Es währt für immer und dann ist es vorbei - Anne de Marcken - E-Book

Es währt für immer und dann ist es vorbei E-Book

Anne de Marcken

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Beschreibung

Unsere Heldin befindet sich im Jenseits. Sie lebt im Hotel der Untoten und hat einen Arm zu wenig, dafür aber eine Krähe zu viel. An ihren Namen kann sie sich nicht erinnern, ebenso wenig an ihre Kindheit – mochte sie Erdbeereis? Hatte sie einen grünen Spielzeuglaster? Seit der »großen Katastrophe« befindet sie sich im Reich der Namen- und Geschichtslosen, und doch zeigt sie keine Resignation. Im Gegenteil, denn eine kostbare Erinnerung ist ihr geblieben: Die Erinnerung an eine Person. Mit ihr. In den Dünen. Also macht sie sich mit Krähe und ohne Arm auf den Weg nach Westen, ans Meer, auf die Suche nach dem, was sie eigentlich ist. Und auf die Suche nach dem, was man früher wohl Liebe nannte.

Es währt für immer und dann ist es vorbei ist ein hinreißend skurriler, witziger und ergreifender Streifzug durch eine Welt ohne Gewissheiten. Eine Welt, die der unseren gar nicht so unähnlich scheint und in der sich aber die Frage, was uns im Kern ausmacht, auf haarsträubend einleuchtende Weise beantworten lässt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Cover

Titel

Anne de Marcken

Es währt für immer und dann ist es vorbei

Roman

Aus dem Englischen von Clemens J. Setz

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel It Lasts Forever and Then It’s Over bei New Directions, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

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Umschlaggestaltung: Kosmos Design, Münster, unter Verwendung von Midjourney

eISBN 978-3-518-78204-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für M

Motto

»Ohne das Du – dieses unbestimmte, mischfreudige und dehnbare Pronomen – sind wir vernichtet und müssen scheitern.«Judith Butler

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

TEIL 1

TEIL 2

TEIL 3

TEIL 4

TEIL 5

TEIL 6

TEIL 7

Dank

Informationen zum Buch

Es währt für immer und dann ist es vorbei

TEIL 1

»Wir sind Geschichten, die Geschichten erzählen, sonst nichts.«Fernando Pessoa

Heute habe ich meinen linken Arm verloren. Er löste sich glatt an der Schulter. Janice 2 hob ihn auf und brachte ihn zurück ins Hotel. Ich hätte eigentlich erwartet, dass es meinen Gleichgewichtssinn viel stärker beeinträchtigen würde. Aber es ist wie bei einem Haarschnitt. Die Luft bewegt sich anders um die verbliebenen Körperstellen. Und hier und da ein Gefühl von Neuheit und Reduktion – befreites Ich, untotes Ich, schau nicht auf mich.

Ist es nicht sonderbar, dass ich im Leben nie eine Janice kannte, aber jetzt auf einmal drei?

Ich bleibe den ganzen Tag im Bett. Wenn ich auf der rechten Seite liege, kann ich den Arm auf mir balancieren, als wäre er noch ein Teil von mir. Oder ich stelle mir vor, es ist dein Arm und du liegst neben mir im Bett. Ich erinnere mich, wie wir immer eine Decke mit in die Dünen nahmen und uns darin einwickelten. Morgens mit Sand im Haar, in den Augenwinkeln. Das Geräusch des Meeres, so mächtig wie der Himmel. Ich vermisse Schlaf. Ich vermisse dich.

Mitchem sagt, ich verdränge. Er denkt, ich bin depressiv, weil ich mich eher einem Gefühl von Verlust hingebe als von Staunen. »Umarme deine neue Existenz«, sagt er. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich das machen soll, mit nur einem Arm.

Als ich noch am Leben war, dachte ich immer, dass sich das Ende der Welt erlösend anfühlen müsste. Als wäre es eine Art Reinigung. Oder zumindest eine Vereinfachung. Eine Richtigstellung durch Reduktion. Ich sah alles bildlich vor mir, die leeren Städte, die wiedererwachte Natur.

Damals war das die Zukunft. Heute ist es das Jetzt.

Das Ende der Welt sieht genau so aus wie in der Erinnerung. Es bringt nichts, sich eine Apokalypse vorzustellen. Alles ist unverändert.

Mitchem sagt, gegen Depression helfen kleine, alltägliche Aufgaben. Wenn ich sonst nichts schaffe, könne ich zumindest mein Bett machen. Heute Morgen kam er zu mir ins Zimmer und riss die Vorhänge auf. Dann stand er vor mir, sein halbmondförmiger Kopf dunkel vor dem leuchtend hellen Fenster. Er hob meinen Arm vom Boden auf und hielt ihn hoch wie etwas, für das ich Rechenschaft ablegen müsste. Er sagte: »Du hast einen tiefgehenden Verlust erlebt.« Er sagte: »Es ist nicht nur dein Arm.« Er sagte: »Du trauerst um dein Leben.« Seitdem sein Penis abgebrochen ist, ist er Mister Weisheit. Nachdem er gegangen war, zog ich die Vorhänge wieder zu. Unter meiner Zimmertür ist ein glühender Spalt von dem niemals erlöschenden Licht draußen im Korridor.

Gestern hat Mitchem in der Lobby gepredigt. Heute hat er sich auf dem Dach eingerichtet. Er steht auf einem Beistelltisch aus einem der Zimmer. Danach sah ich, wie Bob ihm überallhin folgte. Bob trug einen ähnlichen Regenponcho wie ihn auch Mitchem trägt. Oh oh.

Habe versucht, eine Halterung für den Arm zu basteln. Aber er ist zu schwer. Totlast. Ha ha.

Heute habe ich ein Hemd mit Knopfmanschetten gefunden. Es ist rot. Ich habe den Arm hineingesteckt und den Ärmel zugeknöpft. Aber es will nicht so ganz passen. Der Arm rutscht bis zum Ellbogen nach unten und stört mich beim Gehen. Wie das ausgekugelte Glied einer Schaufensterpuppe. Er dreht sich im Ärmel und boxt mich in die Seite. Der Anblick ist ziemlich seltsam. Meine Hand. Mein Handgelenk. Die Fingernägel.

Der Rauch hat sich im Sund niedergelassen. Auf- und Untergänge der Sonne wirken getrübt und zornig. Der Vollmond in seinem Dunkelrot. Selbst hier im Hotel ist es dunstig. Die Notausgangsschilder als schwache Ironie am Ende langer Korridore. Feuersbrünste, Brandrodung, Luftangriffe. Egal wie man’s betrachtet, wir haben ein Feuer entfacht.

Mitchem hat heute Abend wieder auf dem Dach gepredigt. Nur die Untoten können den wahren Sinn des Lebens verstehen, sagte er. Es gibt keinen Sinn, sagte er. Bob war dabei. Er scheint befördert worden zu sein. Jetzt trägt er den Beistelltisch herum und passt auf, wenn Mitchem da oben steht. Was kommt zuerst, ein Anhänger oder eine Religion? Es kommen immer mehr. Ich kann kaum beschreiben, wie eigenartig das alles ist. Eine Frau streckt die Hände in die Luft, und die anderen machen es ihr nach. Jemand stöhnt, und die anderen stöhnen auch. Man kann sehen, wohin das führt. Alle reden von Erweckung.

Ah, ja, noch etwas – die meisten von uns können sich nicht erinnern, wer wir sind … waren … sind. Wir sind Charakterdarsteller unser selbst. Menschen, die wir erkennen, aber nicht benennen können.

Einige der Hotelgäste sind davon regelrecht irritiert. Sie haben immer einen besorgten, abgelenkten Blick, als würden sie versuchen, sich an etwas Einfaches zu erinnern. Sie fühlen sich voneinander angezogen. Sie sitzen zusammen und sagen einen Namen nach dem anderen auf, in der Hoffnung, dass sie, wenn ihr eigener genannt wird, ihn erkennen werden. Oder sie schreiben Namen an die Wände, in den Aufzug, auf die Lüftungsanlage auf dem Dach, in den Staub, den Staub, den Staub, der alles bedeckt. Jeder kann einen Namen wählen. Oder einen für jemand anders hinterlassen. Aber warum wählt jemand den Namen Janice, wenn den bereits jemand anderes verwendet? Und wer wählt freiwillig den Namen Bob?

Carlos sagt, Namen sind das alltäglichste aller Rituale. »Kleine Gebete«, sagt er, die uns miteinander und mit der Menschheit verbinden. Seine Geschichte geht so: Als er ein Junge war, hatte er ein Lieblingsspielzeug. Einen kleinen Laster. Wie der auf der Farm seiner Familie. Er trug ihn die ganze Zeit mit sich herum. So ein kleiner Laster aus Metall mit beweglichen Rädern aus hartem schwarzem Gummi und mit offenen Flächen anstelle der Windschutzscheiben und Fenster. Er war grün, aber an vielen Stellen war die Farbe abgewetzt bis zum mattgrauen Metall darunter. Beim Gehen ließ er den Lastwagen über Geländer und Wände fahren. Auch über seinen eigenen Körper – über seinen Arm, über sein Gesicht; er liebte das Gefühl von Rädern auf seiner Haut. Im Blumenbeet hinter seinem Haus baute er ein Straßensystem. Dann bastelte er heimlich eine winzige Papierversion seiner selbst und steckte sie in den Fahrersitz. Er erfand Geschichten darüber, wohin er fahren würde. Er legte Gras auf die Ladefläche und stellte sich vor, er und sein Vater würden, ganz wie im echten Leben, Heu zu den Kühen fahren, aber nun saß er selbst am Steuer. Als er acht Jahre alt war, wurde sein Bruder geboren und seine Mutter starb. Da wickelte er den Laster in einen Socken und begrub ihn. Lange Zeit konnte er sich nicht an ihn erinnern. Er weiß bis heute nicht, wo er ihn begraben hat. Aber er weiß, dass er da ist, genauso wie die Zeit vor den großen Veränderungen. Er sagt, so funktionieren auch Namen.

»Aber dein Name ist nicht Carlos«, sage ich.

»Carlos ist der Name, den ich meinem Namen gegeben habe«, sagt er.

»Carlos passt zu dir«, sage ich.

Ich habe nicht nachgefragt, aber ich glaube, Marguerite heißt gar nicht wirklich Marguerite. Es ist die Art von Namen, wie man sie für den Französischunterricht auswählt. Meiner war damals Geneviève. An den erinnere ich mich, aber nicht an meinen echten Namen. Aber ich vermisse meinen Namen gar nicht und hatte bislang auch keine Lust, ihn durch einen neuen zu ersetzen. Deinen Namen vermisse ich. Es tut mir leid, aber ich habe ihn auch vergessen. Auf den Wänden suche ich nicht nach ihm. Die Vorstellung, dass ich ihn lesen und nicht wiedererkennen könnte, einfach zum nächsten Namen übergehen würde, ist zu schrecklich. Als würden wir uns in einem anderen Leben als Fremde begegnen.

Marguerite hat graues Haar. Sie trägt es in zwei langen, zu einer Art Krone geformten Zöpfen, in die sie Dinge steckt. Federn. Einen Bleistift. Gartendraht. Den Arm einer Barbie-Puppe. Ich erzähle ihr von Anton und dem ursprünglichen Quality-Burrito-Restaurant, und dass du immer wie dein Vater Auto gefahren bist. Sie lässt mich reden und reden. Ich denke, sie ist mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Manche Hotelgäste können besser Geschichten erzählen als andere. Manche sind witzig. Manche hatten ein interessantes Leben. Manche erinnern sich besser als andere. Erfinden Dinge. Manchmal zählen wir auch einfach Dinge zu einem bestimmten Thema auf. Unsere ersten Jobs. Unser Zuhause. Die Eltern. Essen. Ein Hotelgast namens Blake erzählt immer wieder dieselbe Geschichte. Es ist nicht einmal wirklich eine Geschichte. Es geht darum, wie er einmal eine Packung Trauben-Kaugummi gestohlen hat. Eine namens Alison erinnert sich an alle Dialoge aus dem Film Mondsüchtig.

Kann bitte jemand einen Witz erzählen.

Betet dieser Mann?

Du wirst es blutig essen, um dein Blut zu füttern.

Gestern hat sie zu mir gesagt: ›Wo ist meine Hand? Wo ist meine Braut?‹

Manchmal befürchte ich, dass ich die Lebensgeschichten anderer Gäste mit meinen eigenen vermische. Habe ich gern Erdbeereis gegessen? Habe ich einmal eine Zucchini so groß wie Eds Bein aus der Erde gezogen? Hatte ich einen grünen Spielzeuglaster?

Falls ich mich an deinen Namen erinnere, wie kann ich mir sicher sein, dass es wirklich deiner ist?

Ich habe gesagt, dass ich das rote Hemd gefunden habe. Damit meine ich, dass ich es vom Körper eines Mannes gezogen habe, den ich getötet und anschließend aufgegessen habe. Ich mag nichts über den Mord erzählen. Oder über die Mahlzeit. Ich hüte mich vor deiner Reaktion. Der Reaktion eines Toten.

Meine Regel war immer, dass ich niemals etwas verspeisen würde, was ich nicht eigenhändig zu töten bereit war. Zu Fleischessern sagte ich: »Wenn ich hungrig genug bin, wäre ich vielleicht bereit, eine Kuh zu töten.« Eine rein pragmatische Ethik. Was wiederum keine echte Ethik ist. Eine Naturheilkundlerin sagte mir, dass ich wegen meiner Blutgruppe Fleisch essen sollte. Wie hieß sie noch? Na ja, jedenfalls bin ich jetzt Fleischesserin. Und ich könnte ein ganzes Buch mit meinem ehemaligen Nichtwissen über Hunger füllen.

In Wahrheit hatte die Regel damit zu tun, wie sehr ich in der Lage war, den Ausdruck des individuellen Lebenswillens eines Tieres zu ignorieren, der allerdings in einem direkten Verhältnis dazu stand, wie effektiv das Tier mir seine Individualität und sein Leiden mitteilte. Wenn ich japanische Teichmuscheln im Topf kochte, waren die Anzeichen für ihre existenziellen Krisen – ich denke, es ginge zu weit zu sagen, dass sie Angst hatten – so verwässert und undurchschaubar, dass sie leicht zu ignorieren waren. Also konnte ich die Auswirkungen meiner Handlungen vor mir selbst gut verbergen.

Der Mann im roten Hemd ging mich weniger an als eine Muschel. Und doch war es seltsam, ihn auszuziehen. Intim. Das Hemd aufzuknöpfen. Seine Arme aus den Ärmeln zu ziehen. So wie man ein schlafendes Kind entkleidet. Unbeholfen. Zärtlich. Die sommersprossige Haut. Die kleine Vertiefung, wo sein Zwerchfell war. Die Brustwarzen. Dann noch die lila Narbe an der Innenseite des Arms – lang und dünn wie die Verbrennung, die ich mir einmal mit einem Lockenstab zugefügt hatte.

Ich verwende das Wort »Fleisch« nicht gern, weil es zu grundlegend klingt, zu universell. Als ob er und ich Teil von etwas Größerem wären – Schauspieler in Rollen, die in dunkler Vorgeschichte entstanden sind und nun von anderen Schauspielern übernommen und bewohnt werden. Weder die Schauspieler noch die Rollen sind irgendwie vollständig oder verantwortlich für ihre Handlungen. So funktionieren Rituale. Sie befreien uns von Schuld. Geben uns Trost. Versetzen uns in einen derart weiten und unbeschreiblichen Kontext, dass wir ihn fast für Wahrheit halten, weil er so unpersönlich ist, so leicht herleitbar, weil es sich im Rahmen des für uns Begreifbaren bewegt.

Halten wir einfach fest, dass ich sein Bein gegessen, seinen Fuß aber übrig gelassen habe. Seine Knochen waren rosablau.

Marguerite, Carlos und ich sind heute im Sund schwimmen gewesen. Eigentlich sind wir nur ins Wasser gewatet, aber ganz weit rein. Wir können einfach so untergehen und unter Wasser laufen. Als ich ein Kind war, träumte ich davon, dass ich am Meeresboden herumlaufe und den Ozean wie dickes Gas einatme. Es ist gerade Quallenzeit. Sie pulsierten um uns wie eine Galaxie blasser, tagsüber leuchtender Monde. Vielleicht ist an Mitchems Vorstellung von Schönheit was dran. Er sagt, sie lebt weiter, weil sie eine der wenigen realen Dinge war. Schönheit. Träume. Langeweile. Hunger. Vor allem Hunger.

Vielleicht besteht der Hauptunterschied zwischen meinem jetzigen und meinem damaligen Ich in meiner Toleranz für Grauen. Es muss irgendwie mit der Abstraktion von Schmerz zusammenhängen. Körperliche Schmerzen. Emotionale Schmerzen. Die Schmerzen anderer. Meine eigenen. Immerhin zucke ich noch zusammen. Und ich denke, der Schmerz selbst ist auch noch da, irgendwo. Aber er ist eingeschlossen. Eingeschlossen in einem winzigen, unsichtbaren, vor der Apokalypse sicheren Kern. Dem kleinen durchsichtigen Ei eines subatomaren Insekts, das jemand in unser Innerstes gelegt hat. Wenn wir weg sind, falls wir jemals weg sind, wird das von uns übrig bleiben. Fossiler Schmerz. Nicht Kohlenstoff. Eine Gesteinsschicht aus Schmerzen. Schiefer des Schmerzes. Adern des Schmerzes. Quarzige Bänder aus Tränen, Seufzern, Schluchzern, Stöhnen, schrecklichen Schreien. Wenn die Lebenden fehlen, wird der Schmerz vielleicht an realem Wert gewinnen. Schmerzinflation wird einen Schmerzmarkt antreiben. Es wird Schmerzsucher geben, wie Goldsucher, mit Schüsseln voller Leid. Schmerz-Fracking. Schmerz-Zentrifugen. Wir werden einen riesigen Schmerzbeschleuniger bauen, um die geheime Struktur des Schmerzes aufzubrechen und den winzigen, mit zarten Flügeln versehenen Atemzug unserer verlorenen Menschlichkeit freizusetzen. Menschlichkeit. Dieses Wort.

Vielleicht töten wir die Lebenden, um an ihren Schmerz zu gelangen. Oder an unseren eigenen.

Ich musste über Golems nachdenken. Ich finde, ich bin einem Golem ziemlich ähnlich. Ich fühle mich mehr wie Erde als wie ein Lebewesen. Dreck und Holzstöcke und Kleiderfetzen, die den Eindruck von etwas Lebendigem ergeben. Und dann dachte ich: Vielleicht bin ich eher eine Art Eulengewölle. Ein hochgewürgter Klumpen knochiger, pelziger Masse, der gehen und sprechen kann. Aber nach einer Weile wurde aus dieser lustigen Vorstellung eine fixe Idee. Eine, die einen mitten in der Nacht überfällt. Alle meine Gedanken sind jetzt solche Mitten-in-der-Nacht-Ideen. Glasklar und völlig falsch. Ich liege ewig wach. Genau das Gegenteil von dem angeblich endlosen Schlaf des Todes. Ich hatte die Idee, mir einen neuen Arm zu machen. Einen Arm aus Eulengewölle. Aus Dreck und Haaren. Ich hab so getan, als würde ich dich aufwecken und dir davon erzählen. Ich sagte laut: »Bitte erinnere mich an – Eulengewölle!«

°

Ich habe dir diese Geschichte bereits erzählt, aber ich werde sie dir noch einmal erzählen. Als ich klein war und meine Mutter im Gehege zu tun hatte, verbrachte ich den ganzen Tag als Pferd. Ich aß mit Melasse versetzten Hafer aus einem Eimer. Ich trank aus den Wassertrögen. Wenn ich rannte, galoppierte ich. Am Waldrand suchte ich nach zwei Stöcken in genau der richtigen Länge und hielt sie in meinen Händen als Vorderbeine. Durch die Stöcke fühlte ich mich als Pferd. Und heute hilft mir meine menschliche Gestalt, mich selbst als Mensch zu sehen und zu spüren. Ohne den Arm ist es jetzt etwas schwerer geworden. Wenn du hier wärst, würdest du mir sagen, dass du dich in mich verliebt hättest, egal wann wir uns getroffen hätten. Selbst als ich ein Pferd war, würdest du sagen. Selbst jetzt, würdest du sagen. Selbst jetzt würdest du dich in mich verlieben.