Eßsucht oder Die Scheu vor dem Leben - Renate Göckel - E-Book

Eßsucht oder Die Scheu vor dem Leben E-Book

Renate Göckel

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Beschreibung

Eßstörungen, die auffälligerweise hauptsächlich bei Frauen auftreten, haben in verschiedenen Ausprägungen – Magersucht, Eßsucht oder Bulimie, Fettsucht – in unserer Gesellschaft beängstigende Ausmaße angenommen. Am fiktiven Beispiel der eßsüchtigen Anna K. schildert die Psychologin Renate Göckel begleitend eine zweijährige psychotherapeutische Behandlung, in deren Verlauf sich auf erschütternde Weise tiefe Probleme und Spannungen der Klientin offenbaren. Das zwanghafte Essen, so stellt sich heraus, hat eine lebenswichtige Signalfunktion insofern, als es als Ventil für zerstörerische psychische Energien wie Ängste, verdrängte Gefühle, Kindheitstraumata dient. Im Laufe der Therapie gelingt es Anna K., die Mechanismen ihrer Eßstörung zu durchschauen, die Ursachen ihrer spezifischen Reaktions- und Verhaltensmuster zu erkennen und sich Schritt für Schritt zu einer selbstbewußteren und selbständigeren Persönlichkeit zu entfalten.

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Seitenzahl: 347

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Renate Göckel

Eßsucht oder Die Scheu vor dem Leben

Eine exemplarische Therapie

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eßstörungen, die auffälligerweise hauptsächlich bei Frauen auftreten, haben in verschiedenen Ausprägungen – Magersucht, Eßsucht oder Bulimie, Fettsucht – in unserer Gesellschaft beängstigende Ausmaße angenommen.

Am fiktiven Beispiel der eßsüchtigen Anna K. schildert die Psychologin Renate Göckel begleitend eine zweijährige psychotherapeutische Behandlung, in deren Verlauf sich auf erschütternde Weise tiefe Probleme und Spannungen der Klientin offenbaren. Das zwanghafte Essen, so stellt sich heraus, hat eine lebenswichtige Signalfunktion insofern, als es als Ventil für zerstörerische psychische Energien wie Ängste, verdrängte Gefühle, Kindheitstraumata dient. Im Laufe der Therapie gelingt es Anna K., die Mechanismen ihrer Eßstörung zu durchschauen, die Ursachen ihrer spezifischen Reaktions- und Verhaltensmuster zu erkennen und sich Schritt für Schritt zu einer selbstbewußteren und selbständigeren Persönlichkeit zu entfalten.

Über Renate Göckel

Renate Göckel ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit vielen Jahren als Therapeutin mit eßsüchtigen Frauen.

Inhaltsübersicht

Zu diesem BuchDie Sache mit dem EssenAnna K., Lehrerin, 30 Jahre, eßsüchtigDer Eßanfall als SpannungsausgleichStillhaltenSich verausgabenDie sogenannte VernunftEine Denkpause: Rund um den Eßanfall1. Beobachtungspunkt: Wo habe ich meine Eßanfälle?2. Beobachtungspunkt: Wann habe ich meine Eßanfälle?3. Beobachtungspunkt: Was esse ich bei Eßanfällen?4. Beobachtungspunkt: Was bringt mir ein Eßanfall?5. Beobachtungspunkt: Mein Eßverhalten bei Hetze6. Beobachtungspunkt: Mein Eßverhalten bei Langeweile7. Beobachtungspunkt: Mein Eßverhalten bei Stillhalten und sich verausgaben8. Beobachtungspunkt: Das Erbrechen9. Beobachtungspunkt: «Außer sich sein» und «in sich ruhen»10. Beobachtungspunkt: Malen Sie ein Bild von sichAnna zeichnet sich selbstDie dicke und die dünne AnnaAnna und ihre MutterAnna und ihre FreundinnenDie Männer in Annas LebenDas «gewisse Etwas» – oder was Anna bei Männern suchtAnnas Angst vor der «guten Mutter»Die Symbiose – oder die Einheit von Mutter und KindSaugen, klammern und auftankenSelbständig werden und die Welt erobernIm Stich gelassen werdenAnna, das OpferBefreiung aus dem TeufelskreisLiteraturAdressenSelbsthilfegruppen und BeratungsstellenKliniken

Zu diesem Buch

Die eßsüchtige Leserin sei gewarnt! Dieses Buch wird Ihnen die Illusion nehmen, nur das Essen sei ein Problem für Sie, ansonsten sei alles in Ordnung. Vielmehr ist anzunehmen, daß abgesehen von der Regelmäßigkeit der Eßanfälle sehr vieles bei Ihnen nicht in Ordnung ist. In Ihren immer wieder auftretenden Eßanfällen verschafft sich eine Energie Raum, die Sie sonst im täglichen Leben sorgfältig im Schächtelchen halten, mit fest geschlossenem Deckel. Wenn der Deckel aufzufliegen droht, weil der Druck zu groß wird, können Sie versuchen, ihn um so fester zuzudrücken. Sie können sich aber auch mit dieser Energie einmal näher befassen, mit ihr Freundschaft schließen und sie als Motor für Ihre persönliche Entwicklung und Ihr seelisches Wachstum nutzen.

Von der Eßsucht loszukommen heißt nicht, daß man seine Eßanfälle «in den Griff» bekommt, sondern daß man sich im Leben andere Ventile für die nach außen drängende Energie schafft und die Eßanfälle damit überflüssig macht. Mit viel Mut, Ehrlichkeit und Geduld kann man das aus eigener Kraft schaffen. Die Hilfe eines sachkundigen Therapeuten oder einer Therapeutin erleichtert diesen harten Weg allerdings beträchtlich.

Das vorliegende Buch kann kein Ersatz für eine therapeutische Behandlung sein. Es soll Ihnen lediglich an Hand einer Fallgeschichte und einiger Hinweise zur Selbstbeobachtung Erkenntnisse über Ihr eigenes Verhalten und damit erste Hilfen zu einer Verhaltensänderung vermitteln.

Besonders zu Dank verpflichtet bin ich meinen mehrjährigen Klientinnen und den Frauen aus meinen Volkshochschulgruppen. Ohne ihre Offenheit und ihren Mut wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. In einer Zeit, in der es noch kaum Literatur zum Thema «Eßsucht» gab, haben sie wahre Pionierdienste geleistet.

Darüber hinaus gebührt mein Dank meinen Freundinnen Reinhilde Bürk, Ulla Hofmann-Credner und meinem Freund Dr. Peter Kleesz, die das Manuskript kritisch lasen und mir wertvolle Hinweise und Unterstützung gaben.

 

Karlsruhe, im Januar 1988

Die Sache mit dem Essen

Viele Frauen haben in unserer schlankheitsbesessenen Zeit Probleme mit ihrer Figur. Von allen Seiten wird uns eingeredet, wir seien zu dick, wenn wir wie Frauen aussehen und nicht wie halbwüchsige Knaben. Also versuchen wir weniger zu essen. Vielleicht nehmen wir dann ab – oder aber der Körper schaltet auf Sparflamme und lernt mit weniger auszukommen. Irgendeine Instanz in uns hat nämlich genaue Vorstellungen von unserer «objektiven» Körperform und strebt langfristig das entsprechende Gewicht immer wieder an. Diese schmerzliche Erkenntnis muß fast jede Frau nach einer Diät machen.

Die meisten Frauen mit «Figurproblemen» bleiben unauffällig. Sie hungern sich das am Wochenende zugenommene Kilo im Verlauf der Woche wieder ab. Und damit ist die Sache erledigt. Daneben aber gibt es Frauen, die sich besonders intensiv mit ihrem Eßverhalten und mit ihrer Figur beschäftigen, deren Denken fast ununterbrochen um diese Themen kreist. Sie können nicht willentlich steuern, wieviel sie essen, sondern der Eßdrang kommt einfach über sie, sie sind ihm ausgeliefert.

Die Geschichte jeder eßgestörten Frau zeigt deutlich, daß die Figur nur das letzte Glied – das Endresultat sozusagen – einer langen Kette von Verhaltensweisen und Einstellungen darstellt, die sich untereinander wiederum beeinflussen. Oberflächlich betrachtet steht am Anfang dieser Kette ein erbarmungsloser Drang zu essen, der zum Eßanfall führt. Als Folge dieses «Versagens» kommen Scham und Schuldgefühle hoch und – je nachdem wie stark das Bedürfnis der Frau ist, die «Kontrolle über sich» wiederzugewinnen – wird sie das «Hinaus» der überschüssigen Kalorien beschleunigen oder auch nicht. Davon, wie gut ihr das «Hinaus» gelingt, hängt unter anderem ihre Figur ab. Aber wieweit ihre jeweilige Figur und ihre subjektive Zufriedenheit dem tatsächlich erreichten Gewicht entsprechen, ist noch eine ganz andere Frage.

Je nach Eßverhalten und Figur der Betroffenen unterteilt man die unterschiedlichen Eßstörungen in drei große Kategorien: Mager-Sucht, Eß-Sucht und Fett-Sucht. Tatsächlich haben diese Krankheitsbilder viele Kennzeichen einer Sucht: das gierige Verlangen nach dem «Stoff», die Heimlichkeit, den «Rausch» oder besser die Vernebelung des Denkens, auf die ein böses Erwachen folgt mit Schuld- und Schamgefühlen und der Beschluß, morgen ein ganz neues Leben anzufangen. Ein Beschluß, der ebensooft gebrochen wie gefaßt wird.

Magersucht ist gekennzeichnet durch eine psychisch bedingte Einschränkung der Nahrungsaufnahme, die u.U. bis zu einer lebensbedrohenden Abmagerung führen kann. Magersüchtige mit ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit, ihrer ausgemergelten, halbverhungerten Gestalt wecken teils Mitleid, teils Bewunderung und manchmal auch Abscheu. Immer aber lösen sie Staunen aus. Sich so unter Kontrolle zu haben, daß man es schafft, fast zu verhungern – das ist «Größe». Die Magersüchtige signalisiert: ‹Ich habe meinen Körper und seine Bedürfnisse unter Kontrolle, und ich verachte Euch, die Ihr so schwach seid und Euren Körperbedürfnissen nachgebt. Ich bin stärker als Ihr, und ich bin Euch überlegen›. Sie hat immer etwas Unnahbares an sich.

Von Eßsucht oder Bulimie spricht man bei psychisch bedingtem, krankhaften Heißhunger. In der Regel erbricht die Eßsüchtige im Anschluß an den Eßanfall den größten Teil der aufgenommenen Nahrung wieder und kann so ihr Gewicht halten. Eine Eßsüchtige wird als perfekt wahrgenommen, etwas streng, arrogant, kühl, über den Dingen stehend. Auch sie weckt Bewunderung, und auch an sie kommt man nicht so recht heran. Sie ist rational, vernünftig, «kopflastig», und man möchte nicht von ihr beurteilt werden. Niemand würde ihr – der Perfekten – zutrauen, daß sie sich vollißt und anschließend erbricht. Es ist ihr Geheimnis, und sie würde es um keinen Preis lüften. Dieses Geheimnis macht sie innerlich einsam, denn diesen Bereich kann sie mit niemandem teilen. Sie ist nach außen hin stark, doch wie es drinnen aussieht, geht niemand etwas an.

Zur Fettsucht führt psychisch bedingter Heißhunger in der Regel dann, wenn das viel zu hohe Nahrungsangebot im Körper verbleibt und nicht oder zu selten wieder erbrochen wird. Die Fettsüchtige ruft in einer Kultur mit schlankem Schönheitsideal Abscheu und Ablehnung hervor. Sie wird als Neutrum gesehen, und sie steht ständig unter dem Druck, abnehmen zu müssen. Sie hat ein dickes Fell, eine Isolierschicht, die sie zwischen sich und anderen aufgebaut hat.

Alle drei Eßstörungen erreichen dasselbe: sie schaffen Distanz: Die Magersüchtige erhebt sich geistig über die «schwachen Mitmenschen», die Eßsüchtige gibt sich anders als sie ist und zeigt nur eine unechte Fassade, und die Fettsüchtige baut einen undurchdringlichen körperlichen Schutzwall um sich auf.

Warum und wozu braucht eine eßgestörte Frau diese Distanz? Nach Thorwald Dethlefsen hängen körperliche Symptome und Psyche in der Form zusammen, daß man im Symptom etwas «hat», was einem im Bewußtsein «fehlt».

Auf die geschaffene Distanz bezogen heißt dies etwas vereinfacht:

Die magersüchtige Frau ist stolz darauf, daß sie ihren Körper so gut im «Griff» hat und ebenso seine Bedürfnisse. Auf der psychischen Ebene dagegen fehlt ihr diese Autonomie. Sie ist nicht selbständig, nicht selbstbestimmt, und sie hat Angst, die mühsam erworbene Kontrolle zu verlieren.

Die eßsüchtige Frau kann nur ihr perfektes Image akzeptieren, ihr eigentliches Wesen, das sie kaum kennt, lehnt sie ab und fürchtet seinen Durchbruch. In ihren Eßanfällen kommt mit Macht dieses Andere, Unbekannte durch, das ihren Perfektionsansprüchen nicht standhält und unschädlich gemacht werden muß. Sie räumt ihrem wahren Selbst psychisch zuwenig Platz ein, so daß es sich auf der körperlichen Ebene einen Durchbruch verschaffen muß. Ihr fehlt im Bewußtsein die Selbstakzeptierung und der Platz für ihr Wesen, so wie es ist.

Die dicke, fettsüchtige Frau grenzt sich körperlich durch ihren Schutzwall ab, weil sie sich psychisch nicht abgrenzen kann. Durch ihre «Häßlichkeit» hält sie sich die Leute buchstäblich vom Leib. Ich habe dicke Frauen erlebt, die – nachdem sie 40 Pfund abgenommen hatten – schleunigst wieder zunahmen, weil sie die Attraktivität ihres neuen Aussehens nicht verkraften konnten. Männer und Frauen verhielten sich plötzlich völlig anders ihnen gegenüber, und sie gerieten in Panik, weil ihr Schutz nicht mehr da war.

 

Die Kategorien Mager-, Eß- und Fettsucht weisen untereinander mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf, und die Arbeit mit Klientinnen aus allen drei Kategorien hat mir immer deutlicher gezeigt, daß alle Eßstörungen mit Suchtcharakter gemeinsame Wurzeln haben.

Diese Wurzeln, um bei der Analogie zur Pflanze zu bleiben, sind unter der Erde verborgen, unbewußt. Über der Erde und damit sichtbar sind die Äste und Zweige, die den verschiedenen Spielarten der Eßstörungen, einschließlich aller Zwischenformen entsprechen. Natürlich ist es kein Zufall, wenn die eine Frau eine Magersucht und die andere eine Fettsucht entwickelt. Diese Ausprägungsgrade sind Ergebnisse ihrer Lerngeschichten, die genauso unterschiedlich sind wie die Wachstumsbedingungen verschieden geformter Zweige einer Pflanze.

In diesem Buche möchte ich vor allem die allen Eßstörungen gemeinsamen Wurzeln beleuchten. Diese liegen – allgemein gesagt – im ganz frühen Genährtwerden, in der Bedürfnisbefriedigung des Säuglings. Was kann ein Säugling tun, dessen Bedürfnisse nach Nahrung, Schutz, Wärme und Geborgenheit nicht adäquat befriedigt werden? Er kann versuchen, die Mutter «herbeizulocken». Wenn ihm dies jedoch nicht gelingt, dann resigniert er und versucht, seine Bedürfnisse einzuschränken. Das Gefühl, das aus einer solchen Resignation erwächst und bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt, ist das Gefühl, nicht genug bekommen zu haben, zu kurz gekommen zu sein.

Eßgestörte haben aber nicht nur zuwenig bekommen. Häufig haben sie Nahrung, Schutz, Angenommenwerden auch nicht zu dem Zeitpunkt erhalten, zu dem sie Zuwendung gebraucht hätten, sondern dann, wenn die Pflegeperson es für richtig hielt, ihnen etwas zu geben. Was kann ein Säugling unter solchen Bedingungen lernen? Er lernt, zuzugreifen und unerbittlich festzuhalten, wenn er tatsächlich etwas bekommt. Da er noch keinen Zeitbegriff hat, handelt er nach der Devise jetzt oder nie. Dieses Verhaltensmuster läßt sich bei Eßgestörten auch im Erwachsenenalter gut beobachten: Geringe Frustrationstoleranz, Gier, Unersättlichkeit, Anklammern in Freundes- und Partnerbeziehungen sind typisch für Menschen mit Eßstörungen. Das Vertrauen, daß sie genug bekommen werden, und zwar auch in dem Augenblick, in dem sie es wollen, fehlt völlig. Durch ihre Gier und ihr Zugreifen/ Anklammern bewirken sie aber, daß sich Freunde und Partner vor ihnen «schützen» müssen, um nicht «ausgesaugt» zu werden. Dieses «Aussaugen» findet allerdings nur bei den engsten Freunden oder Familienangehörigen statt. Nach außen hin wirken Eßgestörte dagegen meist stark, souverän und kompetent.

Nein, da halten sie lieber Distanz zu anderen Menschen und auch zu ihren eigenen Gefühlen. Durch den Eßanfall oder durch Hungern werden Emotionen betäubt, was wesentlich sicherer ist, als sich gehen zu lassen oder fortgerissen zu werden.

Wer Angst hat vor dem Berührtwerden auf körperlicher und psychischer Ebene, der hat auch Angst vor dem «Hereinlassen». Und wer Angst hat vor dem Hereinlassen, der hat auch Angst vor der Sexualität. Tatsächlich haben auch alle eßgestörten Frauen Probleme mit der Sexualität, vor allem mit der Hingabe an einen Partner. Hingabe und Kontrolle lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Mit Hingabe meine ich nicht nur sexuelle Hingabe, sondern die Hingabe an den Augenblick zum Beispiel, oder jede Form des Sicheinlassens. Sich einlassen bedeutet oft, sich auf neues, unbekanntes Terrain zu begeben, sich in einen Prozeß einzulassen, dessen Ausgang unklar ist.

Wenn ich jemanden ganz nahe an mich heranlasse, so sieht der andere zwangsäufig hinter die Fassade, er erkennt mich so, wie ich wirklich bin. Er nimmt Dinge an mir wahr, die ich selbst nicht sehe und auch oft nicht wahrhaben will. Dieses Erkanntwerden fürchten eßgestörte Frauen sehr. Sie brauchen ja die Distanz, um nicht als das erkannt zu werden, was sie im Grunde sind: bedürftige, halbverhungerte Wesen mit einer großen Angst, abgelehnt zu werden und auch diesmal nicht zu bekommen, was sie sich wünschen. Sie glauben, wenn sie «gut genug» wären, hätten sie noch eine Chance, ein bißchen Liebe und Zuneigung zu erhalten. Also versuchen sie so zu werden, wie sie ihrer Meinung nach sein müssen, um sich Liebe zu verdienen: nützlich, stark, zuverlässig, klug und vieles mehr. Wenn jemand ihre Schutzwälle überwindet und sieht, wie sie «in Wirklichkeit» sind, ergreift sie panische Angst, nun abgelehnt und verlassen zu werden.

Leider ist die Situation aber noch komplizierter: Eßgestörte haben nämlich auch Angst davor, daß ihre Bedürfnisse von jemandem befriedigt werden könnten und sie dadurch von diesem Menschen abhängig würden. Der eventuelle Verlust eines solchen Menschen wäre für sie viel schwerer zu ertragen als der vorher empfundene Mangel. Das Prinzip ‹was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß› funktioniert dann nicht mehr, denn ein einmal gewecktes und befriedigtes Bedürfnis kann man nicht mehr so leicht vor sich selbst und anderen verleugnen.

Wenn jemand imstande ist, einem etwas Lebenswichtiges zu geben, das man nie zur Genüge gehabt hat, dann ist seine/ihre Stellung sehr mächtig. Wie soll eine eßgestörte Frau, deren Selbstwertgefühl sehr gering ist, an die dauerhafte Befriedigung ihrer Bedürfnisse glauben können? Sie kennt ihre Gier und Unersättlichkeit und die deswegen drohende Zurückweisung. Sie wird nicht glauben, daß sie genug bekommen kann; und das macht ihr angst. Um diese Angst zu besänftigen, kann sie versuchen, Leistungen zu erbringen oder zu fliehen. Symptome stellen auch Fluchtwege dar – Fluchtwege aus dem Leben.

Sehen wir uns am Beispiel der Anna K. an, wie Eßstörungen und Lebensscheu zusammenhängen und wo sie herkommen. Anna K. ist eßsüchtig, aber die Prinzipien, die ihrer Krankheit zugrunde liegen, gelten mit Einschränkungen auch für Mager- und Fettsüchtige. Da bei Eßsucht die Momente des Kontrollverlustes (Eßanfall), des Wiedererlangens der Kontrolle (Erbrechen) und der chronischen Unzufriedenheit mit der Figur stark ausgeprägt sind, habe ich dieses Krankheitsbild gewählt, um ein möglichst breites Spektrum der Symptome bei Eßstörungen abzudecken.

Anna K., Lehrerin, 30 Jahre, eßsüchtig

Eßprobleme hatten Anna K. veranlaßt, sich zu einer Therapie bei mir anzumelden. «Na, wo drückt denn der Schuh», eröffne ich das Erstgespräch mit der neuen Klientin.

«Eigentlich nirgends», sagt sie, «eigentlich habe ich alles was man sich wünschen kann: einen netten Mann, einen Job, der mir Spaß macht und viele Freunde und Bekannte. Ich könnte eigentlich zufrieden sein, wenn nicht die Probleme mit dem Essen wären!»

Und sie erzählt von ihren Eßanfällen, die sie alle zwei Tage bekomme, die meist nachmittags oder gegen Abend anfangen und anhalten bis nach dem Abendessen. «Dann», sagt sie, «wenn alle Arbeit getan ist und der Mann vor dem Fernseher sitzt oder anderweitig abgelenkt ist, gehe ich aufs Klo und erbreche alles wieder. Dann fühle ich mich zwar erleichtert, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen.»

Anna fühlt sich seit ihrer Pubertät unförmig und zu dick. Objektiv gesehen hat sie nur einige wenige Kilo Übergewicht, und ihre Figur ist gut proportioniert. Keineswegs wirkt sie zu dick. Um «absolut dünn» zu sein, würde sie am liebsten 10 kg abnehmen. Allerdings sind fünf Kilo weniger als ihr derzeitiges Gewicht das niedrigste, was sie je erreicht hat, damals fühlte sie sich ziemlich wohl – «fast dünn genug» –, konnte das Gewicht aber nur zwei Wochen halten. Dann sorgten zwanghafte Eßanfälle dafür, daß sie wieder drei Kilo zunahm. Immer wieder probierte sie Diätprogramme aus, die ihr in die Hände fielen, nahm unzählige Kilo ab und unzählige zu. Je strenger ihre Diäten waren, «desto unerbittlicher schlugen die Eßanfälle zu.» Annas Sprache offenbart, daß sie ihre Eßanfälle als etwas ansieht, das sie anfällt, über das sie keine Kontrolle hat. Vor ihrer Umwelt hält sie ihr Eßverhalten streng geheim, sie erwähnt allenfalls, daß sie sich zu dick fühle und abnehmen wolle. Dies nehme allerdings niemand ernst, da niemand sie als zu dick ansehe.

Irgendwann las sie ein Buch über Eßsucht, das «Anti-Diätbuch» von Susie Orbach. «Ich war unheimlich betroffen, manchmal konnte ich gar nicht weiterlesen, so sehr hat mich das Buch berührt. Überall habe ich mich wiedererkannt.»

Besonders bei den folgenden Punkten wurde Anna durch das Buch an ihr eigenes Verhalten erinnert:

Die Unterteilung der Tage in «gute», an denen sie normal ißt, und «schlechte», an denen sie einen Freßanfall hat.

Die Unterteilung der Nahrungsmittel in «erlaubte», die sie an guten Tagen ißt, und «unerlaubte», die sie an Freßtagen zu sich nimmt, und um die es auch nicht schade ist, wenn sie erbrochen werden. Die erlaubten Nahrungsmittel stehen auf einer «weißen Liste» und umfassen alle kalorienarmen, vitaminreichen, eiweißreichen und fettarmen Nahrungsmittel. Die unerlaubten Nahrungsmittel auf der «schwarzen Liste» umfassen alle Dickmacher, insbesondere ihre Lieblingssüßigkeiten.

Ihre Furcht, Leute abzuwehren, Erwartungen nicht zu erfüllen, nein zu sagen einerseits und andererseits deutlich zu artikulieren, was sie möchte.

Ihr Bedürfnis, bestimmte Körperpartien wie Po, Busen, Hüften, Oberschenkel zu verstecken, weil sie sie als zu dick empfindet.

Die Tatsache, daß sie eigentlich ständig ans Essen denkt und immer hofft, es möge ihr doch gelingen, sich an die erlaubten Nahrungsmittel zu halten und keinen Freßanfall zu bekommen.

Schwierigkeiten mit ihrer Mutter, die sich in alles einmischt und deren Einfluß sie sich nicht entziehen kann.

Nach der Lektüre des Anti Diätbuches war Anna theoretisch klar, daß ihr Eßproblem nicht nur mit dem Essen zu tun haben kann. Trotzdem schildert sie mir ihre Lebenssituation als «eigentlich o.k.» Auf diese Diskrepanz angesprochen, meint sie: «Na ja, ich will ja nicht undankbar sein, ich habe wirklich alles, was ich immer gewünscht habe. Große Sorgen habe ich nicht, und die kleinen Alltagsprobleme, die hat ja schließlich jeder.» Sie signalisiert mir damit: ‹Bitte rühre nicht die eigentlichen Ursachen meines Eßproblems an›. Zunächst akzeptiere ich ihre Signale und frage sie, ob das Anti Diätbuch oder andere Bücher über Eßsucht ihr geholfen haben, an ihrem Eßverhalten etwas zu verändern.

«Das ist es ja, ich weiß so vieles aus den Büchern, aber ich kann es nicht so recht für mich umsetzen. Meine Eßanfälle habe ich nach wie vor. Sie sind in den letzten Wochen so schlimm geworden, daß ich mich zu dieser Therapie entschlossen habe. Ich habe den Eindruck, daß ich durch diese Bücher vieles deutlicher wahrnehme als vorher, mich aber auch mehr aufrege. Und dann esse ich aus Ärger noch mehr. Ich habe das Gefühl, ich kann einfach nichts gegen die Eßanfälle tun.»

Ob Anna sich vorstellen kann, daß ihre Eßanfälle auch positive Seiten haben? Das habe sie sich auch schon gefragt; vielleicht könnten sie etwas mit «sich den Mund stopfen» zu tun haben. Auf meine Frage, warum «sich den Mund stopfen» etwas Positives sei, antwortet Anna: «Ich habe manchmal Angst, daß ich Dinge sage, die mir hinterher leid tun. Ich kann sehr unbeherrscht sein und ausfällig werden, besonders zu meinem Mann und zu meiner Mutter. Wenn ich aber wütend bin und etwas esse, bin ich milder gestimmt.» Besonders häufig sei sie wütend, wenn sie gestresst aus der Schule komme. Dann nerve es sie, wenn zu Hause auch noch jemand etwas von ihr wolle. Sie habe dann das Gefühl, ständig geben zu müssen.

Mir fällt auf, daß Anna all dies zwar mit einem Lächeln auf dem Gesicht erzählt, aber öfters schluckt. Welche Gefühle schluckt sie hinunter? Ich fordere sie auf, die Situation ausführlicher zu schildern. «Meine Mutter kommt dreimal die Woche vorbei, wenn ich mittags länger unterrichten muß, und kocht das Essen für mich und meinen Mann. Dann bleibt sie zum Essen da, und das ist für mich der Horror. Ich habe das Gefühl, sie hat meine Küche besetzt – ja, meine ganze Wohnung. Ich fühle mich wie ein unmündiges Kind. Sie glaubt, alles zu wissen, und versucht auch, alles zu entscheiden. Wenn ich widerspreche, solidarisiert sie sich mit meinem Mann. Sie schmeichelt sich richtiggehend bei ihm ein. Ich muß mich beherrschen, ruhig zu essen. Manchmal würde ich ihr Essen am liebsten in den Mülleimer kippen und sie hinauswerfen. Aber das kann ich ja nicht machen, ich muß doch froh sein, daß sie für uns kocht. Solange sie da ist, kann ich gar nicht richtig durchatmen. Das fällt mir in der letzten Zeit auf. Sie erdrückt mich richtig, manchmal fühle ich mich in ihrer Gegenwart im Kopfe wie benebelt.» Die Idee für dieses «Kocharrangement» hätte ihr Mann gehabt. Er esse nicht gerne in der Kantine, sondern komme lieber über Mittag nach Hause. Ist ihr das recht? «Eigentlich schon, aber manchmal ist es mir einfach zuviel. Ich muß abschalten, wenn ich aus der Schule komme.»

Was ist Anna zuviel? Was heißt für sie «abschalten»? Wir gehen diesen Fragen nach und finden heraus, daß ihr Mann, wenn er in der Mittagspause nach Hause kommt, allen Berufsärger im Detail erzählt. Da sie selbst voll ist von Erlebnissen aus der Schule, würde sie ebenfalls gerne erzählen. Aber sie hält sich zurück und hört zu. Es wird ihr klar, daß sie stillhält und ihr eigenes Bedürfnis nach Erzählen und Anteilnahme wegdrängt. Stillhalten und das eigene Bedürfnis verleugnen, das ist es, was Anna «zuviel» ist. Auch abends hält sie sich meist zurück und läßt den Mann reden. Sie ißt dann, stopft sich etwas in den Mund anstatt das, was heraus will, herauszulassen.

In der Schule hat Anna etliche Funktionen übernommen, die ziemlich arbeitsintensiv sind und von Kollegen eher gemieden werden. Anna wollte nicht unkollegial erscheinen, zumal sie noch relativ neu an ihrer Schule ist. Ihr Image als gute Kollegin ist ihr wichtig. Auf ihre Unterrichtsstunden bereitet sie sich sehr sorgfältig vor, ist von zwei Klassen Klassenlehrerin und hat auch noch einiges an Verwaltungsarbeit übernommen, so daß sie sich in der Schule verausgabt. Diese Verausgabung erschöpft sie. Zu Hause möchte sie sich erholen und abschalten. Abschalten heißt für Anna: «Die Beine hochlegen, Kaffee trinken, Kuchen essen und an gar nichts denken.» Kommt nun aber ihr Mann nach Hause mit seinem Bedürfnis nach Trost, Zuspruch und «Dampf ablassen» und signalisiert die Mutter ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Gebrauchtwerden, stellt Anna augenblicklich ihre eigenen Bedürfnisse zurück und geht auf die Wünsche von Mann und Mutter ein. Später geht sie dann an den Kühlschrank und holt sich Eßbares in großen Mengen.

Dieser Mechanismus ist Anna nur sehr vage bewußt. Als sie sieht, daß sie die Bedürfnisse von Mann und Mutter vor ihre eigenen stellt, ist sie sehr betroffen, spürt sogar Wut, die sie aber sofort abwehrt: «Aber ich kann doch jetzt nicht einfach die Mutter hinauswerfen und den Mann in die Kantine schicken.» «Warum eigentlich nicht?» provoziere ich sie. «So egoistisch kann ich nicht sein», protestiert sie gereizt. «Egoistisch sein» will sie auf keinen Fall. Egoistisch sein, hieße für Anna, die eigenen Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen, und das bedeutete dann – so Annas Folgerung –, die Mutter hinauszuwerfen und den Mann in die Kantine zu schicken, also beide völlig von der Szene zu entfernen.

Darf sie ihre Bedürfnisse nur befriedigen, wenn niemand anders da ist, der eventuell auch Wünsche an sie haben könnte? Es sieht so aus, als ob es für Anna nur entweder «meine Bedürfnisse» oder «deine Bedürfnisse» gebe, nur ein entweder-oder, kein sowohl-als auch. Und, da Egoismus verpönt ist bei Anna, bleibt ihr nur das Zurückstecken der eigenen Bedürfnisse. Lohn für all diesen Verzicht ist ihr Ruf als «gute Tochter» und «verständnisvolle Ehefrau». So wird sie selbst immer zu kurz kommen – das wird Anna schlagartig klar. Klar wird ihr auch, daß sie ständig diese Lücke zwischen Bedürfnis und Befriedigung mit Essen auszufüllen versucht. Jede Art von Essen allerdings ist nicht als Lückenbüßer geeignet, am besten sind Schokolade, Kekse, Sahne, Kuchen und Eis. Diese Nahrungsmittel stehen aber auf der schwarzen Liste, und ihr Genuß versetzt Anna in Panik; sie fürchtet noch dicker zu werden. Um dieser Panik, diesem Druck auszuweichen, ißt Anna schnell alle Vorräte an Süßigkeiten auf und geht dann in eine Bäckerei, um nochmals «nachzufassen». Nun kommt es nicht mehr darauf an. Worauf kommt es nicht mehr an?

Anna möchte sich gesund und bewußt ernähren und ist dabei sehr streng mit sich. Sie informiert sich, welche Nahrungsmittel gesund, sprich vitamin- und eiweißreich, kalorien- und schadstoffarm sind und legt jeden Tag fest, was sie essen will. Dabei ist sie sehr vernünftig. Süßigkeiten gehören nie zu den geplanten Lebensmitteln, denn die stehen auf ihrer schwarzen Liste. Nur wenn sie der Eßdrang überkommt, holt sie sich Süßigkeiten. Hat sie dann aber erst einmal angefangen, Süßigkeiten zu essen, kann sie nicht zulassen, daß diese ungesunden Lebensmittel in ihrem Körper bleiben. Also muß ihre Aufnahme rückgängig gemacht werden; Anna erbricht sie. Und wenn sie schon erbrechen muß, geht dies leichter, wenn ihr wirklich übel ist, «und es lohnt sich auch mehr, wenn der Bauch richtig voll ist. Also schlage ich nochmals kräftig zu – ab morgen ist das alles wieder verboten.» Nach dem Erbrechen, das sie abscheulich findet, ist Anna erleichtert und froh, daß sie «trotzdem» nicht zunimmt. Aber sie ist auch voller Scham- und Schuldgefühle. Sie schämt sich ihrer Unbeherrschtheit und Gier – ihrer privaten Perversion, wie sie es nennt. Schuldig fühlt sie sich, weil sie Lebensmittel vernichtet, obwohl so viele Menschen auf der Welt hungern.

Sie weiß dennoch, daß am nächsten oder übernächsten Tag das Ganze erneut ablaufen wird. Zunächst aber hat sie die besten Vorsätze, sich in Zukunft zu beherrschen, und gar nicht erst anzufangen, Süßigkeiten zu essen.

Es gibt also für Anna K. nur entweder «geplant essen» oder «fressen».

Wir versuchen, die Sprungstelle von «entweder» zu «oder» herauszufinden: bei einem Stück Schokolade, einem Stück Kuchen oder auch schon bei einem Bonbon setzt der Eß-/Brechmechanismus ein. Je strenger eine Eßsüchtige mit sich umgeht, desto schärfer ist diese Sprungstelle definiert, desto enger sind die Toleranzgrenzen für das «entweder», oft gibt es gar keine. Hätte Anna Toleranzgrenzen, dann könnte sie sich Süßigkeiten in Maßen zugestehen und unter Umständen viele Freßanfälle verhindern. So aber muß sie bei der kleinsten Sünde den ganzen Weg gehen – essen, bis sie fast platzt und dann erbrechen. Kann sie nicht vielleicht einige Süßigkeiten offiziell zulassen, zumal sie doch ahnt, daß sie sie sowieso ißt? «Nein» antwortet sie, «wenn ich erst anfange, so lasch damit umzugehen, gibt es kein Halten mehr, und ich esse dann jeden Tag Süßigkeiten. Ich muß den Anfängen wehren.» Anna hat Angst, daß eine eventuelle Lockerung ihrer Toleranzgrenzen sofort dazu führen könnte, daß sie sich im Bereich des «oder» befindet.

Eine andere Klientin hat diese Polarität einmal folgendermaßen beschrieben: «Es ist immer eine Frage des Alles oder Nichts. Da ich mir bei Süßigkeiten nur das Nichts erlaube, brauche ich ab und zu einen Freßanfall als Ausgleich».

Der Eßanfall als Spannungsausgleich

Wie erlebt eine Eßsüchtige selbst den Übergang von geplantem Essen in unkontrolliertes Fressen? Nehmen wir an, die Eßsüchtige befindet sich in einer angespannten Situation, und es stehen gleichzeitig gute Dinge zum Essen herum. Sie nimmt sich hier ein bißchen, da ein bißchen und spürt genau, wann sie – für ihre Maßstäbe – eigentlich aufhören müßte. Und dann beginnt ein innerer Dialog der zwei Seelen in ihrer Brust – die weiße Seele ist für Anna die Vernunft, die schwarze Seele ein «blinder Drang zu essen»:

Weiße Seele: «Du mußt jetzt aufhören!»

Schwarze Seele: «Ja, gleich, nur noch ein bißchen.»

Anna nimmt sich noch ein paar Bissen.

Weiße Seele, panisch: «Höre jetzt endlich auf!!»

Schwarze Seele: «Noch schnell etwas nehmen, bevor ich endgültig aufhören muß.»

Anna ißt schneller, verstohlen. Schließlich hört sie auf zu essen, fühlt sich aber unbefriedigt.

Weiße Seele: «Na, Gott sei Dank, daß du endlich aufgehört hast. Du hast schon wieder zuviel gegessen. Das reicht für heute, dein Tageslimit ist bereits überschritten. Du solltest heute nichts mehr essen.»

Anna ist frustriert über dieses harte Urteil. Sie fühlt sich unzufrieden, unruhig, hat das Gefühl, daß sie noch etwas braucht. Irgendwie ist sie noch nicht ausgeglichen. Sie versucht, sich abzulenken. Nach kurzer Zeit denkt sie wieder an die guten Dinge, die sie im Hause hat.

Schwarze Seele: «Ein ganz kleines bißchen kannst du doch noch essen?»

Anna spürt leichte Angst, denn ihre Widerstandskraft gegenüber der schwarzen Seele erlahmt. Gleichzeitig hofft sie, daß ihre innere Unruhe und Frustration verschwinden, wenn sie noch etwas ißt. Sie nimmt sich noch einen Bissen, steckt ihn hastig in den Mund, kaut und schluckt sehr schnell. Die weiße Seele darf in diesem Augenblick auf keinen Fall zu Wort kommen, und durch schnelles Essen wird sie ausgetrickst.

Schwarze Seele: «Das tut gut, hole gleich noch mehr!»

Weiße Seele: «Du hast mal wieder versagt! Wenn du so weitermachst, wirst du nie dünn.»

Schwarze Seele: «Nur noch heute, wo ich doch so gute Sachen auf Vorrat habe. Und außerdem kann ich ja erbrechen.»

Weiße Seele: «Das Erbrechen ist nicht gut für dich. Du weißt doch, wie schlapp du dich hinterher immer fühlst. Vielleicht hast du auch bereits Organschäden davongetragen.»

Schwarze Seele: «Das ist jetzt egal, ich will essen, essen, essen. Alles her zum letztenmal. Jetzt ist es sowieso egal, der Tag ist gelaufen, es kommt nicht mehr darauf an.»

Weiße Seele: «Gestern war der Tag gelaufen, und vorgestern auch. Heute wolltest du endlich konsequent sein, aber du hast es wieder nicht geschafft! Du schaffst es nie, nie, nie!»

Schwarze Seele: «Ab morgen esse ich ganz normal, du wirst es schon sehen, ganz bestimmt.»

Annas Angst, «es» doch nie zu schaffen, wird größer. Sie weiß, daß sie «es» nicht unter Kontrolle hat. ‹Das Essen überkommt mich einfach, und ich kann nichts dagegen machen, weder heute noch morgen, noch übermorgen› – dies zu erkennen, würde Angst und Panik noch verstärken. Sie ißt schnell weiter, lenkt sich ab von der aufkeimenden Angst und konzentriert sich völlig auf das Essen: Verbotenes essen, richtig zugreifen, keine Kalorien zählen, keine abschätzigen Blicke für ihre Gier ernten, reinhauen, nie mehr aufhören zu essen, essen, essen … Keine Beschränkungen, keine Vernunft, nur Fülle, Überfluß, Gier.

 

An diesem erdachten Dialog läßt sich erkennen, wo die Sprungstelle, der Übergang vom Essen ins Fressen bei Anna liegt: Zunächst scheint sich Anna mit der weißen Seele zu identifizieren, dann jedoch werden die Eingebungen der schwarzen Seele immer verlockender, zumal sie versprechen, nicht nur die Lust auf Verbotenes zu befriedigen, sondern auch die Unruhe und Frustration zu beseitigen. Schließlich (Sprungstelle!) wird die weiße Seele kurzfristig weggedrängt und der schwarzen nachgegeben (Freßanfall). Je mehr aber der Freßanfall allmählich abklingt, desto mehr gewinnt die weiße Seele die Oberhand zurück. Sie zwingt Anna schließlich auch dazu, sich durch Erbrechen zu reinigen.

Wo ist aber der Ausgleich, den der Freßanfall bringen soll? Was wird ausgeglichen?

Etwas ausgleichen heißt, daß verschiedene ungleiche Zustände einander angeglichen werden. Anna erlaubt sich, was Süßigkeiten betrifft, das Nichts und braucht als Ausgleich einen Freßanfall. Setzen wir das Nichts gleich null und das Alles (Freßanfall) gleich hundert, so läge ein Ausgleich bei fünfzig. Hundert (Freßanfall) hingegen heißt: «zum Platzen gefüllt sein», bedeutet also kein Gleichgewicht, sondern ein Übergewicht. Somit wird das eine Ungleichgewicht (Nichts) durch ein anderes Ungleichgewicht (Alles) ersetzt. «Ausgleich» findet hier im Sinne von «Wiedergutmachung» statt.

Nach einem echten Ausgleich müßte sich die Eßsüchtige ausgeglichen fühlen. Ausgeglichen im Sinne von «harmonisch» aber fühlt sie sich nicht, lediglich ausgeglichen im Sinne von «körperlich nicht mehr hungrig sein».

Zwischen null (Nichts) und hundert (Alles) wäre fünfzig jene Mitte, bei der Anna ein Gefühl des Ausgleichs hat. Wie fühlt sie sich bei null? «Zu kurz gekommen, ich brauche noch etwas.» Und bei hundert? «Zum Platzen voll, übel.» Die Mitte zwischen «zu kurz gekommen» und «zum Platzen voll» wäre dann «satt, gesättigt, befriedigt». Befriedigt heißt, es herrscht Friede, es gibt keine Kämpfe mehr. Befriedigung und Sättigung beziehen sich natürlich nicht nur auf den Hunger nach Süßigkeiten, denn die braucht Anna nur, wenn sie emotional zu kurz gekommen ist, das heißt immer dann, wenn sie stillhält, sich verausgabt, in jeder Hinsicht «nicht satt geworden ist».

Ich frage Anna, wie sie sich fühlt, wenn sie sich ausgeglichen im Sinne von «harmonisch» fühlt (fünfzig). «Dann kann ich mir Luft verschaffen, durchatmen, mich frei bewegen, bin heiter, gut gelaunt, optimistisch, bin weder unruhig noch schlapp, einfach konzentriert aktiv, aber ohne Hektik.» Ihre Antwort deutet auf ein Energieproblem hin.

Abgesehen davon, daß Nahrung natürlich Energie ist, ist Eßsucht auch ein Symptom für Energieprobleme auf einer anderen Ebene. Zuviel Energie hat sich angestaut, wenn jemand stillgehalten hat, wenn zuwenig Energie abgeflossen ist. Dann fühlt man sich unruhig, ist abgespannt, «geladen». In unserer Sprache gibt es Ausdrücke wie ‹Vor Energie, Wut oder Neugierde platzen›. Neugierde und Wut produzieren viel Unruhe, Unruhe ist Spannung, ist Energie. Bei einem niedrigen Energieniveau hat man sich oft verausgabt, sich angestrengt, ist erschöpft, müde, leer, ausgepumpt. Wie wir noch sehen werden, sind «stillhalten» und «sich verausgaben» zwei zentrale Themen bei der Eßsucht.

Wie kommt nun Anna K. durch Essen in einen ausgeglichenen Zustand? Wie sie selber sagt, gelangt sie am ehesten durch Erbrechen aus einem unausgeglichenen in einen ausgeglichenen Zustand. Durch das Erbrechen wird vom «Alles» etwas weggenommen. «Fünfzig» kommt aber trotzdem, so Anna, «fast nie» dabei heraus. «Ich bin dann zwar froh und erleichtert, daß ich nun doch nicht zunehme, aber das Gefühl, versagt zu haben, ist stark da. Ich schäme mich dann oft so, daß ich an diesem Tag auch keine Verabredungen mehr einhalten kann. Ich kann dann einfach nicht mehr unter die Leute gehen. Außerdem sind da die Ängste, durch das Erbrechen körperlichen Schaden zu nehmen. Trotzdem ist der Zustand nach dem Erbrechen wesentlich angenehmer als nach einem Freßanfall. Ohne die gefühlsmäßigen Nebenwirkungen wäre er fast ausgeglichen.»

Der Zustand nach dem Erbrechen ist spannungsärmer und ausgeglichener als der Zustand des «Nichts» oder «Alles».

Ausgeglichen heißt, die Energie fließt herein und hinaus, ein jeweils optimaler «Füllungszustand» ist gegeben, nicht stagniert, und nichts fließt ab, ohne daß nicht neue Energie nachflösse. Da für Eßsüchtige das Essen eine Art Allheilmittel ist, schaffen sie es, sowohl den Energieüberschuß mit Essen abzubauen, als auch das Energiedefizit aufzufüllen. Essen kann bei Unruhe beruhigen und ablenken und bei innerer Leere ein Loch stopfen.

Stillhalten

Wie sich im Verlaufe der Therapie herauskristallisiert, können fast alle Eßanfälle von Anna K. in die Rubriken «stillhalten» und «sich verausgaben» eingeordnet werden.

Der Begriff «stillhalten» assoziiert «nichts sagen, obwohl man etwas sagen möchte oder zu sagen hätte», oder «etwas über sich ergehen lassen, obwohl man es nicht möchte». Manchmal, z.B. beim Zahnarzt – «muß» man stillhalten, weil der Verstand es fordert, oder weil man sich nicht blamieren will. Das Gefühl aber will in solchen Situationen nicht stillhalten. Es drängt vielmehr wegzulaufen oder sich zu wehren. Stillhalten erfordert also eine bestimmte Willensanstrengung, nicht wegzulaufen oder sich nicht zu wehren. Auf jeden Fall kostet es Mühe, nicht zu handeln. Man vergewaltigt seine Gefühle, damit man stillhalten kann. Von Natur aus ist der Körper darauf programmiert, auf Gefahr mit Angriff oder Flucht zu reagieren. In einer Gefahrensituation wird Adrenalin ausgeschüttet, das Blut wird zur glatten Muskulatur geschickt, der Blutdruck steigt an, Energie wird schnellstens mobilisiert, alle Denkprozesse werden auf ein Minimum herabgesetzt, denn sie kosten im Ernstfall zuviel Zeit. Nehmen wir an, die Stillhaltesituation ist keine extreme Gefahrensituation, sondern lediglich eine Alltagssituation, in der man sich anders verhält, als man es gefühlsmäßig und instinktiv möchte, so kann man sich leicht vorstellen, daß die Stillhaltende unruhig wird, nervös, gereizt. Sie befindet sich in einer typischen Stressreaktion mit einem erhöhten Aktivitätsniveau. Um die Körperfunktionen wieder zu normalisieren, wäre es optimal, eine längere Strecke zu laufen oder auf andere Weise Energie zu verbrauchen. In leichteren Fällen hilft es auch schon, verbal seinen Gefühlen ‹Luft zu machen›.

Anna hat die Erfahrung gemacht, daß Essen sie beruhigt, obwohl es Energie liefert. Sie kann zwar in Stressituationen keinen echten Hunger verspüren, da bei der Alarmreaktion Magensaftsekretion und Peristaltik des Magens stark reduziert werden; trotzdem hilft ihr das Essen in solchen Augenblicken. Warum?

Wir finden heraus, daß das Essen von unangenehmen Reizen ablenkt. Aber das alleine kann es nicht sein. Als wir weiterfahnden, stellt sich heraus, daß es Anna meist gar nicht bewußt ist, wann und wo sie stillhält. Das Essen ist jedoch ein sehr sicherer Indikator, daß Anna wieder einmal stillgehalten hat, bzw. gerade stillhält. Sie spürt in solchen Situationen oft nur den Drang, dringend etwas essen zu müssen.

«Gestern kam ich mit zwei Einkaufstüten die Treppe herauf. Im Flur begegnete ich einer Nachbarin, Frau B., die mich freundlich begrüßte und mir von dem kleinen Fest erzählte, das die Mieter im Hinterhof veranstaltet hatten und bei dem ich nicht dabeisein konnte. Ich fand es nett von ihr, daß sie so von der Leber weg erzählte. Sonst ist sie eher zurückhaltend und scheu. Nach fünf Minuten taten mir die Arme weh, denn meine Tüten waren ziemlich schwer. Ich stellte sie ab, und wir unterhielten uns weiter. Irgendwann verabredeten wir uns für den nächsten Tag zum Kaffee. Als ich dann in meine Wohnung kam, hatte ich komischerweise einen unbändigen Drang, schnell etwas zu essen, obwohl es mir gut ging.»

Anna versteht nicht, warum sie nach dieser «erfreulichen» Situation essen mußte. Als wir uns die Episode genauer ansehen, stellt sich heraus, daß das Hinterhausfest Anna eigentlich gar nicht interessierte. Sie war ganz froh darüber gewesen, daß sie gerade an diesem Abend etwas anderes vorgehabt hatte. Außerdem ist ihr die Nachbarin auch nicht sehr sympathisch. Es fällt Anna schwer, sich das einzugestehen. Sie fühlte sich nämlich zunächst geschmeichelt, daß die Nachbarin ihr gegenüber auf einmal so aufgeschlossen war. Eigentlich aber hätte Anna in diesem Moment lieber ihre schweren Tüten in die Küche getragen. Nur das Gefühl, ihre Nachbarin durch ihr Desinteresse vor den Kopf zu stoßen, veranlaßte sie zu bleiben. Irgend etwas in ihr – so Anna – drängte sie, die Nachbarin auch noch einzuladen.

Bevor die Nachbarin am nächsten Tag zum Kaffee kam, hatte Anna einen sehr starken Eßanfall, den sie wieder nicht verstand. Sie hatte extra einen Kuchen gebacken, was bei der knappen Zeit zwischen Schulschluß und Einladung nur in großer Eile möglich war. Anna hatte sich verausgabt. Sie aß den halben Kuchen auf und fühlte sich hinterher fürchterlich. Sie konnte auch nicht erbrechen, da die Nachbarin jeden Moment zu kommen drohte.

«Der Besuch verlief ziemlich langweilig. Ich wußte nicht so recht, was ich mit Frau B. reden sollte. Mir war schlecht, und gleichzeitig war ich unruhig, fast getrieben. Ich konnte kaum zuhören. Irgendwann tat ich so, als fiele mir in letzter Minute ein, daß ich noch zur Apotheke müsse. Endlich hatte ich einen Grund, die Sitzung zu beenden. Frau B. meinte noch, ich solle unbedingt nächste Woche bei ihr vorbeikommen. Ich habe zwar zugesagt, aber ich habe keine Lust hinzugehen.»

Bei genauerem Hinsehen finden wir heraus, daß Anna

keine Lust hatte, so lange auf der Treppe aufgehalten zu werden,

keine Lust hatte, Frau B. zuzuhören,

keine Lust hatte, Frau B. einzuladen,

keine Lust hatte, einen Kuchen zu backen,

keine Lust hatte, sich mit Frau B. beim Besuch zu unterhalten,

keine Lust hatte, die Einladung von Frau B. anzunehmen.

Es dauert ziemlich lange, bis Anna sich alle diese Unlustmomente eingesteht.

Warum will Anna nicht merken, daß sie keine Lust hat?

Anna möchte die Nachbarin mit ihrer Lustlosigkeit nicht vor den Kopf stoßen. «Sie könnte denken, daß ich sie nicht mag, wenn ich so kurz angebunden bin.» Anna mag Frau B. in der Tat nicht besonders, aber das soll Frau B. nicht merken. Sie soll nicht einmal merken, daß Anna in der Treppenhaussituation lieber ihre Dinge erledigt hätte, als sich zu unterhalten.

Aber es geht noch um mehr.

Anna fühlt sich geschmeichelt über die Aufgeschlossenheit der Nachbarin. Annas Logik: Wenn sie so offen mit mir redet, dann hält sie mich für eine vertrauenswürdige, also nette Nachbarin. Zu Annas Bild von einer «netten Nachbarin» gehört ein «offenes Ohr» und die Einladung, auf einen Sprung herüberzukommen. Und zu einer Einladung «gehört», daß man einen Kuchen backt. So will es das Image