Europa und die griechische Tragödie - Bernhard Zimmermann - E-Book

Europa und die griechische Tragödie E-Book

Bernhard Zimmermann

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Beschreibung

Die Geschichten einer Antigone, eines Oidipus oder einer Elektra sind auf den Theaterbühnen unserer Tage von ungebrochener Präsenz. Seit der Blütezeit der griechischen Tragödie im 5. Jahrhundert vor Christus, als die drei großen Tragiker – Aischylos, Sophokles und Euripides – die Feste der attischen Demokratie beherrschten, hat sich die europäische Kultur die mythischen Bilder dieser Dramengattung immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Bernhard Zimmermanns Darstellung eröffnet Wege zu einem vertieften Verständnis der Tragödie: Er porträtiert Leben und Werk der drei großen Dichter, erläutert politisch-institutionelle Hintergründe, erklärt die Funktion des Mythos, der inhaltlichen Grundlage der Tragödiendichtung, und geht auf Fragen antiker Aufführungspraxis ein. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Bernhard Zimmermann

Europa und die griechische Tragödie

Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart

FISCHER E-Books

Inhalt

Europäische Geschichte [...]EinleitungWilde UrsprüngeDer gezähmte Dionysos oder die attische TragödieDer Tyrann Peisistratos und die Anfänge der attischen TragödieDie attische Demokratie und die dionysischen GattungenDer FestplanOrganisationInszenierungsfragenStruktur und Form der griechischen TragödieMusik und Tanz in der griechischen TragödieWege der Überlieferung der griechischen TragödieDie drei TragikerAischylosLeben und WerkTheologie und DramaturgieRezeptionslinienSophoklesLeben und WerkDramaturgie und MenschenbildMenschliches Wissen und göttlicher WilleTheologie und DramaturgieRezeptionslinienEuripidesLeben und WerkThemen der euripideischen TragödienFrauen in der euripideischen TragödieTheologie und DramaturgieRezeptionslinienMythos und TragödieAnnäherungen an Elektra: Opfer, Täterin, Psychopathin?Politik und TragödieAischylos: Perser, EumenidenSophokles: AntigoneDie Krise der Polis im Spiegel der Tragödie (Euripides: Orestes; Sophokles: Philoktet)Der Krieg im Spiegel des tragischen MythosTheorie und Praxis des Chores von der Antike bis in die ModerneTragödie und TragödientheorieDie Tragödie und das TragischeDithyrambisch und dionysisch oder ein Rezeptionsirrtum mit weitreichenden FolgenAnhangLiteraturhinweiseGlossarZeittafelStammbäume

Europäische Geschichte

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

 

Konzeption: Wolfgang Benz,

Rebekka Habermas und Walter H. Pehle

 

Wissenschaftlicher Beirat:

 

Natalie Zemon Davis, Princeton/Toronto

Richard van Dülmen, Saarbrücken

Richard J. Evans, Cambridge

Bronislaw Geremek, Warschau

Hermann Graml, München,

Eric. J. Hobsbawm, London

Lásló Kontler, Budapest

Arno J. Mayer, Princeton

Wilfried Nippel, Berlin

Jean-Claude Schmitt, Paris

Einleitung

Als im Jahre 406 v.Chr. kurz hintereinander die großen Tragiker Athens, Euripides und Sophokles, gestorben waren, reagierte der Komödiendichter Aristophanes in seiner im Februar/März 405 aufgeführten Komödie Die Frösche auf den großen Verlust, den die tragische Bühne Athens durch den Tod der beiden Dichter, erlitten hatte. Da »die guten Dichter tot, die noch lebenden aber erbärmlich schlecht sind« (72), begibt sich der Gott des Theaters, Dionysos, in die Unterwelt hinab, um einen »rechten«, »zeugungskräftigen« Tragiker nach Athen hinaufzuholen (71, 96). Im Reich der Toten angelangt, wird er Zeuge einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Euripides und dem bereits 50 Jahre zuvor verstorbenen Aischylos. Der Neuankömmling macht dem Altmeister den Ehrenthron der tragischen Kunst streitig, den Aischylos bisher unangefochten innegehabt hatte, während Sophokles sich vornehm aus dem Streit heraushält. Als Dionysos, der von Pluton, dem Gott der Unterwelt, zum Schiedsrichter des Streits bestellt wird, keine Entscheidung aufgrund ästhetischer Kriterien treffen kann, gibt eine Überprüfung des politischen Sachverstands der beiden Tragiker den Ausschlag: Entgegen seiner ursprünglichen Absicht gibt Dionysos der attischen Bühne nicht Euripides, sondern Aischylos zurück, der in einem feierlichen Zug hinauf in die Welt der Lebenden geleitet wird, um Athen fortan mit seinem politischen Rat zu nützen.

Die Aussage, die hinter dem Handlungsgerüst der Komödie steht, ist nicht zu überhören. Sie ist einerseits radikal pessimistisch, andererseits jedoch optimistisch und in geradezu prophetischer Weise zutreffend: Die Zeit der großen Tragödiendichtung Athens ist im Jahre 405 vorbei, und jedem einsichtigen Theaterbesucher war bewußt, daß das Ende von Athens Größe und Vormachtstellung in Griechenland ebenfalls kurz bevorstand: 404 unterlag Athen in dem beinahe 30 Jahre währenden Peloponnesischen Krieg (431–404) Sparta und seinen Verbündeten, nachdem seit 416/415 innere Spannungen den Niedergang beschleunigt hatten. Daß Dionysos Aischylos zurück in die Welt der Lebenden holt, nimmt das vorweg, was knapp 20 Jahre später Wirklichkeit werden sollte: die Etablierung eines Theaterbetriebs im »modernen« Sinne, in dem es möglich ist, Stücke auch verstorbener Dichter zu sehen – und dies mehr als nur ein einziges Mal. Denn bis ins Jahr 386, als die Wiederaufführung »alter« Stücke gestattet wurde, durften Dramen – Komödien wie Tragödien – nur ein einziges Mal in Athen aufgeführt werden. Als dem Gott Dionysos geweihte geistige Opfergaben der versammelten Bürgerschaft konnten sie nur einmal dargebracht werden. Indem in der Komödie des Aristophanes der Gott mit dem Dichter nach Athen zurückkehrt und ihn der Bühne zurückgibt, nimmt er seine eigene »Entmachtung«, die Säkularisation des Theaters, vorweg und läßt damit die attische Bühne zum Grundstock des europäischen Theaters werden.

Ähnlich janusköpfig, vor- und rückwärtsgewandt, sind die vielleicht im selben Jahr wie die Frösche postum aufgeführten Bakchen des Euripides. Die Tragödie hat die siegreiche Rückkehr des Gottes Dionysos aus Asien in seine ursprüngliche Heimat Theben zum Inhalt. Der Gott will die Ehre seiner Mutter Semele wiederherstellen und den Thebanern seine göttliche Macht offenbaren. Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, des höchsten der Götter, hatte die Thebanerin Semele, eine der zahlreichen menschlichen Geliebten ihres Mannes, zu dem Wunsch verleitet, Zeus möge sich ihr als Beweis seiner Liebe in seiner ganzen göttlichen Macht zeigen. Zeus erfüllte die Bitte, Semele verbrannte im Angesicht des Gottes zu Asche, der jedoch ihr ungeborenes Kind, Dionysos, rettete und es in seinen Schenkel einnähte, um es die volle Zeit auszutragen. Um dem skeptischen, »aufgeklärten« König Pentheus seine göttliche Abstammung und Macht zu zeigen, versetzt der heimkehrende Gott Dionysos die Thebanerinnen in Ekstase und läßt sie ins Gebirge ausschwärmen. Pentheus, der in den dionysischen Riten eine Gefahr für die Stadt sieht und sie deshalb bekämpft, muß für seine Mißachtung der Gottheit bitter bezahlen. Von den Frauen Thebens, die, beseelt von dem Gott, zu Bacchantinnen, zu Mänaden werden, wird er, als er sie heimlich beobachtet, in Stücke zerrissen. Jubelnd, bevor sie aus dem Taumel erwacht und die furchtbare Wahrheit erkennen muß, zeigt seine Mutter Agaue den Kopf des Sohnes in der Meinung, sie habe ein wildes Tier erlegt.

Der Triumph des Theatergottes Dionysos in den Bakchen markiert wie sein Unterweltsgang in den Fröschen das Ende der klassischen Tragödie Athens. Die Offenbarung seiner göttlichen Macht und die Rückkehr in die angestammte Heimat sind jedoch auch symbolischer Ausdruck der Vitalität dessen, wofür Dionysos verantwortlich ist: des Theaters. Gleichzeitig lenkt Euripides in seiner Tragödie den Blick auf die Ursprünge des griechischen Theaters, auf den Dionysoskult und die mit ihm verbundenen Riten, und schlägt am Ende des 5. Jahrhunderts die Brücke zurück zu den Opferriten und kultischen Begehungen, aus denen sich die Kunstform der Tragödie entwickelte. Die Rückkehr und Heimkehr des Dionysos, die im Zentrum der beiden das Ende des klassischen attischen Dramas bildenden Stücken stehen, sollten symptomatisch für das europäische Theater werden. Immer wieder, nach Jahren oder Jahrhunderten der Mißachtung kehrte Dionysos, kehrten die griechischen dramatischen Gattungen in die Theater zurück, so daß das Drama, insbesondere die Tragödie, neben der griechischen Philosophie und Rhetorik eine der wenigen von der Antike bis in die Gegenwart reichenden, die verschiedenen europäischen Kulturkreise verbindenden kulturellen Errungenschaften darstellt.

Daneben – und dies sollte vor allem für die deutsche Geistes- und Literaturgeschichte höchste Bedeutung erlangen – geben die aristophanische Komödie und die Tragödie des Euripides zwei konträre Anschauungsformen vor, wie man sich mit der griechischen Tragödie und den mit ihr verbundenen Vorstellungen auseinandersetzen sollte. Die Frösche des Aristophanes weisen den Weg zu einer ästhetische und moralische Gesichtspunkte vereinigenden Annäherung an die griechische Tragödie, das Theater wird zur »moralischen Anstalt«, zur Bildungsstätte. Aus den Bakchen des Euripides dagegen läßt sich die Idee des Dionysischen, der irrationalen, dunklen Seite der griechischen Kultur entwickeln, die durch kultische Grausamkeit und die Darstellung von Gräßlichem erschüttert, das Furchtbare jedoch durch eine strenge Form meistert. »Griechisch ist: aus Gräßlichem Schönheit holen« – so Hermann Bahr (1905) in der Besprechung von Hugo von Hofmannsthals Elektra (Glossen, S. 216).

Wilde Ursprünge

Als ein Paradox der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte kann wohl gelten, daß die Gattung, die für jeden Theaterbesucher mit Erhabenheit in Sprache und Inhalt, mit außergewöhnlichen, oft auch sozial hochstehenden Personen und deren Sturz aus den Höhen der Macht und des Ansehens, mit philosophischer Reflexion über das menschliche Leben und Wesen, über die Stellung des Menschen in der Welt und sein Verhältnis zum Überirdischen, zu den Göttern verbunden ist, in ihren Namen auf zeitlich weit zurückliegende, blutige Opferbräuche verweist: Tragödie, griechisch tragodia, bedeutet nichts anderes als »Gesang anläßlich eines Bockopfers«, wie Komödie, griechisch komodia, mit »Gesang anläßlich eines Festumzugs« zu übersetzen ist – eines Komos, wie er sich an ein Trinkgelage (sympósion) anschließen konnte.

Weit mehr als der Name »Komödie« führt der Begriff »Tragödie« zu den Ursprüngen der griechischen Kultur aus Opferhandlungen und damit verbundenen Riten zurück. Im Opfer vereint sich eine ganze Gesellschaft oder auch nur ein Teil von ihr in Handlungen, die durch bestimmte Vorschriften, durch Riten, festgelegt sind. Im Zentrum des blutigen Opfers steht die Vernichtung eines Tieres oder gar Menschen zum Wohl der opfernden Gemeinde. Paradigmatisch werden im Verlauf der Opferhandlung Todeserfahrung und Todesfurcht der Menschen »durchgespielt« und in dem anschließenden Opfermahl festlich-freudig überwunden. Die der menschlichen Natur eingeborene Tötungshemmung, die im Opfer überwunden wird, spiegeln viele Einzelheiten griechischer Opferrituale wider: Das Tier wird dazu gebracht, sich zu schütteln und dadurch seine Zustimmung zum Opfer auszudrücken; das Opfer kann als vegetarisches Mahl getarnt, das Opfermesser unter Gerstenkörnern versteckt sein, oder das Opfertier kann ganz zu Recht getötet werden, da es den Altar der Gottheit besudelte und damit Schuld auf sich lud. Der Schauder angesichts des blutigen Opfers mag noch größer gewesen sein, wenn man sich vorstellt, daß das Tier der Gottheit als Ersatz für einen Menschen dargebracht wurde. Die tiefe Beunruhigung, der Schrecken angesichts des fließenden Blutes des Opfertieres und die Reue, die die Gemeinde wegen der Tötung befällt, drückt sich in vielen Details aus, die bis in historische Zeiten erhalten geblieben sind: im rituellen Aufschrei beim Opfervorgang, in der Klage um das Opfer, in der Tatsache, daß die opfernde Gemeinde ihre Identität hinter Masken versteckt, und nicht einzelne, sondern die Gruppe das Opfer vollbringt und damit Schuld und Verantwortung auf sich lädt. Die Maske, die die Schauspieler im klassischen Bühnenspiel tragen, der Chor als Kollektiv, der ein wesentlicher Bestandteil jedes Dramas des 5. Jahrhunderts ist, der Umstand, daß der Inhalt vieler Tragödien sich um den Tod, häufig den gewaltsamen Tod, ja sogar Opfertod dreht, der Klagegesang (kommós, thrénos), der ein wichtiger Bestandteil der erhaltenen Tragödien ist: Dies sind nur einige wenige Elemente der Tragödien des 5. Jahrhunderts, die sich von den prähistorischen Ursprüngen der Gattung erhalten haben.

Der Bock (trágos), der geopfert wird, verweist auf den Gott, dem dieses Tier heilig ist: auf Dionysos, den Gott der Vegetation und des Weines. Opfer zu Ehren dieser Gottheit haben ihren natürlichen Platz im Frühling, um die Wiederkehr der Vegetation herbeizurufen oder sie zu feiern. Dies geschieht in rituellen Handlungen (drómena) und in Gesängen zu Ehren des Gottes (legómena), die alljährlich wiederholt oder auch neu, in Improvisation, anläßlich des Festes geschaffen werden können. Derartige dramatische Vorformen lassen sich in primitiven Stammeskulturen nachweisen. In Krisensituationen der Gesellschaft oder bei einschneidenden, den Stamm betreffenden Ereignissen wie Tod und Geburt, Initiation und Hochzeit wird die Gefahr symbolisch, dramatisch umgesetzt und in der mimetischen Wiedergabe verarbeitet. Im Ritus, in der dramatischen Darstellung wird der Konflikt – häufig unter Tanz und Gesang – entschärft. Abgeschlossen wird die Feier oft durch ein gemeinsames Mahl als Ausdruck der Versöhnung und Wiederherstellung der Ordnung oder der Rettung der Gemeinschaft.

Von dieser rudimentären Form des »sozialen Dramas« unterscheidet sich das »kultische Drama«, das erst mit einer größeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem Auftreten von Priestern, die bestimmte Rollen und Funktionen im Kult ausüben, aufkommen kann. Im Gegensatz zum primitiven sozialen besteht beim kultischen Drama eine Distanz zwischen den Agierenden und der Gemeinde, die geradezu zu Zuschauern, zum Publikum werden kann. Nicht mehr in Krisensituationen angesichts drohender Gefahren finden die rituellen Handlungen statt, sondern regelmäßig, zu bestimmten Zeitpunkten im Jahresablauf, häufig in Verbindung mit den das Leben der Menschen bestimmenden Ereignissen des Jahreskreislaufes wie Aussaat und Ernte. Das kultische Drama ist im Gegensatz zum sozialen an einen heiligen Raum (témenos) gebunden und bedarf einer offiziellen, feierlichen Eröffnung. Nicht nur räumlich – durch den abgetrennten, heiligen Bezirk –, sondern auch institutionell – durch den feierlichen Rahmen, durch rituelle Handlungen und Gesänge – wird das Fest aus dem Alltag herausgehoben. Der eigentliche Hauptteil des Festes weist selbst in unterschiedlichen Kulturkreisen erstaunliche Übereinstimmungen auf. Die Akteure legen durch Verkleidung, Bemalung oder Maskierung ihre Identität als Mitglieder der Gemeinde ab; in der Musik und im rhythmischen Tanz kann der Anlaß der Feier symbolisch-mimetisch wiedergegeben und schließlich in Worte – in die Form eines Gebets oder eines Hymnos oder einer Erzählung, eines Mythos – gefaßt werden.

Weshalb sich das Drama aus dem Dionysoskult und nicht aus Opferriten zu Ehren einer anderen Gottheit entwickelte, ist letztlich nicht zu klären. Man sollte auf alle Fälle davon absehen, einsträngige, monokausale Entwicklungslinien anzunehmen. Entscheidend ist sicherlich, daß Dionysos neben Demeter, der Göttin des Getreides, der wichtigste in Mysterien verehrte griechische Gott ist. Die verschiedenen Mysterienkulte der griechischen Antike zeichnen sich durch drei gemeinsame Hauptbestandteile aus, durch die Abfolge Reinigung (kátharsis), belehrende Rede (lógos) und Einweihung der Initianden (teleté), und insbesondere dadurch, daß sie sich – im Gegensatz zu den eine Gruppe oder gar die ganze Stadt (Polis) betreffenden Kulten – an ein Individuum wenden. Die dionysischen Mysterien, über die wir durch die in Thessalien, Süditalien (Magna Graecia) und auf Kreta gefundenen kleinen, aus Gold gefertigten Blättchen mit religiösen Texten informiert sind, versprachen ein seliges Los im Jenseits, eröffneten die Möglichkeit der Wiedergeburt und gar der Gottwerdung der Mysten. Ansatzpunkte für die Ausbildung einer derartigen Mysterienreligion boten sowohl das Wesen des Dionysos als Fruchtbarkeits- und Vegetationsgott, der alljährlich wieder kommt und wieder vergeht, als auch der mit seiner Geburt verbundene Mythos. Aufgrund seiner doppelten Geburt ist Dionysos, der gewaltsam aus dem Mutterleib geschleudert und von seinem göttlichen Vater Zeus ausgetragen wurde, im wahrsten Sinne des Wortes ein Gottessohn, dessen Göttlichkeit im Gegensatz zu der anderer Kinder von Göttern und menschlichen Frauen, anderer Heroen, nie in Frage gestellt wird. Untrennbar ist mit Dionysos seit seiner ersten literarischen Erwähnung in Homers Ilias (6, 132) die rituelle Raserei (mania) verbunden. Der Gott versetzt seine Verehrerinnen und Verehrer in Ekstase, er ergreift Besitz (enthousiasmós) von ihnen und gibt ihnen dadurch Anteil an seiner Göttlichkeit. Ein wesentliches Merkmal von Mysterienkulten ist die enge Verbindung von legómena und drómena, von Verkündigung der Heilslehre, wohl auch der Erzählung von mit der Gottheit verbundenen Mythen, und Kulthandlungen, die teilweise mimetisch-dramatisch die Lehre oder die Mythen wiedergaben.

Daß »Drama« als Oberbegriff für die Gattungen Tragödie, Komödie und Satyrspiel und der rituelle Begriff drómena auf dasselbe Verb dran, »handeln«, zurückzuführen sind, belegt schon auf der lexikalischen Ebene den engen Zusammenhang von Kulthandlung und Bühnenspiel. Untrennbar mit der Mysterienreligion wie mit dem Drama sind Masken verbunden. Wir finden sie nicht nur im Dionysos-, sondern auch im Demeter- und Artemis-Kult. Hinter einer Maske verbirgt der Mensch seine Individualität, die Maske läßt ihn zu einem anderen werden, sie läßt den Menschen »aus sich heraustreten«, wie dies bei der rituellen Ekstase der Fall ist. Die »Grenzüberschreitungen« und »Grenzverletzungen«, das Durchbrechen der sozialen und gesellschaftlichen Normen, die die Ekstase und die Masken erlauben, können eine enorme gesellschaftsstabilisierende Funktion ausüben. Da die rituellen Handlungen (órgia) auf einen festgelegten Zeitraum beschränkt waren, hatten die kultischen Grenzüberschreitungen im Rahmen eines Dionysosfestes eine sozialhygienische, Affekte abführende, reinigende (kathartische) Wirkung und gewährleisteten, daß das Gefüge der Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen nicht durch den unkontrollierten Ausbruch der im Dionysoskult kanalisierten und gebändigten Affekte gefährdet wurde. Dies konnten sie allerdings nur dann uneingeschränkt leisten, wenn die kultischen Handlungen ihren Platz im offiziellen Festkalender der Stadt, der Polis, innehatten. Die politischen Möglichkeiten der Dionysosverehrung, dessen Mysterien im privaten Bereich, außerhalb des Einfluß- und Verfügungsbereichs der Polis begangen wurden, scheinen im 6. Jahrhundert die Tyrannen, Periandros von Korinth, Kleisthenes von Sikyon und Peisistratos von Athen, erkannt zu haben. Nachweislich bewußt zu politischen Zwecken eingesetzt wurden Dionysosfeste nach den Kleisthenischen Reformen im Jahre 508, die Athen zur Demokratie werden ließen. Ja, man kann sogar, ohne zu übertreiben, die Etablierung der Dionysosfeste als tragenden Pfeiler im politischen Denken des Kleisthenes ansehen (s.u.S. 27ff.).

Wie sich im einzelnen die Entwicklung der Tragödie aus den im Dionysoskult verankerten rituellen Formen zum einzigartigen literarischen Kunstwerk des 5. Jahrhunderts vollzogen hat, läßt sich natürlich nicht nachvollziehen und ist dementsprechend in der Wissenschaft heftig umstritten. Ein beinahe in jedem einzelnen Wort kontrovers ausgelegter Rekonstruktionsversuch findet sich in der Poetik des Aristoteles (1449 a9–31). Der Philosoph aus Stageira führt im vierten Kapitel seiner Schrift den Ursprung der Dichtkunst im allgemeinen auf zwei menschliche Grundeigenschaften zurück: einerseits auf die Nachahmung (mimesis), die sich in der Entwicklung des Menschen schon früh in der Kindheit zeige und die letztendlich den Menschen von den anderen Lebewesen unterscheide, da der Mensch in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt sei und seine Kenntnisse in der Nachahmung erwerbe, andererseits auf die Freude, die der Mensch an Nachahmungen habe. Den Beweis hierfür sieht Aristoteles darin, daß man Dinge, die man in der Wirklichkeit nicht gerne erblicke, mit Freude betrachte, wenn man sie auf einem Bild dargestellt oder als Skulptur betrachte. Die Ursache für diese zwei Eigenschaften ist nach Aristoteles eine anthropologische Konstante: der Lerntrieb des Menschen, der sich auch darin äußere, daß man beispielsweise beim Betrachten von Bildern Rückschlüsse auf die abgebildete Realität anzustellen versuche.

In der Dichtung nimmt Aristoteles generell eine Entwicklung von ursprünglich improvisierten, schlichten Darstellungen zu künstlerisch ausgefeilteren Formen an. Dies gelte auch für Tragödie und Komödie. Den Ursprung der Tragödie sieht er in der chorlyrischen, dem Dionysos zugehörigen Gattung des Dithyrambos, den der Komödie in kultischen, zu Ehren des Dionysos abgehaltenen Phallosprozessionen. Erst allmählich habe die Tragödie – und in gleicher Weise auch die Komödie – an Umfang gewonnen und viele Veränderungen durchlaufen, bis sie die ihr angemessene Natur, das Ziel ihrer Entwicklung (télos) erreicht habe. Denn ursprünglich habe die Tragödie nur kleine Mythen, kleine Geschichten behandelt und diese in einer »lächerlichen« Redeweise vermittelt, in einer Rede- und Darstellungsform also, die den Zuschauer zum Lachen bringen wollte. Erst spät habe sie den zu ihr passenden Ernst angenommen.

Die aristotelische Rekonstruktion der Gattungsgenese läßt sich durchaus, so erstaunlich dies zunächst klingen mag, mit der Entwicklung der Tragödie aus Opferritualen in Übereinstimmung bringen. Mimesis, symbolische Nachahmung, gehört untrennbar zu Kult und Opfer, ebenso der Kultgesang, der entweder improvisiert sein oder eine festgelegte, sich alljährlich wiederholende Form und einen dementsprechenden traditionellen Inhalt aufweisen kann. Eine leider nur fragmentarisch überlieferte und in ihrem literaturgeschichtlichen Wert umstrittene Inschrift von der Insel Paros (die sogenannte Mnesiepes-Inschrift) scheint auf diese frühe Phase Bezug zu nehmen, in der Improvisation und Tradition, die Ausbildung eines dichterischen Selbstbewußtseins und die an feststehende Hymnentexte gewöhnte Erwartung der Festgemeinde, aufeinanderprallten. Der Dichter Archilochos (ca. 680–630) habe bei einem Fest zu Ehren des Dionysos ein Lied zusammen mit einigen Mitbürgern improvisiert und damit den Zorn der übrigen Bewohner der Insel auf sich gezogen. Man muß diese inschriftliche Notiz wohl dahingehend verstehen, daß in der Mitte des 7. Jahrhunderts Dichterpersönlichkeiten auftraten, die sich mit dem Bestehenden nicht zufrieden gaben, sondern neue Ausdrucksmöglichkeiten erprobten, und daß in dieser Zeit auch die allmähliche Ausbildung der dionysischen Gattungen zu künstlerischen Formen anzusetzen ist. Der Gesang, der bei Götterfesten vorgetragen wurde, muß sich in irgendeiner Weise mit dem Gott, dem das Opfer dargebracht wurde, befaßt haben, selbst wenn dies nur in Form einer Aufzählung typischer Attribute oder der Aufgaben- und Wirkungsbereiche der Gottheit, also in Form der sogenannten Aretalogie, geschah. Darauf könnte die Aussage des Aristoteles verweisen, daß die Tragödie ihren Anfang in der Wiedergabe »kleiner« Mythen gehabt habe. Auf alle Fälle ist darin, wenn auch in rudimentärer Form, das für die Tragödie wichtige inhaltliche Substrat, der Mythos, die Götter- und Heldengeschichte, zum ersten Mal greifbar.

Die Schnittstelle zwischen kultischen Gesängen und der Entwicklung der dramatischen Gattung Tragödie sieht Aristoteles im Dithyrambos, wobei er den Ausgangspunkt sogar noch genauer definiert: Die Tragödie habe ihre Entwicklung von denen aus genommen, die den Dithyrambos anstimmen. Aristoteles führt mit dieser Aussage zwei Entwicklungslinien zusammen: die mimetische, mit Opferhandlungen verbundene dramatische »Vorform« mit einer hymnischen, erzählenden Gattung, dem Dithyrambos. Bereits im 7. Jahrhundert ist der Dithyrambos eine fest etablierte Form, die ihren »Sitz im Leben« im Dionysoskult hat. Archilochos von Paros betont von sich mit Stolz und Nachdruck (Fr. 120 West):

»Denn ich verstehe es, das schöne Lied des Herrn Dionysos anzustimmen, den Dithyrambos, wenn ich in meinem Innersten vom Wein wie von der Glut des Blitzes getroffen bin.«[1]

Die zwei Verse geben in Kurzform eine prägnante Definition und Funktionsbestimmung des Dithyrambos, der als ein ästhetisch anspruchsvoll ausgestaltetes, als ein »schönes Lied« bezeichnet wird, das von einem Chor unter Leitung eines Chorführers (exárchon), der den Gesang anstimmt, vorgetragen wird. Der Bezug zum Gott des Weines und zu den mit ihm zusammenhängenden Mythen wird dadurch hergestellt, daß der Vorsänger den Gesang anstimmt, getroffen von der Kraft des Dionysos heiligen Weines wie von einem Blitzstrahl. So wie einst der Gott selbst durch die Blitze seines Vaters Zeus aus dem Leib seiner Mutter Semele geschleudert wurde, bricht der Gesang aus dem Innersten des Dichters, der durch die Gabe des Gottes, die Glut des Weines, inspiriert ist. Wie die frühen Dithyrambendichtungen des 7. Jahrhunderts aussahen, wissen wir nicht. Wichtig ist jedoch, daß im Zusammentreffen der zwei von Aristoteles namhaft gemachten Entwicklungslinien eine Vorstufe der Tragödie greifbar wird. Ein einzelner, der Vorsänger oder Chorführer, tritt aus der Gruppe, dem Chor, heraus. Damit ist im Prinzip die Entwicklungsmöglichkeit zu einer dramatischen »Rohform« angelegt, da erst jetzt – nach der Ausbildung von zwei am Gesang beteiligten Gruppen – sich ein Dialog und somit Handlung entwickeln können. Der Anstoß zu einer dramatischen Form konnte wiederum aus der Kultpraxis kommen, in der – wohl im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Opfer – die mimetische Darstellung ihren Platz hatte, während der Inhalt, der Mythos, der hymnischen Form des Dithyrambos entstammte.

Einen großen Aufschwung nahmen die Dionysosreligion und die mit ihr verbundenen chorischen Aufführungen im 6. Jahrhundert zur Zeit der sich etablierenden Tyrannenherrschaften in der griechischen Welt. Die Tyrannen scheinen den Kult des Gottes, der bisher eher außerhalb des öffentlichen Raumes verehrt wurde, bewußt politisiert zu haben, indem sie in den Zentren ihrer Macht mit prächtigen Choraufführungen ausgestattete Dionysosfeste einführten. Dadurch drängten sie den Einfluß ihrer adligen Widersacher und Mitkonkurrenten zurück, deren Macht auf lokalen Kulten beruhte, die die Verbindung zwischen Adelsgeschlecht und Bevölkerung festigten. Gleichzeitig werteten die Tyrannen das Volk, den Demos, auf den sie ihre Macht gegen die anderen Adligen stützten, auch dadurch auf, daß eine große Zahl von Angehörigen des Demos bei den Choraufführungen als Sänger (choreut) mitwirkte. Zentren der neuen Dionysosreligion waren Korinth, Sikyon auf der nördlichen Peloponnes und vor allem Athen.

Die Beliebtheit des Dionysoskultes in Korinth wird eindrucksvoll dokumentiert durch dionysische Motive auf Vasen seit der Zeit des Tyrannen Periandros, der von ca. 630 bis 580 die Macht in Korinth innehatte. Daß der Tyrann in besonderer Weise den Dionysoskult förderte, wird dadurch unterstrichen, daß in seiner Regierungszeit, wie der Historiker Herodot (ca. 484–424) berichtet (1, 23), Arion von Methymna (auf der Insel Lesbos) den Kultgesang zu Ehren des Dionysos in Korinth heimisch gemacht hat. Mit Arion scheint ein entscheidender Einschnitt in der Entwicklung des Dithyrambos verbunden gewesen zu sein. Die antike Tradition, die den Dichter im Zusammenhang mit dem Dithyrambos nennt, deutet darauf hin, daß Arion das einfache Kultlied zu Ehren des Dionysos kunstvoll ausgestaltete und mit einem Chor einstudierte. Nach einigen antiken Nachrichten gilt Arion sogar als Erfinder der Tragödie. Dies scheint darauf hinzuweisen, daß in der antiken Literaturgeschichtsschreibung ein enger Bezug zwischen den beiden dionysischen Gattungen Tragödie und Dithyrambos gesehen wurde, wie dies besonders in der Gattungsgenese deutlich wird, die Aristoteles in der Poetik entwirft.

Ein weiteres wertvolles Zeugnis für die Entwicklung und Ausbildung der Tragödie im 6. Jahrhundert findet sich ebenfalls im Geschichtswerk des Herodot. Im 5. Buch, Kapitel 67, berichtet der Historiker, daß der Tyrann Kleisthenes von Sikyon (ca. 600–565), als er mit der Stadt Argos im Krieg lag, die Rezitation der homerischen Epen verboten habe, da in ihnen Argos und die Argiver eine herausragende Stellung einnehmen. Doch auch durch religionspolitische Maßnahmen wollte Kleisthenes die Argiver aus seiner Stadt vertreiben. Seit alters her wurde in Sikyon ein Heros namens Adrastos verehrt, der aus Argos stammte. Um den aus der feindlichen Stadt stammenden Heros aus dem religiösen Leben Sikyons zu beseitigen, ließ der Tyrann den Kult des Heros Melanippos – nach den Mythen ein Erzfeind des Adrastos – aus Theben nach Sikyon überführen und wies dem neuen Heros einen neuen heiligen Bezirk zu. Die Opfer und alle Feierlichkeiten, die die Sikyonier zuvor zu Ehren des Adrastos zu begehen pflegten, übertrug Kleisthenes auf Melanippos, den Sohn des Astakos, der eine Rolle in den mit dem mythischen Zug der Sieben gegen Theben verbundenen kriegerischen Ereignissen spielt. Er wird von dem angreifenden Tydeus erschlagen, der sein Hirn ausschlürft. Herodot beschließt seine Ausführungen folgendermaßen:

»Die Sikyonier verehrten den Adrastos und zum Gedenken an seine Leiden feierten sie ihn mit tragischen Chören. Kleisthenes widmete nun die Chordarbietungen dem Dionysos, das Opfer aber dem Melanippos.«

Die Stelle nennt eine weitere, für die Gattung Tragödie wichtige Quelle, den Heroenkult und die Verbindung von Chordarbietungen mit Dionysos, obwohl in den Gesängen der Gott selbst und mit ihm zusammenhängende Mythen keine große Rolle gespielt haben können, da in ihrem Zentrum nach dem Bericht des Herodot die »Leiden« des Heros standen, also Mythen, die mit seinem Tod zusammenhingen. Was Herodot unter »tragischen Chören« genau versteht, ist im Detail nicht klar. Man wird es wohl so verstehen müssen, daß der Historiker aus der Sicht des 5. Jahrhunderts, das einen voll ausgebildeten Theaterbetrieb kennt, unter tragischen Chören eine Form verstand, die eine gewisse Ähnlichkeit mit tragischen Darbietungen zu seiner Zeit aufwies. Ein wesentliches inhaltliches Element der Tragödien-Chorlieder des 5. Jahrhunderts ist die Mythenerzählung, und eben dies scheint auch der Inhalt der Chordarbietungen in Sikyon gewesen sein. Vielleicht besaßen die »tragischen Chöre« in Sikyon sogar ein mimetisches, dramatisches Element. Wichtig für eine Entwicklungsgeschichte der Tragödie ist vor allem, daß Herodot die Loslösung chorlyrischer Aufführungen aus dem engen kultischen Kontext beschreibt: Das eigentliche Opfer wird dem Heros dargebracht, das künstlerische Opfer dagegen, der Gesang, dem Gott Dionysos. Daß der Inhalt der Chorgesänge sich nicht allein mit dem Gott Dionysos beschäftigte, dem sie dargebracht wurden, belegt eine weitere, in der Stadt Sikyon angesiedelte Geschichte: Der Dichter Epigenes (6. Jahrhundert) soll ein Stück aufgeführt haben – es wird sich um eine der von Herodot erwähnten chorlyrischen Darbietungen gehandelt haben –, das keinerlei Bezug zu Dionysos und seinem Kult aufgewiesen habe. Das empörte Publikum habe mit dem Aufschrei reagiert: »Das hat nichts mit Dionysos zu tun!« Man wird aus dieser Anekdote den Schluß ziehen dürfen, daß die Festgemeinde aufgrund ihrer religiösen Erfahrung in einem Lied zu Ehren des Dionysos auch dionysische Inhalte erwartete und daß die inhaltliche Emanzipation der Dichtung vom unmittelbar rituellen, kultischen Kontext, wie sie für die Tragödie des 5. Jahrhunderts die Regel darstellt, in dieser frühen Zeit der Gattungsentwicklung als revolutionär empfunden wurde.

Der gezähmte Dionysos oder die attische Tragödie

Der Tyrann Peisistratos und die Anfänge der attischen Tragödie

Die politische Komponente von chorischen Darbietungen zu Ehren des Dionysos, die in der Religionspolitik des Kleisthenes von Sikyon nicht zu übersehen ist, wird in Athen gegen Ende des 6. Jahrhunderts noch deutlicher: Peisistratos hatte bereits 561/560 kurzfristig Athen als Tyrann beherrscht und sollte dann von 546 bis zu seinem Tod im Jahre 527 diese Stellung behaupten. Da er mit auswärtiger Unterstützung als Sieger aus den Machtkämpfen mit den anderen Aristokraten hervorgegangen war, mußte ihm daran gelegen sein, seine adligen Gegner in den Hintergrund zu drängen. Ausdruck seiner Vormachtstellung in Attika ist die Tatsache, daß er auf der Akropolis residierte und Athen zum glanzvollen Zentrum Attikas erhob, um auf diesem Weg die verschiedenen lokalen Herrschaftssitze der attischen Adligen in ihrer Bedeutung verblassen zu lassen. Es ist auffallend, daß seit den sechziger Jahren des 6. Jahrhunderts Athen allmählich zur führenden kulturellen Macht Griechenlands heranwuchs; die attische schwarzfigurige Vasenmalerei wurde, wie archäologische Funde belegen, zum begehrten künstlerischen Exportartikel. Man wird in diesem Zusammenhang wohl auch die Reorganisation der Panathenäen sehen müssen (566/565), des großen Festes zu Ehren der Stadtgöttin Pallas Athena, das im Hochsommer (etwa August) stattfand. In den sechziger Jahren wurden dem Athena-Fest athletische und musische Wettkämpfe angegliedert, Sportwettkämpfe und die Rezitation der homerischen Epen. Dadurch sollte das athenische Fest zu den anderen, angesehenen panhellenischen Festen, den Nemeen in Nemea auf der Peloponnes, den Isthmien von Korinth, den Pythien von Delphi und den olympischen Spielen, in Konkurrenz treten. Das große, alle Gruppen Attikas, nicht nur die attischen Bürger, sondern auch die nicht-athenische Bevölkerung, die sogenannten Metöken (»Mitwohner«), ansprechende Fest bot den Einwohnern die Möglichkeit, sich im Zentrum Attikas, in Athen, ihrer Zusammengehörigkeit unter dem Schutz der Stadtgöttin zu vergewissern. Eine eindrucksvolle künstlerische Darstellung der großen Panathenäenprozession, die den heiligen Mantel Athenas, den Peplos, hinauf zur Burg, zur Akropolis, brachte, findet sich auf dem Fries des Parthenon (heute im British Museum, London).

Dieselbe religionspolitische Tendenz wie die Neuorganisation der Panathenäen weist die Gründung der Großen Dionysien, eines im März/April stattfindenden Frühjahresfestes zu Ehren des Dionysos, in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts auf: Peisistratos baute in diesem Fall nicht einen bereits in Athen bestehenden Dionysoskult zu einem prächtigen Staatsfest aus, sondern »importierte« den Kult des in dem attischen, an der böotischen Grenze gelegenen Dorf (Demos) Eleutherai verehrten Dionysos nach Athen. Er förderte also einen Kult, der nicht von einem anderen Adelsgeschlecht beansprucht werden konnte, sondern zu dem er und seine Familie eine besondere Verbindung zu besitzen vorgaben. Die Großen Dionysien stellten den Höhepunkt einer Reihe dionysischer Feste dar, die im Winter mit den Ländlichen Dionysien (Dezember/Januar) einsetzten, in den Lenäen, dem »Kelterfest« (Februar), und dem Blütenfest, den Anthesterien (März), ihre Fortsetzung fanden, um schließlich in den Großen oder Städtischen Dionysien zu gipfeln, die im 5. Jahrhundert fünf Tage dauerten. Besonderer Glanz wurde diesem neuen Dionysosfest dadurch zuteil, daß es mit einer bisher unbekannten Art von Darbietung, der Aufführung von Tragödien, ausgestattet wurde. Wir haben demnach unter Peisistratos in Athen eine vergleichbare Entwicklung wie unter Kleisthenes in Sikyon. Aus politischen Gründen wird ein Fest neu organisiert oder neu eingeführt und mit chorischen Aufführungen ausgestattet, an denen die Bürger als Sänger beteiligt sein konnten.

Die kulturelle Blüte, die in Athen am Hofe des Peisistratos und seiner Söhne herrschte und führende Dichter wie Simonides und Anakreon nach Athen zog, mag neben dem politischen Anstoß von seiten des Tyrannen wesentlich dazu beigetragen haben, daß sich aus dem dionysischen Kultgesang, dem Dithyrambos, die Tragödie entwickeln konnte. Die antike Literaturgeschichtsschreibung verbindet die »Erfindung« der Tragödie mit einem gewissen Thespis, der um 530 aus dem Chor eine Person herausnahm, sie mit ihm in einen Dialog eintreten ließ – daher auch die griechische Bezeichnung für Schauspieler, hypokrités, »Antworter« – und damit eine wenn auch noch rudimentäre Handlung, ein Drama, möglich machte. Thespis scheint sich auch um die Struktur und Handlungsentwicklung verdient gemacht zu haben: Man schreibt ihm die Erfindung des Prologs, also der ein Stück exponierenden Partie, und der Rede (rhésis) zu, die neben den Gesang des Chores treten. Allerdings werden Gesang und Tanz weiterhin die größte Rolle in den Tragödien des ausgehenden 6. und frühen 5. Jahrhunderts gespielt haben, wie auch die Bezeichnung »Tänzer« (orchestaí) nahelegt, mit der die frühen Tragiker Thespis, Pratinas und Phrynichos bezeichnet wurden. Unter den für Thespis bezeugten Titeln fällt das Stück Jünglinge auf. Vermutlich behandelte Thespis in diesem Stück eine Episode des Theseus-Mythos, die Fahrt der sieben Jünglinge und Mädchen unter der Leitung des Theseus nach Kreta, wo die jungen Menschen dem Minotauros geopfert werden sollten. Da sowohl der attische Held Theseus als auch besonders die Kretafahrt in Beziehung zu Initiationsriten junger Männer und Frauen in Athen stehen und der lokale Dionysosmythos von Eleutherai, der Mythos von Dionysos Melanaigis, ebenfalls dem Umfeld von Ephebenritualen, also der Aufnahme junger Männer in die Welt der Erwachsenen, entstammt, könnte das Stück noch einen unmittelbaren Bezug zum Dionysoskult von Eleutherai aufgewiesen haben. Dionysischen Inhalt wies sicher auch der Pentheus des Thespis auf. Das Stück könnte sogar ganz bewußt Ausdruck der neuen athenischen Dionysosreligion sein, geht es doch, wie die Bakchen des Euripides zeigen (s.o.S. 10f.), um den vergeblichen Kampf eines Gegners des Dionysos, des thebanischen Königs Pentheus, gegen den neuen, von außen kommenden Gott.

Die attische Demokratie und die dionysischen Gattungen

Die Verbindung von Politik und Religion wird noch deutlicher in der jungen, durch Kleisthenes nach der Ermordung des Sohnes von Peisistratos, Hipparchos (514), und der Vertreibung von dessen Bruder Hippias (511/510) begründeten Demokratie (508). Zum zentralen Fest der attischen Demokratie wurden von Anfang an die Großen (oder Städtischen) Dionysien. Es paßt durchaus zur antiaristokratischen Stoßrichtung, die der Gründung der Dionysien durch Peisistratos innewohnte, daß die junge Demokratie das Fest, das Athen in besonderem Glanze erstrahlen ließ, übernahm und beträchtlich erweiterte.

Der Festplan

Erster Tag: Die Dithyramben. Die Großen Dionysien wurden am Abend vor dem ersten Festtag durch eine feierliche Prozession in das Dionysostheater am Südhang der Akropolis eröffnet. Das alte hölzerne Kultbild (brétas) des Dionysos wurde feierlich – gleichsam in einer Art Wiederholung des Gründungsaktes des Festes – aus Eleutherai nach Athen überführt; der Gott war also persönlich bei seinem Fest zugegen. Der erste Festtag wurde durch eine Reihe von politischen Ritualen eingeleitet, die die Emotionen des Publikums ansprechen sollten. So wurden die Söhne der im Vorjahr gefallenen Athener symbolisch mit einer Rüstung ausgestattet, verdiente Bürger ausgezeichnet und die Überschüsse des athenischen Staatshaushaltes säckeweise im Tanzplatz des Chores, der Orchestra, ausgestellt. Die Handlungen dienten einerseits in hohem Maße der Ausbildung eines demokratischen, athenischen Selbstbewußtseins im Innern der Stadt, andererseits der Demonstration athenischer Macht und Größe den anwesenden Fremden, vor allem den Verbündeten gegenüber. Eine vergleichbare doppelte Wirkung fiel in der attischen Demokratie den Epitaphien zu, den alljährlich zu Ehren der Gefallenen gehaltenen Leichenreden, in denen im Rückblick auf die mythische Geschichte und auf die Großtaten der Gegenwart das bürgerliche Selbstbewußtsein gestärkt und die Macht Athens gepriesen wurde. Platon läßt in seinem Dialog Menexenos Sokrates diese doppelte Wirkung – Selbstvergewisserung im Innern und Demonstration von Macht und Größe nach außen – analysieren spöttisch-ironisch (235 a–b):

»Auch die Stadt verherrlichen sie [die Redner, d. Verf.] auf jede Weise und preisen nicht nur die im Krieg Gefallenen, sondern auch alle unsere Vorfahren von früher und sogar uns, die wir heute leben, so daß ich mich durch ihr Lob hoch erhoben fühle […] Und wie es meist der Fall ist, folgen mir auch da einige Fremdlinge, die mit zuhören; in ihren Augen gewinne ich dann auf der Stelle an Ansehen. Denn ich glaube, daß es ihnen mit mir gleich geht wie mit der übrigen Stadt: auch diese kommt ihnen unter dem Eindruck der Rede bewundernswerter vor als vorher.«

(Übersetzung Rudolf Rufener)

Das politische Gepräge des ersten Festtages wird auch in der sich anschließenden Aufführung von Dithyramben unterstrichen, die, wie es scheint, zum ersten Mal 508, also im Jahr der Einführung der Demokratie, stattfand. Nach der auf der Insel Paros gefundenen Chronik, dem Marmor Parium, soll ein sonst unbekannter Hypodikos von Chalkis den Text für den siegreichen Chor geschrieben haben. Jede der zehn Phylen, der neuen, demokratischen Verwaltungseinheiten Attikas, trat mit je zwei Chören, bestehend aus 50 Männern und 50 Knaben, gegeneinander an. Dieser Wettstreit (agón