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Eine herzzerreißend schöne Liebesgeschichte, die tief berührt und nicht mehr loslässt – verfilmt mit Lili Reinhart (Riverdale) in der Hauptrolle
Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Gefühlschaos. Wenn man sich verliebt, steht die Welt Kopf. Aber als Henry auf Grace trifft, ist alles anders. Sie ist so gar nicht, wie er sie sich vorgestellt hat, seine erste große Liebe. Doch ihre Zerbrechlichkeit und ihr Anderssein machen sie in Henrys Augen nur noch schöner. Und er verliebt sich in sie. Unsterblich, bedingungslos. Aber Grace verbirgt etwas vor ihm, ein tragisches Geheimnis, das zwischen ihnen steht …
„Wer fliegen will, muss schwimmen lernen“ ist das mitreißende Debüt von Krystal Sutherland, die durch ihren außergewöhnlichen Stil begeistert. Ein bewegender Roman über die erste Liebe – witzig und tragisch-schön zugleich.
Die Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel »Unsere verlorenen Herzen« bei cbt.
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Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2018
Buch
Die erste große Liebe ist etwas ganz Besonderes. Zum ersten Mal Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Gefühlschaos. Der Moment in dem man seine große Liebe trifft, sollte ein Augenblick sein, in dem der Herzschlag aussetzt und die Welt für einen kurzen Moment stillsteht. So zumindest hat Henry sich das vorgestellt. Doch als er Grace das erste Mal sieht, ist alles ganz anders. Sie ist überhaupt nicht so, wie er sie sich vorgestellt hat, seine erste große Liebe. Grace ist anders, als alle Mädchen, die er kennt. Sie ist unnahbar, verletzlich, seltsam. Und doch machen gerade ihre Zerbrechlichkeit und ihr Anderssein sie in Henrys Augen nur noch schöner. Er verliebt sich in sie. Aber Grace verbirgt etwas vor ihm, ein tragisches Geheimnis, das zwischen ihnen steht …
Autorin
Krystal Sutherland ist in Australien geboren, hat in Amsterdam und Hongkong gelebt, bevor sie 2011 nach Sydney zog. Krystal war auf der Shortlist für den Queensland Young Writers Award. Ihr Debütroman war auf Anhieb ein Erfolg und wurde in über zwanzig Länder verkauft.
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Deutsch von Petra Koob-Pawis
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Our Chemical Hearts« bei G.P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe
© 2016 by Krystal Sutherland
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by cbt in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright der Taschenbuchausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © www.buerosued.de
JaB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-23487-4V002
www.blanvalet.de
Für meine Familie, für alles, für immer.
Kapitel 1
Ich habe mir den Moment, in dem man zum ersten Mal seine große Liebe trifft, immer wie eine Filmszene vorgestellt. Vielleicht nicht ganz wie im Film, mit Slow Motion, im Wind wehenden Haaren, anschwellenden Instrumentalklängen und so weiter. Aber zumindest würde er irgendwie besonders sein. Ein Augenblick, in dem der Herzschlag aussetzt. Etwas, das deine Seele berührt, sodass du nur noch denken kannst: »Ach du Scheiße. Das ist sie. Nach so langer Zeit steht sie einfach vor dir.«
Aber als Grace Town an jenem zweiten Dienstag meines Abschlussjahrs zehn Minuten zu spät zu Mrs Beadys nachmittäglichem Theaterkurs erschien, war alles ganz anders. Grace gehörte zu den Menschen, die bleibenden Eindruck hinterlassen, sobald sie einen Raum betreten – wenn auch nicht so, dass man ihr sofort unsterblich verfiel.
Sie war durchschnittlich groß, hatte eine durchschnittliche Figur und war durchschnittlich hübsch – beste Voraussetzungen also, damit sich ein Neuling ohne das für solche Geschichten typische Drama auf einer fremden Highschool einfügen konnte.
Wären da nicht die drei Dinge gewesen, die sofort ins Auge stachen, bevor ihre Durchschnittlichkeit sie retten konnte:
1. Grace war von Kopf bis Fuß wie ein Junge angezogen. Nicht der Tomboy-Look eines Skater-Girls, sondern echte Jungsklamotten, die viel zu groß für sie waren. Röhrenjeans, die eigentlich skinny sein sollten, ihr aber nur dank eines Gürtels nicht von den Hüften rutschten. Obwohl es erst Mitte September war, trug sie einen Pullover, ein kariertes Hemd und eine Strickmütze sowie ein langes Lederhalsband, an dem ein kleiner Anker hing.
2. Sie sah ungewaschen und ungesund aus. Ehrlich, ich hatte schon Junkies gesehen, die in besserer Verfassung waren als Grace an jenem Morgen. (Okay, ich hatte noch nicht allzu viele Junkies zu Gesicht bekommen, aber ich hatte The Wire und Breaking Bad gesehen, und das zählte ja wohl auch.) Ihre blonden Haare waren ungekämmt und schlecht geschnitten, ihre Haut war fahl, und ich hätte wetten können, dass sie müffelte.
3. Als wäre das noch nicht genug, um in der neuen Schule keinen Anschluss zu finden, ging Grace Town auch noch am Stock.
Das war er. Der Moment, in dem ich sie zum ersten Mal sah. Es gab keine Slow Motion, keine Brise, keinen Soundtrack und schon gar keinen stolpernden Herzschlag. Grace kam hereingehumpelt, zehn Minuten zu spät und ohne ein Wort zu sagen, und tat so, als wäre sie hier zu Hause, als würde sie schon seit Jahren auf diese Schule gehen. Vielleicht lag es daran, dass sie neu und ziemlich seltsam war, vielleicht auch daran, dass man ihr nur in die Augen schauen musste, um zu erkennen, dass ihre Seele einen Knacks hatte. Jedenfalls sagte Mrs Beady kein Wort. Grace setzte sich auf einen Platz ganz hinten an der schwarz gestrichenen Wand des Theaterraums, legte den Gehstock quer über den Schoß und gab die ganze Stunde über keinen Laut von sich.
Ich blickte noch zweimal über die Schulter, aber am Ende der Unterrichtsstunde hatte ich bereits vergessen, dass sie da war. Und als sie leise den Raum verließ, nahm auch sonst niemand Notiz von ihr.
Von Liebe auf den ersten Blick kann also keine Rede sein.
Trotzdem ist es eine Liebesgeschichte.
Na ja.
Mehr oder weniger.
Kapitel 2
Die erste Woche meines letzten Schuljahrs vor Grace Towns unerwartetem Auftauchen war so ereignislos gewesen, wie eine Highschool-Woche nur sein kann. Es hatte gerade mal drei kleinere Skandale gegeben: ein Junior hatte in der Mädchentoilette geraucht und war suspendiert worden (wenn man schon suspendiert wird, dann bitte für etwas, das nicht ganz so Klischee ist), jemand hatte nach Schulschluss eine Schlägerei auf dem Parkplatz gefilmt und auf YouTube gestellt (die Schulleitung war total ausgerastet), zudem machte das Gerücht die Runde, Chance Osenberg und Billy Costa hätten sich gegenseitig mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, nachdem sie ungeschützten Sex mit demselben Mädchen gehabt hatten (ehrlich, ich wünschte, Letzteres hätte ich mir nur ausgedacht).
Währenddessen war mein Leben wie immer völlig skandalfrei verlaufen. Ich war siebzehn Jahre alt, ein schlaksiger, linkischer Typ, den man für den jungen Keanu Reeves casten würde, nachdem man schon den Großteil des Budgets für schlechte 3D-Computergrafik und Catering verpulvert hat. Ich hatte noch nie eine Zigarette geraucht, ja noch nicht mal an der Kippe von jemand anderem gezogen, und bisher war ich auch noch nie in die Situation gekommen, ungeschützt den No-Pants-Dance zu tanzen, dem Himmel sei Dank.
Mein dunkles Haar war schulterlang und ich trug am liebsten die Sportjacke meines Vaters aus den Achtzigern. Im Grunde sah ich aus wie die männliche Version von Summer Glau mit einem Anflug von Severus Snape. Allerdings ohne Hakennase, dafür mit ein paar Grübchen, und voilà, schon hatte man Henry Isaac Page.
Zu der Zeit interessierte ich mich nicht für Mädchen (und auch nicht für Jungs, um das gleich mal klarzustellen). Seit fast fünf Jahren waren meine Freunde nur noch damit beschäftigt, sich dramatisch zu ver- und entlieben, während ich mich noch kein einziges Mal richtig verknallt hatte. Klar, da war diese Sache mit Abigail Turner im Kindergarten gewesen (ich hatte sie mit einem Kuss auf die Wange überrumpelt, danach ging es mit unserer Beziehung rapide bergab), und mindestens drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich fest entschlossen gewesen, Sophie Zhou zu heiraten. Aber ab der Pubertät schien irgendein innerer Schalter umgelegt worden zu sein: statt mich, wie die meisten Jungs an meiner Schule, in ein testosterongesteuertes Sexmonster zu verwandeln, wartete ich immer noch darauf, dass mir jemand über den Weg lief, der mir den Kopf verdrehte.
In der Zwischenzeit konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Schule, damit ich die Noten bekam, die ich für ein halbwegs vernünftiges College brauchte. Das war vielleicht auch der Grund, warum ich in den nächsten Tagen keinen Gedanken mehr an Grace Town verschwendete. Vielleicht wäre das auch so geblieben, wenn sich nicht unser Englischlehrer Mr Alistair Hink eingemischt hätte.
Ich wusste über Mr Hink gerade so viel, wie die meisten Schüler über ihre Lehrer wussten. Er litt unter Schuppen, was nicht ganz so auffällig gewesen wäre, wenn er nicht mit Vorliebe jeden Tag schwarze Rollkragenpullover getragen hätte, weshalb man auf seinen Schultern immer feine weiße Punkte sah. Wie Schneeflocken auf dem Asphalt. Er schien nicht verheiratet zu sein, zumindest trug er keinen Ring an der linken Hand, was womöglich an seinen Schuppen lag und daran, dass er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Napoleon Dynamites Bruder Kip hatte.
Hinks ganze Leidenschaft galt seinem Fach, er liebte es so sehr, dass er einmal, als Mathe fünf Minuten länger gedauert hatte und diese Zeit von unserer kostbaren Englischstunde abgegangen war, meinen Mathelehrer Mr Babcock zur Rede gestellt und ihm erklärt hatte, dass die Geisteswissenschaften nicht weniger wichtig seien als die Mathematik. Viele Schüler lachten insgeheim über ihn – sie strebten wohl Karrieren als Ingenieure, Naturwissenschaftler oder Kundenbetreuer an –, aber rückblickend war dieser Nachmittag in unserem dampfigen Englisch-Klassenzimmer der Augenblick, in dem ich mich in den Gedanken verliebte, Schriftsteller zu werden.
Ich war schon immer ganz gut im Schreiben gewesen und konnte mit Worten umgehen. Manche haben von Natur aus ein feines Gehör für Musik, andere haben ein Talent fürs Zeichnen und manche – so wie ich – wissen aus dem Bauch heraus, wo ein Komma hingehört und wo nicht. Auf der Skala nützlicher Superkräfte rangiert grammatikalische Intuition ziemlich weit unten, aber immerhin verschaffte ich mir damit Anerkennung bei Mr Hink, der zufälligerweise auch Betreuer unserer Schülerzeitung war, bei der ich seit meinem zweiten Highschool-Jahr mitarbeitete, um hoffentlich eines Tages Chefredakteur zu werden.
Am zweiten Donnerstag des Schuljahrs klingelte mitten in Mrs Beadys Theaterstunde das Telefon. Sie hob ab. »Henry, Grace. Mr Hink möchte Sie beide nach Schulschluss in seinem Büro sprechen«, sagte sie, nachdem sie ein paar Minuten am Telefon geplaudert hatte. (Beady und Hink hatten sich schon immer gut verstanden. Zwei verwandte Seelen, die im falschen Jahrhundert geboren worden waren und in einer Welt lebten, in der man nur Spott für Leute übrig hatte, die glaubten, Kunst sei das Beste, was die Menschheit je hervorgebracht hatte und hervorbringen würde.)
Ich nickte und blickte absichtlich nicht in Grace’ Richtung, obwohl ich aus dem Augenwinkel sah, dass sie mich von der letzten Reihe aus anstarrte.
Die meisten Teenager würden sofort das Schlimmste vermuten, wenn sie nach der Schule ins Büro eines Lehrers gerufen werden, aber wie gesagt, ich war leider ein vollkommen skandalfreier Schüler. Ich wusste (oder hoffte zumindest, es zu wissen), warum Hink mich sehen wollte. Grace war erst vor zwei Tagen auf der Westland High gelandet und hatte daher kaum Zeit gehabt, irgendeinen Schüler mit Trichomoniase zu beglücken und/oder nach der Schule in Schlägereien zu geraten (wobei … sie hatte einen Stock und sah ziemlich wütend aus).
Warum Mr Hink ausgerechnet Grace sprechen wollte, war mir ein Rätsel – so wie alles andere, was mit ihr zu tun hatte.
Kapitel 3
Grace wartete schon vor Hinks Büro, als ich dort eintraf. Wieder trug sie Jungsklamotten, allerdings nicht dieselben wie gestern. Aber heute sah sie etwas sauberer und gesünder aus. Ihre blonden Haare waren frisch gewaschen und gebürstet. Die Wirkung war enorm, auch wenn ihr Haar jetzt völlig ungleichmäßig über ihre Schultern fiel und aussah, als hätte sie es eigenhändig mit einer rostigen Gartenschere geschnitten.
Ich setzte mich neben sie auf die Bank und war plötzlich so verlegen, dass ich nicht mehr wusste, wie man sich lässig hinsetzt, weshalb ich erst mal nachdenken musste, was ich mit meinen Armen und Beinen anstellen sollte. Ich brachte keine anständige Pose zustande, also beugte ich mich unbeholfen nach vorne, mit dem Ergebnis, dass mein Nacken wehtat. Aber ich traute mich nicht, mich noch mal zu bewegen, weil ich merkte, dass sie mich von der Seite ansah.
Grace hatte die Knie bis zur Brust hochgezogen und den Stock zwischen die Beine geklemmt. Sie las in einem Buch, dessen abgegriffene Seiten so gelblich waren wie von Kaffee verfärbte Zähne. Ich konnte den Titel nicht entziffern, sah aber, dass es ein Gedichtband war. Grace bemerkte, dass ich ihr über die Schulter blickte, und ich rechnete damit, dass sie das Buch zuklappen oder es wegdrehen würde, aber stattdessen hielt sie es so, dass ich besser hineinschauen konnte.
Das Gedicht, das sie gerade las – und offenbar nicht zum ersten Mal, denn die Seite hatte ein Eselsohr, diverse Essensflecke und war auch sonst ziemlich ramponiert –, war von einem Typen namens Pablo Neruda, den ich nicht kannte. Es hieß »Ich liebe dich nicht«, das machte mich neugierig. Ich fing an zu lesen, obwohl nicht mal Hink es bisher geschafft hatte, mich für Lyrik zu begeistern.
Zwei Verse waren mit Leuchtstift markiert:
Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt,
heimlich, zwischen Schatten und Seele.
Im diesem Moment kam Hink aus seinem Büro, und Grace schlug das Buch zu, sodass ich nicht weiterlesen konnte.
»Ah, schön, ihr habt euch schon kennengelernt«, sagte Hink, als er uns nebeneinander auf der Bank sitzen sah.
Hastig stand ich auf, froh, endlich aus meiner unbequemen Sitzhaltung erlöst zu werden. Grace rutschte an die Kante der Bank und verlagerte beim Aufstehen ihr Gewicht gleichmäßig auf den Gehstock und ihr gesundes Bein. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie schwer ihre Verletzung war. Wie lange hatte sie diese Behinderung schon? War ihr Bein von Geburt an so oder hatte sie in ihrer Kindheit einen tragischen Unfall erlitten?
»Na, dann kommt mal rein.«
Hinks Büro befand sich am Ende eines Gangs, der irgendwann in den frühen Achtzigern als modern und ansprechend durchgegangen wäre. Hellrosa Wände, Neonlicht, künstliche Pflanzen, denen man schon von Weitem ansah, dass sie unecht waren, dazu diese komische Art von Linoleum-Boden, der wie Granit aussehen soll, aber eigentlich nur aus einer durchsichtigen Laminatschicht mit Hunderten kleinen Plastik-Kieseln besteht. Ich folgte Hink etwas langsamer als sonst, damit Grace neben mir gehen konnte. Nicht weil ich wollte, dass sie neben mir ging, sondern weil ich mir vorstellte, dass es schön für sie wäre, Schritt halten zu können. Aber obwohl ich mich im Schneckentempo fortbewegte, blieb sie zurück und humpelte immer zwei Schritte hinter mir her, sodass es mir irgendwann vorkam, als würden wir ein Wettrennen im Langsamlaufen austragen. Hink war inzwischen schon zehn Schritte voraus, deshalb ging ich schneller und ließ Grace hinter mir, wobei ich vermutlich wie der letzte Vollidiot aussah. Als wir das Büro erreicht hatten (klein, kahl, grünstichig und trostlos – man hätte glatt auf die Idee kommen können, dass dort an den Wochenenden ein Fight Club stattfindet), führte Hink uns zu zwei Stühlen vor seinem Schreibtisch und forderte uns auf, Platz zu nehmen. Während wir uns hinsetzten, überlegte ich stirnrunzelnd, wieso er Grace zu dem Gespräch gebeten hatte.
»Sie können sich bestimmt denken, warum Sie hier sind. Der Grund ist Ihr außerordentliches Schreibtalent. Als es darum ging, die Posten der Chefredakteure für unsere Zeitung zu besetzen, habe ich daher sofort an Sie beide …«
»Nein«, fiel Grace ihm ins Wort.
Ihre Stimme traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Erst da fiel mir auf, dass ich sie noch nie zuvor sprechen gehört hatte. Sie hatte eine kräftige, klare, dunkle Stimme, die so gar nicht zu ihrer gebrochenen und furchtsamen Erscheinung passte.
»Wie bitte?«, fragte Hink verdattert.
»Nein«, wiederholte Grace, als gäbe es dem nichts hinzuzufügen.
»Ich … ich verstehe nicht«, sagte Hink und warf mir einen flehentlichen Blick zu.
Ich hörte förmlich, wie er lautlos um Hilfe rief, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken.
»Ich will keine Redakteurin sein«, erklärte sie. »Es ist wirklich sehr nett, dass Sie an mich gedacht haben, aber nein, danke.« Grace nahm ihre Tasche, die sie am Boden abgestellt hatte, und stand auf.
»Miss Town. Grace. Martin hat mich noch vor Beginn des Schuljahres aufgesucht und mich gebeten, einen Blick auf Ihre Arbeiten von East River zu werfen. Wenn ich mich nicht irre, sollten Sie dieses Jahr dort eigentlich die Redaktion der Zeitung übernehmen.«
»Ich schreibe nicht mehr.«
»Das ist sehr schade. Ihre Arbeiten sind ausgezeichnet. Sie haben ein Talent, mit Worten umzugehen.«
»Und Sie haben ein Talent, Klischees zu verbreiten.«
Hink war so perplex, dass ihm die Kinnlade herunterklappte.
»Tut mir leid«, fügte Grace etwas sanfter hinzu. »Aber das sind alles nur Worte, die keinerlei Bedeutung haben.«
Grace sah mich mit einem missbilligenden Ausdruck an, der mich überraschte und den ich nicht verstand, dann schulterte sie ihren Rucksack und humpelte hinaus. Hink und ich saßen schweigend da und versuchten, uns einen Reim auf das zu machen, was gerade passiert war. Es dauerte ganze zehn Sekunden, bis ich merkte, wie wütend ich war, aber dann schnappte ich mir meine Tasche, sprang auf und eilte zur Tür.
»Können wir morgen weiterreden?«, fragte ich Hink, dem wohl klar war, dass ich ihr nachgehen wollte.
»Ja, ja, natürlich. Komm einfach vor dem Unterricht zu mir«, sagte er und scheuchte mich hinaus.
Ich rannte den Gang entlang und stellte überrascht fest, dass Grace schon weg war. Als ich durch die Tür nach draußen trat, hatte sie schon fast das Schulgelände verlassen. Sie konnte verdammt schnell sein, wenn sie wollte. Ich spurtete hinter ihr her, und als ich in Hörweite war, rief ich: »Hey!«
Sie drehte sich kurz um, musterte mich von Kopf bis Fuß, funkelte mich finster an und stapfte weiter.
»Hey«, wiederholte ich atemlos, als ich sie schließlich eingeholt hatte und mit ihr zusammen weiterging.
»Was denn?«, fragte sie, ohne langsamer zu werden. Ihr Gehstock klackte bei jedem Schritt auf der Straße. Hinter uns hupte ein Auto. Grace deutete energisch auf ihren Stock und winkte das Fahrzeug vorbei. Wenn ich die Art beschreiben sollte, wie das Auto uns überholte, fiele mir nur das Wort belämmert ein.
»Also …«, fing ich an, aber dann wusste ich nicht mehr weiter. Ich konnte zwar ziemlich gut schreiben, aber reden? Den Mund aufmachen und Laute hervorbringen? Das war eine ganz andere Nummer.
»Also was?«
»Also … so weit habe ich unser Gespräch nicht vorausgeplant.«
»Du scheinst sauer zu sein.«
»Ich bin sauer.«
»Warum?«
»Weil es Leute gibt, die sich seit Jahren den Arsch aufreißen, um Redakteur zu werden, und du spazierst einfach zu Beginn des Abschlussjahrs herein, kriegst den Posten auf dem Silbertablett serviert und lehnst ihn ab?«
»Bist du auch einer von denen, die sich den Arsch aufgerissen haben?«
»Das kannst du laut sagen. Seit ich fünfzehn bin, habe ich mich bei Hink eingeschleimt und so getan, als wäre ich ein gepeinigter Jungschriftsteller, der sich für einen zweiten Holden Caulfield hält.«
»Na dann, herzlichen Glückwunsch. Ich kapiere nicht, wieso du sauer bist. Normalerweise gibt es nur einen Chefredakteur, oder? Dass ich Nein gesagt habe, kann dir doch völlig egal sein.«
»Aber … ich meine … warum sagst du zu so etwas Nein?«
»Weil ich den Job nicht will.«
»Aber …«
»Ohne mich kannst du alle Entscheidungen allein treffen und die Zeitung so gestalten, wie du es dir wahrscheinlich schon zwei Jahre lang ausgemalt hast.«
»Tja … ich schätze … aber …«
»Das ist eine echte Win-Win-Situation. Du brauchst mir nicht zu danken, hab ich gern gemacht.«
Ein paar Minuten lang gingen wir schweigend weiter, bis meine Wut verflogen war und ich mich fragte, warum ich ihr überhaupt hinterhergehetzt war.
»Was willst du noch hier, Henry Page?«, fragte sie und blieb mitten auf der Straße stehen. Es schien ihr völlig egal zu sein, dass uns jeden Moment ein Auto über den Haufen fahren konnte. Mir fiel auf, dass sie meinen vollen Namen kannte, obwohl wir uns nie vorgestellt worden waren und auch noch nie ein Wort gewechselt hatten.
»Du weißt, wie ich heiße?«, fragte ich.
»Ja. Und du weißt, wie ich heiße. Also tu nicht so, als wärst du überrascht. Wieso läufst du mir immer noch nach?«
»Das kann ich dir sagen, Grace Town. Wir sind schon ein ganzes Stück von der Schule entfernt und vermutlich ist mein Bus längst weg. Ich habe die ganze Zeit nach einer guten Möglichkeit gesucht, dieses Gespräch zu beenden, aber mir ist nichts eingefallen, also habe ich mich meinem Schicksal ergeben.«
»Und das wäre?«
»In diese Richtung weiterzulaufen, bis meine Eltern mich als vermisst melden und die Polizei mich am Stadtrand findet und nach Hause fährt.«
Grace seufzte. »Wo wohnst du?«
»Direkt neben dem Highgate-Friedhof.«
»Na gut, komm mit zu mir, ich bringe dich nach Hause.«
»Oh. Toll. Danke.«
»Aber nur, wenn du mir versprichst, mich nicht mehr mit der Zeitungsredaktion zu nerven.«
»Einverstanden. Ich werde dich in Ruhe lassen. Ist doch deine Sache, wenn du eine so fantastische Gelegenheit ausschlagen willst.«
»Gut.«
Es war ein dampfiger Nachmittag in der Vororthölle. Die Wolkendecke über uns war so zäh wie Tortenguss und die Rasenflächen und Bäume hatten immer noch den goldgrünen Glanz des Spätsommers. Wir liefen nebeneinander über den heißen Asphalt. Weitere fünf Minuten verstrichen, in denen betretenes Schweigen herrschte und ich mir den Kopf zerbrach, welche Frage ich ihr stellen konnte. »Darf ich das Gedicht zu Ende lesen?«, fragte ich sie schließlich, weil mir nichts Besseres einfiel. (Zur Auswahl stand erstens: Ähm … machst du Cross-Dressing oder so? Ich habe nichts dagegen, ich frage nur aus Neugier. Zweitens: Hey, was ist mit deinem Bein los? Drittens: Du bist doch sicher ein Junkie, oder? Hast du gerade einen Entzug hinter dir? Viertens: Darf ich das Gedicht zu Ende lesen?)
»Welches Gedicht?«, fragte sie.
»Von diesem Pablo Dingsda. ›Ich liebe dich nicht‹ oder so.«
»Oh. Ja, klar.« Grace blieb stehen, reichte mir ihren Stock und schwang den Rucksack nach vorne. Sie kramte das abgegriffene Buch hervor und drückte es mir in die Hand. Es klappte auf der Seite mit dem Gedicht von Pablo Neruda auf, was mir den letzten Beweis dafür lieferte, dass sie es schon tausendmal gelesen hatte. Sofort fiel mein Blick wieder auf die Stelle mit den dunklen Dingen.
Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt,
heimlich, zwischen Schatten und Seele.
»Es ist wunderschön«, sagte ich. Und das stimmte auch. Ich schlug das Buch zu und gab es ihr zurück.
»Findest du?« Ihre Augen verengten sich leicht, aber in ihrem Blick lag eine ehrliche Frage.
»Du etwa nicht?«
»So was sagen Leute, wenn sie ein Gedicht nicht verstehen. Ich finde es nicht wunderschön, sondern traurig.«
Mir war schleierhaft, was an einem harmlosen Liebesgedicht traurig sein sollte, aber andererseits hatte ich keinen Lebensgefährten außer meinem Laptop, daher beschloss ich, besser die Klappe zu halten.
»Hier, bitte«, sagte Grace. Sie schlug das Buch wieder auf und riss die Seite mit dem Gedicht heraus. Ich zuckte zusammen, als würde es mir körperlich wehtun.
Ich nahm das Blatt Papier, faltete es und steckte es in meine Tasche, halb entsetzt darüber, wie sie mit dem Buch umgegangen war, halb entzückt, dass sie mir bereitwillig etwas gegeben hatte, das für sie offensichtlich von Bedeutung war. Das gefiel mir. Ich mochte Leute, die sich spontan und ohne langes Zögern von materiellem Besitz trennen konnten. Wie Tyler Durden aus Fight Club. »Alles, was du besitzt, besitzt irgendwann dich« und so weiter.
Das Haus, in dem Grace wohnte, sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der verwilderte Garten wucherte vor sich hin und auch der Rasen war schon lange nicht mehr gemäht worden. Die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen und das zweistöckige graue Backsteinhaus schien von der Last der Welt niedergedrückt zu werden. In der Einfahrt stand einsam ein Auto, ein kleiner weißer Hyundai, auf dessen Heckscheibe ein Strokes-Sticker klebte.
»Warte hier«, sagte sie. »Ich muss erst noch den Autoschlüssel holen.«
Ich nickte und blieb mitten auf dem Rasen stehen, um auf sie zu warten. Das Auto war genauso seltsam wie sie selbst. Warum ging (oder besser gesagt humpelte) sie jeden Tag fünfzehn Minuten zur Schule, wenn sie nicht nur einen Führerschein, sondern sogar ein Auto hatte? Alle Schüler der Abschlussklasse waren ganz scharf darauf, in der Mittagspause zur Mall und zu McDonald’s zu fahren, um für kurze Zeit das Schulgelände verlassen zu können. Und um am Nachmittag die Schulbusse links liegen zu lassen und ohne Umweg nach Hause zu fahren, wo Essen und die Playstation und himmlische, herrlich bequeme Jogginghosen auf einen warteten.
»Hast du einen Führerschein?«, fragte Grace hinter mir, und ich machte einen kleinen Satz. Ich hatte gar nicht gehört, dass sie zurückgekommen war, aber da stand sie und ließ den Autoschlüssel von ihrem kleinen Finger baumeln. Auch der Schlüsselanhänger war ein Strokes-Fanartikel. Ich hatte noch nie bewusst einen Song von ihnen gehört, nahm mir aber vor, sie gleich beim Heimkommen auf Spotify zu suchen.
»Ähm, ja. Vor ein paar Monaten habe ich die Prüfung gemacht, allerdings habe ich kein Auto.«
»Gut.« Sie warf mir den Schlüssel zu, ging auf die Beifahrerseite und zog ihr Handy hervor. Nach ungefähr zwanzig Sekunden blickte sie auf und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was ist? Willst du nicht aufschließen?«
»Du willst, dass ich fahre?«
»Nein, ich dachte, es wäre ganz lustig, dir den Schlüssel in die Hand zu drücken und dann hier rumzustehen und zu warten, bis jemand die Teleportation erfindet. Ja, Henry Page, ich will, dass du fährst.«
»Ähm, okay. Ich bin ein bisschen außer Übung, aber ja, von mir aus.« Ich schloss das Auto auf, öffnete die Tür und setzte mich hinters Steuer. Das Auto roch wie sie, herb und maskulin, der Duft eines Jungen im Teenageralter. Was ich, gelinde gesagt, ziemlich verwirrend fand. Ich ließ den Motor an – so weit, so gut – und holte tief Luft.
»Ich werde mich bemühen, uns lebendig als Ziel zu bringen«, sagte ich. Grace Town gab keine Antwort, daher lachte ich selbst über meinen Scherz – ein kleines, verlegenes »Ha« –, dann legte ich den Rückwärtsgang ein.
Selbst meine Oma hätte beim Fahren cooler ausgesehen als ich. Den ganzen Weg bis zu mir nach Hause kauerte ich über dem Lenkrad. Der Schweiß brach mir aus, denn ich war mir nur allzu bewusst, dass ich a) ein fremdes Auto fuhr, b) seit Monaten nicht mehr hinter dem Steuer gesessen und c) meine Fahrprüfung nur bestanden hatte, weil der Fahrlehrer gleichzeitig mein Onkel zweiten Grades war und an diesem Tag einen üblen Kater gehabt hatte. Ich hatte dreimal anhalten müssen, damit er in den Straßengraben kotzen konnte.
»Bist du dir sicher, dass du die Fahrprüfung bestanden hast?«, wollte Grace wissen. Sie beugte sich vor, um einen Blick auf den Tacho zu werfen. Der Zeiger verriet, dass ich fünf Stundenmeilen unter der Geschwindigkeitsbegrenzung blieb.
»Hey, ich musste nur zwei Beamte bestechen. Ich habe mir meinen Führerschein verdient.« Ich hätte schwören können, dass der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht huschte. »Du warst also vorher in East River, was?«
»Ja.«
»Warum hast du im Abschlussjahr die Schule gewechselt?«
»Ich liebe das Abenteuer«, sagte sie trocken.
»Tja, an unserer Bildungseinrichtung gibt es Spannung pur. Kein Wunder, dass du zu uns kommen wolltest.«
»Hink scheint mir ein echter Unruhestifter zu sein. Ich wette, er steckt ständig in Schwierigkeiten.«
»Ja, der Mann ist eine echte Stimmungskanone.«
Und dann, dem Himmel sei Dank, waren wir endlich am Ziel. Ich parkte vor dem Haus und ließ das Lenkrad los. Erst jetzt fiel mir auf, wie fest ich das Steuer die ganze Zeit umklammert hatte.
»Ich habe niemanden mehr so verkrampft Auto fahren sehen, seit … brauchst du einen Moment, um dich wieder zu fassen?«, fragte sie.
»Was soll ich sagen? Ich bin eben ein junger Wilder, wie James Dean.«
Ich rechnete damit, dass Grace auf den Fahrersitz rutschen würde, aber stattdessen bat sie mich, den Motor auszuschalten. Wir stiegen beide aus und ich reichte ihr den Schlüssel. Sie verriegelte das Auto, als würde sie mit ins Haus kommen wollen. Erwartete sie, dass ich sie hereinbat? Doch da drehte sie sich zu mir und sagte: »Okay, dann tschüss. Wir sehen uns morgen. Oder auch nicht. Wer weiß schon, wo ich dann sein werde.« Mit diesen Worten humpelte sie die Straße entlang, allerdings nicht dahin, woher wir gekommen waren, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
»Da hinten gibt es nur ein Auffangbecken für Regenwasser und einen Block weiter fängt schon der Friedhof an.« (Tatsächlich war der Friedhof so nah, dass ich in der Grundschule sogar ein paar Mal beim Schulpsychologen gewesen war, weil ich eine Zeit lang felsenfest davon überzeugt war, dass der Geist meines Urgroßvaters Johannes van de Vliert mich heimsuchen und umbringen würde.) Grace gab keine Antwort und drehte sich auch nicht mehr um, sie hob nur die freie Hand, wie um zu sagen Ich weiß und ging einfach weiter.
Verdutzt sah ich zu, wie sie hinter der nächsten Straßenecke verschwand.
»Hola, Bro«, begrüßte mich meine Schwester Sadie, kaum dass ich die Haustür hinter mir zugemacht hatte.
»O Mann, Suds, musst du mir so einen Schrecken einjagen?«, fragte ich und griff mir an die Brust. Sadie war zwölf Jahre älter als ich, eine gefeierte Neurowissenschaftlerin, die einerseits als Goldkind, andererseits als schwarzes Schaf der Familie galt. Wir sahen uns sehr ähnlich: schwarze Haare, leicht vorstehende Augen und Lachgrübchen. Bis auf die Tatsache, dass Suds mit ihrem Nasenpiercing, einem von oben bis unten tätowierten Arm und wuscheligen Dreadlocks – alles Überbleibsel ihrer stürmischen Teenager-Jahre – ein klein wenig hipper aussah als ich.
»Hab seit zwei Tagen nichts mehr von dir gesehen oder gehört, Kleiner. Ich hatte schon den Verdacht, dass Mom und Dad dich abgemurkst und verscharrt haben.« Das war natürlich nur eine strategische Lüge, denn Suds machte zurzeit eine ziemlich üble Scheidung von dem ziemlich üblen Arzt durch, den sie geheiratet hatte, und wenn sie nicht im Krankenhaus war, verbrachte sie neunzig Prozent ihrer Zeit bei uns zu Hause.
»Sadie, mach dich nicht lächerlich«, sagte Dad von der Küche aus. Er war in seiner üblichen Aufmachung, die aus Hawaii-Shirt, kurzen Männershorts und einer schwarzen Brille bestand. (Sein Modegeschmack ließ schwer zu wünschen übrig, seit er vor drei Jahren seine Schreinerei in unseren Hinterhof verlegt hatte. Eigentlich war es schon ein kleines Wunder, wenn man ihn in etwas anderem als seinem Pyjama antraf.) Was die Haare anging, kamen Sadie und ich nach ihm. Zumindest vermutete ich das, denn die Dauerstoppeln an seinem Kinn waren dunkel, aber seit ich klein war, kannte ich ihn nur mit Glatze. »Wir würden ihn natürlich nicht verscharren, sondern ein richtiges Grab ausheben. In unserer Familie machen wir keine halben Sachen, das gilt auch für Mord.«
»Toby und Gloria haben das am eigenen Leib erfahren«, sagte Sadie und spielte damit auf eine Begebenheit an, die sich sechs Jahre vor meiner Geburt ereignet hatte und bei der es um ein Goldfisch-Pärchen, Insektenspray und den unglücklichen und viel zu frühen Tod zweier Aquariumsbewohner ging.
»Dreiundzwanzig Jahre, Suds. Es ist dreiundzwanzig Jahre her, dass deine Goldfische gestorben sind. Willst du es nicht endlich gut sein lassen?«
»Erst wenn sie gerächt sind!«, rief Sadie theatralisch. Irgendwo im Haus fing ein Kleinkind an zu weinen. Sadie seufzte. »Man könnte doch meinen, dass ich mich nach drei Jahren an dieses Muttersein gewöhnt habe. Aber nein, andauernd vergesse ich den kleinen Racker.«
»Ich hole ihn«, bot ich an. Ich ließ meine Schultasche fallen und ging zu Sadies altem Kinderzimmer, in dem Ryan für gewöhnlich schlief. Genau wie ich war das Kind Unfall und Überraschung zugleich gewesen. Mom und Dad hatten eigentlich nur ein Kind haben wollen, aber zwölf Jahre nach Sadies Geburt hatten sie plötzlich mich am Hals.
»Ryan, Kumpel, was ist los?« Ich stieß die Tür auf und sah mich meinem zweieinhalbjährigen Neffen gegenüber. Unter der Woche passte Dad auf ihn auf.
»Henwi«, brabbelte er und rieb sich die Augen. »Wo ist Mama?«
»Komm, ich bringe dich zu ihr.«
»Wer ist eigentlich das Mädchen?«, fragte Sadie, als ich mit Ryan an der Hand zu ihr zurückkehrte.
»Welches Mädchen?«
»Das Mädchen, das dich nach Hause gebracht hat.« Als Sadie Ryan auf ihren Arm hob, hatte sie wieder dieses leicht schiefe Grinsen, das ich von früher kannte. Es verhieß nichts Gutes.
»Ach, sie heißt Grace. Sie ist neu an der Schule. Ich habe den Bus verpasst, deshalb hat sie mich nach Hause gebracht.«
»Sie ist irgendwie süß. Auf eine abgefahrene Janis-Joplin-die-mit-siebenundzwanzig-stirbt-Art.«
Ich zuckte die Schultern und tat so, als wäre mir das noch gar nicht aufgefallen.
Kapitel 4
Als Ryan sich beruhigt hatte, ging ich in den Keller, den Sadie vor mehr als einem Jahrzehnt in ihre persönliche Lasterhöhle verwandelt hatte (und die ich von ihr übernommen hatte, nachdem sie ausgezogen und aufs College gegangen war). Es war keine schicke Bude, sondern eher ein postapokalyptischer Atombunker. Die Möbel passten nicht zueinander und der Betonboden war wahllos mit falschen Perserteppichen ausgelegt. Der Kühlschrank hatte mehr Jahre auf dem Buckel als meine Eltern und an der Wand hing ein lieblos ausgestopfter Elchkopf. Alle behaupteten, keine Ahnung zu haben, woher die Trophäe stammte, aber ich hatte den heimlichen Verdacht, dass Sadie ihn damals geklaut hatte und meine Eltern sich entweder zu sehr schämten oder immer noch zu beeindruckt von ihrer Tat waren, um das Stück seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Vielleicht traf beides zu.
Wie immer warteten meine zwei besten Freunde auf mich und vertrieben sich die Zeit, indem sie GTA V auf meiner PS4 spielten. Darf ich vorstellen (der Reihe nach, wie sie auf der Couch saßen):
• MURRAY FINCH, 17, Australier.
Groß, gebräunt, muskulös, mit schulterlangen blonden Locken und einem mickrigen Teenager-Bärtchen. Seine Eltern waren vor ungefähr sechs Jahren in die USA übergesiedelt, aber Muz sprach immer noch (und absichtlich) wie Steve Irwin, sagte immer noch »G’day« zur Begrüßung, benutzte »Drongo« als Schimpfwort für einen Idioten und rief laut »Struth!«, wenn er sich wunderte. Außerdem hielt er Crocodile Dundee für das Beste, was den Australiern je passiert war. Die Mädchen standen auf ihn.
• LOLA LEUNG, 17.
Dunkle Haut, dunkle Augen, dunkle Haare (kurz geschnitten). Seit ich denken konnte, wohnte sie im Haus nebenan. La beschrieb sich gern als »gesellschaftliches Dreifachrisiko«: halb Chinesin väterlicherseits, halb Haitianerin mütterlicherseits und zu hundert Prozent lesbisch. Immer wieder wurde sie »rein zufällig« ausgewählt, um zu Werbezwecken als Gesicht der Schule zu dienen. Ihr Foto prangte auf dem Cover des Jahrbuchs, auf der Reklametafel vor der Schule, auf der Website und sogar auf den Lesezeichen, die man in der Bücherei bekam. Vor drei Jahren hatte ich mit ihr meinen ersten Kuss erlebt. Zwei Wochen später hatte sie sich als Lesbe geoutet und war eine Langzeit-Fernbeziehung mit einem Mädchen namens Georgia aus der Nachbarstadt eingegangen. Die Leute glaubten immer noch, dass mein unterirdisch schlechtes Kusstalent sie dazu gebracht hatte, ans andere Ufer zu wechseln. Und ich hatte immer noch damit zu kämpfen, das nicht als Beleidigung aufzufassen. (Auch auf sie standen die Mädchen.)
Am Fuß der Treppe angelangt, stützte ich mich auf das Geländer und sah den beiden zu. »Ich bin ganz gerührt, dass ihr, obwohl ich den Bus verpasst habe und im Sterben liegen und/oder schon tot sein könnte, trotzdem hergekommen seid, um euch mit meinem Essen vollzustopfen und meine Spiele zu spielen. Ist meinem Vater überhaupt aufgefallen, dass ich nicht bei euch war?«
»Seien wir doch ehrlich«, sagte Lola. Sie drehte sich auf der Couch zu mir um und grinste. »Justin liebt uns einfach mehr als dich.«
»Wer ist diese Schnecke, Kumpel?«, fragte Murray, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen, wo er gerade mit einem Panzer eine Reihe von Polizeiautos niederwalzte. »Du fährst ja auf sie ab wie ein tasmanischer Teufel.«
»Hör auf mit diesem Slang, Kangaroo Jack«, sagte ich und durchquerte den Raum, um Sadies alten iMac anzuschalten, der nach fast zwei Jahrzehnten zwar aus dem letzten Loch pfiff, aber immer noch funktionierte. »Hier sind keine naiven Amerikanerinnen, die du mit deinem Australo-Charme beeindrucken kannst.« Murray konnte sich meistens wie ein ganz normaler Mensch ausdrücken, aber irgendwann hatte er entdeckt, dass ihm die Frauen reihenweise zu Füßen lagen, wenn er wie ein Buschmann aus dem Outback redete. Manchmal vergaß er einfach, den Schalter umzulegen.
Auf dem Desktop des iMac gab es nur einen Ordner mit dem Namen »Vermisstenanzeige/Begräbnis/Fahndungsbilder«. Er enthielt hübsche Fotos aller im Raum Anwesenden (plus Sadie), für den Fall, dass einer von uns spurlos verschwand/starb/zur Fahndung ausgeschrieben wurde. In besagten Fällen hatten unsere Eltern die Anweisung, auf die Bilder zuzugreifen und sie den Medien zur Verfügung zu stellen, bevor die Journalisten bei Facebook herumschnüffeln konnten und wenig schmeichelhafte Schnappschüsse ausgruben, auf denen wir gegen unseren Willen markiert worden waren.
»Muz’ Frage ist berechtigt«, sagte La. »Wer ist dieses seltsame Mädchen, dem du hinterhergelaufen bist? Hast du dir gedacht, ›Endlich mal eine, die mir nicht wegrennen kann‹, aber dann hat sie dir das Gegenteil bewiesen?«
»Haha. Nicht zu fassen, dass ihr mich beobachtet habt.« Ich nahm eine Dose Coke aus dem Kühlschrank und kehrte zum Computer zurück, wo Facebook mühsam Pixel für Pixel lud. »Sie heißt Grace Town. Sie ist neu an der Schule. Hink hat ihr den Redakteursjob angeboten, aber sie hat abgelehnt. Ich war so sauer, dass ich ihr hinterhergerannt bin.«
»Sie heißt Grace Town? Wie Gracetown?«, fragte Murray, der sich ebenfalls eine Coke aufmachte und einen Schluck nahm. »O Mann. Die arme Kleine.«
Lola war schon aufgesprungen. »Hink hat ihr den Job angeboten und nicht dir? Dieser Scheißkerl. Ich werde garantiert nicht das Design für den ach so tollen Newsletter machen, wenn du nicht das Sagen hast!«
»Nein, reg dich ab. Er hat uns beiden den Job angeboten, aber sie hat abgelehnt, weil sie – ich zitiere – nicht mehr schreibt. So, wie sie es gesagt hat, klang das total düster.«
»Oh«, murmelte Lola.
Murray zog sie zurück auf die Couch.
»Vielleicht passieren schlimme Dinge, wenn sie schreibt. Hey! Vielleicht werden ihre Geschichten wahr? Oder vielleicht liegt auf ihr ein Voodoo-Fluch, sodass bei jedem Wort, das sie schreibt, einer ihrer Knochen zersplittert – deshalb geht sie auch am Stock.«
»Fragen wir doch mal das gute alte FB«, sagte Murray. »In solchen Fällen geht nichts über ein bisschen Cyberstalking.«
»Ich bin dir schon längst einen Schritt voraus.« Als ich Grace’ Namen in das Suchfeld eintippte und auf Enter drückte, erschienen ganz oben Leute aus meiner Freundesliste mit dem Namen Grace. Zuerst kam Sadie Grace Elizabeth Smith, danach Samantha Grace Lawrence (wir waren zusammen in der Grundschule gewesen), Grace Park (eine entfernte Verwandte) und Grace Payne (keine Ahnung, wer das war). Darunter folgten die genauen Treffer – ungefähr fünf echte Grace Towns. Mit keiner von ihnen hatte ich gemeinsame Freunde und nur eine wohnte in unserer Gegend.
Meine Schultern sackten nach vorne. »Ich finde sie nicht.«
»Moment mal, was ist mit der da?«, fragte Lola und deutete auf den Bildschirm.
Ich klickte auf das Profilbild der Grace Town, die noch am ehesten in der Nähe wohnte. Es zeigte ein Mädchen in einem roten Kleid, mit rotem Lippenstift und honigblonden Lockenhaaren, die ihr offen auf die Schulter fielen. Sie strahlte übers ganze Gesicht, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Weil sie beim Lachen den Kopf zurückgeworfen hatte, zeichnete sich ihr Schlüsselbein deutlich ab. Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir sie erkannten. Sie war es. Grace Town, die mich nach Hause gebracht hatte. Ihre Lippen hatten den gleichen Schwung, ihr Gesicht die gleiche Form.
»Ach du Scheiße«, sagte Murray. »Auf so eine fliegen die Kerle wie Möwen auf eine Müllhalde.«
»Übersetzt heißt das: Sie ist ein attraktives weibliches Wesen, das höchstwahrscheinlich sehr viel Aufmerksamkeit von männlichen Wesen bekommt«, erklärte Lola. »Und von Lesben«, fügte sie nach einem prüfenden Blick hinzu. »Wahnsinn, sie könnte glatt eine Edie Sedgwick sein. Das Mädchen ist verdammt heiß.«
Es stimmte. Auf Facebook war Grace Town groß und schlank und gebräunt und beim Anblick ihrer Arme und Beine fielen mir Wörter wie grazil und schwanengleich und voll der Hammer ein. Das ist bestimmt ein altes Foto, schoss es mir durch den Kopf. Aber nein. Dem Upload-Datum zufolge waren nur etwa drei Monate vergangen, seit Grace es eingestellt hatte. Ich scrollte weiter und sah mir die fünf anderen Fotos an, aber es war immer das Gleiche: Keins war älter als ein paar Monate, und doch war diejenige darauf ganz anders als die Grace Town, die ich kennengelernt hatte. Ihr Haar war viel länger, es reichte bis zur Hüfte und fiel in weichen, frisch gewaschenen Locken herab. Es gab Fotos von ihr am Strand, Fotos von ihr mit Make-up und Fotos, auf denen sie dieses umwerfende Lächeln hatte wie Models in der Werbung, wenn sie total happy sind, weil sie einen Salat essen. Diese Grace Town hatte keinen Gehstock, keine schwarzen Ringe unter den Augen und verschwand nicht unter dicken Lagen Jungsklamotten.
Was war in den letzten drei Monaten passiert, dass sie eine so dramatische Veränderung durchgemacht hatte?
Schließlich rief Sadie uns nach oben, damit wir Dad beim Abendessen halfen, bevor Mom aus der Stadt nach Hause kam, wo sie eine Kunstgalerie leitete. (»Gott sei Dank. Ich bin so hungrig, dass ich einen tieffliegenden Geier fressen könnte«, sagte Murray.) In den nächsten Stunden dachte keiner von uns mehr an die mysteriöse Grace Town. Wir aßen zusammen, machten den Abwasch und schauten Netflix, so wie jeden Donnerstagabend. Erst als ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte und wieder in den Keller ging, wo der Bildschirm des armen iMac immer noch flimmerte, fiel sie mir wieder ein – und ging mir dann nicht mehr aus dem Kopf.
An diesem Abend putzte ich mir nicht die Zähne. Ich ging nicht duschen, ich zog meine Schulklamotten nicht aus, und ich sagte nicht mal Gute Nacht zu Sadie und Ryan, als sie etwa um Mitternacht das Haus verließen. Stattdessen blieb ich im Keller und verbrachte den Rest des Abends damit, mir jeden Song der Strokes auf Spotify anzuhören.
You say you wanna stay by my side, sang Julian Casablancas. Darlin’, your head’s not right.
Wenn ich älter oder klüger gewesen wäre oder meinen Freunden besser zugehört hätte, während sie mir mit dramatischen Worten ihre erste Verliebtheit geschildert hatten, dann hätte ich das brennende, ziehende Gefühl in meiner Brust nicht fälschlicherweise als Magenverstimmung diagnostiziert und auf die vier Portionen der angebrannten mexikanischen Hähnchen zurückgeführt, die ich zum Abendessen in mich hineingeschaufelt hatte. Dann hätte ich erkannt, um was es sich tatsächlich handelte: um ein viel ernsteres, schmerzhafteres Leiden.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von Grace Town.
Kapitel 5
Als ich am darauffolgenden Morgen vor Unterrichtsbeginn an Hinks offene Tür klopfte, winkte er mich lächelnd in sein Büro.
»Wie gut, dass Sie Town zum Mitmachen überredet haben, Henry«, begrüßte er mich. »Das war sehr nett von Ihnen. Das arme Kind hat eine schwere Zeit hinter sich.«
»Moment mal, sie macht jetzt doch mit?«, fragte ich.
»Vor einer halben Stunde ist sie zu mir gekommen, um mir mitzuteilen, dass Sie sie dazu gebracht hätten, ihre Meinung zu ändern. Ich weiß nicht, was Sie ihr gesagt haben, aber es hat Wirkung gezeigt.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Sie behauptet, ich hätte sie dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern?«
»Sie beide sollten sich gleich an die Planung der ersten Ausgabe machen, und zwar ASAP. Bis Dezember scheint es noch lange hin zu sein, aber die Zeit verfliegt nur so. Gestern habe ich meinen Juniors in Englisch gehörig Angst eingejagt, es ist also davon auszugehen, dass eine Schar Freiwilliger Sie beim Schreiben unterstützen werden. In erster Linie handelt es sich um Schüler, die noch nicht genug Extra-Aktivitäten für die College-Bewerbungen vorweisen können. Ich kann also nicht garantieren, dass die Beiträge etwas taugen, aber es ist zumindest ein Anfang.«
»Was genau meinen Sie damit, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hat?«
»Na ja, Sie wissen schon. Im Abschlussjahr die Schule wechseln und so. Das ist immer schwierig. Wie dem auch sei, gehen Sie und richten Sie sich in Ihrem Büro ein. Die Angaben für das Log-in stehen auf einem Post-it-Zettel neben dem Computer. Town ist schon dort. Leung ebenso. Sie beide kennen sich bereits, nicht wahr?« Hink sah mich an wie einer, der weiß, dass ich das letzte männliche Wesen war, das seine Lippen auf Lola Leungs Lippen gepresst hatte, bevor sie allen Vertretern dieser Spezies den Laufpass gab.
»Ja.« Ich räusperte mich, statt das zu tun, was ich am liebsten getan hätte, nämlich zu antworten: Sie ist schon immer eine Lesbe gewesen! Haben Sie denn keine Ahnung von den biologischen Abläufen bei Menschen? »Lola ist meine Nachbarin, sie wohnt direkt neben uns.«
»Nachbarin. Ja, natürlich. Eine Vorstellung ist also nicht mehr nötig. Beziehen Sie Ihr Büro, Anfang nächster Woche treffen wir uns dann zu einer Besprechung der ersten Ausgabe.« Hink kehrte zu seinem Computer zurück und zu dem, was dort auf dem Bildschirm zu sehen war (Zeitplan für den Fight Club? Haikus?), so als hätte er nicht soeben eine Bombe von den Ausmaßen Gracescher Sprengsätze platzen lassen.
Ich drehte mich um und ging wie benommen in das kleine Büro, in dem sich die Redaktion der Schülerzeitung befand. Es war eine Art Aquarium: Die an den Gang grenzende Wand bestand ganz aus Glas und die Tür (ebenfalls Glas) ließ sich nicht abschließen. Vermutlich wollte man auf diese Weise verhindern, dass tollwütige Teenager es auf den Möbeln miteinander trieben – eine Strategie, die sich im Vorjahr als echter Reinfall erwiesen hatte, nachdem rausgekommen war, dass sich der Redakteur regelmäßig mit seiner Freundin auf der Couch vergnügte. Inzwischen verbarg, dem Himmel sei Dank, eine Decke die verräterischen Flecken auf dem Polster, die sich bis zum Beginn der Sommerferien dort angesammelt hatten.
Lola saß an dem für den Layouter reservierten Mac. Sie hatte die ausgestreckten Beine in den klobigen Stiefeln auf den Schreibtisch gelegt, klickte sich durch ASOS und lutschte an einem Lolli. Grace saß an einem schmalen, an die Glaswand geschobenen Schreibtisch, weit weg vom Platz des Redakteurs. Vermutlich war der Tisch erst vor einer knappen halben Stunde in den Raum gebracht worden, um Grace Town bei ihrem plötzlichen Meinungsumschwung den Rücken zu stärken.
»Hey«, sagte ich und betrat den Raum. Bei Grace’ Anblick verspürte ich einen seltsamen, ganz ungewohnten Anflug von Aufregung. Sie anzuschauen, war irgendwie verstörend, beinahe so, als würde man ein koloriertes Foto aus dem Bürgerkrieg oder der Großen Depression betrachten und plötzlich erkennen, dass die darauf abgebildeten Menschen aus Fleisch und Blut waren. Nur dass es sich hier genau umgekehrt verhielt. Die kolorierte Grace hatte ich auf Facebook gesehen, vor mir saß die Sepia-Version, die Schwer-zu-ergründen-Version, geisterhaft und aschfahl.
Grace nickte mir schweigend zu.
»Hola, hombre!«, sagte Lola, ohne vom Bildschirm aufzublicken, und fuchtelte mit dem Lolli in meine Richtung.
Ich setzte mich an den Schreibtisch des Redakteurs. Schaltete den Computer des Redakteurs ein. Loggte mich in den Account des Redakteurs ein. Genoss für einen Augenblick das ersehnte Gefühl, für das ich mich zwei Jahre lang abgerackert hatte.
Und wurde jäh herausgerissen, als Grace sich auf ihrem Bürostuhl umdrehte und mich ansah.
»Ich werde kein Wort schreiben. Das ist die Bedingung. Keine Leitartikel. Keine Stellungnahmen. Wenn du einen Kommentar haben willst, dann schreib ihn selbst. Bei allem anderen werde ich dir helfen, nur schreiben werde ich nicht.«
Ich warf einen Seitenblick auf La, die angestrengt so tat, als würde sie von dem Gespräch nichts mitkriegen. Die Voodoo-Fluch-Theorie kam mir immer plausibler vor. »Soll mir recht sein. Ich gehe ohnehin nicht davon aus, alles selbst schreiben zu müssen. Hink meinte, wir würden freiwillige Helfer haben.«
»Mit Hink habe ich bereits geredet. Ich werde deine Redaktionsassistentin sein. Du hast seit Jahren dafür geschuftet, also ist es auch ganz allein dein Baby.«
»Okay.«
»Gut.«
»Tja, ähm, dann mach dich als Erstes mit unseren Grundsätzen und Verfahrensweisen vertraut, mit den Redaktionsrichtlinien und der Satzung. Die entsprechenden Dokumente befinden sich in einem gemeinsamen Ordner.« Lola und ich hatten diese Texte vor einem Jahr gelesen, nachdem wir als freie Mitarbeiter zur Redaktion gestoßen waren. »Hast du schon die Freigabe für das Log-in?«
»Hink hat das für mich erledigt, als du noch nicht da warst.«
»Dann kannst du ja sofort loslegen.«
»Ohne lange Umschweife auf den Punkt. Das gefällt mir.« Grace schwang ihren Stuhl herum, öffnete den gemeinsamen Datenordner, suchte die entsprechenden Dateien heraus und fing an zu lesen.
Lola vollführte betont langsam eine Dreihundertsechzig-Grad-Drehung mit ihrem Bürostuhl und sah mich mit großen Augen und hochgezogenen Brauen an, aber ich schüttelte nur den Kopf, woraufhin sie seufzend wieder zu ASOS zurückkehrte.
An diesem Morgen gab es außer ersten Planungen noch nicht allzu viel zu tun, weshalb ich meine Spotify-Playlist auf Shuffle einstellte. Der erste Song war »Hey« von den Pixies. Been trying to meet you, röhrte Black Francis. Ich drehte die Lautstärke leiser und summte die Melodie mit, während ich mich in meinen E-Mail-Account einloggte (und mir vornahm, wieder mal Der Teufel trägt Prada anzuschauen; jetzt, wo ich Chefredakteur war, konnte ich mir ja vielleicht ein paar Tipps holen), als ich plötzlich im Augenwinkel eine leichte Bewegung bemerkte. Ich blickte hoch und stellte fest, dass Grace Town gedankenverloren den Liedtext mitsprach. If you go, I will surely die, formten ihre Lippen, während sie sich durch dreißig Seiten Redaktionsrichtlinien und Verhaltensregeln scrollte, die festlegten, welche Themen für uns tabu waren (kein Sex, keine Drogen, kein Rock ’n’ Roll, und auch sonst nichts, was Teenager im echten Leben so interessiert).
»Du kennst die Pixies?«, fragte ich sie nach dem ersten Refrain. Grace hob den Kopf und sah mich über die Schulter hinweg an, sagte aber kein Wort.
»Du hast mich in einer seltsamen Phase meines Lebens getroffen«, antwortete sie schließlich. Als ich nichts darauf erwiderte, legte sie den Kopf leicht zur Seite und sagte: »Fight Club? ›Where is My Mind‹?«
»Ich weiß. Hab schon kapiert. Fight Club ist einer meiner Lieblingsfilme.«