgescheuchter Waschbär zurück in die Dunkelheit. Sie konnte sich den Fragen, warum sie überhaupt hier draußen war, nicht stellen, weil sie keine gute Antwort darauf wusste. Wie sollte sie fremden Leuten erklären, dass sie von einem Kraftfeld umgeben waren, einer unsichtbaren Barriere, die um ihr unbekannte Menschen herum brummte und sie zurückstieß?
Deshalb stieg Esther mehrere morsche, mit Bändern abgesperrte Stufen hoch, die in den zweiten Stock der Lagerhalle führten. Sie suchte sich einen Weg durch das Labyrinth der Flure und wischte an einer Stelle am Boden den Staub weg, um sich hinzusetzen. Sie nahm noch einen großen Schluck Wein und sah sich um. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an das Dämmerlicht gewöhnt. Der Feuerschein drang durch die Löcher im Fußboden. Eugene würde es dort unten nicht lange aushalten: Das Licht war mickrig und flackernd, und außerdem waren andere – vermutlich auch Teenager – vorher da gewesen und hatten rote Farbe wie Blut auf den Wänden verschmiert. Die wohl mit Fingern geschriebenen Worte HAU AB HAU AB HAU AB wiederholten sich wieder und wieder. Eugene würde eine Panikattacke kriegen und/oder spontan in Flammen aufgehen.
Esther wurde minimal mutiger und war vielleicht auch leicht betrunken, denn sie legte sich neben einem der größeren Löcher mit Blick auf die Party auf den Bauch. Dort malte sie mit dem Finger Muster in den Staub und ließ eine Reihe kleiner schwarzer Käfer über ihren Unterarm bis zu den Fingerspitzen krabbeln, während sie trank. Hier am Rand, wo sie aus großer Höhe herabschauen konnte, machte ihr das nichts aus. Eugene befand sich neben dem Feuer und trank ebenfalls Wein aus einer Flasche, die er Rosemary geklaut hatte. Esther beobachtete ihren Bruder eine Weile und versuchte zu begreifen, wie er in dieses seltsame Puzzle passte, das ihr irgendwie nicht in den Kopf wollte.
Eugene genoss eine so mühelose wie mysteriöse Beliebtheit, die ihn ebenso verblüffte wie Esther. Eigentlich hätte er ein bevorzugtes Opfer jugendlicher Arschlöcher sein sollen: Er war dünn, irgendwie weibisch, zog sich an wie ein Spinner und befasste sich intensiv mit Dingen wie Dämonologie, Religion und Philosophie. Er war klug, still, nachdenklich und sanft. Und vor allem hieß er Eugene. Die Highschool hätte der reinste Albtraum für ihn sein müssen, doch das war sie nicht.
Daisy Eisen versuchte verzweifelt, mit ihm zu flirten. Dabei schien sie überhaupt nicht mitzubekommen, dass sein Blick ständig von ihr weg und zu dem klassisch schönen schwarzen Jungen ging, der einer Gruppe anderer Leute jenseits der Flammen eine Geschichte erzählte. Esther beobachtete ihn ebenfalls eine Weile, seine lebhaften Bewegungen und wie er auf einen Amboss stieg, damit ihn auch wirklich jeder sehen konnte. Sie sah die Drinks in seinen beiden Händen, an denen er abwechselnd nippte, während er seine wilde Geschichte zum Besten gab. Er bewegte sich wie ein Schattenspieler oder ein Schauspieler im letzten Jahrhundert auf einer Bühne. Sie konnte erkennen, warum Eugene so fasziniert war.
Und dann drehte er sich um.
Zum zweiten Mal an diesem Tag erkannte sie ihn.
Im warmen Schein des Lagerfeuers leuchtete Jonah Smallwood. Sogar von hier oben konnte sie erkennen, dass der blaue Fleck auf seiner Wange heute Nachmittag verschwunden und der Riss in seiner Augenbraue verheilt war. Das bedeutete entweder, dass er a) ein Highlander oder b) ein ziemlich guter Maskenbildner war. Weder das eine noch das andere schien ihr plausibel.
Esther neigte ansonsten nicht zu Gewaltausbrüchen, aber eine halbe Sekunde lang erwog sie, ihre Weinflasche gegen die Wand zu schlagen und mit dem Rest Jonahs Unterleib zu perforieren. Doch da erinnerte sie sich, dass Blut auf ihrer semi-definitiven Liste die Nummer 40 war. Deshalb würgte sie kurz und entschied dann, ihm stattdessen nur eine reinzuhauen. Sie ließ die Flasche zurück, glitt die Treppe hinunter, schob sich durch das Loch im Zaun und marschierte auf das Lagerfeuer zu. Zorn hatte den Anker in ihrer Brust vorläufig entfernt und verlieh ihr außergewöhnlichen Mut.
Jonah erkannte sie nicht sofort, weil sie als Wednesday Addams verkleidet war, was ja auch der gewünschte Effekt von Kostümen ist. Verwirrung. Irreführung. Tarnung zum Schutz vor Räubern.
Als sie nur noch etwa einen Meter von ihm entfernt war, fiel der Groschen. Jonah verband ihr Gesicht mit der Erinnerung »Mädchen, das ich an der Bushaltestelle ausgeraubt und vermeintlich tot zurückgelassen habe«. Er sagte: »Oh, Shit!« Dann sprang er von dem Amboss herunter, ließ einen seiner Drinks fallen und wollte schon losrennen, aber es war zu spät. Esther war bereits bei ihm. Sie packte ihn an seinem Shirt und holte aus. Noch nie zuvor hatte sie jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Und schon gar nicht mit der Absicht, demjenigen richtig wehzutun. Ihr Schlag landete fünf Zentimeter über dem eigentlichen Ziel (seinem linken Auge) und rutschte irgendwie über seine Stirn, bevor er wie eine leichte Brise oben durch seine Frisur glitt.
»Du hast mich geschlagen«, sagte Jonah, als sei er von der bloßen Tatsache total verblüfft. »Auf den Haaransatz.«
»Du hast mein Geld gestohlen! Und mein Roll-Up!«
»Das war köstlich.« Dabei betonte er jede Silbe, sodass Esther die Augen zukniff wie ein Bösewicht in einem Comic.
In dem Moment ertönten Sirenen.
»Oh, Shit! Lauf!« Obwohl sie ihm gerade sehr kläglich gegen die linke Seite seines Kopfs geschlagen hatte, ließ er jetzt auch noch seinen zweiten Drink fallen, packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her in den hinteren Teil der Lagerhalle. Esthers erster Gedanke galt Eugene, der nicht weglaufen und das Licht des Lagerfeuers verlassen konnte, aber da waren die Cops auch schon da, schrien, und die Strahlen ihrer Taschenlampen zuckten überall herum. Man hörte Polizeihunde bellen und Teenager Freudenschreie ausstoßen. Sie kannten die Nickelfabrik so gut, als wäre sie ihr Zuhause. Die geheimen Orte, versteckten Ritzen, die labyrinthischen Stege und die Rostlöcher in den Hochöfen, die gerade groß genug waren, damit jemand reinklettern und sich dort verstecken konnte. Sie wussten, dass sie schnell genug waren, um zu entkommen, und deshalb jauchzten und lachten sie, bevor sie verstummten, als hätte die Fabrik sie einen nach dem anderen verschluckt. Esther und Jonah atmeten schwer, aber leise. Sie rannten weiter, obwohl sie wussten, dass man sie gesehen hatte und sie womöglich nicht entkommen würden.
Esthers zweiter Gedanke war, dass sie überhaupt nicht wegrennen sollte. Sie sollte stehen bleiben, auf die Cops warten und Jonah Smallwood als den Kleinkriminellen identifizieren, der sie erst vor ein paar Stunden um fünfundfünfzig Dollar und ein Fruit Roll-Up betrogen hatte, auf das sie sich sehr gefreut hatte. Doch das tat sie nicht. Sie rannte und rannte und rannte und Jonah ließ sie nicht los. Irgendwann waren sie im Freien, am Rand eines Wäldchens. Sie schlichen und stolperten durchs Unterholz, bis sie direkt auf ihm landete. Ihr rechtes Knie zwischen seinen Schenkeln. Brust an Brust und ihre Hand immer noch in seiner.
Der Strahl einer Taschenlampe strich über ihren Kopf. Ein Hund knurrte. Jonah zog sie an dem Kreuzanhänger (ein wichtiges Detail jeder Wednesday-Addams-Verkleidung) nach unten. Ihre Nase wurde dadurch gegen die Haut an seinem Hals gepresst. Da blieb ihr gar nichts anderes übrig, als seinen Duft wieder und wieder einzuatmen. Nicht sein Shampoo oder den Geruch von Waschmittel oder Eau de Cologne (oder – seien wir ehrlich, er war ja auch erst ein Teenager – von billigem Axe-Bodyspray). Das war sein Duft. Das, was man im Schlafzimmer oder im Auto von jemand riecht, wenn es nicht gut oder schlecht, sondern einfach nach diesem Menschen riecht. Nach seiner Essenz. Normalerweise musste man Leute jahrelang kennen, bevor man wusste, wie sie wirklich riechen. Dazu musste man Parfum, Schweiß, Shampoo und Putzmittel ausklammern. Aber da war er, direkt vor ihr.
Die Cops kamen näher. Jonah presste einen Finger auf ihre Lippen, zog sie noch näher an sich, als versuche er, ihre beiden Körper irgendwie kleiner zu machen, als sie eigentlich waren. Eine schwierige Sache, weil er groß und sie eher breit war und ihr Blut so hell und laut durch ihre Adern pulsierte, dass sie fürchtete, wie ein Leuchtfeuer zu strahlen. Während sie ihn einatmete, passierte etwas Seltsames: Der vierzackige Anker in ihrem Rücken lockerte sich ein wenig, sodass ihre Lungen sich ungehindert weiten konnten. Wenn man unter Angstzuständen leidet, kann man nicht wirklich tief Luft holen. Der Brustkorb wirkt einfach zu eng, als dass die geschrumpften Lungenflügel sich auch nur zu ihrer halben Größe ausdehnen könnten.
Für ein paar ruhige Sekunden in der Dunkelheit machte Esther sich keine Gedanken über Velociraptoren oder Pumas oder eine feindliche Invasion von Aliens, denn das waren ihre üblichen Sorgen abends vor dem Einschlafen. Sie machte sich nicht mal besonders viel Sorgen darüber, verhaftet zu werden, weil auch Jonah kaum alarmiert schien.
Dann landete der Strahl einer Taschenlampe voll auf ihren Gesichtern, während ihre Nase immer noch an seinem Hals und sein Finger auf ihren Lippen lagen.
Jonah verzog den Mund zu einem strahlenden Lächeln. »’n Abend, Officer«, sagte er unbeschwert, als wäre das die unverfänglichste Position, in der ein Gesetzeshüter ihn je erwischt hatte. »Was gibt’s denn für ein Problem?«
»Ihr seid auf Privatgrund eingedrungen«, sagte der Cop, der nur aus einer tiefen Stimme und einem in der Dunkelheit wackelnden Licht zu bestehen schien.
»Meine Güte. Wir haben nur einen geeigneten Ort gesucht, um Nachtvögel zu beobachten. Die seltene Gewöhnliche Scheuneneule soll hier schon gesehen worden – hey, au, hey, okay Mann, okay, mein Gott«, sagte Jonah, während der Polizist ihn am Kragen unter ihr wegzerrte. Dann tauchten weitere Polizisten auf, und Esther wurde von einer stämmigen Beamtin (wahrscheinlich eine ehemalige Kampfsportlerin) auf die Füße gezogen und zurück zu den blinkenden Lichtern vor der Lagerhalle geführt.
Eugene hatte, wie sich herausstellte, nicht mal versucht, vor der Polizei wegzulaufen, daher hatte ihn niemand beachtet. Er stand jetzt neben einem der Polizeiwagen und genoss, die Hände in den Hosentaschen, das rot-blaue Licht. Er sah aus wie jemand, der vor einem Starbucks auf eine Verabredung wartet, nicht als fürchte er, verhaftet zu werden.
Versteck dich, forderte Esther ihn lautlos auf. Eugene blickte um sich, zuckte mit den Schultern und kehrte zum Lagerfeuer zurück, wo er bis zur Morgendämmerung ausharren würde, da er dessen Lichtkreis nicht verlassen konnte, bis die Sonne aufging. Die Polizei nahm keine Notiz von ihm. Ihr machte das Sorgen, wenn andere ihn nicht sehen konnten. Manchmal, im richtigen Licht und wenn er seinen Körper in einen bestimmten Winkel drehte, hätte sie schwören mögen, dass Eugene durchsichtig war. Jeder kennt doch diese eigenartigen Kindheitserinnerungen, die man nicht erklären kann, diese halb vergessenen Traumlandschaften unmöglicher Dinge. Ein Buch, das von allein aus dem Regal fliegt, ein Atemzug unter Wasser, ein schwarzer Schatten mit Zähnen, Klauen und glühenden Augen am Ende des Flurs. Alle Erinnerungen von Esther drehten sich um Eugene. Als sie noch jünger waren, waberte er oder flackerte immer, wenn er sehr traurig oder sehr verängstigt war. Als würde er in die Realität projiziert, wäre aber nicht wirklich ein Teil davon. Und als könne er sich mit Willenskraft ein- und ausschalten.
Wie ein aus Leuchtkäfern gemachter Junge.
Eine armselige Möchtegern-Olympionikin drückte beim Einsteigen in den Streifenwagen gerade ihren Kopf runter, als Esther ihren Bruder für einen Augenblick verschwinden sah. Er löste sich einfach in Luft auf. Dann wurde Jonah von der anderen Seite neben sie auf den Rücksitz geschoben. So kam es, dass Jonah Smallwood am selben Abend, als er sie ausgeraubt hatte, Esther Solar bei ihrer ersten Verhaftung begleitete.
Wie sich rausstellte, waren sie nicht richtig verhaftet. Das hätte sie sich, wegen der fehlenden Handschellen und weil niemand sie über ihre Rechte aufgeklärt hatte, schon denken können. Die Cops fuhren sie zurück in die Stadt, brachten sie auf die Wache und sperrten sie in verschiedene Zellen, die sie »Gewahrsam-Suiten« nannten. Jonahs Zelle war leer, während in Esthers eine sehr dünne Frau mit roter Perücke an Krusten auf ihren Armen knibbelte. Sie stellte sich als Maria, die Gottesmutter, vor.
Esther versuchte der Möchtegern-Olympionikin zu erklären, was für großes Unrecht ihr widerfahren war und dass man Jonah wegen Diebstahl anzeigen und sie freilassen sollte. Doch die Frau ignorierte das und sagte: »Ein Anruf.«
Esther hatte (logischerweise) ihr Handy nicht dabei und konnte sich an keine Nummer eines Verwandten erinnern. Bis auf die ihres Großvaters, was nicht viel nützte. Also rief sie Hephzibah auf deren Handy an.
Esther: »Hephzibah, ich wurde von der Polizei mitgenommen. Du musst meiner Mom Bescheid sagen, damit sie mich gegen Kaution hier rausholt.«
Hephzibah: [SCHWEIGEN]
Esther: »Ich vermute, dass du gerade an dein Handy gehen konntest, bedeutet, du konntest abhauen, als die Cops aufgetaucht sind.«
Hephzibah: [SCHWEIGEN]
Esther: »Ich weiß, dass Mom ungefähr bis Sonnenaufgang in der Spielhalle sein wird, aber du musst ihr sagen, wo ich bin, okay?«
Hephzibah: [SCHWEIGEN]
Esther: »Außerdem habe ich Eugene allein bei der Fabrik zurückgelassen. Kannst du ihn bitte holen gehen?«
Hephzibah: [SCHWEIGEN]
Esther: »Dann mach ich jetzt mal weiter als abgebrühte Kriminelle.«
Hephzibah: [SCHWEIGEN]
Esther: »Okay, gut, dass wir gesprochen haben.«
Die Polizistin führte sie zu ihrer Zelle zurück, wo sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legte, um nicht mit Jonah sprechen zu müssen. Der hockte im Schneidersitz in der entferntesten Ecke seiner Zelle und beobachtete sie.
»Wenn ich du wäre, würde ich mich da nicht hinlegen«, sagte Jonah.
Darauf erwiderte sie: »Kannst du mich vielleicht einfach in Ruhe lassen?«
Worauf er erwiderte: »Denk mal an all die Pisse, Kotze und das Blut, die schon auf dem Boden waren. Die zahlen diesen Cops nicht genug, damit die richtig sauber machen.«
»Da hat er recht«, krächzte Jesus’ Mom. »Ich hab erst letzte Woche hier hingepieselt.«
»Es stinkt echt nach Urin.« Esther setzte sich auf und nahm die gleiche Haltung wie Jonah ein. Mit dem Rücken an die Gitterstäbe gelehnt. Dann wurde Jonah zu seinem Telefonat rausgeführt. Nach dem Geschrei und Gefluche zu schließen, verlief es deutlich weniger problemlos als ihres.
»Weißt du, ich denke schon, seit ich dich heute Nachmittag ausgeraubt habe, über dich nach«, sagte er, als er sich wieder setzte. Der Cop an dem Schreibtisch, der am nächsten bei den Zellen stand, blickte über den Rand seiner Brille und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist eine Metapher für, äh, was Sexuelles«, erklärte Jonah schnell. Der Cop runzelte die Stirn, senkte den Blick aber wieder auf sein Handy.
»Darüber, dass du dir Vergebung für dein abscheuliches Verbrechen wünschst?«, sagte Esther.
»Nee, über deine komische Familie, die du bei einem Referat damals in der Grundschule vorgestellt hast.«
»Oh.« Esther hatte insbesondere deshalb an der East River High School angefangen, weil (abgesehen von Hephzibah) keiner aus ihrer früheren dritten Klasse dorthin ging und sich so niemand daran erinnern würde, wie sie damals in der Dritten vom Familienfluch der Solars berichtet hatte.
»Genau. Inwiefern sind die noch mal alle seltsam? Weil sie alle eine Laktoseintoleranz oder so was haben?«
»Ganz genau. Können keine Milch trinken.«
»Nee, das war’s nicht. Es ging um Phobien, oder? Alle haben schreckliche Angst. Vor Spinnen, Höhe und all dem Zeug. Vom Tod persönlich verflucht. Und wovor man sich fürchtet, dadurch kommt man eines Tages ums Leben.«
»Wie kannst du dich daran noch erinnern?«
»Ich habe dir eben viel Beachtung geschenkt, als ich acht war. Sehr viel, um genau zu sein.«
Esther wurde rot und verriet Jonah die zwei Regeln des Fluchs. Sie lauteten:
– Der Fluch kann eine oder einen Solar ohne Vorwarnung in jeder Phase des Lebens treffen. Wie eine im Blut lauernde Krankheit, die nur darauf wartet, auszubrechen. Ihr Großvater Reginald hatte erst in seinen Dreißigern Angst vor Wasser bekommen, nämlich als der Tod ihm mitteilte, er würde eines Tages ertrinken. Eugene hatte seine Furcht vor der Dunkelheit dagegen schon als Kind entwickelt.
– Das, wovor du Angst hast, zerstört dein Leben, bis es dich schließlich umbringt.
»Also was ist mit dir?«, fragte Jonah. »Wovor hast du Angst?«
»Vor nichts.«
»Du kannst doch nicht die einzige besondere Schneeflocke sein und deine ganze verfluchte Familie im Stich lassen. Willst du etwa Schande über deine Sippe bringen?«
»Das ist nicht komisch.«
»Doch. Ich erinnere mich noch an dein Referat. Dein Cousin hat Angst vor Bienen. Dein Onkel vor Bazillen. Dein Großvater vor Wasser. Dein Dad war Tierarzt und kannte seine große Angst noch nicht.«
»Dad kennt seine Angst jetzt. Er hat Agoraphobie. Platzangst. Seit sechs Jahren hat er den Keller nicht mehr verlassen.«
»Tja, da hast du es. Du musst doch auch vor irgendwas Angst haben.«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Klar hast du. Du musst nur noch rausfinden, wovor.«
»Du bist eine echte Inspiration.«
»Vielen Dank.«
Dann sagten sie nichts mehr, bis Jonahs Dad Holland kam, um ihn auszulösen. (Also genau genommen nur um ihn abzuholen, denn er war ja nicht mal verhaftet.) Holland sah eigentlich wie Jonah aus, wenn alles an Jonah größer und voluminöser gewesen wäre. Breitere Schultern, ein dickerer Bauch, eine buschigere Frisur.
»Hey, Dad, können wir Esther mitnehmen und zu Hause absetzen?«, fragte Jonah, als die Möchtegern-Olympionikin ihn aus der Zelle ließ. Holland musterte Esther mit grimmigem Blick von oben bis unten, drehte sich um und ging. Das bedeutete anscheinend »Ja«, weil Jonah meinte: »Komm schon.«
Hollands Auto war ein kürbisfarbener Kombi aus den 1980er-Jahren, dessen karamellfarbene Ledersitze dermaßen gesprungen waren, dass Esther sich daran die Beine aufkratzte. Davon sagte sie aber nichts, während sie den Weg zu ihrem Haus erklärte. Als der Wagen vor ihrem alten viktorianischen Bau langsamer wurde, stieß Jonah ein »O. Mein. Gott.« aus. Wie immer drang jede Menge Licht heraus und warf die langen Schatten der Eichen bis auf die Straße. Die Amulette klirrten im Abendwind. Leise und unheilvoll schienen sie vom schrecklichen Schicksal zu singen, das allen drohte, die den Solars Schlechtes wünschten und wagten, sich zu nähern. Esther sprang hinaus, bevor das Auto richtig angehalten hatte. Aus demselben Grund lud sie auch nie Freunde aus der Schule ein.
»Esther, warte!«, rief Jonah. Sie wartete nicht, aber er war schneller als sie und erwischte sie zwischen den Bäumen. »Hey, ich habe was für dich. Das Armband habe ich schon verkauft und das Geld ausgegeben, aber das hier kannst du zurückhaben.« Er wühlte in seiner Tasche und gab Esther ihr Handy.
»Na, so was. Danke.«
»Tut mir leid, dass ich dich beklaut habe.«
»Ja, klar.«
»Man sieht sich, Esther.«
»Nicht wenn es sich vermeiden lässt.«
Jonah warf ihr noch einen Luftkuss zu und rannte zurück zur Straße, wo das Auto seines Vaters sich langsam entfernte.
Esther entsperrte ihr Handy. Alles war weg. All ihre Fotos, Kontakte, Apps. Es war blitzblank sauber, auf die Fabrikeinstellung resettet. Bereit zum Verkauf auf dem Schwarzmarkt. Nur ein einziger Kontakt war drauf. Jonah Smallwood, stand da. Mit einem roten Herz als Emoji und darunter seine Telefonnummer. Ihr Finger schwebte über dem Button »Löschen«. Schließlich sollte man die Nummern von Tunichtguten nicht aufheben. Von Tunichtguten, die einen ausgeraubt, vermeintlich tot an einer Bushaltestelle zurückgelassen oder einen mit acht Jahren am Valentinstag versetzt hatten, auch wenn sie wie Finn aus Star Wars aussahen, sich wie Derfantastische Mr. Fox anzogen und wie ein berauschendes Eau de Cologne rochen.
Esther war sich nicht ganz sicher, warum sie seine Nummer behielt, aber wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass sie davon ausging, Jonah Smallwood sowieso nie mehr wiederzusehen.
Es sollte nur sechzehn Stunden und sieben Minuten dauern, bis sich diese Vermutung als völlig falsch herausstellte.
4
Lichterketten und Serienmörder
Ihr Zuhause war, wie sie es erwartet hatte, hell erleuchtet, aber verwaist. Esther ging in die Küche und suchte in den Schubladen nach dem Buch, in das Rosemary für Notfälle all ihre Telefonnummern geschrieben hatte. Kleine, graue, unruhige Kaninchen sprangen in der Hoffnung auf Futter zwischen ihren Füßen herum. Wie die meisten Sachen, die Rosemary ins Haus brachte – den Kamillentee, in dem sie ihre Hände wusch, bevor sie loszog, um an den Spielautomaten zu spielen, die Salbeiblätter, die sie in ihrem Portemonnaie mit sich herumtrug, die Münzen, die sie in ihre Kleider einnähte, das Hufeisen, den gottverdammten bösen Kobold in Gestalt eines Hahns –, sollten die Kaninchen Glück bringen. Die meisten Leute trugen nur eine Hasenpfote als Glücksbringer mit sich herum. Ihre Mutter hatte überlegt: Warum eine einzelne Pfote kaufen, wenn man auch ein ganzes Kaninchen und damit die vierfache Menge Glück erstehen konnte, ohne dafür auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen?
Esther rief Rosemary auf dem Festnetz an, aber die meldete sich nicht. Deshalb durchsuchte sie alle Zimmer im Erdgeschoss, aber ihre Mutter war in keinem. Rosemary glaubte, im Haus spuke es, aber tatsächlich waren die einzigen Geister in diesen Mauern ihre Eltern. (Das hieß noch lange nicht, dass Esther im oberen Stock herumschnüffeln würde – so fingen schließlich Horrorfilme an.) Sie versuchte auch, Eugene und Heph auf deren Handys zu erreichen, aber bei beiden meldete sich sofort die Mailbox.
Was sie als Nächstes tat, war ein Beweis dafür, wie sehr sie ihren dummen Bruder liebte: Sie suchte ihr ewig nicht mehr benutztes Fahrrad in der Garage, pumpte die Reifen auf, pimpte das Ding mit einem halben Dutzend Fahrradlampen, die sie sich aus Eugenes Zimmer geholt hatte, und wickelte sich dann noch eine Lichterkette um Brust und Bauch. Nur für alle Fälle. Denn hat man je einen Horrorfilm gesehen, in dem jemand ermordet wird, der eine hektisch blinkende Lichterkette um sich gewickelt hat? Natürlich nicht. Niemand will alberne Leute umbringen. Dann stellen einem die Cops nur zu viele Fragen. Außerdem würde niemand vergessen, die in eine Lichterkette gewickelte Wednesday Addams gesehen zu haben. Mörder bevorzugen Landstreicher und Prostituierte. Typen, die quasi mit der Landschaft verschmelzen, bei denen sich keiner erinnert, sie gesehen zu haben, und die niemand vermissen wird.
Niemand würde vergessen, dass er sie gesehen hatte.