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Lass dich hineinsaugen in die nervenzerfetzende Geschichte über 8 mystische Splitter, einen ehrgeizigen Paläontologen und eine folgenschwere Entscheidung. Horrorthriller - Spezialist Christian Kässmayer entführt dich in einen wahrgewordenen Albtraum! Nicht umsonst schreibt die Frankfurter Neue Presse, dass er den Leser nicht mehr verschnaufen lässt. Ein Normalo träumt vom Erfolg! Eugen ist Vater, Ehemann, trockener Alkoholiker und Paläontologe. Kurzum: ein Normalo. Er träumt davon, einmal etwas zur Wissenschaft beizutragen. Als er eines Tages den Millionär Jeremia Callahan auf der Herrentoilette trifft, ändert sich der Lauf seines Schicksals. Callahan lädt ihn zur größten Ausgrabung aller Zeiten nach Kanada ein. Doch dann … Vor Ort geschehen seltsame Dinge – das Wetter ist wie verhext, eine Mitarbeiterin verschwindet spurlos, dann taucht eine mörderische Wolke auf. Schließlich findet Eugen die Macht des Universums, gebunden an einen von acht Splittern. Noch versteht Eugen nicht, in welcher Gefahr er schwebt, da machen bereits dunkle Gestalten Jagd auf ihn ... Es gibt Kräfte in diesem Universum, von deren Existenz wir nichts ahnen. Doch was geschieht, wenn Menschen in den Besitz dieser Kräfte kommen? Brutalität/Gewalt: 2 von 5 Anspruch: 4 von 5 Obszönität: 1 von 5 Wird Eugen das Geheimnis um den 7. Splitter lüften? Finde es heraus, indem Du auf "jetzt kaufen", klickst und dich direkt in die spannungsgeladene Geschichte saugen lässt.
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Seitenzahl: 544
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Der 7. Splitter
Eugen
Roman
Christian Kässmayer
Widmung
Für meinen Vater: Ich vermisse dich.
Für meine Frau: Danke, dass du mich unterstützt, mir den Rücken freihältst und stärkst. Ohne dich würde keine meiner Geschichten erscheinen. Mal sehen, was uns die nächsten Jahre noch so bringen werden, wir haben viel vor. Aber am Ende ist es mir egal, ob wir unsere Ziele erreichen, denn Hauptsache ist, du bist bei mir. Ich liebe dich und genieße jede Sekunde mit dir.
Für meine Tochter: Hier sind die ersten Zeichen, die sie in die Tastatur gehackt hat, als sie mich am 20. September 2022 beim Überarbeiten besucht hat.
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Du bist die Beste. Ich liebe dich.
Cover
Titelblatt
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Eine kleine Bitte
Bruno
Horrorhaus
Urheberrechte
Cover
Titelblatt
Widmung
Prolog
Horrorhaus
Urheberrechte
Cover
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Prolog
Der Baron betrat die Küche. Der Tisch war reichlich gedeckt. Es gab Schweinebraten – er hatte sogar eine knackige Kruste –, Walnüsse, frisches Sauerteigbrot und cremige Lauchsuppe. Das Feuer war fast erloschen, an den Rändern schwelte es noch orange, und die Küche war angenehm warm. In der restlichen Glut stand ein Topf, aus dem Dampf aufstieg.
»Herr Baron, setzt Euch«, sagte die Magd und machte einen Knicks. Er hatte sie erst vor kurzem angestellt, sie war noch neu.
»Herr reicht«, erwiderte der Baron.
»Verzeiht, Herr.« Sie sah ihn kurz an, dann wieder weg. Ihre Augen waren nichts Besonderes, braun und langweilig.
Der Baron nahm Platz. Er war aus Marseille geflohen, weil sich die Pest dort immer weiter ausgebreitet hatte. Die Totengräber hatten nicht mehr gewusst wohin mit den Leichen und sie an den Straßenrändern gestapelt. Es war kein schöner Anblick gewesen, da war ihm sein Landsitz in Speyer lieber.
Die Magd holte den Topf aus der Glut und kippte heißes Wasser in den halbvollen Eimer, den sie vom Brunnen geholt hatte. Sie prüfte die Temperatur mit dem kleinen Finger, schenkte noch heißes Wasser nach, prüfte es erneut und kam dann mit dem Eimer und einem Handtuch zu ihm herüber.
Er tauchte die Hände in das wohlig warme Wasser und betrachtete erneut die Magd. Ihr Gesicht wirkte reif, aber dennoch weich und unerfahren.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Fünfzehn.«
»Komm nachher in mein Gemach.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Ja, Herr.«
Er rieb sich die Hände am Handtuch trocken. Die Magd schöpfte Lauchsuppe in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch. Er hob den Löffel und plötzlich rannte ein Huhn über den Boden.
Die Küche verschwand und vor ihm tauchte ein Marktplatz auf. Es war laut, Menschen riefen durcheinander, Leute liefen umher, Tiere brüllten. Töpfer priesen ihre Ware an, ein Viehhändler versteigerte einen Ochsen und Kirchenglocken läuteten zur vollen Stunde.
Eine Vision!
Und er kannte die Sprache. Es war Deutsch, genau wie hier in Speyer. Es war also nicht nur ein Ort, den er kannte, sondern er war sogar in der Nähe.
Ein Metzger packte das Huhn und hackte ihm mit großer Geste den Kopf ab. Daneben kniete eine Frau auf dem Marktplatz, die Hand um etwas auf dem Boden geschlossen. Ihr Haar war dunkelbraun und zu einem Zopf geflochten. Sie trug das schmutzige Kleid einer Bäuerin und ein fadenscheiniges Wolltuch über den Schultern.
Wo war der Splitter?
Da! Zwischen den Fingern der Frau glühte es perlweiß. Sie hat einen Splitter gefunden, irgendwo in den deutschsprachigen Landen.
Doch wo war sie genau? Neben ihr stand ein Esel, an dessen Seite ein Sack gebunden war. Hinter der Frau befand sich ein Haus aus Stein mit einem Hammer über der Tür und einem Wappen, aus dem gerade ein älterer Mann trat.
»Hedda, wie weit bist du!«, rief er und kam auf sie zu.
Hedda hob ihre Hand und betrachtete den Fund. Das Glühen wurde stärker.
Der Mann kippte um, wie ein Sack, den man nicht vernünftig hingestellt hatte. Mit ihm fielen alle anderen Menschen und auch die Tiere, der Esel, die Hühner und alles, was lebte.
Es war still. Hedda stand auf dem Marktplatz und starrte ihren Fund an.
»Herr?«, fragte jemand.
Der Markplatz verschwand, mit ihm Hedda und die Toten.
Der Baron befand sich wieder in der Küche.
»Ist etwas mit dem Essen?«, fragte die Magd besorgt. Der Baron schlug mit der Faust auf den Tisch und die Magd wich zurück, die Augen weit aufgerissen.
»Verschwinde!«, knurrte er.
Sie machte eine hastige Verbeugung und suchte das Weite.
Er hatte eine Vision gehabt. Ein weiterer Splitter war gefunden worden. Endlich! Die letzte Vision war Jahrhunderte her, den Finder des Splitters hatte er damals nicht aufspüren können. Er hatte in einem anderen Land gelebt und eine Sprache gesprochen, die er nicht gekannt hatte.
Doch diesmal war es anders. Diesmal war der Splitter ganz in seiner Nähe gefunden worden. Der Baron lehnte sich zurück und ging das eben Erlebte noch mal durch. Das Haus hinter Hedda könnte ein Zunfthaus gewesen sein. Das Wappen über der Tür, er hatte es erkannt, es war schon eine Weile her, dass er dort gewesen war, aber das konnte nur eine bestimmte Stadt in Baden sein.
»Diesmal werde ich dich finden!«, sagte er.
Der Baron kniete vor dem Kamin und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut. Das Holz knackte. Ein Scheit fiel um und Funken stoben wie tausend Glühwürmchen auf. Er bereitete ein heißes Bett aus der Glut und legte zwei trockene Holzscheite hinein. Flammen loderten auf, hüllten sie ein.
Es war zwanzig Jahre her, dass er Heddas Heimatstadt aufgesucht hatte. Sie war natürlich längst verschwunden gewesen. Er konnte es ihr nicht verdenken. Sie war die einzige Überlebende der Stadt gewesen, nicht auszudenken, was die Kirche mit ihr angestellt hätte, wenn die sie in einem Ort voller Toter gefunden hätte.
Er hatte sein Anwesen in Speyer verkauft und ein Hofgut in der Nähe der Totenstadt erstanden, auf dem er nun lebte und wartete, dass Hedda einen Fehler machte und so ihren Aufenthaltsort verriet.
Er erhob sich. Es war noch Tag, das schwache Licht des Herbstes fiel durch das Fenster. Dahinter lag der Hof, der von vier Seiten ummauert war, was seine Stube noch dunkler machte. Es roch nach Regen, aber noch war der Himmel nur bewölkt.
Schatten umspielten die ausgestopften Vögel auf dem Kaminsims. Er sah einem der Raben in die leeren Augen.
»Nicht meine beste Arbeit.« Er streichelte ihm über die schwarzen Federn und ging dann zum Fenster. Die Scheibe war trüb und grünlich, aber das Beste, was das Handwerk zu bieten hatte. Er öffnete es, um in den Hof zu sehen. Bis auf den überdachten Brunnen war nichts los, nur zwei Raben stritten sich um ein Stück Brot.
»Komm!«, sagte der Baron.
Der kleinere Rabe sah zu ihm rauf, erhob sich in die Luft und landete auf dem Fenstersims.
Der Baron ließ sich am Tisch nieder und schloss die Augen. Er dachte an den Raben, zuerst war es dunkel, doch dann klärte sich sein Blick und er sah sich selbst, wie er vor dem Tisch auf seinem rustikalen Holzstuhl saß.
»Flieg!«, murmelte er.
Der Rabe hob ab. Einen Augenblick betrachtete der Baron die Felder jenseits des Hauses, auf denen die Knechte arbeiteten; an der Waschküche schrubbten einige Mägde, daneben standen Nussbäume, die demnächst abgeerntet werden würden. Durch die Augen des Raben war das Laub der herbstlichen Bäume intensiver und farbenfroher, als er es je durch menschliche Augen hätte wahrnehmen können.
Der Rabe sank nach unten, der Hof kam wieder in Sicht und mit ihm der größere Rabe, der noch immer nach dem Brot pickte.
»Lande!«, sagte der Baron und der Boden kam rasch näher. Kurz darauf berührten die Krallen den Lehmboden. Der Rabe stand vor seinem Artgenossen, der ihn neugierig betrachtete und dann schnell das Brot mit dem Schnabel aufnahm.
»Kämpfe und nimm, was dir gebührt!«
Der kleine Rabe sprang vor und hackte mit dem Schnabel in Richtung Kopf seines Artgenossen. Der wich zurück und krächzte, dabei fiel ihm das Brot aus dem Mund. Er breitete die Flügel aus, der kleinere sprang hinterher.
»Bleib an ihm dran«, sagte der Baron. Er freute sich schon zu sehen, wer den Kampf überleben würde.
»Herr!«, erschallte eine Stimme. Der Ruf kam aus dem Gang vor seinem Zimmer.
Der angegriffene Rabe flatterte hektisch, aber bevor er abheben konnte, hatte der kleinere ihn erreicht. Er hackte wieder nach ihm und diesmal traf er das Auge. Ein schmerzerfülltes Krächzen hallte durch den Hof.
Jemand hämmerte gegen die Tür. »Herr! Herr!«
»Was?«, rief der Baron und löste sich von dem Raben. Sein Zimmer erschien wieder, von der anderen Seite der Tür kamen undeutliche Geräusche. Er strecke den Rücken durch, dass die Wirbel knackten. Bei diesem Wetter waren die Schmerzen in den Gelenken besonders schlimm, aber das war der Preis der Macht.
Die Stimme aus dem Flur redete undeutlich.
»Sprich lauter!«, rief er.
»Darf ich eintreten?«, drang die Stimme matt durch das Holz. Es war einer seiner Leibeigenen.
»Wenn es denn sein muss!«
Durch das Fenster hörte er Krächzen und schlagende Flügel. Er musste lächeln. Nur ein einziges Wort von ihm hatte genügt, um einen Kampf auf Leben und Tod zu anzustoßen, den nun andere für ihn austrugen. Das war der Inbegriff wahrer Macht.
Die schwere Tür ging langsam auf, der Leibeigene hatte offenbar Probleme sie aufzustemmen. Der Baron nutzte die Zeit, um einen Faden in eine Präpariernadel zu fädeln. Vor ihm auf dem Tisch lag der Torso eines Adlers, die Flügel ordentlich zusammengefaltet daneben. Er hatte Kerzen aufgestellt, ohne die diese Arbeit trotz Tageslicht unmöglich gewesen wäre.
Die Tür war auf und der Leibeigene betrat den Raum. Er war lang und hager und für den Haushalt zuständig, seinen Namen hatte der Baron vergessen.
Er schob die Tür wieder zu, dazu stemmte er sich mit dem ganzen Körper dagegen. Der Baron stach derweil die Nadel am Rande des Torsos ein und zog den Faden durch, er würde den Flügel befestigen, während der Leibeigene vortrug, was auch immer er vorzutragen hatte.
Die Tür war zu, der Mann kam zum Tisch, verbeugte sich und richtete seinen Blick zu Boden. »Herr, ich habe von einer Frau gehört, die Verletzungen heilt. Sie soll eine Hexe sein. Ich sollte Euch informieren, wenn –«
Der Baron rammte die Nadel in die Tischplatte. »Du redest zu viel!«
Er nahm einen Walnusskern aus der Schale, die ihm die Küchenmagd am Morgen hingestellt hatte. Er schmeckte herb und leicht süß. Er hatte in den letzten Monaten zu viel von Hexerei gehört, besonders am Übergang zum Winter häuften sich die Anschuldigungen. Die Bauern hatten weniger auf den Feldern zu tun und mehr Zeit zum Langweilen. Der Nachbar hatte immer die dickeren Rüben, die größeren Zwiebeln und das schönere Weib – er konnte es nicht mehr hören.
»Ich hoffe für dich, dass du mich nicht mit allgemeingültigen Scherereien belästigst.«
Der Leibeigene öffnete den Mund, der Baron schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Du weißt, dass ich nur nach außergewöhnlichen Fähigkeiten suche. Keine gewöhnlichen Hexen!«
Der Mann nickte, ohne aufzusehen.
»Gut. Dann sprich!«
»Die Pest, werter Herr, die Frau hat ihre Sprösslinge von der Pest geheilt.« Eine Hexe, die Kleinigkeiten heilte, war nichts Außergewöhnliches, aber die Pest zu heilen, das war ihm bisher noch nicht untergekommen. War das mächtig genug für einen Splitter?
Aufregung machte sich in ihm breit. »Woher hast du diese Information?«
»Von einem Hausierer, der hat es von einem Bauern aus dem Fränkischen. Der hat die Sprösslinge gesehen. Das Mädchen hatte wohl eine schwarze Beule am Hals und sollte eigentlich tot sein, aber die Beule ist weg und das Mädchen lebt. Der Bauer meint, dass der Hof verhext sei. Die Familie hat immer mehr Ernte als alle anderen und niemals ist jemand krank.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Tagen, Herr.«
Wenn das stimmte, dann hatte er vielleicht endlich eine Spur. Die Beulenpest war nicht unheilbar. Aber es war selten, dass jemand überlebte, und normalerweise waren keine einfachen Bauern an der Heilung beteiligt. So oder so konnte sich die Reise lohnen, entweder er fand endlich einen weiteren Splitter oder aber ein Heilmittel gegen die Pest.
»Lass die Pferde satteln«, sagte der Baron. »Nimm einen Raben und reite zu dem Bauern. Finde heraus, wo die Familie lebt!«
Der Leibeigene öffnete den Mund, aber der Baron machte eine wegwerfende Geste. »Verschwinde!«
Der Mann verbeugte sich hastig, ging einige Schritte rückwärts, zerrte die Tür einen Spalt weit auf, quetschte sich hindurch und rannte davon. Der Baron hörte ihn den Gang entlanglaufen und in Richtung Stall verschwinden.
Was war aus den Kämpfenden geworden? Er stand auf und ging zum Fenster. Im Hof lag der größere Rabe reglos vor dem Brunnen, die Flügel abgespreizt. Sie waren fast unversehrt, vielleicht würde er dieses Exemplar ebenfalls präparieren.
Der kleinere hatte Federn gelassen und schwankte bedrohlich, doch er lebte noch. Sein Schnabel war voller Blut, ebenso das Brot, das er nun mit schwachen Bewegungen aufpickte.
Der Baron verband sich mit dem Überlebenden, nicht zu stark, gerade genug, um ihm Befehle zu erteilen. »Flieg gegen die Wand!«
Der Rabe schwang kraftlos die Flügel und kam nur schwer in die Luft. Doch dann erhob er sich, flog einen schiefen Kreis und prallte gegen die Wand, direkt neben dem Baron.
Der Rabe fiel tot zu Boden.
»Ihr kämpft und sterbt für mich. Genauso funktioniert euer Leben.« Er hätte nicht gedacht, dass der kleinere Rabe überhaupt eine Chance gehabt hätte, aber am Ende spielte es keine Rolle mehr, denn tot waren nun beide. Aber ihr seid für einen guten Zweck gestorben, zu meiner Unterhaltung.
Der Baron lachte und zog einen goldenen Anhänger unter seinem Umhang hervor. Es war eine runde Scheibe mit Flügeln und in der Mitte war ein perlweißer Splitter eingearbeitet, der funkelte, als würde er von innen heraus glühen.
Niemand sollte im Besitz einer solchen Macht sein, nicht einmal die heilige Kirche. Sollten die Anschuldigungen stimmen, von denen sein Leibeigener ihm berichtet hatte, sollte es sich dieses Mal als wahr herausstellen, dann würde er den anderen Splitter an sich nehmen. Macht war nicht für jeden geeignet, man musste sie kontrollieren können.
Ich kann sie kontrollieren.
Er küsste den Splitter. »Ich weiß, was wahre Macht bedeutet und wie man sie bändigt.«
Der Baron lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er ein heruntergekommenes Dorf im Nieselregen, gen Norden stieg das Land an und eine Burg stand auf dem Hügel. Einige Dächer ragten über die Mauern und Rauch stieg auf. In die andere Richtung lag Wald, der sich bis zum Horizont erstreckte.
Sein Leibeigener stapfte durch Matsch auf eine strohgedeckte Hütte zu, von deren Wänden Lehm bröckelte. Dahinter lag ein Stoppelfeld und eine halb zusammengesunkene Scheune. Das war eine besonders erbärmliche Hütte, kein Wunder, dass die ihrem Nachbarn jede Ernte missgönnten.
Der Leibeigene zögerte.
»Mach schon!«, sagte der Baron von seinem Sessel aus und der Rabe vor dem Haus des Bauern krächzte. Ängstlich sah der Leibeigene zurück, zum Raben, der auf dem Sattelknauf hockte, und klopfte dann gegen die Tür. Das Stroh ragte über den Dachrand und an der Kante hingen dicke Tropfen.
»Wer da?«, kam aus dem Inneren der Hütte.
»Bist du Erhardt?«, fragte der Leibeigene.
»Verschwinde!«
»Ich will wissen, wo die Hexe ist. Ich entlohne dich auch für die Information.«
Die Tür ging nach innen auf. Ein dürrer Mann mit krausem Haar erschien.
Misstrauisch musste er den Leibeigenen. »Wie viel?«
»Einen Pfennig«, sagte Erhardt.
»Zwei!«, sagte der Mann und Erhardt streckte ihm zwei Münzen hin. Der nahm sie und zeigte hinter sich, Richtung Wald. »Da.«
»Flieg!«, sagte der Baron und der Rabe flatterte.
Der Wald lag nicht weit entfernt, direkt am Rand stand ein langes, breites Holzhaus, daneben eine Scheune. Beide waren ordentlich und gepflegt, es gab einen Gemüsegarten und eine Obstwiese.
Der Baron flog über die Äcker. Ein Knabe kam aus dem Haus gerannt, er konnte nicht mehr als zehn Jahre alt sein, und rannte mit gespreizten Armen Richtung Wald. Ein kleines Mädchen folgte, holte ihn ein und verpasste ihm einen Schlag auf die Schulter. »Du bist!«
Sie rannte wie der Teufel zum Waldrand, der Junge hinterher. Der Baron zog einen großen Kreis und setzte sich auf einen Baum neben dem Eingang.
»Geht nicht zu tief in den Wald!«, rief ein Mann mit Oberlippenbart den Kindern zu. Er war eben aus der Hütte gekommen. Er hatte eine Schaufel bei sich und war auf dem Weg in den Gemüsegarten.
Die Kinder hörten nicht auf ihren Vater, schon einen Moment später waren sie zwischen den Bäumen verschwunden. Eine Frau kam aus der Scheune. Sie trug einen Milcheimer und hatte die Haare zu einem Zopf geflochten. Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Der Baron hob wieder ab und flog näher heran: Es war die Frau vom Marktplatz, Hedda. Sie war um keinen Tag gealtert.
»Endlich!«, sagte der Baron laut.
Er betrachtete sie eingehend, konnte aber den Splitter nirgends finden. Sie musste ihn bei sich haben, aber sie trug einen Wollumhang mit zahllosen Taschen über ihrem Kittel, er konnte überall sein.
Sie stellte die Kanne ab und beobachtete den Raben verträumt dabei, wie er seine Runden drehte.
»Hedda«, sagte der Mann vom Garten aus. »Siehst du nach den Kindern? Sie sind in den Wald gelaufen.«
»Mach ich.« Hedda lief zum Waldrand. »Ulrich! Veronika! Kommt zurück!« Nichts tat sich und sie ging ihren Kindern hinterher.
»Folge ihr!«, sagte der Baron. Er spürte, wie der Rabe den Befehl in sich aufnahm, bevor er die Kontrolle an das Tier zurückgab.
Der Baron öffnete die Augen und sah auf den Kamin. Zahllose tote Augenpaare starrten zurück.
Er sprang auf, ihm wurde schwindelig. Er knickte ein und landete auf den Knien. Die Gelenke knackten, ein Schmerz flammte auf, als hätte er Sand darin.
Er kam immer schlechter mit den Auswirkungen seiner Fähigkeiten zurecht. Er richtete sich langsam auf, der Boden unter ihm blieb wacklig. Eine beruhigende Ohrfeige später, schleppte er sich zur Tür.
Seine Lider waren schwer, aber er konnte sich jetzt keine Pause erlauben und rannte zu den Ställen.
Stalljungen kratzten Pferdemist vom Boden. Mit brennenden Lungen stützte sich der Baron am Türrahmen ab.
»Holt euch Messer und Schwerter!«, wollte er brüllen, bekam aber nicht mehr als ein heißeres Krachen heraus.
Seine Leibeigenen starrten ihn an.
»Auf die Pferde!« Dieses Mal klang er laut und deutlich.
1
Die Straßenlaternen warfen nur ein schwaches Licht auf die Gehwege. Der Mittelstreifen raste diffus unter ihm hinweg, die Häuser an ihm vorbei.
Hatte er das Licht an? Nein! Er betätigte den Schalter. Die Scheinwerfer sprangen an, im Lichtkegel warf sich ein Marder herum. Er riss das Lenkrad zur Seite, das Auto scherte aus und polterte über den Gehsteig.
Er trat in die Eisen. Vor ihm tauchte ein Junge auf, dessen blonde Haare im Scheinwerferlicht glänzten. In seiner Hand hielt er eine rote Hundeleine. Eugen riss das Lenkrad herum. Etwas schlug von vorn gegen das Auto und polterte gegen den Radkasten.
Der Wagen kam zum Stehen. Sein Herz schlug wie wahnsinnig. Er stand in einem Vorgarten, im Licht der Scheinwerfer war ein Rasen und ein Stück der Hauswand zu erkennen.
Die Gangschaltung klackte, als er hektisch den Rückwärtsgang einlegte. Er gab Gas. Der Motor heulte auf. Er kam nicht vom Fleck. Er trat das Pedal weiter durch und das Auto machte einen Satz nach hinten.
Warum hast du das getan?, fragte jemand direkt neben ihm. Das Auto schoss auf den Asphalt und er schlug die Augen auf.
Er saß in seinem Bett. Durch das Dachfenster schien die Sonne herein. Er hatte geträumt.
»Dem Jungen geht es gut«, sagte er laut.
Ein Rabe landete auf dem Fenster, die Krallen klickten auf dem Glas, dann flog er wieder davon.
»Eugen?«, rief seine Frau von unten herauf.
»Ja?«
»Gut, du bist wach. Wir haben fast neun.«
Eugen stand hastig auf und rief: »Danke!« Er musste packen, sein Flieger würde in dreiundzwanzig Stunden abheben. Er schlüpfte aus dem nass geschwitzten Shirt, ihm fiel der Traum wieder ein. Schuldgefühle überkamen ihn.
»Dem Jungen geht es gut«, murmelte er. Er hätte jetzt einen Schluck vertragen können, aber seit dem letzten waren zwei Jahre vergangen und er wollte kurz nach seinem Vierunddreißigsten nicht wieder damit anfangen.
Er ging ins Bad, warf sich Wasser ins Gesicht, schmierte Zahnpasta auf die Bürste und putzte sich im Türrahmen die Zähne. Die Schlafzimmertür war angelehnt, vom Nachttisch lachten ihm von einem Familienfoto Susanne und seine Tochter Mary entgegen. Er ging zurück ans Waschbecken, spülte sich den Mund aus und holte den alten Lederkoffer aus dem Kleiderschrank. Er schlug ihn wie ein Buch auf dem Ehebett auf.
Was brauchte er alles für zwei Monate Kanada? Es war April und Pullover waren sicher angebracht. Er holte den Stapel Pullis, auf den er am Abend die Tickets gelegt hatte – damit er sie garantiert nicht vergessen würde –, eilte zurück zum Bett und blieb dabei mit dem kleinen Zeh an der Bettkante hängen.
»Scheiße«, raunte er, hielt die Luft an und warf die Pullis weg. Er ließ sich vor dem Bett nieder und wartete darauf, dass der Schmerz abklang.
Als sich der Zeh wieder normal anfühlte, schielte er auf die Tickets zu seinen Füßen. Sie würden ihn von Frankfurt nach Seattle im Westen der USA und von dort mit einer Privatmaschine nach Wrigley, in den Ausläufern der Rocky Mountains, bringen. Wie er von dort zur Ausgrabung gelangen würde, wusste er noch nicht, aber Callahan hatte ihm geschrieben, dass in Wrigley jemand auf ihn warten würde. Alles in allem war das eine Reise von mehr als 24 Stunden.
Das Familienfoto kippte vom Nachttisch neben ihm auf den Dielenboden. Eugen sprang auf. Hinter seiner Brust polterte sein Herz, er hatte das deutliche Gefühl, dass noch jemand im Raum war.
Er sah sich um, aber er war allein. Er knipste das Deckenlicht an, doch der Raum wurde nicht heller, solange das Licht der Sonne durch das Fenster fiel. Er sah ins Bad und unters Bett. Da war niemand.
»Dem Jungen geht es gut«, flüsterte er sein persönliches Mantra und hob das umgefallene Bild auf. Er betrachtete Mary, die ihn durch das zersprungene Glas anlächelte. Seine Augen begannen zu brennen. Was habe ich mir nur gedacht? Zwei Monate werden wir uns nicht sehen, und alles nur, damit ich in der tiefsten Einöde Kanadas nach uralten Eidechsen graben kann.
Er seufzte.
Susanne tauchte in der Tür auf. Sie betrachtete das Krisengebiet, als wäre das Gepäckstück explodiert. »Die Klamotten gehören in den Koffer, nicht drumherum.«
»Ich kann nicht fliegen, Susanne«, sagte er nach längerem Schweigen.
Susanne nahm ihm den Bilderrahmen aus den Händen. »Mach dir keine Sorgen.«
»Du und Mary, ich kann doch nicht und …« Das alles hatten sie in den letzten Monaten bereits mehrmals durchgesprochen. Mary und Susanne würden auch ohne ihn zurechtkommen. Susanne hatte im letzten Jahr extra keinen Urlaub genommen, um die vollen zwei Monate, die er fort war, zu Hause bleiben zu können. Außerdem ging Mary bereits in die zweite Klasse.
»Du kannst«, sagte sie. »Wir warten hier auf dich. Die brauchen dich doch. Woher sollen die sonst wissen, wo sie graben sollen, wenn du es ihnen nicht sagst?«
»Ha-ha.«
Sie stellte das Bild auf den Nachttisch, dabei fiel der zerbrochene Rahmen heraus. »Außerdem sind dein Eimerchen und Schippchen schon gelandet. Du siehst also, du musst.«
Der Finanzier der größten Ausgrabung seit zehn Jahren, ein amerikanischer Milliardär namens Jeremia Callahan, bereitete die Ausgrabungsstätte bereits seit Monaten vor und hatte klar gemacht, dass er keine Verzögerungen dulden würde.
Er hob den Kopf. Sie grinste ihn an. Es war so herzlich, dass er nicht anders konnte, als ebenfalls zu lächeln. Sie trat zu ihm, drückte ihm einen Kuss auf die Nase und den nächsten auf den Mund, den er erwiderte.
»Ich wüsste auch nicht, wie ich meinem Liebhaber jetzt noch –«
»Oh, das hast du nicht gesagt!«, unterbrach er Susanne. Eugen fuhr ihr mit den Händen unter die Achseln und kitzelte sie. Susanne kreischte überrascht auf und lief rot an.
»Gnade! Gnade! Gnade!«, schrie sie, immer wieder von Lachen unterbrochen.
»Sag schon, wer ist es? Enrico? Julio? Oder der dicke Metzger neben der Bücherei? Der mit dir in einer Klasse war?«
Sie hielt abrupt inne, er hörte auf, sie zu kitzeln, eine Träne kullerte ihr über die Wange. Sie zog die Brauen zusammen. »Du meinst Karlo?«
Er nickte.
»Du –« Doch weiter kam sie nicht. Er kitzelte sie wieder. Sie kippte auf die Seite, er kletterte über sie und kitzelte im Wechsel Bauch und Achseln. Sie schrie und lachte gleichzeitig.
Eugen brachte sie mit einem ausgedehnten Zungenkuss zum Schweigen. Mary war noch in der Schule und würde in den nächsten drei Stunden Textaufgaben lösen und die Zehn Gebote lernen, er und Susanne hatten also Zeit, sich mit Erwachsenenkram zu vergnügen.
Susanne lag auf dem Boden, ihren Kopf auf die zusammengeknäulte Jeans gebettet, die sie vor zwanzig Minuten noch getragen hatte, ihr Blick ging zur Decke. Das Kondom lag hinter ihr auf dem Nachttisch, in ein Taschentuch gewickelt.
Eugen saß im Schneidersitz vor ihr. Sie war so heiß wie am ersten Tag. Ihre Brustwarzen drückten durch das grüne Oberteil. Er wollte sie gleich noch mal und sie im Anschluss niemals wieder loslassen.
»Ich werde dich ganz schön vermissen«, sagte er.
»Ich dich auch.« Sie lächelte schief und warf einen Blick zwischen seine Schenkel. Sein bestes Stück war wieder einsatzbereit.
»Was ist mit Enrico? Dachte, du freust dich schon auf seinen Besuch«, sagte Eugen, beugte sich vor und streichelte ihren Oberarm.
»Der ist nicht so gut, und ich versteh ihn auch nicht immer. Da müsste man doch meinen, dass so ein ausgedachter Immigrant nach zwanzig Jahren imaginärer Poolreinigung unsere Sprache können müsste. Aber, was soll ich dir sagen? Kein Wort.«
Sie streckte die Zunge raus und biss verführerisch darauf. Ihre Hand wanderte zwischen seine Beine. Sie würden sich zwei Monate nicht sehen, keine Küsse, keine Umarmungen, kein Sex. Er beugte sich vor, liebkoste ihren Hals und drang wenig später wieder in sie ein.
Keuchend ließen sie voneinander ab.
»Ich sag Enrico ab«, prustete Susanne. Ihre Haut schimmerte rötlich von der Anstrengung, ebenso ihre Wangen. Schweißperlen hatten sich an der Stelle gesammelt, an der die Schlüsselbeine zusammenliefen.
Eugen holte eine Schachtel Taschentücher vom Nachttisch und achtete darauf, den zerbrochenen Rahmen nicht zu berühren. Susanne zupfte zwei Tücher heraus und drückte sie sich zwischen die Beine. Er knotete das Kondom zu und legte es zu dem anderen.
»Noch eine Runde schaff ich aber nicht«, sagte er. Susanne lächelte so breit, dass ihre Backenzähne hervorblitzten. Eugen stieg in seine Boxershorts und legte sich neben sie.
»Ich bin mir wirklich nicht sicher.« Er holte Luft, aber bevor er weitersprechen konnte, übernahm Susanne das Wort.
»Seit wir uns kennen, träumst du davon, deinen Teil zum Wissen der Menschheit beizutragen, eine Entdeckung zu machen, etwas wirklich Wichtiges zu tun. Ich meine, du sprichst quasi von nichts anderem. Das ist deine Chance!«
Es hatte vielversprechend geklungen, was Eugens Chef am Senckenberg Museum ihm vor zwölf Monaten erzählt hatte. In den kanadischen Nordwest-Territorien hatten sie das vollständige Skelett eines Patagotitan mayorum gefunden, das eines Jungtiers, oder wie Susanne ihn nannte: einen großen Langhalsdinosaurier. Der Fund hatte unter Paläontologen für großes Aufsehen gesorgt. Und nun würden sie dort weitergraben, die Hoffnung war, dass sie noch mehr fanden.
»Vielleicht stehst du mal in einem Geschichtsbuch. Als Entdecker eines wichtigen Knochens, wegen dem alles hinterfragt wurde, und all so was.«
Eugen gefiel die Vorstellung, seinen Namen in einem der Lehrbücher zu lesen, mit denen er selbst so viel Zeit verbracht hatte, auch wenn ihm klar war, dass das unwahrscheinlicher war, als auf dem Mars einen lebenden Ichthyosaurus zu finden.
In seiner Fantasie stand er auf einem vergilbten Schwarzweißbild vor einer Ausgrabungsstätte, so wie seine Helden: Professor Edward Drinker Cope, der mehr als tausend verschiedene Arten verstorbener Wirbeltiere beschrieben hatte, und Mary Anning, die das erste vollständige Skelett eines Ichthyosaurus gefunden hatte. Im 19. Jahrhundert waren Paläontologen Rockstars gewesen. Heute wurden sie eher mit unliebsamen Nerds gleichgesetzt, wobei Ross Geller aus der Serie Friends wohl noch der sympathischste unter ihnen war.
Er rollte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf auf die Hand. Susanne lächelte ihn an, dieser Blick ging ihm durch Mark und Bein. In diesen tiefen braunen Augen lag so viel Freude und Leben. Er war glücklich gewesen, als er dieselben Augen bei seiner Tochter wiedergefunden hatte.
»Ich liebe dich.« Er wollte nicht gehen, das spürte er jetzt deutlicher denn je. Was er zurücklassen würde, sie und seine Tochter, waren ihm um so vieles wichtiger als der Erfolg.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie und blinzelte die Tränen weg. »Du wirst mir fehlen.«
»Du mir auch.« Sie umarmten einander.
Sie setzte sich auf und machte eine ausladende Bewegung, die den ganzen Raum einschloss. »Jetzt aber genug! Ich geh duschen, du packst zusammen. Mal ehrlich, wie konnte das passieren?« Sie zeigte auf den Nachttisch. »Und was ist mit dem Bild da passiert?«
»Ist runtergefallen«, sagte Eugen.
Susanne rollte mit den Augen. »Egal. Ich kauf einen neuen Rahmen, bis du wieder da bist.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand ins Bad. Eugen holte tief Luft und öffnete das Dachfenster über dem Bett. Eine Brise Frühlingsluft strich ihm über das Gesicht.
Eine Stunde später, Susanne war bereits unten, um das Mittagessen zu kochen, trug er den gepackten Koffer und eine Reisetasche die Steinstufen herunter. Er blieb auf der letzten stehen und beobachtete Susanne in der Küche. Sie stand an der Kochinsel und rührte mit dem Holzlöffel im Topf. Der Duft von Tomatensoße und Basilikum stieg ihm in die Nase. Sie drehte sich weg, nahm aus den Hängeschränken ein paar Teller und stellte sie auf den runden Holztisch vor dem Fenster.
Sein Magen knurrte. Zwei Monate würde er auf die selbstgemachte Pasta seiner Frau verzichten müssen, eine unlösbare Aufgabe, wie ihm schien. Allerdings warteten auf der anderen Seite des dunklen Tunnels der Abstinenz selbstgemachte Pasta, Sex und vielleicht Erfolg auf ihn. Außerdem brachte die Forschungsreise ein nettes Sümmchen, von dem sie sich ein neues Auto kaufen konnten.
Er stellte Koffer und Reisetasche in den Flur. Es war elf Uhr dreißig, Mary sollte bereits auf dem Heimweg sein. Er würde ihr entgegengehen.
Er ging ins Wohnzimmer, um seinen Geldbeutel zu holen. Hinter einer großen Glasfront war der kleine Garten, der nur aus Wiese bestand, weil keiner von beiden einen grünen Daumen hatte.
Der Geldbeutel lag auf dem klapprigen Couchtisch, den sie genauso wie das dunkelbraune Ledersofa und die zwei Sessel von Susannes Eltern geerbt hatten. Beim Rausgehen warf er einen Blick auf das Bücherregal, es war voller Konsaliks – Susanne war ein Riesenfan – und Lehrbücher über geologische Kartierung und phylogenetische Analyse. Bei einem der Regale hatte Susanne zwei Böden rausgenommen und in die freie Stelle den Fernseher installiert. Er seufzte. Er würde alles vermissen, seine Frau, sein Kind und sein Zuhause.
Er steckte den Geldbeutel ein und ging in die Küche. Dort legte er Susanne seine Hände von hinten auf die Hüften. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust, ohne damit aufzuhören, in der Soße zu rühren. Ihr Haar duftete nach Pfirsich und Sommer.
»Weißt du, welcher Tag heute ist?«, fragte sie.
Eugen dachte darüber nach. »Nein, welcher?«
»Heute vor sieben Jahren hast du mich gefragt, ob ich deine Frau werden will.«
»Worauf du mit: ›Scheiße! Ja!‹ geantwortet hast.«
»Damals hast du noch getrunken.«
Er schluckte trocken.
»Aber ich hab dich so sehr geliebt wie heute und ich wusste, dass du eines Tages den Absprung schaffst.« Sie klopfte den Holzlöffel ab, legte ihn auf den Topfrand und umarmte ihn. »Komm bitte heil wieder.« Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Pullover. »Bitte«, murmelte sie.
Er küsste ihren Scheitel. »Natürlich. Mir passiert schon nichts.«
Sie nickte, als wäre alles damit gesagt. »Gut.« Dann widmete sie sich wieder dem Kochtopf.
»Das duftet herrlich«, sagte Eugen.
»Seit fünf Tagen essen wir Nudeln mit Tomatensoße und –”
»Ich könnte sie noch fünf weitere vertragen.«
Sie seufzte und stellte einen Topf mit Wasser auf.
»Ich geh Mary entgegen.« Er ging in den Flur und nahm den Haustürschlüssel vom Schlüsselbrett.
»Aber trödelt nicht so, die Nudeln sind gleich fertig.«
»Aye, aye.« Er schlüpfte in die Turnschuhe und zog die Haustür hinter sich zu. Die letzten Tage waren für einen Frühling besonders kalt gewesen, aber heute war es mild. Am Himmel zogen dunkle Wolken vorüber, verdunkelten die Sonne und verschwanden wieder.
Er stieg die eine Stufe hinab. Die älteren Nachbarn standen wie gewöhnlich seit dem Morgen in ihren Vorgärten. Susanne witzelte manchmal, dass die Ausgedienten immer noch von der Stechuhr kontrolliert wurden. »Rente hin oder her, wenn man sein Leben lang um sechs Uhr aufgestanden ist, um zur Arbeit zu trotten, legt man das nicht so einfach ab.«
Jetzt standen die Damen und Herren des älteren Semesters eben um sechs Uhr vor ihrer Haustür und warteten darauf, dass ein Unkraut aus der Erde wuchs, um es gleich im Ansatz ausreißen zu können. Bis das geschah, kehrten sie die Straße und unterhielten sich, bis sie zum Mittagessen reingingen – man konnte die Uhr danach stellen. Knapp drei Stunden später kamen die ersten der arbeitenden Gesellschaft heim, um die eigenen Vorgärten zu prüfen.
»Morgen, Herr Breier«, rief der Nachbar von gegenüber. Er kniete zwischen weißen Blüten. »Tolles Wetter, oder?«
Eugen hob die Hand zum Gruß und wollte schnell weiter, ehe ihm die Labertasche noch ein Gespräch aufzwingen konnte. »Tolle Blumen, Herr Baldig. Ich muss leider gleich weiter.«
»Convallaria majalis, Herr Breier, das gemeine Maiglöckchen.«
Aha, ganz toll, dachte Eugen und wollte weitergehen, als ihn die Nachbarin von der anderen Straßenseite begrüßte.
»Morgen«, rief sie mit einer dampfenden Tasse in der Hand und stieg die Stufen herab. »Fantastisches Wetter zum Jäten, was?« Mit der Aussage sicherte sie sich die allgemeine Zustimmung der Straße, überall wurde genickt.
Sie schlenderte zu ihrer Garage und kam mit dem Besen wieder heraus.
»Das würde Ihrem Gehsteig auch guttun«, rief ein anderer Eugen zu.
»Da haben Sie recht.« Wenn er nur jedes Mal einen Cent bekam, wenn ihn einer der Nachbarn auf seinen Vorgarten oder den Gehweg ansprach, dann hätte er statt seiner Schrottkarre einen Rolls-Royce in der Einfahrt stehen. »Aber ich muss los«, sagte er und wandte sich schnell ab. »Mary holen. Bis dann.«
Er eilte am Haus der Nachbarin vorbei, sie war inzwischen herausgekommen und kehrte hinter ihm her, als hätte er Dreck hinterlassen. Eigentlich musste er weiter geradeaus, aber da warteten noch mehr Rentner. Und irgendeiner würde sicher auf die Idee kommen, ihn zu fragen, ob er sich schon gewaschen hatte. Das war der Humor hier.
Also bog er links in einen Kiesweg ab. Die Steinchen knirschten unter seinen Schuhen. Eine Taube gurrte von einem der Dächer. Die Worte seiner Frau klangen in ihm nach. »Damals hast du noch getrunken.« Er dachte nicht gerne an die Zeit und wurde auch nicht gerne an sie erinnert.
An dem Abend, als er das letzte Mal betrunken gewesen war, hatte Susanne die Nachtschicht bei ihrem frisch operierten Vater übernommen. Eugen machte es sich derweil vor dem Fernseher auf dem Sofa gemütlich, aber gegen Mitternacht ging ihm das Bier aus. Die nächste Tankstelle, die rund um die Uhr geöffnet hatte, war zehn Minuten Fußweg entfernt. Ein Weg, den er in seinem Zustand nicht mehr bewältigen wollte, also legte er sich ins Bett.
Doch sein Kopf hatte ihn gefoltert. Seine Gedanken kreisten um eine Dose eiskaltes Königsbräu, ein regionales Bier, das nicht für Qualität, sondern für Quantität bekannt war. Ein Liter kostete gerade mal so viel wie ein halber von anderen Herstellern. Er versuchte, sich abzulenken, aber je mehr er an etwas anderes denken wollte, desto lauter schrie das Bier nach ihm. Bis er wieder aufstand, eine Hose überzog und den Autoschlüssel nahm. Er setzte sich hinter das Steuer und zog die Tür zu. Der letzte Rest Vernunft schlug mit der Faust auf den Tisch: Wenn er schon besoffen Auto fahren müsse – und das musste er, er brauchte dringend ein Bier –, dann solle er wenigstens den Gurt anlegen.
Er hatte sich angeschnallt.
Jetzt überquerte Eugen die Straße Richtung Grundschule. Die Vögel zwitscherten, auf beiden Straßenseiten blühten Pflaumenbäume zartrosa und weiß. Er hätte damals im Bett bleiben, den verdammten Schlüssel liegen lassen sollen und vor allem hätte er nie in das Auto steigen dürfen.
Ein kleiner Junge mit Schulranzen kam freudestrahlend auf ihn zu. »Hallo, Herr Breier.«
»Hey Tim! Hast du Mary gesehen?«
»Ja, die ist noch weiter hinter mir, bin gerannt, weil ich doch heute mit meinem Papa in den Zoo fahre. Da gibt es Elefanten und Trinozerposse.«
Eugen dachte kurz darüber nach, was wohl ein Trinozerposs war, verwarf die Frage aber, weil Tim schon an ihm vorbeigelaufen war. »Tschüss, Herr Breier, ich muss jetzt in den Zoo!«
»Mach’s gut. Grüß mir deine Eltern.«
Tim sah zu ihm, ohne stehen zu bleiben und hob den Daumen. Beinahe wäre er gegen eine Straßenlaterne gerannt, er wich im letzten Moment aus und legte noch einen Zahn zu.
Eugen hörte bereits die ersten Autos, die zu schnell über die Hauptstraße donnerten. Plötzlich brüllte jemand, es klang aggressiv und unverständlich. Er erreichte das Ende der Straße und bog auf die Hauptstraße ein.
Die Straße rauf war der Marktplatz mit seinen alten, schilfgedeckten Häusern. Hundert Meter weiter lag eine Bäckerei, davor stand ein Mann und keifte seine Tochter Mary an. Hinter ihm stand ein blauer Sportwagen, die Beifahrertür war geöffnet. Der Mann hatte sich vorgebeugt und die Faust erhoben, so als wollte er zuschlagen.
Eugen rannte. Ihm rauschte das Blut in den Ohren. Mary weinte.
»Hey, Sie da!«, brüllte Eugen, so laut er konnte.
Der Mann sah zu ihm, ohne sich von seiner Tochter zu entfernen. Er hatte eine Glatze.
»Gehen Sie von meiner Tochter weg!« Gleich würde er da sein. Ein älterer Herr mit Schiebermütze schob sich hinter den beiden vorbei und betrat unbeteiligt den Bäckerladen, als würde nicht gerade ein kleines Mädchen auf offener Straße von einem Glatzkopf bedroht werden.
»Die Schlampe gehört zu dir?«, keifte der Glatzkopf zurück. Schlitternd kam Eugen neben Mary zum Stehen. Dem Glatzkopf traten die Adern aus der Stirn, die Nackenmuskeln reichten ihm bis zum Kinn. Erst aus der Nähe bemerkte Eugen das Hakenkreuztattoo an seinem Hals.
Das war der Entbeiner. So nannten ihn hier alle. Angeblich sollte er früher im Schlachthaus die Knochen aus den Rindern geschnitten haben. Er trug eine gewaltige Kugel vor sich her, die aber keineswegs nur aus Fett bestand, ganz im Gegenteil, der Mann war bekannt dafür, dass er seinen Straßenjungs selbst das Kämpfen beibrachte.
»Lassen Sie meine Tochter in Ruhe!« Der Entbeiner hob eine Braue und richtete sich nun doch auf.
»Was hast du gesagt?«, fragte er fast im Plauderton und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wiederhol das noch mal!«
Eugen schob Mary hinter sich, die vor Schreck aufgehört hatte zu weinen. Er starrte dem Entbeiner in die Augen, etwas in ihm zwang ihn dazu, nicht zu blinzeln oder wegzusehen.
»Nigger, wiederhol das noch mal!«
Eugens Hände waren schweißnass.
»W-was ist de-denn passiert?«, stammelte er. Ihm wummerte das Herz bis zum Hals.
Der Entbeiner schob seine Faust hinter den Rücken und holte sie wieder hervor. Er bewegte den Daumen. Eine polierte Klinge sprang hervor, daran klebte Blut, nasses Blut.
Er deutete mit dem Messer auf seinen Bauch.
»Mary«, sagte er, ohne wegzusehen. »Du rennst jetzt nach Hause. Hast du verstanden? Los jetzt!«
Sie blieb wie festgeschraubt hinter ihm stehen.
»Mary! Sofort!« Er spürte, wie sie sich loseiste, dann entfernte sich das Geräusch ihrer Schritte.
Über ihm befand sich ein Flugzeug im Sinkflug auf Frankfurt. Der blaue Sportwagen des Entbeiners glänzte frisch poliert, auf der Straße dahinter rauschten die Autos entlang.
»Was hast du gesagt?«, wiederholte der Entbeiner.
»Es tu–”
Er hob die Lefzen und Eugen trat einen halben Schritt zurück. Der Entbeiner folgte ihm. In der Autoscheibe spiegelte sich, wie sich die Omis und Opis hinter dem Schaufenster der Bäckerei sammelten. Ein Auto bremste, die Fahrerin nahm Blickkontakt zu ihm auf. Dann erkannte sie den Entbeiner. Das Klacken einer abschließenden Zentralverriegelung drang zu ihm, die Frau gab Gas und fuhr davon. Ein Teenager wechselte die Straßenseite.
Keiner von ihnen würde die Polizei rufen oder eingreifen.
Er war auf sich gestellt.
»Hat der Nigger Schiss? Ja, der Nigger hat Schiss! Pass mal auf.« Der Entbeiner zerschnitt mit dem Messer die Luft vor seiner Nase, Eugens Blick folgte seinen Bewegungen. Er fragte sich, woher das Blut kam. »Nigger, damit schäl ich dich, dann mach ich eine Lampe aus deiner Haut, wie in den guten alten Zeiten!«
Die Klinge sauste auf ihn zu. Eugen wich aus, doch von der anderen Seite erwischte ihn die Faust des Entbeiners.
Eugens Kopf schleuderte zur Seite, sein Körper folgte. Er fiel, streckte den Arm aus, um sich abzufangen, und landete auf der Schulter. Im Unterarm knackte es. Die Stelle wurde kalt. Er zog automatisch den Arm und die Beine an, doch es nützte nichts. Der Entbeiner trat ihm in den Bauch, gegen die schützenden Knie. Eugen spürte nur die Erschütterung, aber keinen Schmerz.
Jemand packte ihn am Handgelenk, riss seinen Arm hoch und plötzlich prallte eine Faust so hart wie Stein gegen seinen Kopf. Es fühlte sich an, als sei sein Schädel explodiert. Er bekam sofort Kopfschmerzen.
Der Boden unter ihm war auf einmal weich, es fühlte sich an, als würde er darauf herumrollen. Er wollte um Hilfe schreien, doch der Schrei erstickte, als ihm jemand in den Bauch trat. Er sah Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln auf sich zurasen, dann begann der Schmerz.
Er würgte.
Das Gesicht des Entbeiners erschien vor ihm und er sagte in freundlichem Plauderton: »Wenn ich deine Tochter finde, dann vergewaltige ich sie.«
Eugen sah auf. Der Entbeiner stieg in den Sportwagen, warf die Beifahrertür zu und fuhr davon. Gleich darauf bog er in die Straße mit den Pflaumenbäumen ein.
Die ältere Generation stand noch immer im Schaufenster. Eine faltige Frau mit Kopftuch umklammerte mit ihrer weißen Hand das Kruzifix um ihren Hals. Sie alle starrten ihn an, rührten sich aber nicht. Erst als er sich aufrichtete, drehten sie sich zur Theke um.
Das war Moorbach. Hier kochte jeder sein eigenes Süppchen und niemand mischte sich in die Angelegenheiten anderer ein, ganz besonders nicht in seine. Sie behandelten ihn wie Luft und fuhren mit ihrem Alltag fort, als wäre nichts geschehen.
Eugens Arm pochte, sein Bauch brannte, sicher würde er sich gleich übergeben. Vor seinem linken Auge zuckten Blitze entlang und sein Kopf schmerzte, als hätte ihn jemand gespalten.
Sein Pullover war an der Seite aufgerissen und am Unterarm bildete sich eine Schwellung. Gebrochen, na toll, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er griff an die Stelle, doch sofort raste ein Schmerz den Arm rauf und er zog zischend die Luft ein.
Nicht weit von ihm saß ein Rabe auf dem Bürgersteig und betrachtete ihn neugierig. Eugen machte ein paar unsichere Schritte, der Rabe schwang sich in die Luft und verschwand.
Eugen stand auf. Er musste zu Mary. Der Entbeiner war in die Straße abgebogen, die zu seinem Haus führte, dort, wohin Mary geflüchtet war.
Der wolkenverhangene Himmel blendete so sehr, dass er seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammenpressen musste. Er schob einen Fuß über die Pflastersteine. Der feine Sand darauf schabte an der Schuhsohle. Der Schmerz in seinem Bauch flammte auf, als er das Gewicht auf die Ferse verlagerte. Doch er musste weiter.
Der Gehweg unter seinen zittrigen Füßen blieb weich wie nasses Moos. Es kostete ihn viel Mühe, nicht zur Seite zu kippen. Er schleppte sich bis zur Kreuzung und bog ab. Da kam ihm Susanne entgegen.
»Oh Gott«, flüsterte sie. Sie machte Anstalten ihn zu stützen. Er wich ihr aus.
»Wo ist Mary?«, fragte er, obwohl die Antwort offensichtlich war. »Geht’s ihr gut?«
»Im Haus. Was ist passiert?« Susanne reichte ihm ein Taschentuch. »Deine Nase.«
Er griff sich an die Nase. Seine Hände, sie waren voller Blut. Jetzt spürte er, wie es über seinem Mund pulsierte.
»Brauchst du einen Arzt?«
Eugen nickte. Er drückte sich das Taschentuch auf die Nase. Schmerz schoss ihm ins Gehirn. »Mein Arm ist gebrochen. Und ich brauch was gegen Kopfschmerzen.«
Sie liefen gemeinsam zurück und er erzählte ihr, was passiert war. Als sie in ihre Straße kamen, schlichen die Nachbarn in ihre Häuser.
»Papa!« Mary kam aus dem Haus, sie wäre beinahe die Stufe runter gestolpert. Sie schlang ihre Arme um Eugens Hüfte und drückte den Kopf an die Stelle, wo ihn der Springerstiefel erwischt hatte. Er rang nach Atem und hätte sich beinahe neben ihr auf den Gartenweg übergeben. Susanne lief ins Haus. Mary und Eugen folgten ihr langsam.
»Warum hat der Mann dich ›Nigger‹ genannt?«, fragte Mary. Er zog die Tür hinter sich zu und kniete sich vor ihr hin. Das Taschentuch war vollgeblutet, sein Bauch fühlte sich an, als würde darin Kohle brennen.
»Hat er dich geschlagen?«, fragte er.
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Ich wollte schnell heim und bin gerannt und hab die Arme ausgestreckt, weiß du? Wie ein Flugzeug. Dabei hab ich das Auto gehauen, und weil ich gucken wollte, ob da was kaputt ist, bin ich drum rumgegangen, aber da war alles heil, und ich wollte gehen und da war der dann und hat ganz böse Wörter gesagt.«
Sie starrte ihn an, Tränen rannen ihr aus den Augen. »Papa, du blutest!«
Er richtete das durchweichte Taschentuch und verstopfte die Nasenlöcher wieder. »Hört gleich auf.«
»Hat er dir wehgetan? Das wollte ich nicht. Der darf doch nicht jemanden wehtun, das ist wie die bösen Wörter, das darf man nicht.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Eugen. »Das ist nicht deine Schuld.«
Susanne erschien hinter ihr, der Autoschlüssel baumelte in ihrer Hand. »Wir fahren Papa ins Krankenhaus!«
Eugen schüttelte den Kopf. »Gehst du bitte in dein Zimmer?«, sagte er zu Mary.
Sie rührte sich nicht.
»Mama und Papa müssen kurz etwas besprechen, und später holen wir uns ein Eis.«
Mary wägte ab, was wichtiger war: bei Papa bleiben oder ein Eis. »Na gut«, sagte sie schließlich und trottete nach oben.
»Du musst in ein Krankenhaus«, flüsterte Susanne, als Mary in ihrem Zimmer verschwunden war.
»Nein. Geht schon.« Vor seinem Auge blitzte es wieder.
»Ich ruf einen Krankenwagen!«
»Aber … Nein! Du bist doch Krankenschwester. Kannst du nicht?«
»Dann eben Doktor Derham.« Sie hatte längst ihr Handy gezückt und wählte. Sonnenstrahlen fielen durch die Haustür hinter ihm, brachten ihre braunen Haare zum Schimmern, das sich zu einem Gleißen ausdehnte und sein Sichtfeld einnahm.
»Hi. Eugen wurde zusammengeschlagen und … Ja, Ja! Der Arm ist gebrochen. Du weißt doch, er geht nicht ins Krankenhaus, ja genau, er ist … Danke.« Sie legte auf.
»Er macht sich auf den Weg. Komm.« Sie half ihm hoch und dann ins Wohnzimmer.
2
Raffael folgte dem Gehweg durch die Plattenbausiedlung, links lagen sauber gemähte Wiesenstreifen und rechts war alles mit Autos vollgeparkt. Der Beton war wasserfleckig, die Bewohner mürrisch und menschenscheu.
»Warum kann es nicht einfach sein?«, murmelte er. Der verdammte Koffer war sauschwer. Er schob eine Hand in die Hosentasche und fühlte nach dem Taschentuch. Mit dem Daumen tastete er nach dem, was er darin eingewickelt hatte. Es fühlte sich gut an, die gewohnte Form war hart und fest unter seinen Fingerspitzen.
Einer der Väter hatte ihn am Rande von Berlin aus dem Auto geworfen – wobei Raffael die Eierkiste nicht als Auto bezeichnen würde –, und er hatte den Rest laufen müssen. So ein mieses Arschloch, dachte er. Da musste ich schon nach Frankfurt reisen, nur um die Meisterin dort zu beschwören und nicht hier in Berlin, und dann kann der nicht noch ein Stück weiterfahren und mich nach Hause bringen?
Er bog um die Ecke und erblickte das Quartier des Ordens auf der anderen Straßenseite. Es war ein altes Sandsteingebäude mit Säulen neben den Fenstern und einer Balustrade auf dem Dach. Es stand vermutlich schon seit Jahrhunderten hier, die Plattenbausiedlung war drum herumgewachsen und inzwischen fiel es nur noch auf, wenn man direkt davorstand.
Hier war Raffael aufgewachsen und lebte bis heute mit seinen Brüdern und Schwestern unter der Aufsicht der Väter. Geleitet wurde der Orden von den Dschinn, die den Takt vorgaben, sogar die Väter mussten machen, was sie ihnen sagten.
Er ging über die Straße, aber neumodische Eierkisten blockierten den Weg zum Gehsteig. Er quetschte sich zwischen Stoß- und Heckstange von zwei lächerlichen Kombis durch und stieg dann die sieben Stufen zum Eingang des Quartiers rauf.
Die Doppelflügeltür war geschlossen. An der Wand hing ein Nummernfeld, in das er den Zugangscode eingab. Er drückte auf Bestätigen, das Schloss summte und er trat ein. Hinter ihm glitt die Tür automatisch wieder zu.
Es gab einen Rums, dann klackte das Schloss. Es klang, als hätte jemand in einer Kathedrale ein Brett fallengelassen.
In der Halle standen die Statuen der heiligen Dschinn. Sie reichten bis zur Decke und waren in ihrer menschlichen Gestalt in Stein geschlagen, die sie nur annahmen, wenn sie beschworen worden waren.
Jemand betrat die Halle und nickte Raffael im Vorbeigehen zu. Es war einer der Brüder, er trug eine grüne Kutte und hatte das glatte Gesicht eines Neulings.
Raffael schüttelte den Kopf. Diese Schafe, alles Versager. Keiner von denen konnte ihm das Wasser reichen. Er ging an den ach so tollen Statuen vorbei und stieg die Treppe in den Keller hinab.
Sie führte in eine Halle, in der volle Weinfässer lagerten. Weiter vorne, im schummrigen Licht der Kerzen war ein Bruder, der Kerzen austauschte.
Raffael folgte den Fassreihen, gelegentlich führte ein Durchgang zwischen den Holzfässern zu einem weiteren Gang. Der Keller war ein Labyrinth, das er seit frühester Kindheit kannte.
Der Bruder blieb vor einer der Kerzen an der Wand stehen, machte sich lang, erstickte den Stummel mit einer Kerzenglocke und steckte eine frische Kerze in das heiße Wachs.
Was für ein Versager, dachte Raffael. Und so dumm wie alle anderen. Er durfte nur Kerzen austauschen, die anderen Brüder und Schwestern hatten ebensolche erniedrigenden Aufgaben, wie Essen kochen oder Wäsche waschen. Es gab sogar welche, die an der Waffe ausgebildet wurden, um den Orden zu verteidigen. Das war noch erbärmlicher als Kerzen auszutauschen, denn Soldaten riskierten ihren Arsch für Leute, die nicht mal ihren Namen kannten. Diese Dummköpfe!
Wie schön wäre es, wenn er jetzt einen Bruder auf seinem Tisch liegen hätte, aber Brüder und Schwestern durften nicht einfach so auf seinen Tisch. Um bei ihm zu landen, mussten sie schon mächtig in die Scheiße gegriffen haben.
Er öffnete ein Eisentor, um hindurchzugehen, als der Bruder hinter ihm rief: »Hau ab!«
Raffael konnte den Bruder nirgends sehen.
»Verpiss dich!«, hörte er ihn erneut brüllen. Es klang wütend, aber auch ängstlich.
Raffael schob seine Hand an den Rücken, der Eisengriff seines Messers war warm. Er konnte die Klinge am unteren Rücken spüren.
Er ging einige Schritte in Richtung der Stimme. Da stolperte der Bruder hinter einem Fass hervor, dicht gefolgt von einem Raben. Der Vogel flatterte und attackierte ihn mit den Krallen.
Raffael lachte und ging zurück zum Eisentor, während der Bruder noch immer mit dem Raben kämpfte. Sollte der sich doch allein darum kümmern, er konnte ja mit Kerzen werfen.
Es folgte ein langer Flur mit lilafarbenem Teppich. Neonröhren lösten hier die Romantik der Kerzen ab und am Ende des Flurs lag ein Großraumbüro.
Es war vollbesetzt, Telefone klingelten und Leute sprachen durcheinander. Sie waren auf der jahrhundertealten Suche nach Relikten für die Dschinn.
»Was für Versager.«
Raffael bog noch vor dem Büro ab und gelangte zu einer Glastür, die er hinter sich schloss. Dahinter lag ein kleiner Raum, die Wände und der Boden waren aus geschliffenem Standstein. Es gab keine Bilder und die Einrichtung bestand nur aus einem Sitzkissen und Teelichtern, die im Kreis um das Kissen aufgestellt waren.
Das war der Gebetsraum, hier beschwor er die Meisterin. Sie war ein Dschinn und konnte nur erscheinen, wenn er auf den Knien das Gebet sprach. Das sollte ihm erst mal jemand nachmachen, von all diesen Versagern!
Auf dem Steinboden lag ein Kissen, um das brennende Teelichter in einem Kreis aufgestellt waren. Er stellte den Koffer davor ab und nahm die Abyss heraus, eine zwanzig Zentimeter große Tonflasche mit dickem Bauch und einem langen, dünnen Hals. Der Bauch war mit einem purpurnen Opal verziert, um den herum Smaragde und Diamanten eingelassen waren.
Raffael band sich die langen Haare zu einem Zopf, kniete sich auf das Kissen und legte die Hände aufeinander. »Ich hasse dich«, sagte er zu der Abyss. »Aber jaja, bla, bla, ich gehe meiner Aufgabe nach.« Sie waren alle Versager, nur er konnte die Meisterin rufen. Er brauchte keine halbe Minute, während es die anderen nicht mal in einer Stunde schufen, wenn überhaupt. Aber er hasste diese Aufgabe, im Gegensatz zum Tisch. Leute auf seinem Tisch waren Entspannung.
Er schloss die Augen und verdrängte den schwachen Gedankenfluss aus seinem Bewusstsein. Das war sein Talent. Er konnte die stetig fließenden Erinnerungen und Fragen unterdrücken, die die innere Stimme am laufenden Band aufwarf, auch weil sie bei ihm weniger ein reißender Fluss als ein seichtes Dahintröpfeln waren. Von allen im Orden konnte er am schnellsten die höchste Phase der Meditation erreichen, die es zwingend benötigte, um einen der Dschinn zu rufen.
»Kari …«, begann er, in dem Moment krächzte ein Vogel.
Raffael öffnete die Augen. Draußen, vor der Glastür, hockte der Rabe.
»Scheiße!«, plärrte er. »Was macht das dumme Vieh hier? Wenn man nicht alles selbst macht! Erst musste ich laufen und jetzt muss ich mich auch noch um die Mistviecher kümmern!«
Er ging zur Tür. Der Rabe hüpfte ein Stück zurück.
Raffael hatte bereits nach der Klinke gegriffen, da tauchte jemand am Ende des Ganges auf. Er trug eine lilane Kutte und kam aus dem Büro.
Es war einer der Väter.
»Scheiße«, sagte Raffael. Er setzte sich rasch in den Kreis zurück. Der Rabe krächzte, Raffael schielte zur Tür, der Vater trat nach dem schwarzen Vogel. Schnell schloss er die Augen.
»Kari. Kar–«, begann er, da schwang die Tür auf. Raffael blieb mit geschlossenen Augen sitzen. Jetzt nur nicht bewegen.
»Sohn Raffael«, sagte der Mann.
Raffael öffnete die Augen und wandte sich ihm zu. »Vater.«
Der Vater streckte den Arm vor und eine Hand erschien. Raffael stand auf, nahm sie und küsste die Handinnenfläche.
»Ich habe einen Auftrag für dich. Pack deine Sachen, du gehst nach Kanada. Du wirst die Meisterin mitnehmen. Stärke sie zuerst, vor Ort wirst du sie weiter stärken und tun, was sie dir befiehlt.«
»Ja, Vater.«
»Bleib im Hintergrund und fall nicht auf. Ist das klar?«
»Ja, Vater.«
Der Mann wandte sich ab und verließ den Raum.
Raffael seufzte. Kanada! So eine Scheiße! Warum kann ich die Meisterin nicht von hier aus bei Laune halten? Ich mach doch so wieso den ganzen Tag nichts anderes, warum muss ich dann jetzt nach Kanada? Warum kann es nicht ein einziges Mal einfach sein? Scheiße!
3
Ein Motor summte. Lichtkegel schnitten durch die Dunkelheit, sie fielen auf Asphalt, auf Rasen und plötzlich starrte ihn ein Junge mit offenem Mund an. Er hatte einen blonden Topfhaarschnitt. Er klammerte sich erschrocken an eine rote Hundeleine, unter seiner Nase glänzte Rotz. Der Junge sprang zur Seite. Etwas schlug dumpf gegen den Radkasten.
Eugen riss die Augen auf und schoss senkrecht hoch. Es war dunkel. In seinem Bauch brannte es und vor dem linken Auge explodierten Blitze.
»Dem Jungen geht es –«, begann er, brach dann aber ab. Im schwachen Licht des Mondes, das links neben ihm durch das Fenster fiel, erkannte er die Konturen der Bücherregale. Er lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, jemand hatte eine Bettdecke über ihn ausgebreitet.
Er wollte die Decke zur Seite schieben, aber irgendetwas blockierte seinen Arm. Ein Blick darauf verriet, er hatte einen Gips.
»Susanne?«, fragte er, bekam aber keine Antwort.
Sie hatte Doktor Derham gebeten, sich um ihn zu kümmern, und er war gekommen. Derham hatte ihn abgetastet, bis auf einen angebrochenen Arm und einige Blutergüsse am Bauch aber nichts gefunden. Zum Glück war auch die Nase nicht gebrochen. Susanne hatte ihm den Gips angelegt, Derham hatte ihm Schmerztabletten gegeben und die Leviten gelesen, gemeint, dass er über seinen Schatten springen und ins Krankenhaus gehen solle.