Eskalation - Nora Benrath - E-Book
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Eskalation E-Book

Nora Benrath

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Beschreibung

»Nicht langsamer werden«, befiehlt die verzerrte Stimme durch die Freisprecheinrichtung. Dina Martin ist allein auf der Autobahn unterwegs. Hinter ihr ein riesiger Wagen, der plötzlich bedrohlich nah auffährt. Zu den Schuldgefühlen, dass Dina heute Abend nicht bei ihrer Tochter ist, gesellt sich jetzt die Angst. »Abfahren«, kommandiert die Stimme. Sie sind mittlerweile kilometerweit von ihrer eigentlichen Ausfahrt entfernt. Nach der Kurve sieht Dina ein rotes Licht aufflammen: Halt Polizei. Alles wird gut werden, denkt Dina noch. Doch dann ertönt ein Schuss - und der wahre Albtraum beginnt.

»Eine Empfehlung für alle, die gern Thriller von Arno Strobel, Sebastian Fitzek oder Andreas Winkelmann lesen!«Buch aktuell, Sommerausgabe 2/2021

»Eine spannende Story, erzählt in einem furiosen Tempo, Perspektivwechsel, jede Menge Cliffhänger und ein sehr überraschendes Ende machen Nora Benraths 320 Seiten starken (Psycho-) Triller ‚Eskalation‘ zu einem echten Pageturner.«Westfälische Nachrichten, 24.07.2021

»Rasantes Lesevergnügen garantiert!«Die Glocke, 31.07.2021

»Ein spannender, am Ende ungewöhnlicher Roman.« Harald Suerland,Westfälische Nachrichten, 04.08.2021

»Ein Psychothriller, den man einfach nicht mehr aus der Hand legen kann!« Kathrin Allkemper, Lebensart-regional, 28.09.2021

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Seitenzahl: 325

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Zum Buch

Kriminalhauptkommissar Gerd Kaarst steht mitten in der Nacht auf einem Pendlerparkplatz in Autobahnnähe: Auf dem schlammigen Boden vor seinen Füßen liegt die Leiche eines Kollegen. Der Mann wurde aus nächster Nähe erschossen. Von seiner Partnerin und ihrer Dienstwaffe fehlt jede Spur. Ist sie Opfer, Zeugin oder sogar Täterin? Als am nächsten Tag neben einem weiteren Vermisstenfall auch Fotos einer grausam zugerichteten Frauenleiche auf seinem Schreibtisch landen, ahnt Kaarst, dass ihn etwas weit Schlimmeres erwartet als ein Eifersuchtsdrama unter Kollegen …

Zur Autorin

Nora Benrath, geboren 1978 in Warendorf, ist das Pseudonym einer deutschen Journalistin, die als Redakteurin u. a. in München und Münster gearbeitet hat. Sie gehörte über mehrere Jahre zum Rechercheteam des »Stern« in Düsseldorf und wurde vor allem in Recherchen zur Mafia und zu Kriminalfällen eingebunden. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Italien.

Originalausgabe © 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München (Ute Mildt) Coverabbildung von Magdalena Russocka / Trevillion Images E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959675956

www.harpercollins.de

KAPITEL 1

Sonntag, 23.12 Uhr

Die Stimme, die Dina Martin über die Freisprecheinrichtung ihres Wagens hörte, klang metallen. Die Anweisungen waren jedoch unmissverständlich.

»Weiterfahren und die Geschwindigkeit beibehalten«,

»Auf keinen Fall das Gespräch beenden«,

»In der Spur bleiben.«

Der Anrufer betonte jedes einzelne Wort klar und deutlich. Er wirkte bestimmt, fuhr mit seinem Wagen näher auf, sobald sie die Geschwindigkeit auch nur geringfügig verringerte.

Dina umgriff mit ihren Händen das Lenkrad ihres Citroëns so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Zähne klapperten, obwohl im Wagen die Heizung auf Hochtouren lief. Die Außentemperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt. Der Wagen hatte lange gebraucht, bis er eine einigermaßen erträgliche Innentemperatur erreicht hatte. Draußen war es stockdunkel. Nur das Licht der Autoscheinwerfer durchbrach die nächtliche schwarze Wand vor ihr. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. Große Tropfen, die den Wischerblättern kaum eine Chance ließen und für enorme Rinnsale sorgten, die wie Schlangen über die Scheibe krochen. Unaufhörlich schnellten die Wischerblätter hin und her. Aufgrund der mangelnden Haftung erzeugten sie dabei ein Quietschen, das stark an eine nicht geölte, schwere Kellertür erinnerte.

Doch das Quietschen war bei Weitem nicht so beunruhigend wie der Klang und die Tonlage der Stimme, die immer wieder in das Innere ihres Wagens drang, sie ohne Vorwarnung von allen Seiten umhüllte, ihr kurzzeitig die Luft zum Atmen nahm. »Auf keinen Fall die nächste Ausfahrt nehmen!«, »Genau Folge leisten!«. Dina schluckte, räusperte sich, antwortete auf jede Anweisung mit einem unbeholfenen »Ja«. Weil er es genau so von ihr gefordert hatte.

»Braves Mädchen«, sagte die Stimme und brach dann in ein knarzendes Lachen aus, das die Lautsprechermembranen derart vibrieren ließ, dass die Stimme komplett von ihr Besitz zu ergreifen schien.

Dina spürte, wie Panik in ihr hochstieg. Das Fernlicht im Rückspiegel blendete sie stark, doch sie traute sich nicht, den Spiegel zu verstellen. Sie konzentrierte sich ganz auf die nasse Fahrbahn und versuchte, einen ihrer wirren Gedanken zu fassen. Sie war die Strecke schon so oft gefahren, aber es gab hier keinen Rastplatz, auf den sie abbiegen konnte, keine Polizeistation an der Strecke. Niemanden, der einen Blick in ihr Fahrzeug warf und dem sie per Blickkontakt signalisieren konnte, dass etwas nicht stimmte. Dass etwas überhaupt nicht stimmte.

Der Tacho zeigte eine konstante Geschwindigkeit von 120 km/h an. Selbst wenn sie es schaffen würde, den Wagen hinter sich abzuschütteln und eine der nächsten Ausfahrten zu nehmen, würde er sie einholen. Hier waren weit und breit keine Häuser. Sie müsste Kilometer über Land fahren, bis sie in die nächstgrößere Stadt gelangte.

Dina verspürte das Bedürfnis, laut zu schreien und um Hilfe zu rufen, aber der Einzige, der sie hören würde, war der Anrufer in der Leitung, der jeden ihrer schweren Atemzüge registrierte und ganz dicht hinter ihr war. Sie hoffte, dass Hilfe käme, aber das war mehr als unwahrscheinlich. Bei dem Wetter saßen um diese Zeit die meisten Menschen bei ihrer Familie im warmen Wohnzimmer, machten sich bettfertig, ließen die Rollos ihrer Fenster runter, um das schlechte Wetter auszublenden. Sie aber konnte nicht ausblenden, was hier gerade geschah. Dina liefen die Tränen über die Wangen. Sie hatte ihrer Tochter versprochen, ihr am Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Doch es war schon spät. Nach 23 Uhr. Dina hatte nur kurz mit ihrer Freundin Linda einen Cocktail trinken wollen und war dann versackt. Lydia wäre enttäuscht von ihr. Mal wieder. Was sie jetzt wohl machte? Schlief sie schon? Ließ Markus sie noch fernsehen, bis die Mama nach Hause kam? Würde Lydia überhaupt auf sie warten?

Dina spürte, dass keine Hilfe in Sicht war. Von nun an würde die Stimme bestimmen, was mit ihr geschah. Ihre einzige Chance war, dass dem Fahrzeug hinter ihr der Sprit ausginge und es sie nicht mehr verfolgen konnte. Vielleicht noch, dass es hell werden würde und jemand auf sie aufmerksam würde. Aber es war Herbst. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne aufging. Wenn sie überhaupt aufging. Als Dina laut aufschluchzte, hörte sie erneut das unheimliche Lachen. Nein, die Stimme kannte kein Erbarmen.

Zeig keine Schwäche, zeig bloß keine Schwäche!

Dina atmete einmal tief durch und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Weinen würde sie auch nicht weiterbringen. Sie durfte nicht schwach werden und musste sich konzentrieren. Wenn sie bei dem Tempo von der Fahrbahn abkäme, wäre niemandem geholfen. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal und versuchte, die Geschwindigkeit leicht zu drosseln.

»Na, na, na«, ertönte die Stimme. Das Fahrzeug hinter ihr blendete auf und drängte näher, um sie zum Beschleunigen zu zwingen. Dina leistete sofort Folge und trat das Gaspedal etwas tiefer durch. Sie vermutete aufgrund der Scheinwerferstellung, dass es sich um einen Geländewagen oder ein anderes bulliges Fahrzeug handelte, aber sicher war sie sich nicht. Sie hatte den Wagen zunächst nicht einmal bemerkt. Sie wusste nicht, wie lange er schon hinter ihr war. Und sie wusste auch nicht, wer sie überhaupt verfolgte. Zitternd nahm sie eine Hand vom Lenkrad und betätigte den elektrischen Fensterheber. Nur ein bisschen, keine zwei Zentimeter. Kalte Luft strömte zu ihr ins Auto, die sie noch mehr erzittern ließ. Sie atmete kräftig ein. Sie hatte das Gefühl, hier, in der Enge ihres Kleinwagens, nicht richtig atmen zu können. Eine böse Vorahnung beschlich sie. Was, wenn sie hier nicht lebend rauskäme?

Doch sie hatte auch noch Hoffnung. Ein wenig. Vielleicht erlaubte sich der Mann hinter ihr nur einen Scherz. Vielleicht würde er sie schon bald überholen, würde schadenfroh in ihr Auto lachen, beschleunigen, und es würde nichts bleiben außer dem enormen Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. Den er ihr schon seit 20 Minuten einjagte. Dina sah die rettende Ausfahrt, die sie zu ihrem Mann und ihrer Tochter bringen würde, traute sich aber nicht, den Blinker zu setzen und die Autobahn zu verlassen. Sie wollte ihre Familie nicht in Gefahr bringen, hatte Angst davor, dass ihr Verfolger dann ihre Wohnadresse kennen würde. Es fiel ihr schwer, das Auto in der Spur zu halten und sich zu zwingen, weiter geradeaus zu fahren. Weg von ihrer Familie und immer weiter weg von ihrem Haus. Das Haus, das vor allem Lydia Geborgenheit vermitteln sollte. Dina und Markus hatten immer von so einem Haus geträumt. Von einem Haus mit einem kleinen Garten, in dem sie eine Schaukel für Lydia aufstellen konnten. Doch die Schaukel hatten sie aufgeschoben. Erst auf vergangenes Jahr, dann auf dieses Jahr. Jetzt auf das nächste Frühjahr.

Oh Lydia, wenn ich das hier überstanden habe, dann lass ich dir die tollste und schönste Schaukel von allen bauen.

Ein paar Regentropfen gelangten durch das leicht geöffnete Fenster ins Wageninnere, perlten an ihrer dicken Winterjacke ab. Dennoch fröstelte sie wie nie zuvor in ihrem Leben. Ob Markus mit Flipper Gassi gegangen war? Der Mischlingsrüde verkroch sich bei schlechtem Wetter gerne in seinem Körbchen und ging bei Regen nur ungern nach draußen. Flipper war ein herzensguter Hund, der unvoreingenommen auf Fremde zuging. Aber er spürte, von wem Gefahr ausging. Er hätte jetzt gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Er hätte gewusst, dass sie dringend Hilfe benötigte.

Wieder liefen Dina Tränen über die Wangen, aber sie bemühte sich, jedwedes Schluchzen zu unterdrücken. Sie wollte dem Anrufer keine Angriffsfläche bieten. Die minutenlange Stille am anderen Ende, nur von ein paar hörbaren Atemzügen oder dem Trommeln von Fingern auf dem Lenkrad oder dem Armaturenbrett unterbrochen, war ihr unangenehmer, als wenn er mit ihr gesprochen hätte. Vielleicht hätte sie dann heraushören können, was er mit ihr vorhatte. Vielleicht hätte sie verhandeln können, hätte die Stimme sogar erkannt. Aber wer sollte ihr so etwas antun? Sie überlegte fieberhaft. Nur einmal hatte sie gefragt, was das alles sollte. Das hämische Lachen als Antwort hatte sie so verschreckt, dass sie sich nicht traute, weitere Fragen zu stellen, und stumpf weiter geradeaus fuhr. Bei anhaltender Geschwindigkeit und mit einem Auge auf mögliche Fluchtwege gerichtet, die es aber nicht gab: Links raste die Mittelleitplanke vorbei, rechts begrenzten Bäume die Strecke.

Das Auto hinter ihr war keine 50 Meter von ihr entfernt. Sie sah die Scheinwerfer und die Umrisse des Autos, konnte erahnen, dass im Wagen hinter ihr die Wischerblätter ebenso schnell über die Scheibe jagten, wie sie es bei ihr taten. Sie hatte das Gefühl, dass das Kratzen der Wischer immer lauter und unheilvoller wurde; sie spürte, dass sich etwas ankündigte, dessen Ausmaß sie nicht einmal ansatzweise fassen konnte.

KAPITEL 2

Sonntag, 23.25 Uhr

Falk Mayer schlug den Kragen seiner Uniformjacke hoch. Sein Vorgesetzter Henning Lübbe könnte ihn mal kreuzweise. In seiner alten Dienststelle hatte man auf Verkehrskontrollen bei schlechtem Wetter verzichtet. Hier aber war alles anders. Die Stadtkasse war leer, und auf Teufel komm raus musste irgendwie Geld her.

Der Polizist hob seine Hände vors Gesicht und blies seinen warmen Atem hinein. Wenigstens etwas: In die klammen Finger kehrte langsam Leben zurück. Doch die Kälte kroch auch durch die Schuhsohle hindurch weiter nach oben. Seine Kollegin Kathrin Lindner, die frisch von der Polizeischule kam, saß im Streifenwagen und surfte auf der Seite eines Modeunternehmens. Der Polizist öffnete die Fahrertür und ließ sich neben sie fallen.

»Hier, was hältst du davon?«, fragte sie und tippte auf das Foto eines schulterfreien Abendkleides.

»Für die nächste Einsatzbesprechung?«, unkte er.

»Blödmann!«, sie schlug ihm mit dem flachen Handrücken vor die Brust und lachte, als er das mit einem gequälten Husten quittierte.

»Du solltest weniger rauchen!«

»Und du solltest auch mal abends mit mir ausgehen! Ich sehe dich immer nur in Uniform. Das ist auf Dauer auch öde.«

Die junge Polizistin zog amüsiert eine Augenbraue hoch und deutete dann mit dem perfekt manikürten Finger auf die Leuchtanzeige der Uhr im Wageninneren: 23.25 Uhr.

»Heute wird das aber nichts mehr.«

»Nein«, sagte er, lehnte seinen Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen. In gut anderthalb Stunden hatten sie endlich Dienstschluss. Selten hatte er sich so auf sein warmes Bett gefreut wie heute. Verdammt, es war aber auch wirklich kalt heute. Gegen einen warmen Kaffee hätte er nichts einzuwenden gehabt. Der hätte wach und warm gehalten.

Der Streifenwagen stand auf einem kleinen Parkplatz in Autobahnnähe, der unter der Woche vor allem von Berufspendlern genutzt wurde. Jeder, der von der Autobahn kam und dann in nördliche Richtung fuhr, musste an ihnen vorbei. Trotzdem hatten sie in den letzten zwei Stunden gerade einmal zwölf Fahrzeuge angehalten. Eine Fahrerin hatten sie darauf aufmerksam gemacht, dass bald die nächste Hauptuntersuchung fällig wäre. Bei einem anderen Fahrer hatten sie eine Verwarnung ausgesprochen, weil das rechte Rücklicht nicht funktionierte. Eindeutig zu wenig!

»Wir müssen glaube ich noch einmal ran«, sagte er. »Sonst bekommen wir nachher noch eins auf den Deckel, weil unsere Fangquote nicht stimmt.«

Seine Kollegin seufzte.

»Tja, was muss …«

»… das muss.«

»Na dann«, sie zog sich ihren blonden Pferdeschwanz zurecht und setzte ihre Mütze auf. Nach einem letzten Kontrollblick in den Spiegel öffnete sie die Tür. Kalte Luft strömte sofort zu ihnen herein. So, als ob sie nur darauf gewartet hätte, für eine unangenehme Atmosphäre zu sorgen. Das leichte Prickeln, das er für einen Moment zwischen ihnen gespürt hatte, war genauso schnell verschwunden, wie es aufgeflammt war. Wenn dieser Tag hier vorbei war, dann würde er sie ernsthaft fragen, ob sie nicht nach Dienstschluss mal ein Bier zusammen trinken könnten.

Falk Mayer zog noch einmal am Reißverschluss seiner Jacke und vergewisserte sich, dass der kalte Wind garantiert nicht mehr Angriffsfläche als nötig bekam. Wie gerne hätte er nun einfach in der Dienststube gesessen. Die halbe Stunde würde er aber auch noch schaffen. Bis Mitternacht waren sie auf ihren Kontrollposten gesetzt. Dann könnten sie langsam zur Wache zurück. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber für reichlich Wasser in den Spurrillen der Fahrbahn gesorgt. Der Fahrbahnzustand hier war keinesfalls gut. Denn obwohl es ganz in der Nähe eine gut ausgebaute Umgehungsstraße gab, wählten viele LKW-Fahrer diese Strecke, um auf dem Weg in die Stadt ein paar Kilometer zu sparen.

Seine Kollegin lächelte ihm aufmunternd zu. »Morgen haben wir frei.«

»Wird auch Zeit. Aber jetzt halten wir erst einmal noch ein paar Fahrzeuge an.«

»Wenn jemand kommt.« Sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen, um sich zumindest etwas vor der Kälte zu schützen. »Wer bei dem Wetter überhaupt unterwegs ist, der ist selbst schuld. Und die, die sich die Ärsche abfrieren, sind ja wir.«

Aber was für ein netter Arsch, dachte er, als sie sich umdrehte und in Richtung Autobahn schaute. Nur vereinzelt sahen sie ein paar vorüberfahrende Lichtkegel in der Ferne. Die Bäume trugen kaum noch Blätter und gaben so etwas Sicht frei. Der Herbst hatte sie dazu gezwungen, ihr schönes Gewand abzuwerfen und entblößt dem gnadenlosen Winter gegenüberzutreten.

Das eingeschaltete Blaulicht auf dem Dach des Streifenwagens, der halb hinter einem Busch versteckt war, sorgte für ein paar Farbspiele in den Unebenheiten der Fahrbahn. Immer wieder huschten blaue Lichtkegel über den Boden, schienen ein Katz-und-Maus-Spiel zu spielen, das niemand gewinnen konnte. Ein Auto fuhr fast schon zu langsam an ihnen vorbei.

Der Polizist trat mit der Kelle etwas näher an die Fahrbahn heran. So hatte er sich seinen Beruf als kleiner Junge nicht vorgestellt. Verkehrskontrollen hatten nichts mit Verbrecherjagd zu tun. Daraus machte man definitiv keine Filme. Das gab keine Einschaltquoten. Und doch: Für kleine Kinder war er der gefeierte Held, der böse Menschen verhaftete und für Recht und Ordnung sorgte.

Kurz knackte das Funkgerät.

»Pony 08 von Pony 01, bitte kommen.«

Kathrin Lindner griff an ihr mobiles Funkgerät. Als sie antwortete, gefror ihr Atem in der Luft.

»Pony 08 hört.«

»Schlägerei in der Bahnhofstraße. Pony 06 ist rausgeschickt. Haltet euch bereit! Wir brauchen eventuell Verstärkung.«

»Hier Pony 08. Verstanden.«

»Das fehlte uns gerade noch«, moserte Falk Mayer. So gerne er auch etwas mehr Action in seinem Beruf gehabt hätte, so wenig Lust hatte er kurz vor Dienstschluss auf eine Schlägerei. Bei der Ermittlung und Befragung von Tatverdächtigen und Zeugen würde so viel Zeit draufgehen, dass er einen pünktlichen Dienstschluss vergessen könnte.

»Komm, ein paar Fahrzeuge machen wir trotzdem noch! Dann brechen wir hier ab und fahren schon mal in Richtung Stadt. Wenn da wirklich die Bude brennt, werden die kaum 20 Minuten warten wollen, bis die Verstärkung da ist«, sagte die junge Kollegin und zog sich ihre Handschuhe an.

»Gut, eins noch. Ich kann es nämlich nicht abwarten, endlich in mein warmes Bett zu kriechen«, sagte er mit einem anzüglichen Seitenblick auf die hübsche Streifenpolizistin und wechselte die Kelle in seine rechte Hand. Noch einmal den Spruch »Guten Abend, Verkehrskontrolle, Ihren Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere bitte«, und sie könnten einpacken, das Radio anschalten und zumindest für diese Nacht ihren Kontrollposten verlassen.

KAPITEL 3

Sonntag, 23.32 Uhr

Dina erschrak, als der Anrufer sie aufforderte, die Autobahn an der nächsten Ausfahrt zu verlassen. Wenn er sie nun über einsame Landstraßen schickte, wäre die Chance noch geringer, dass ein anderer Autofahrer auf sie aufmerksam werden würde. Sie war auf dem Land aufgewachsen und wusste, dass man gerade nachts oft kilometerweit fuhr, ohne auf Gegenverkehr zu treffen. Erst recht dann, wenn man unter der Woche und bei so schlechtem Wetter unterwegs war. Der Regen hatte etwas nachgelassen, doch die Scheibenwischer liefen weiter auf Hochtouren.

Sie hatte keine Kraft mehr. Ihr ganzer Körper fühlte sich bleiern an. So, als ob sich eine schwere Last auf ihren Schultern befände, die sie daran hinderte, ihrem Schicksal zu entkommen. Die verhinderte, dass sie handeln, weglaufen und sich verstecken könnte. Dass sie um Hilfe schreien könnte. Zudem war der einzige Mensch, der sie hören konnte, derjenige, dessen tiefe Atemgeräusche sie über ihre Freisprecheinrichtung wahrnahm. Derjenige, der ihr ihre Energie und ihre Zuversicht nahm.

Dina war mittlerweile rund 40 Kilometer von der Ausfahrt entfernt, über die sie schon nach wenigen Fahrkilometern zu ihrem Mann und ihrer Tochter gelangt wäre. Eigentlich wäre sie jetzt zu Hause. Vielleicht wäre Lydia noch wach gewesen. Oder sie stünde jetzt bei ihr im Zimmer, würde die Bettdecke der Neunjährigen noch einmal richten und dann ihr schlafendes Kind betrachten. Den Weg nach Hause kannte sie im Schlaf. Hier aber, weiter nördlich, war für sie nahezu unbekanntes Gebiet. Wenn es eine Fluchtmöglichkeit gegeben hätte, dann war sie ihr nicht bekannt. Möglicherweise war sie ganz in der Nähe eines Hotels, in dem man ihr helfen könnte, aber rechts und links der Strecke war alles dunkel. Nur die Scheinwerfer ihres Autos beleuchteten die regennasse Strecke und die Leitplanken. Schemenhaft ließen sich rechts von ihr zudem Bäume erkennen, die wie kahle Mahnmale ihren Weg säumten, mal vorschossen und dann wieder zurückschnellten. Draußen war es immer noch windig. Die Äste bewegten sich wie bei einem unheilvollen Tanz. Zwei Schritte vor, leichte Drehung und zurück. Ganz so, als ob sie eine Berührung oder eine bittere Umarmung andeuten wollten.

Noch waren es 1000 Meter bis zur Ausfahrt. Der Wagen hinter ihr ließ sich etwas zurückfallen. Nicht viel, aber doch weit genug, um sie ein klein bisschen aufatmen zu lassen. Wenn sie Gas gäbe und hier von der Autobahn führe, könnte sie vielleicht ein Haus entdecken. Hier in der Gegend gab es sicher viele Bauernhöfe. Sie könnte laut hupend auf einen der Höfe fahren. In ihrer Vorstellung sah sie einen bissigen Hofhund und einen Bauern mit Mistgabel in der Hand, die ihren Verfolger vertreiben und sie in der warmen Stube beschützen würden, bis die Polizei eintraf und sie ihr von dem grausamen Anrufer erzählen könnte. Doch was, wenn sie um diese Zeit niemanden antraf oder man ihr nicht schnell genug helfen würde? Dann wäre sie so weit weg von einer halbwegs befahrenen Strecke, dass sie vollkommen verloren wäre. Dinas Herz schlug heftig. Doch es schlug. Sie lebte – und sie saß doch eigentlich im Sicheren. In ihrem eigenen Auto – ohne unerwünschte Mitfahrer. Ihre Psyche aber engte ihre Gedanken und ihr Freiheitsgefühl so sehr ein, dass sie fürchtete, jede Minute könnte ihre letzte sein.

Das Gefühl verstärkte sich noch, als ihr voller Bitterkeit klar wurde, dass sich der Anrufer keineswegs nur einen bösen Scherz erlaubte. Als auch der Wagen hinter ihr den Blinker setzte und wieder aufschloss, schnürte ihr ihre Verzweiflung die Kehle zu. Die düstere Baumreihe, die entlang der Ausfahrt noch dichter wurde, schränkte ihre Fluchtperspektive ein. Die Strecke lag schmal und dunkel vor ihr. Hier gab es nur vereinzelt stehende Leitpfosten. Matsch und Regen hatten die sonst weißen Pfosten jedoch in schlammige Pfähle verwandelt, die das Licht ihrer Scheinwerfer fast überhaupt nicht reflektierten. Während sie sich zuvor noch auf einer relativ gut ausgeleuchteten Straße befunden hatte, fuhr sie nun in die tiefere Dunkelheit. Die Wolkendecke der vergangenen Tage hatte sich kein bisschen aufgelockert. Kein Mondlicht gelangte hier auf die Erde. Kein einziger Stern war am Himmel zu sehen. Ein leicht schimmerndes blaues Licht hingegen, das sich immer mal wieder einen vorsichtigen Weg durch die Bäume bahnte, nahm sie in ihrer Panik nicht wahr. Sie sah über den Rückspiegel nur den Wagen hinter ihr, der ihr immer näher kam und fast schon ihre Stoßstange berührte. Nur dadurch war sie einen Moment lang nicht mehr vom Fernlicht geblendet und konnte kurz die Umrisse des Fahrers sehen.

KAPITEL 4

Sonntag, 23.33 Uhr

Falk Mayer lachte, als er die Scheinwerfer sah, die sich von der Autobahnausfahrt aus in Richtung des Pendlerparkplatzes bewegten und sich auf der regennassen Fahrbahn spiegelten.

»Kati, wir werden doch schneller fertig als gedacht. Den einen noch, und dann war es das.«

Noch einmal zog er sich seine Mütze etwas tiefer über die Ohren und trat näher an die Fahrbahn heran. Das hier war wirklich eine gottverlassene Gegend. Es war kein Wunder, dass nur wenige die Abfahrt nahmen, an der sie ihren Kontrollposten hatten. Er müsste unbedingt daran denken, rechtzeitig einen Versetzungsantrag zu stellen. In eine Großstadt wollte er zwar nicht unbedingt, aber eine interessantere Kreispolizeibehörde wäre nicht verkehrt.

Als der rote Citroën näher kam, streckte der Polizist den Arm aus und schwenkte die Kelle.

»Erst kommt ewig lange nichts und dann gleich zwei Wagen.« Seine Kollegin trat in schneller Abfolge von einem Bein aufs andere, um sich etwas warm zu halten. »Das ist echt schweinekalt heute, ich friere mir gerade ’nen Ast ab.«

Der Polizist lächelte ihr zu.

»Komm, schwenk deinen Hintern ins Auto. Es reicht ja, wenn sich einer erkältet.«

»Sicher?«

»Klar, mach schon.« Gespielt hustete er etwas.

Der Kleinwagen rauschte viel zu schnell in ihre Nähe. Falk Mayer ging einen Schritt zurück und deutete mehrfach mit der Kelle auf den hinteren Bereich des Parkplatzes. Bis auf den Streifenwagen stand hier derzeit nur ein alter Fiat 500. Morgen früh würde sich der Parkplatz wieder mit Pendlern füllen, die sich hier mit ihren Mitfahrern trafen und Fahrgemeinschaften bildeten.

***

Dina hatte den Blinker links gesetzt und war gen Norden abgebogen. Ganz so, wie es ihr der Anrufer in einer weiteren Anweisung mitgeteilt hatte. Genauso wenig wie sie selbst schien er das Blaulicht wahrgenommen zu haben, das für kurze Momente für einen Farbschimmer zwischen den Bäumen gesorgt hatte.

Sie weinte vor Erleichterung, als sie die rettende Polizeikontrolle sah.

Je schneller sie nun Abstand zwischen sich und den Wagen hinter ihr brächte, umso eher wäre sie bei den Polizisten. Umso eher wäre dieser Albtraum vorbei. Verbissen starrte sie auf ihr Ziel und versuchte, den Anrufer auszublenden. Ein dumpfer Schlag, der wahrscheinlich dem Lenkrad galt und den sie über die Freisprecheinrichtung hörte, ließ sie zusammenzucken. Sollte der Anrufer einen Plan gehabt haben, stünde die Polizei ihm nun im Wege. Dina biss sich auf die Unterlippe. Nur noch ein paar Meter, und sie hätte es geschafft. Wäre sie auf die Idee gekommen, das Gespräch nun einfach zu beenden, hätte sie sich ganz so verhalten, wie es jeder Mensch in dieser Situation tun würde: Sie hätte die Polizei wie ein sprudelnder Wasserfall mit allen Infos überschüttet, die sie gehabt hätte. Und sie hätte die dringend benötigte Hilfe bekommen.

Sie wusste, dass der Anrufer zu diesem Zeitpunkt chancenlos war. Er hatte sich zu weit hinter ihr befunden. Er hatte keine Möglichkeit gehabt, die Streife rechtzeitig zu entdecken und sie in eine andere Richtung zu lotsen. Selbst wenn er sie aufgefordert hätte, auf der Landstraße zu wenden, hätten sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Sie beschleunigte ihren Wagen weiter und trat dann doch ganz schnell wieder auf die Bremse, als der Anrufer mit unheilvoller Stimme nur ein einziges Wort von sich gab: »Lydia!«

Dann ließ er sich mit seinem Wagen nach hinten fallen, um auf dem Seitenstreifen anzuhalten.

***

Der rote Citroën, auf dem die Werbung für ein Nagelstudio angebracht war, bog auf den Parkplatz ab. Falk Mayer näherte sich mit seiner Taschenlampe dem Wagen, bei dem nur zaghaft die Scheibe an der Fahrerseite etwas heruntergelassen wurde. »Guten Abend, Verkehrskontrolle. Ihren Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere bitte.«

Die Fahrerin griff nach ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz und nestelte nervös darin herum. Der Polizist lächelte. Das war ein typisches Frauenproblem. Männer in Uniform schüchterten viele Damen ein. Und Frauenhandtaschen waren noch ein ganz anderes Problem. Die Frau zitterte, als sie schließlich ihr Portemonnaie in den Händen hielt und versuchte, den Führerschein herauszuziehen. Angestrengt vermied sie es, dem Polizisten in die Augen zu sehen.

»Ganz ruhig. Das ist nur eine normale Verkehrskontrolle. Sie haben doch nichts getrunken, oder?«

Die Frau schüttelte den Kopf und schaute den Polizeibeamten zum ersten Mal direkt an. Er blickte in ein verstörtes Gesicht mit rot geweinten Augen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und griff nach dem Führerschein. Die Frau, die ihn vom Foto aus anblickte, schien jemand ganz anderes zu sein als die Dame, die er nun vor sich hatte. Perfekt gestylt und mit einem umwerfenden Lächeln hatte sie in die Kamera des Fotografen geschaut. Die Haare auf dem Bild waren etwas heller als jetzt.

»Alles in Ordnung, Frau Martin?«, fragte er noch einmal.

Als er ihren Namen aussprach, zuckte sie zusammen. Nur zögernd nickte sie, wandte dabei aber wieder den Blick von ihm ab. Über die Freisprecheinrichtung im Auto hörte der Polizist ein gedämpftes Husten, das die Frau zusätzlich zu erschrecken schien.

»Machen Sie das da bitte mal aus«, sagte er und deutete auf das Handy der Frau, das auf der Mittelkonsole lag.

»Nein«, presste sie hervor. Sie umgriff mit beiden Händen das Lenkrad und schaute angestrengt auf das Display der Freisprecheinrichtung, auf dem eine anonyme Anrufverbindung angezeigt wurde.

»Doch, das machen Sie jetzt aus«, sagte er etwas bestimmter, aber freundlich und winkte dann nach seiner Kollegin, die auf seine Aufforderung hin aus dem Streifenwagen stieg.

»Haben Sie irgendein Problem, Frau Martin?«, fragte er noch einmal.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Doch ihr Verhalten irritierte ihn. Die Frau schien darauf bedacht, Stärke zu zeigen, zitterte aber am ganzen Körper. Auf ihrer Stirn hatten sich kalte Schweißperlen gebildet. Und dann war da dieser Blick, der ihm absolutes Unbehagen bereitete. So schauten Hollywood-Schauspieler, wenn sie vor einem Axt-Mörder mitten in der Nacht in einem Wald durchs Unterholz flüchteten. Nur war hier weit und breit niemand zu sehen.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte da die Stimme über die Freisprecheinrichtung. Der Beamte merkte instinktiv, dass sie nur zögernd und widerwillig mit einem »Ja« antwortete. Aber er verspürte auch Erleichterung. Alles klar! Er lächelte sie aufmunternd an. Deshalb also die Tränen und der wirre Blick. Hier hatte sich jemand mit seinem Mann gestritten und schämte sich, das vor Fremden zuzugeben. Das kam in den besten Familien vor. Und es ging nicht immer gut aus. Auch er selbst und seine Ehefrau hatten sich erst vor drei Jahren getrennt, weil sie sich nur noch gestritten hatten – wegen Kleinigkeiten.

Dennoch wollte er die Frau in dem Zustand nicht weiterfahren lassen. »Kommen Sie, steigen Sie mal kurz aus dem Auto«, sagte er und wartete, bis die Frau die Autotür geöffnet hatte und langsam ausstieg. »Vielleicht mögen Sie sich ja ein wenig mit meiner Kollegin unterhalten?«

Er wollte die Polizistin gerade involvieren, als ein Wagen mit eingeschaltetem Fernlicht auf den Parkplatz fuhr.

Der Polizeibeamte schirmte seine Augen mit dem Unterarm ab. Der Wagen blieb mit eingeschaltetem Motor in der Zufahrt stehen. Zwei große Büsche rechts und links der Zufahrt, die dringend zurechtgeschnitten werden müssten, bewegten sich im wieder auffrischenden Wind ungestüm und ohne Kontrolle hin und her.

Entschlossen ging der Beamte einen Schritt nach vorne. Der Geländewagen blieb an Ort und Stelle. Gegen das Licht konnte der Polizist fast nichts erkennen. Dass die Frau hinter ihm wie in Schockstarre dastand, sich die Unterlippe blutig biss und weit aufgerissene Augen hatte, sah er nicht.

»Weiterfahren!«, brüllte er.

Der Wagen bewegte sich keinen Millimeter.

»Nun machen Sie doch endlich das Fernlicht aus! Was tun Sie hier überhaupt? Wir haben nur den einen Wagen hier zur Kontrolle. Sie können weiterfahren!«

Aus dem Geländewagen kam keine Antwort.

»Falk, was ist los?« Seine junge Kollegin war genauso ratlos wie er.

»Der Spinner da denkt, er müsste auch durch die Verkehrskontrolle.«

»Jetzt mach endlich das Fernlicht aus!« Die Stimme des Polizisten wurde bestimmter und ruppiger.

Er reichte Dina, die immer noch unbeweglich hinter ihm stand, achtlos ihre Fahrzeugpapiere. »Kleinen Moment bitte noch, wir müssen das gleich noch überprüfen.«

Dann schützte er wieder mit seiner rechten Hand die Augen, entfernte sich von dem Citroën und ging auf den anderen Wagen zu. »Bist du schwerhörig, oder was?«, brüllte er.

Er hörte das Surren des elektrischen Fensterhebers auf der Fahrerseite.

»Fahren Sie bitte weiter! Hier gibt es nichts zu sehen. Das ist nur eine normale Verkehrskontrolle.« Er versuchte, sich über so viel Ignoranz nicht zu ärgern, und bemühte sich, ruhiger zu sprechen als zuvor. Er bemerkte die Schritte der jungen Polizistin, die sich ihm näherte, und bedeutete ihr mit einem Kopfschütteln, nicht näher zu kommen. Noch immer machte der Fahrer keinerlei Anstalten, auf die Straße zurückzufahren. Falk Mayer stand jetzt nahe am Kotflügel des Wagens, als der Fahrer des Wagens den Motor kurz aufheulen ließ. Instinktiv griff der Polizist an sein Pistolenhalfter und ärgerte sich, dass er die Schusswaffe im Wagen abgelegt hatte. Das war gegen die Dienstvorschrift. Aber ohne komplette Montur fühlte er sich vor allem dann wohler, wenn sie längere Zeit im Auto saßen. Es war einfach bequemer.

»Hallo?«, fragte er und ging vorsichtig noch etwas näher. Die Stille verunsicherte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Dabei war es nicht ungewöhnlich, dass sich nicht jeder Autofahrer kooperativ zeigte.

»Hallo«, sagte da eine dunkle Stimme. Mit einer schnellen Bewegung richtete die Person am Steuer eine Waffe auf ihn. Dann ertönte ein Schuss.

KAPITEL 5

Sonntag, 23.46 Uhr

Dina biss sich auf die Fingerknochen. Noch nie, aber wirklich noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Das Bild des Polizisten, der mit weggeschossenem Gesicht auf den Boden aufschlug, würde sie niemals vergessen. Mit einem Schuss war all ihre Hoffnung zerstört worden. Die Zeitlupe des Geschehenen fräste sich immer tiefer in ihre Erinnerungen ein. Sie ergriff von jeder ihrer Gehirnzellen Besitz, ließ ihre Verzweiflung ins Unermessliche steigen. Das Auto, das mit eingeschaltetem Fernlicht auf den Parkplatz gefahren war. Der Polizist, der den Autofahrer unwissend angebrüllt hatte. Die Pistole, die aus dem Fenster gerichtet worden war. Der panische Blick des Polizisten, der sie nur eine Millisekunde gestreift hatte.

Sie war wie gelähmt gewesen. Es hatte kein Entkommen gegeben, kein rettendes Fahrzeug. Und keine Polizistin, die noch handlungsfähig gewesen wäre. Dina hatte helfen müssen, den toten Polizisten zur Seite zu schieben, damit sie mit ihrem Auto vom Parkplatz fahren konnte. Sie hatte nirgendwo hinschauen können. Weder auf den Polizisten noch in das Gesicht des Anrufers. Mechanisch hatte sie alle Anweisungen des Mannes ausgeführt. Anweisungen, die sie aus nächster Nähe hörte und die gefiltert und leise fast gleichzeitig über die Freisprechanlage ihres Autos kamen. Der Motor des Wagens lief noch. Sie hätte nur hineinspringen und wegfahren müssen. Wenn denn nicht der SUV des Anrufers die Zufahrt versperrt hätte.

Ja, sie war wieder in ihr Auto eingestiegen. Aber nur, weil er es ihr befohlen hatte, weil er – als sie einen Moment lang zögerte – wieder den Namen ihrer Tochter erwähnt hatte. »Lydia.« Und wieder: »Lydia.« Dina war sich sicher, dass er sie nicht schonen würde. Weder sie noch ihre Tochter. Jemand, der kaltblütig einen Polizisten erschoss, der war zu allem in der Lage. Die Scheinwerfer des Wagens hinter ihr nahmen die komplette Breite ihres Rückspiegels ein. Er war nah. Sehr nah. Sie hörte ihn atmen. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. So, als ob sein Atem sie direkt dort streifen würde.

Sie verstand nicht, warum er sie wieder hatte in ihren Wagen steigen lassen, warum er sie weiter verfolgte, statt sie noch näher bei sich zu haben.

Dina zwang sich, tief durchzuatmen. Sie wusste, dass er sie hörte, dass er jede Reaktion, jedes kleine Geräusch aus ihrem Wagen in sich aufsog. Nein, der Mann wollte sie nicht freilassen. Doch sosehr er sie auch in Angst versetzte, so froh war sie jetzt mit jedem Kilometer, den sie sich weiter von ihrem Zuhause entfernte. Jeder Kilometer, den sie zwischen ihn und Lydia bringen konnte, zählte. Sie müsste nur eine Möglichkeit finden, Markus zu kontaktieren.

Der Anrufer wusste, wie ihre Tochter hieß. Sie zweifelte nicht daran, dass er auch ihre Wohnadresse herausfinden würde – wenn er sie nicht schon längst kannte. Unmittelbar nach dem Schuss auf den Polizisten hatte er sie auf die Autobahn zurückgelotst. Er war äußerlich ruhig geblieben. Sie wusste nicht, ob es für sie von Vorteil oder von Nachteil war, dass er die Strecke ändern musste. Im besten Fall hatte es ihr Zeit verschafft.

Solange sie sich noch in ihrem Auto befand, fühlte sie sich halbwegs sicher. Doch die Tankanzeige bewegte sich schon lange im roten Bereich. Wenn sie jetzt nicht tankte, würde er sie sofort bekommen. Sie könnte ihn einweihen. Ihn fragen, was sie nun tun sollte. Doch sie wollte vermeiden, dass er ihr Handeln weiterhin vollends bestimmte. Es waren nur noch 1000 Meter bis zur nächsten Raststätte. 1000 Meter, auf denen sie sich überlegen musste, ob sie das Wagnis einging oder nicht.

Noch 500 Meter. Sie bemühte sich, die Geschwindigkeit beizubehalten. Wenn sie es tun würde, dann sollte es für ihn ein Überraschungsmoment sein. Er sollte keine Gelegenheit bekommen, einen weiteren Plan zu fassen oder sie von ihrem abzubringen. Doch wenn sie es schaffte, was dann? Vielleicht reichte die Zeit, um den Tankwart zu alarmieren. Vielleicht schaffte sie es, Markus anzurufen. Sie bräuchte keine Polizei. Die hatte ihr eben schon nicht helfen können. Sie hatte Bedenken, dass man die Angst in ihrer Stimme und den Ernst der Lage nicht erkennen würde. Markus kannte sie seit Jahren. Er würde sofort merken, dass sie in höchster Gefahr war. Er würde nicht zögern, Lydia aus ihrem Bett zu reißen und sofort das Haus zu verlassen. Sie hatte keine Zweifel daran, dass er erst ihr Kind und dann auch sie in Sicherheit bringen würde.

Noch 100 Meter. Sie hätte längst die Fahrspur wechseln müssen. Sie zögerte. Doch dann nahm sie all ihren Mut zusammen, riss das Lenkrad herum und erwischte gerade noch die Ausfahrt zur Raststätte. Sie achtete nicht auf ihn. Sie beschleunigte, raste auf das Gelände der Tankstelle zu, legte an der Zapfsäule eine Vollbremsung hin und zerrte an ihrem Anschnallgurt, der sich einfach nicht lösen wollte. Sie zog und pfriemelte, schrie vor Wut auf, drückte mit der Schulter gegen die bereits geöffnete Fahrertür, um sie weiter aufzustoßen. Sie wusste, dass er ganz in ihrer Nähe war. Aber sie hätte nicht damit gerechnet, dass er bereits neben ihrem Auto stand. Er reichte ihr die Hand und grinste sie an. Sie vermied den Blick in seine Augen, die er unter einer weit ins Gesicht gezogenen Kapuze halb verborgen hatte. Er hatte unerwartet gut gepflegte Zähne, die sie blendend weiß anblitzten. Dina wurde schwindelig. Doch bevor sie dem Impuls nachgeben konnte, aufzugeben und sich einfach auf den Boden sacken zu lassen, hakte er sie unter.

»Na, na, na«, sagte er. »Da wird doch niemand schwach werden.«

Dina brannten Tränen in ihren Augen. Als er mit seinem behandschuhten Handrücken einmal durch ihr Gesicht wischte, sog sie scharf die Luft ein.

»Einsteigen«, zischte er. »Sofort!« Und winkte dann entschuldigend dem Tankwart zu, der aus dem Kassenraum gespannt auf die Szenerie schaute.

KAPITEL 6

Montag, 0.10 Uhr

Markus Martin stand am Fenster und schaute auf die ruhige Sackgasse. Im Licht der Straßenlaternen sah er die Regentropfen tanzen. Seit Tagen wurde das Wetter nicht besser. Er war froh, im Haus zu sein. Draußen hatte man stetig das Gefühl, dass einem die Nässe bis auf die Knochen schleichen wollte. Seit über zehn Minuten stand er hier und wartete auf seine Frau. Er wusste, dass sie mit ihrer Freundin Linda in der Stadt etwas trinken wollte. Dass sie versprochen hatte, Lydia zumindest noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, und doch noch nicht aufgetaucht war, verwunderte ihn nicht.

Seitdem Dina vor ein paar Wochen ihre Mutter verloren hatte, war sie kaum wiederzuerkennen. Sie nutzte jede Möglichkeit, rauszukommen. Sie ging tanzen, traf sich mit Freunden, verbrachte Zeit in der Sauna und schob die familiären Verpflichtungen ganz weit von sich.

Erst am Abend hatten sie sich deswegen gestritten.

»Lydia braucht dich«, hatte er gesagt.

»Der eine Abend«, hatte sie geantwortet und sich ihre langen Haare mit kräftigen Bürstenstrichen durchgekämmt.

»Das ist der dritte Abend in dieser Woche. Und du hast deiner Tochter versprochen, mit ihr zusammen einen Film zu sehen.«

»Ich kann nicht immer zu Hause zu sein.«

»Du hast eine Familie«, hatte er aufbrausend gesagt. Dann waren ihm die Argumente ausgegangen, als sie wütend die Bürste ins Waschbecken gepfeffert und gebrüllt hatte, dass sie leben wollte. Sie wollte nicht wie ihre Mutter eines Tages bedauern, ihr Leben nicht in vollen Zügen genossen zu haben. Seine Schwiegermutter hatte sich zeitlebens für die Familie aufgeopfert. Wenn er an sie dachte, sah er sie mit Küchenschürze vor sich. Nur selten hatte er Dinas Mutter in einer anderen Montur gesehen. Sie war mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter gewesen. Erst als sie krank geworden war, hatte die alte Dame angefangen, über ihr Leben nachzudenken. Über all die Reisen, die sie nie gemacht hatte und nicht mehr machen konnte, über die Freunde, die sie gerne noch einmal getroffen hätte, und über all die Träume, die sie nie hatte wahr werden lassen.

Noch einmal versuchte Markus es auf dem Handy seiner Frau. Noch immer war besetzt. Er hatte keine Ahnung, wo sie war, und wusste nicht einmal, ob sie überhaupt schon losgefahren war. In seinem Blick lag keine Sorge. Spätestens am Morgen würde Dina eine Erklärung für ihre Verspätung liefern. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich mit einer Freundin verquatschte. Auch mit ihrer Mutter hatte sie oft stundenlang am Telefon gehangen. Da Dina meist nebenbei durch die Küche gewirbelt war oder sich die Fingernägel lackiert hatte, war ein Großteil ihrer Gespräche über Lautsprecher gelaufen. Deshalb hatte er vor einiger Zeit auch eine Freisprecheinrichtung in ihrem Auto nachrüsten lassen, damit sie auch beim Fahren jederzeit und gefahrenlos telefonieren konnte.

Draußen erhellte ein Blitz die trübe Aussicht aus dem Fenster. In den Nachbarshäusern war schon fast überall das Licht ausgegangen. Nur bei der jungen Familie, die erst vor Kurzem mit ihrem Säugling aus dem Krankenhaus gekommen war, brannte wie jede Nacht nahezu durchgehend das Licht. Familienhund Flipper heulte auf, als ein gewaltiger Donnerschlag dem Blitz schnell folgte. Dieses Gewitter war definitiv nicht weit entfernt.

Ein letzter Blick die Straße hinunter. Dann schloss Markus die Vorhänge. Lydia hatte noch auf ihre Mutter warten wollen, doch in der Schule stand am nächsten Tag ein Mathetest an. Unter Protest war das Mädchen schließlich ins Bett gegangen.

»Morgen Abend machst du etwas Schönes mit Mami. Versprochen.«

»Aber ich wollte heute mit ihr einen Film gucken.«

»Mama hat sich sicher verquatscht, aber sie macht das alles wieder gut. Was würdest du denn gerne machen wollen?«

»Kann sie mich von der Schule abholen?«

»Mama muss doch morgen arbeiten.«

Seine Tochter hatte geschmollt.

»Na komm, ab ins Bett mit dir. Uns fällt sicherlich noch etwas Schönes ein. Vielleicht können wir ja morgen Abend was zusammen spielen?«

»Playstation?«

»Klar, warum nicht? Auch wenn wir beide wissen, dass Mami da immer verliert.«

Beide hatten gelacht – und er hatte Lydia fest an sich gedrückt, war ihr mit der rechten Hand durchs Haar gefahren, hatte ihre Locken durcheinandergebracht und sie dann huckepack zu ihrem Zimmer getragen. Lydia schlief seit gut einer Stunde – am anderen Ende des oberen Flurs. Sie hatte sehr lange gebraucht, bis sie in den Schlaf gefunden hatte.