Evie und die Macht der Tiere - Matt Haig - E-Book

Evie und die Macht der Tiere E-Book

Matt Haig

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Beschreibung

Ein tierisches Abenteuer von Bestsellerautor Matt Haig. "'Evie und die Macht der Tiere' vereint alle Zutaten, die ein gelungenes Kinderbuch ausmachen." Rufus Beck

Evie hat ein Talent. Ein Supertalent. Sie kann hören, was Elefanten denken, und mit einem Spatzen plaudern. Doch als sie das Schulkaninchen Kahlo aus dem viel zu kleinen Käfig rettet und dabei erwischt wird, muss Evie ihrem Vater schwören, nie wieder mit Tieren zu reden. Er hat Angst, dass sie deshalb in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Das funktioniert so lange gut, bis alles durch eine riskante Begegnung mit einem Löwen aus dem Ruder läuft. Plötzlich ist nicht nur Evies Familie, sondern die ganze Stadt in großer Gefahr. Ein mysteriöser Mann treibt sein Unwesen, der selbst eine außergewöhnliche Gabe besitzt. Die Zeit drängt, und nur mit tierischer Hilfe hat Evie eine Chance, das drohende Unheil zu verhindern.

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Evie hat ein Talent. Ein Supertalent. Sie kann hören, was Elefanten denken, und mit einem Spatzen plaudern. Doch als sie das Schulkaninchen Kahlo aus dem viel zu kleinen Käfig rettet und dabei erwischt wird, muss Evie ihrem Vater schwören, nie wieder mit Tieren zu reden. Er hat Angst, dass sie deshalb in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Das funktioniert so lange gut, bis alles durch eine riskante Begegnung mit einem Löwen aus dem Ruder läuft. Plötzlich ist nicht nur Evies Familie, sondern die ganze Stadt in großer Gefahr. Ein mysteriöser Mann treibt sein Unwesen, der selbst eine außergewöhnliche Gabe besitzt. Die Zeit drängt, und nur mit tierischer Hilfe hat Evie eine Chance, das drohende Unheil zu verhindern.

Matt Haig

EVIE UND DIE MACHT DER TIERE

Illustriert von Emily Gravett

Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck

Carl Hanser Verlag

Für Pearl und Lucas

und für alle Kinder, die die Welt und ihre großartigen Kreaturen zu beschützen versuchen

»Manche Menschen sprechen mit Tieren. Aber es gibt nicht viele, die ihnen auch zuhören. «

A. A. Milne

Ein besonderes Kind

Es war einmal ein Mädchen namens Evie Trench. Evie war kein gewöhnliches Kind. Sie war ein besonderes Kind. Das sagte zumindest ihr Papa.

Besonders.

Evie dachte oft, dass es viel einfacher wäre, ein gewöhnliches Kind zu sein. Aber so war es nun mal. Sie war besonders.

Und der Grund dafür war …

Na ja, das war kompliziert. Evie verstand es selbst nicht so ganz.

Bevor wir auf ihr Besonderssein zu sprechen kommen, fangen wir lieber bei den einfachen Tatsachen an.

Evie mochte Tiere. Klar, viele Leute mögen Tiere. Aber Evie mochte alle Tiere. Nicht nur die kuscheligen.

Natürlich mochte sie Hunde und Katzen, aber sie mochte auch Kakerlaken, Schlangen, Fledermäuse, Geier, Hyänen, Haie, Quallen und Grüne Anakondas. Sie mochte einfach jedes Tier. Mal abgesehen von der Brasilianischen Wanderspinne – die tödlichste Spinne der Welt –, mit der tat sich selbst Evie schwer, aus Gründen, die noch zu klären sind. Aber im Allgemeinen galt: Was lebte, das liebte sie.

Und sie wusste alles über die Tierwelt. Jedenfalls mehr als die meisten. Vermutlich gab es Professoren für Tierbiologie an höchst renommierten Universitäten, die weniger wussten als sie. Im Alter von sechs Jahren hatte sie bereits über dreihundert Bücher zu diesem Thema gelesen.

Immer wenn sie besorgt oder traurig oder gelangweilt war, setzte sie sich hin und las ein Buch über Tiere.

Deshalb wusste sie wirklich viel. Zum Beispiel, dass:

1.  Schlangen drei Jahre hintereinander schlafen können und Schnecken vier Nasen haben;

  2.  ein Grizzlybär so stark ist, dass er eine Bowlingkugel zerdrücken kann;

3.  Vögel Chilischoten nicht scharf finden;

4.  alle Clownfische als Jungen auf die Welt kommen (einige verwandeln sich später in Mädchen);

5.  Katzen problemlos Meerwasser trinken können;

6.  ein Tintenfisch drei Herzen hat;

7.  die Augen eines Elchs im Winter blau werden, damit er im Dunkeln besser sehen kann;

8.  Elefanten fast zwei Jahre lang schwanger sind;

9.  Tiger unter ihrem gestreiften Fell gestreifte Haut haben.

Und ihr Liebling:

10.  dass Seeotter sich im Schlaf an den Händen halten, damit sie nicht auseinandergetrieben werden.

Aber Evie mochte Tiere nicht nur. Und sie wusste nicht nur viel über sie.

Sie besaß auch eine ganz besondere Fähigkeit.

Eine höchst ungewöhnliche Fähigkeit. Und zwar folgende:

Sie konnteHÖREN, was Tiere dachten.

Und sie brachte Tiere dazu, zu hören, was sie dachte.

Sie sprach mit den Tieren, ohne die Lippen zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben.

Evie wusste nicht, warum sie die Tiere hörte. Sie konnte es einfach. Und je älter sie wurde, desto häufiger schien es zu passieren. Und es war das Beste überhaupt. Es war ihre ureigene geheime Superkraft. Bisher hatte sie nur einem Menschen davon erzählt. Ihrem Dad. Und der hatte gesagt, sie dürfe es keinem anderen sagen. Niemals.

»Du bist besonders, aber das kann auch Probleme mit sich bringen. Zu hören, was du hörst … kann zu schlimmen Dingen führen. Zu sehr schlimmen Dingen«, sagte er. »Glaub mir. Du darfst niemandem davon erzählen. Und ganz gleich, was du hörst, du darfst niemals zu den Tieren sprechen. Ihnen niemals erwidern. Du weißt schon, im Kopf. «

Also tat sie es nicht. Und niemand wusste von ihrem Geheimnis.

Zumindest glaubte sie das.

Bis zu dem Tag mit dem Kaninchen.

Ein Vogel namens Schnabel

Der Tag mit dem Kaninchen begann mit einem Vogel.

Genauer gesagt war es ein Spatz.

Der Spatz – ein rotbrauner Haussperling – hieß Schnabel.

Evie hatte schon öfter mit ihm geplaudert. Eine Gedankenplauderei, keine Mundplauderei. Aber doch eine Plauderei.

Der Vogel holte sich oft die Körner, die Evie auf ihr Fenstersims legte. Sie klaubte sie heimlich von dem Sechskornbrot, das ihr Vater so gern kaufte.

Evie konnte nicht immer die Gedanken der Tiere hören. Es gab Tage, da vernahm sie nicht einen einzigen Tiergedanken. Aber Schnabel gehörte zu denen, die leicht zu verstehen waren. Allerdings nicht so leicht wie Hunde, kein Lebewesen war so leicht verständlich wie ein Hund.

»Du kommst mir heute traurig vor, Evie«, dachte Schnabel, während er Körner pickte und Evie aus dem Fenster in den Morgenhimmel starrte.

Und dann zeigte Evie Schnabel das Foto ihrer Mum, das sie am Bett stehen hatte. »Ich vermisse sie, Schnabel. «

»Ich vermisse meine Mum auch«, sagte Schnabel. Nicht mit dem Schnabel, sondern in Gedanken. »Ehrlich gesagt kannte ich sie nur kurz, aber ich glaube, sie war toll. «

»Ich kannte meine auch nicht wirklich. Das heißt, ich erinnere mich nicht an sie. Alles, was ich über sie weiß, hat mir Granny Flora erzählt. Und Dad natürlich. Aber der hat nicht so viel erzählt, wie man erwarten könnte. Ist es nicht komisch? Jemanden vermissen, den man nicht wirklich gekannt hat?«

»Keineswegs. Ich vermisse alle Freunde, mit denen ich mich noch nicht angefreundet habe. Und ich habe bereits Tausende. Wir fliegen zusammen herum. Aber ich bin noch neu. Jung. Habe noch keinen Winter erlebt. In Zukunft werde ich mich mit vielen Freunden anfreunden. Und ich vermisse sie, denn bestimmt werden sie besonders sein. «

Evie versuchte, nicht länger traurig zu sein. »Wie ist es, wenn man fliegt, Schnabel?«

»Fliegen ist das Einfachste der Welt. Wenn man Flügel hat, soll man sie auch benutzen. Das ist Freiheit. Du fliegst, wohin du willst, rauf und runter, hin und her; der Wind streicht dir durchs Gefieder, und du frisst alle Insekten, die des Weges kommen. Du würdest es mögen, Evie. «

»Klingt gut. Bis auf die Insekten. «

»Nur wer frei ist, kann er selbst sein«, erklärte Schnabel.

»Hmm. Sagt man so. «

In dem Moment klopfte ihr Dad an die Tür und öffnete sie einen Spalt. Schnabels kleiner Kopf fuhr herum.

»Oh, oh«, dachte er.

»Auf geht’s, Evie«, sagte ihr Dad und streckte den Kopf herein. »Zeit für die Schule. « Er bemerkte das offene Fenster und den Spatz, der in den Himmel davonflog.

Er sah auch die Körner auf dem Fenstersims. »Evie, was habe ich dir gesagt? Du sollst doch nicht die Körner von unserem Brot an die Vögel verfüttern. «

»Tut mir leid, Dad. Es ist nur, weil ich kein Haustier haben darf … «

»Du hast doch nicht etwa versucht, mit diesem Vogel zu sprechen? In Gedanken, meine ich?«

»Nein«, log Evie. Es blieb ihr keine andere Wahl. Dad hatte ausdrücklich gesagt, dass sie die Stimmen der Tiere ignorieren sollte, die ihr in den Kopf kamen. Ansonsten würden SEHR SCHLIMME DINGEpassieren. Was das für Dinge waren, sagte er nicht. Und das war nervig. Vor allem weil Evie so gern ein Haustier gehabt hätte. »Ich habe nicht mit dem Vogel gesprochen. «

»Gut«, sagte ihr Dad. Er wirkte müde. Bis spät in die Nacht hatte er in der Garage gearbeitet und Möbel von anderen Leuten repariert. Vielleicht vermisste auch er Mum. Schwer zu sagen. Evie wünschte sich, ihr Dad wäre so leicht zu verstehen wie ein Hund.

Das wünschte sie sich oft. Wenn er sich doch nur für ein kurzes Weilchen in einen Hund verwandeln würde … Als Hund könnte sie ihn verstehen. Ein großer sabbernder Bluthund. Hunde konnten nämlich gar nicht anders, als einem Dinge zu erzählen. Durch eine Art Sprechen, aber nicht mit dem Mund wie bei den Menschen. Man musste nicht mal ihre Gedanken lesen, um zu merken, dass sie ständig schwatzten. Jedes Schwanzwedeln, jedes Bellen, jedes Winseln, jedes Neigen des Kopfes, jedes sanfte Anstarren, jedes Schnaufen und Prusten ist eine Art Sprechen. Es sagt etwas. Die meisten Menschen können sich weniger gut ausdrücken. Vielleicht sind sie deshalb auf Wörter angewiesen. Ohne deren Hilfe verstehen sich Menschen einfach nicht.

Vor allem Väter. Sie sind die kompliziertesten Tiere, die man sich vorstellen kann.

»Jetzt«, sagte er. »Schule. «

Ein Kaninchen in Not

Einige Stunden später saß Evie neben ihrer besten Freundin Leonora Brightside in der Mensa der Lofting Primary School.

Evie aß Gemüselasagne und hörte Leonora zu, die von ihrem neuen Hundewelpen erzählte, einem Malteser Terrier namens Bibi. Natürlich hatte sie ein Foto auf dem Handy.

Leonoras Eltern waren bekannte Videoblogger. Ihr Blog – LIFEONTHEBRIGHTSIDE – hatte zwei Millionen Follower auf YouTube. Seit dem Tag ihrer Geburt spielte Leonora in den Videos die Hauptrolle. Selbst ihre Geburt war gefilmt worden, und die Folge »Unser kleines Mädchen« wurde 17.637.239 Mal angeklickt.

»Mum hat ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass Malteser Terrier bei Internetnutzern die beliebteste Hunderasse ist. Das könnte uns Klicks bringen. Mein Dad ist zwar allergisch auf Hunde, aber Mum sagt, dann muss er eben niesen. Bisher hat Bibi ihn nicht zum Niesen gebracht. «

Natürlich wusste Evie warum. »Diese Rasse ist hypoallergen, weil sie nicht haart. «

»Aha«, sagte Leonora, während sie ihre mitgebrachten Sushi-Rollen aß. »Du musst sie dir ansehen! Heute Abend! Du wirst sie lieben. Wo du doch alle Tiere magst. Sogar die ekligen. Sogar Kakerlaken. Dann wirst du Bibi erst recht lieben. Sie ist einfach zum Niederknien. Du könntest in einem unserer Videos mitmachen! Wenn, na ja, wenn du vorher ein bisschen was für deine Haare tätest. «

»Was ist verkehrt an meinen Haaren?«

»Sie sind bloß ein bisschen, wie soll ich sagen, spaghettimäßig. «

»Ach ja? Und ich dachte, es wären Haare«, sagte Evie, die sich nicht sonderlich um ihr Aussehen kümmerte. Für eine Elfjährige war sie ziemlich groß, mit einer ziemlich kleinen Nase und ziemlich runden Augen. Alles an ihr war so ziemlich. Nur ihr Lächeln fiel auf; es sei ein »freundliches Lächeln« oder ein »kluges Lächeln«, sagten die Leute, und das war immerhin besser als ein unfreundliches oder dämliches Lächeln. Doch das Einzige, was Evie an sich wirklich okay fand, waren ihre (ziemlich) braunen Haare, denn sie waren genauso braun und glatt wie die auf allen Fotos ihrer Mum.

»Hahahahahaha«, lachte Leonora und machte Selfies von sich mit einem Einhorn-Filter. Ein Einhorn, das Sushi isst. »Du bist echt ZUMPIEPEN, Evie. Ach, wie ich dich liebe! Aber keine Sorge, die inneren Werte zählen. Sagt Jay immer. Das ist Dads persönlicher Fitnesstrainer und wohlgemerkt ein männliches Model. «

Evie zuckte die Schultern. Manchmal fehlten ihr die Worte für Leonora. Es war, als ob Leonoras Worte Wasser wären und sie nur den Atem anhalten und warten müsste, bis es sich ausgeplätschert hatte. Evie fragte sich manchmal, wieso sie überhaupt mit Leonora befreundet war, wo die es immer wieder schaffte, dass Evie unzufrieden mit sich war.

Nach dem Mittagessen wollte Evie allein sein, und das ging am besten in der Schulbücherei. Sie liebte die Schulbücherei. Dort gab es jede Menge Bücher über Natur und Tiere. Ihr war eingefallen, dass sie noch ein Buch zurückbringen musste – Das Lexikon der gefährdeten Arten.

Sie hatte es in zwei Tagen von vorne bis hinten durchgelesen und war empört, als sie von den verschiedenen Tigerarten erfuhr, die schon ausgestorben waren, und von den vielen anderen bereits gefährdeten Arten. Aber noch empörter war sie, als sie von den Lederschildkröten las, den größten Meeresschildkröten, von denen es kaum noch welche gab. Dabei existierten sie seit hundertzehn Millionen Jahren, seit der Zeit der Dinosaurier. Menschen gab es gerade mal seit zweihunderttausend Jahren – und das war nicht mal annähernd eine Million. Da war es doch ziemlich frech, ja geradezu unverschämt, dass wir alle diese Tiere in Gefahr brachten, die es schon so lange gab und die prima ohne uns zurechtgekommen waren. So jedenfalls dachte Evie.

Sie machte sich also mit dem Lexikon in der Hand auf den Weg in die Schulbücherei. Im Korridor kam sie an Kahlo vorbei.

Kahlo war das neue Schulkaninchen. Aus irgendwelchen Gründen war es nach der berühmten mexikanischen Malerin Frida Kahlo benannt und lebte in einem Stall vor dem Büro der Schulsekretärin.

Das einzige Mal, dass Evie Kahlo denken gehört hatte, war gestern gewesen, als sie mit Leonora hier vorbeigegangen war. Das Kaninchen hatte gerade an seiner Trinkflasche genuckelt, als Evie einen Gedanken aufschnappte. »Oh nein. « Doch weil Leonora dabei gewesen war, hatte sich Evie nicht weiter darum gekümmert, ob mit Kahlo alles in Ordnung war.

Doch jetzt hörte Evie es wieder.

Eine Stimme, ein Wispern, ein Winseln, ein Etwas.

Evie fuhr herum.

»Da, schon wieder eine«, dachte Kahlo bei sich. »Eine, die einfach vorbeigeht. Ohne einen Gedanken an mich zu verschwenden. «

Evie blieb stehen.

»Oh, wie schrecklich. Sie werden sterben ohne mich. «

Evie starrte das Kaninchen an. Sie hatte herausgefunden, dass es leichter war, die Gedanken eines Lebewesens zu hören, wenn man es anstarrte.

»Was ist los, Kahlo?«, fragte sie lautlos, denn ein paar Jungen aus dem Jahrgang unter ihr stießen sich bereits an und kicherten darüber, dass Evie das Tier so anstarrte.

Das Kaninchen reagierte nicht auf die Frage, deshalb stellte Evie sie noch einmal. Dabei flüsterte sie vor sich hin, damit der Gedanke in ihrem Kopf ganz klar und eindeutig wurde.

»Kahlo. Was. Ist. Los?«

Kahlo sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie hatte ein niedliches, aber trauriges Gesicht und Ohren, die an der Stalldecke anstießen.

»Du verstehst, was in meinem Kopf vorgeht?«, denk-fragte das Kaninchen.

»Ja. «

»Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der das konnte. Mit anderen Tieren passiert es ständig … Aber ein Mensch? Das muss sehr selten sein. «

Evie wusste natürlich, dass Kahlo recht hatte. Eine Katze hatte ihr mal gesagt, es läge an der Arroganz der Menschen – und das aus dem Mund einer Katze.

Kahlo presste ihr Gesicht gegen das Drahtgitter und flehte Evie mit glänzenden, verzweifelten Augen an.

»Ich gehöre nicht hierher. Ich wohne in den Wäldern. Man hat mich einfach weggeholt aus dem Wald der Löcher. Ich sollte in meinem Bau sein. Ich gehöre zu meiner Kolonie. «

»Der Wald der Löcher?«

»Ja. Gar nicht weit von hier. Brenda hat mich gestohlen. «

»Brenda? Wer ist Brenda?«

»Brenda. Brenda Baxter. «

Evie musste lächeln. »Mrs Baxter heißt Brenda? Erstaunlich. Brenda Baxter. « Dann erst wurde ihr klar, was Kahlo da gerade gesagt hatte. »Mrs Baxter, die Direktorin? Sie hat dich eingefangen?«

»Genau. «

»Aber das ist ja schrecklich! Die würde so was nie tun. «

»Wenn ich’s dir doch sage. Kaninchen lügen nicht. Ich wurde gekidnappt. Sie hat mich einfach mitgenommen. Aber ich muss unbedingt zurück. Zu meiner Familie. Meine Mum lebt noch. Weißt du, was es bedeutet, von seiner Mum getrennt zu sein?«

Evie empfand eine tiefe, vertraute Traurigkeit. »Oh ja, nur zu genau«, sagte sie.

»Bitte. Sie ist weniger als zweihundert Hoppler entfernt. Überhaupt Hoppeln! Wie ich das vermisse! Hier drin schaffe ich nicht mal einen Hoppler, ohne mir den Kopf anzuhauen. Du musst mir helfen. Du bist die Einzige, die mich hört. «

Plötzlich wurde Evie unsicher. Sie sah sich um. Keiner da. »Wie kann ich dir denn helfen?«

»Du musst mich hier rausholen. «

Kaninchenwelt

»Wie fändest du es denn, hier drin eingesperrt zu sein?«, fragte Kahlo. »Auf ein bisschen Stroh zu liegen und durch diese Metallquadrate zu starren. Und dabei von der blöden Röhre einer Wasserflasche gepikst zu werden. Jeden Tag versuchen Hunderte von Menschenfingern, dich zu stupsen. Sieh dir diesen Stall doch an. Könntest du hier leben?«

»Vermutlich nicht«, erwiderte Evie in Gedanken. Diesmal flüsterte sie nicht mal und wurde trotzdem verstanden. Jetzt, wo Evie darüber nachdachte, schien der Stall tatsächlich besonders klein für ein so großes Kaninchen.

»Bitte. Du musst mir helfen … «

Evie schluckte. Panik ergriff sie bei dem Gedanken, was ihr Dad sagen würde, wenn sie dem Schulkaninchen zur Flucht aus seinem Stall verhalf. Selbst aus einem besonders kleinen Stall wie diesem hier.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Sie ließ das Kaninchen allein und rannte in die Bücherei. Bis Mrs Baxter auf einmal leibhaftig vor ihr stand.

»In den Korridoren wird nicht gerannt, Evie«, sagte sie scharf.

Evie blieb stehen. Sie drehte sich um. Blickte in Mrs Baxters strenges Gesicht. Der Mund darin war verkniffen wie ein Katzenpopo. »Mrs Baxter, äh, kann ich Sie was fragen?«

Mrs Baxter seufzte. »Wenn’s sein muss?«

»Glauben Sie, es wäre vielleicht möglich, für Kahlo, das Kaninchen, einen neuen Stall zu bauen?«

»Sie hat doch schon einen«, blaffte Mrs Baxter.

»Einen größeren Stall, meine ich. Damit sie herumhoppeln kann. Es muss doch schlimm sein für ein Kaninchen, wenn es nicht hoppeln kann. Wir könnten daraus ein … ein Projekt machen. «

»Kahlo ist ein Kaninchen. Sie bleibt in dem Stall, den sie bekommen hat. Es gibt keinen größeren. Kein Fünf-Sterne-Kaninchenhotel. Keinen Stall mit Swimmingpool. «

»Ich bin ziemlich sicher, Kaninchen wollen keinen Swimmingp… «

Mrs Baxter wedelte mit der Hand, als wäre Evie eine lästige Fliege bei einem Picknick. »Also, Evie. Nächste Woche kommt der Schulinspektor, und ich habe wichtige Büroarbeit zu erledigen. Auf Wiedersehen. «

Evie ging in die Bücherei.

Sie gab das Lexikon der gefährdeten Arten zurück. Dann fand sie ein Buch mit dem Titel Kaninchenwelt. Ein Fotobuch. Auf Seite dreiundneunzig entdeckte sie das Bild eines Kaninchens, das Kahlo so ähnlich sah, dass es Kahlo hätte sein können. Und es rannte auf einer Bergflanke herum, die voller Löcher war. Zusammen mit massenhaft anderen Artgenossen. Und obwohl es ein Foto war, konnte man die Gedanken des Tiers lesen. Evie hatte das deutliche Gefühl, dass es glücklich war.

Und dann klingelte es. Sie stellte das Buch ins Regal zurück und verließ die Bücherei.

Als sie an Kahlo vorbeikam, spürte sie wieder deren Gedanken. Und diesmal spürte sie auch die Traurigkeit, ganz so, als wäre es ihre eigene. Ihr Körper wurde richtig schwer davon. Gleich würde sie in Tränen ausbrechen, mitten im Schulkorridor. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als wäre sie das Kaninchen.

»Oh nein«, flüsterte Evie.

In dem Augenblick wusste Evie, dass sie keine andere Wahl hatte. Hätte man sie in diesen zu kleinen Stall gestopft, hätte sie auch auf Hilfe gehofft.

Gleichzeitig wusste sie, dass sie dabei war, eine große Dummheit zu begehen.

»Bitte«, sagte Kahlo. »Hilf mir. Ich muss hier raus. «

Evie wartete, bis zwei kleine Zweitklässler an ihr vorbei waren, dann machte sie die beiden Riegel auf und holte Kahlo aus dem Stall. Sie war schwerer und wärmer, als Evie erwartet hatte.

Evies Herz klopfte wie wild. Dasselbe tat – sie spürte es genau – das Herz des Kaninchens. Wenn sie erwischt würde, bekäme sie den größten Ärger ihres Lebens. Sie würde von der Schule fliegen. Oder Schlimmeres.

Mit dem Kaninchen im Arm rannte Evie aus der Schule. Sie rannte über den Pausenhof und setzte Kahlo ins Gras. Mit bebenden Barthaaren sah das Kaninchen zu ihr auf.

»Danke. Vielen Dank! Du wirst in die Geschichte eingehen als der Mensch, der gut ist. Vielen, vielen Dank … «

»Lauf«, sagte Evie. »Schnell, bevor jemand uns sieht. «

Und Kahlo war schnell. Evie sah ihr nach, wie sie davonhoppelte, zu dem Zaun am Rand des Schulhofs. Links dahinter begannen die Weiden, voll mit Kühen und Bullen. Rechts lag Lofting Wood. Der Wald der Löcher, wie Kahlo ihn nannte.

»Los, weiter«, drängte Evie und hoffte, der Gedanke würde bei dem Kaninchen ankommen, das schon ein gutes Stück entfernt war. »Und bleib nicht stehen, bis du dort bist. «

Evie ging in die Schule zurück. Sie hoffte, dass niemand ihre Tat beobachtet hatte. Da spürte sie, wie Kahlos Kaninchengedanken in ihren Kopf hoppelten: »Sag Bescheid, wenn ich dir jemals einen Gefallen tun kann. «

Wie Evie sich mit Leonora verkrachte

Evie war in Leonoras gigantischem Wohnzimmer.

Leonora hatte ihrer Mum getextet, die Leonoras Dad getextet hatte, der Evies Dad getextet hatte, der wiederum zurückgetextet hatte, dass es okay sei.