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Die Welt ist gespalten. Exzess und Vernunft. Party, Orgien und Pillen auf der einen Seite, Selbstgeißelung, Gesetze und Monotonie auf der anderen. Zumindest sieht es so der Mittzwanziger Bac, der im Exzess aufgewachsen ist. Für ihn gibt es nur noch einen Weg, die Menschen aus der Vernunft von der einzig wahren Freiheit des Exzesses zu überzeugen: Sich dem seit Jahrzehnten tobenden Krieg anschließen. Über Umwege gelangen ausgerechnet er und seine große, toxische Liebe, Rahel, als Gefangene in der Vernunft. Wohl oder übel müssen sie sich den dortigen Konventionen anpassen. Dabei bemerken beide auf ihre eigene Art und Weise, dass die Vernunft durchaus auch gute Seiten hat. Manche Dinge laufen sogar besser als im Exzess. Zum ersten Mal seit Jahren wieder ohne chemische Substanzen im Blut, sehen sie die Welt, in der sie aufgewachsen sind, mit ganz anderen Augen. Schon bald stellt sich für beide also die entscheidende Frage: Was will ich wirklich? Exzess oder Vernunft?
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Seitenzahl: 530
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Während seiner Schauspielausbildung an der Akademie für Darstellende Kunst Bayern wuchs in Julian Niedermeier nicht nur die Kreativität für das Schauspiel, sondern auch für das Schreiben. Inzwischen hat er neun Theaterstücke geschrieben. Seine gesellschaftskritische Szenencollage „dead.zero“ wurde am Landestheater Niederbayern im Rahmen der Niederbayrischen Volkstheatertage als Lesung uraufgeführt und gewann dort den Preis für das beste eingereichte Stück. Seine Komödie „Was die Putzfrau sah“ wurde vom Deutschen Theaterverlag verlegt, die Komödie „Mord unter Hypnose“ ist im adspecta Theaterverlag erschienen, die Komödie „Der Käse muss hoch hinaus“ im cantus Theaterverlag. Regelmäßig organisiert er eigene Lesungen und ist deutschlandweit als Poetry-Slammer unterwegs. Seine Texte sind in dem Buch „So etwas wie Freiheit“ (ISBN 978-3-7519-5163-0) sowie im Buch „Eine dieser Partys“ (ISBN 978-3-7108-9536-4) zu finden.
Für Susi. Du warst Familie für mich. Wir sehen uns wieder.
TEIL I - Der Exzess -
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
TEIL II - Die Vernunft -
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
TEIL III - Freiheit -
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
ANHANG
Nachwort
Werke von Julian Niedermeier
LESEPROBE
Zufriedenheit
Satan
Ende der Leseprobe
Die Dröhnung schlug ein, als ich auf die Dachterrasse stieg. Ich hatte zwei Power Ups eingeschmissen. Doppelte Dosis. Genau das, was ich heute brauchte. Ich setzte mich. Musste runterkommen. Mein Körper zappelte, alles krabbelte. Ich wollte tanzen. Doch mein Kopf gab noch keine Ruhe. Immer wieder Flashbacks zu vorhin, gerade eben, vor zwei Tagen, Monaten, Stunden – die Zeit ist nicht mehr anwesend. Kein Raum, keine Zeit.
Die volle Wirkung durchströmt meine Venen. Herzrasen. Flashback. Rahel auf mir. Nackt. Zum ersten Mal in meinem Leben ficke ich meine Traumfrau. Meine beste Freundin, meine Seelenverwandte. Es ist heiß. Also jetzt. Ich stehe auf. Natürlich nicht, als sie mich fickt. Da bleibe ich sitzen. Ich genieße und weine. Sie auch. Wir liegen nebeneinander. Irgendetwas stimmt nicht. Wir sind glücklich, aber irgendetwas passt nicht.
„Wir passen nich‘, Bac“, sagt sie. „Das geht einfach nich‘.“
Ich werde von einem Typen, der mich angrabscht, zurück auf die Dachterrasse katapultiert. Ich schubs ihn weg. Nicht jetzt. Jetzt versuche ich, zu verstehen, was zwischen meiner besten Freundin und mir nicht passt. Was da nicht geht. Ich verstehe das nicht. Ich habe nie so empfunden. Diese Liebe für Rahel ist einzigartig. Sie ist perfekt. Exzess in Person. Wild, unbändig, krass und unfassbar scharf. Ich will sie. Immer schon. Immer sagt sie nein. Nicht mal Sex. Sie will das nicht kaputt machen. Was soll das heißen? Ich verstehe das nicht. Niemand versteht das. Sie vögelt jeden, nur mich nicht. Was passt denn da nicht? Wir haben fantastischen Sex. Brillant.
Das ist gelogen. Ich habe ihn irgendwann nicht mehr hochbekommen. Druck. Traumfrau. Da hilft auch kein Steifmacher. „Zu viel Alk“, rede ich mir ein.
„Von wegen unfassbar scharf“, redet sie sich ein.
Wir weinen vor Glück, vor Wut, vor Verzweiflung. Glaube ich. Warum fickt sie auf einmal mit mir? Sonst nein, jetzt ja? Warum? Sie fängt sogar an. Gibt mir einen Smiley und einen Steifmacher. Die Sache ist klar. Sie zieht sich aus. Glasklar. Ich frage nicht lang. Wie lange wir es tun, weiß ich nicht. Immer wieder hören wir auf. Weinen. Lachen. Liegen einander in den Armen. Oder bilde ich mir das nur ein?
Ich schreie. Zünde mir eine Zigarette an. Warum sind meine Gedanken immer noch bei dieser Scheiße? Raus da! Aber es hat sich eingebrannt. Meine dritte Zigarette verraucht. Ich schnippe den Filter weg.
Sie will ihre Ruhe. Sie will, dass ich sie nicht mehr frage. Sie bringt es hinter sich.
Es ist Mitleid.
Nicht mehr und nicht weniger. Danach geht sie. Wir küssen uns zum Abschied. Fast so, als wäre es normal. Es ist der erste Abschiedskuss, seit ich sie kenne. Und mit Sicherheit der letzte.
Ich schreie nochmal. Ich will doch nur steilgehen. Tanzen. Ficken. Vergessen. Wir tun so, als wäre alles normal, wenn wir uns sehen. Reden nicht darüber. Wiederholen es nicht. Alles nie passiert. Zurück auf Anfang. Ich will tanzen. Doch mein Kopf gibt keine Ruhe. Ich stehe in einer Masse aus schweißnassem, tanzendem Fleisch. Ich bewege mechanisch meine Beine, aber mein Blick ist irgendwo im Nirgendwo. Bei Rahel. Meine beste Freundin, die aus Mitleid mit mir fickt.
„Es passt nich‘, Bac.“
Ich gebe Gas. Zappel wie verrückt. Verrückt nach meiner besten Freundin. Alles, was ich mir immer gewünscht habe, war Erlösung. Endgültige Glückseligkeit. Befreiung. Ich finde kein Wort. Es ist eine stetige Unbekannte in meinem Leben, die ich nie zu sehen bekomme, aber ständig fühle. Ein konstanter Drang nach ...
Ich hatte immer gedacht, Sex mit ihr würde mich von dieser unbändigen Lust befreien. Diese lodernde Liebe löschen. Doch sie flammt nur noch wilder. Ich fühle nur noch mehr. Mehr Schmerz. Mehr Hingabe. Mehr Aufgabe.
Rahel. Der Exzess in Person. Ich will mich hingeben, aufgeben.
Ich schreie. Schmeiße die Arme in die Luft. Der dumpfe Beat übertönt allmählich meine Gedanken. Die Nebelmaschinen lassen alles verschwimmen. Ich verschwinde in der wabernden Masse um mich herum. Bin ein Teil des tanzenden Kollektivs mit dem Konsens, vergessen zu wollen. Genießen zu wollen. Leben zu wollen.
Langsam drifte ich weg. Endlich.
Es war gut einen Monat her und ich dachte dennoch unentwegt an die Nacht mit Rahel. Der Dunst der Pillen ließ mich langsam vergessen und vernebelte meine immer wieder aufploppenden Erinnerungen, doch von Konzentration bei der Arbeit konnte noch lange nicht die Rede sein.
Nur gut, dass diese in meinem Beruf ohnehin nicht nötig war. Ich war dem Beispiel meines Kumpels Pierre gefolgt und war mit fünfzehn in die Einheit der Experimentellen, kurz EdE, eingetreten. Es handelte sich dabei um eine Partei, die er nach seiner Zeit am Abgrund ins Leben gerufen hatte.
Die Einheit der Experimentellen engagierte sich hauptsächlich dafür, unsere Truppen zu unterstützen. Dabei war es völlig gleichgültig, welcher Miliz sie angehörten. Wir verschickten Carepakete, organisierten Treffen zwischen Angehörigen und Soldaten und hauten ohne Ende Werbung raus, um auf die Opfer aufmerksam zu machen, die diese Helden für uns erbrachten.
Außerdem ließen wir ihnen kleine Clips zukommen. Grußbotschaften, Pornos, was auch immer das Leben für sie ein wenig normaler machte. Sie sollten einfach sehen, dass wir alle hinter ihnen standen. Auch kümmerten wir uns um die Hinterbliebenen. Riefen für sie zu Spendenaktionen auf und organisierten Treffen für Veteranen und Kriegsopfer.
Mein Job in der EdE bestand hauptsächlich darin, Grafiken für die Werbung zu entwerfen. Kurz gesagt, ich hing die meiste Zeit vor einem Computer herum und versuchte, auf möglichst spannende und kreative Art und Weise zu sagen, wie stolz wir auf unsere Leute im Abgrund waren.
Es war die mit Abstand lässigste Arbeit in der ganzen EdE. Ich musste nur, wenn ich mal wieder vor Ort war, ein bis zwei Entwürfe einreichen und das war‘s. So konnte ich seltener als alle anderen kommen und sogar kürzer bleiben. Das schlug sich zwar auch in meinem Gehalt nieder, aber ich kam trotz allem gut über die Runden. Mitunter deshalb, weil mir Pierre, wann immer ich ihn darum bat, Geld lieh. Seit ich denken konnte, hatte er es nie zurückverlangt.
„Sind die Flyer fertig?“, hörte ich ihn hinter mir.
In der Hand hielt er einen seiner geliebten Notizblöcke, in denen er kleine vierfenstrige Comics zeichnete. Der Clue dabei war, dass er das vierte Fenster freiließ. Er nannte dieses Ewigkeitsprojekt „Pointenless“. Dass das Zeichnen von Comics natürlich verboten war, hinderte ihn nicht daran, stets einen ganzen Block vollzukritzeln, um ihn anschließend zu verbrennen. Allerdings nicht, ohne mir und einigen engen Freunden vorher die Ergebnisse gezeigt zu haben.
„Musst dich nur noch für ‘n Motiv entscheiden“, antwortete ich.
„Sehr gut. Lass das morgen machen“, sagte er und versteckte den Block in seiner schwarzen Lederweste. „Ich hab‘ Hunger. Wohin willste? Burger? Lass Burger nehmen. Was meinste, Burger okay?“
„Burger okay“, grinste ich.
Pierre war ein Mann, der ohne Weiteres als außerordentlich dick bezeichnet werden konnte. Alles andere hätte aber auch nicht zu seiner hünenhaften Statur gepasst, die gleichzeitig Autorität und Gemütlichkeit ausstrahlte. Er hatte große, tattooübersäte Pranken und stämmige Beine, mit denen er immer ein wenig zu breit dastand. Er trug seine langen, inzwischen eher grauen als blonden Haare zu einem schlichten Zopf gebunden, während sein Bart wie ein unordentliches Buschwerk zu seiner Brust hinab wucherte.
Wir verließen das alte Eckhaus mit den großen Fensterfronten und gingen Richtung Stadtmitte. Ecstacity war die letzte Großstadt, bevor man den Abgrund erreichte, weshalb die EdE hier Stellung bezogen hatte.
Wir streiften durch die spärlich beleuchteten Straßen, vorbei an den Fressbuden, Kneipen, Clubs und den vielen leer stehenden Gebäuden. Die Fassaden abgefuckt, wie überall. Bröckelnder Putz, verschmierte Wände, verdreckte, wenn nicht gar zersplitterte Scheiben. Das ganze Erscheinungsbild meiner Geburtsstadt war dreckig und rau – eine absolut durchschnittliche Stadt des Exzesses und damit ganz nach meinem Geschmack.
Ich war nie ein großer Fan der Technologie gewesen. Selbstfahrende Autos, grell blinkende Städte, riesige Bildschirme. Das war was für die Städte weiter hinten, aber nichts für mich. Ich suhlte mich gerne im Dreck.
Der Exzess wird erst im Kaffeesatz sichtbar, wie man so schön sagt. Alles andere war nur polierte Scheiße.
„Schon mit Rahel geredet?“, fragte Pierre und schnippte dabei seine glühende Zigarette in die laue Sommernacht.
Ich antwortete nicht. Das war Antwort genug. Er nickte.
„Ich versteh‘ dein Problem nich‘.“
„Musst du auch nich‘.“
Er brummte und schüttelte den Kopf.
„Als du klein warst, haste ständig aufs Maul bekommen. Du warst nich‘ sonderlich gut drin, dich zu wehren. Aber du bist immer wieder aufgestanden und in die nächste Prügelei. Du warst zäh und hast durchgehalten. Verstehste, was ich mein‘?“
Ich nickte. Weiterficken. Vergessen. Immer dieselben Ratschläge.
Er bot mir eine Smiley an, um mich aufzumuntern. Ich nahm dankend an und schluckte die Pille. Binnen kürzester Zeit lachte ich darüber, wie Pierre und der Rest des Rudels mir früher das Kämpfen beigebracht hatten.
Wir kamen an unserem Lieblingsburgerladen an, dem Burgerlee. Benannt nach seinem Besitzer, dem kleinen, rundlichen Mr. Lee. Er war ein geselliger, immerzu lächelnder Typ, der mehrmals täglich mit einer seiner Angestelltinnen im Kühlraum verschwand. Allerdings nicht, ohne kurz zuvor sämtliche Leute zu fragen, ob jemand noch etwas bestellen wollte, da die Küche für die nächste halbe Stunde nicht besetzt sei. Natürlich vögelte er nicht immer dieselbe, sondern schnappte sich diejenige, die gerade Zeit und Lust hatte. Lust hatten sie eigentlich immer. Warum auch nicht.
Wir bestellten zwei Cheeseburger mit Pommes und Mayo. Die besten in der ganzen Stadt. Das älteste Gericht der Welt, wie Pierre stets zu sagen pflegte. Tatsächlich gab es schon ein Video von ihm und meinen Erzeugern, wie sie im Burgerlee gegessen hatten, als sie noch in meinem Alter waren. Vielleicht war es auch deshalb mein Burgerladen Nummer eins. Das Ambiente des Ladens war es zumindest sicher nicht, was mich immer wieder hierherkommen ließ.
Kalte Neonröhren, mehrere Sitzgruppen, ein grauer Tresen mit schwarzen Barhockern davor. Weiße Wände voller Fettspritzer, hier und da ein Foto der Gründer des Ladens und eine große Kreidetafel, deren Tagesangebot sich, seit ich dort essen ging, nie geändert hatte.
Cheeseburger mit Pommes und Mayo.
„Schon ‘n Plan für heute?“, fragte Pierre, sich Mayonnaise aus dem Mundwinkel wischend.
„Keine Ahnung. Vielleicht ins Tripper. Mal schauen, wer alles da is‘.“
„Klar, Tripper. Was frag‘ ich überhaupt.“
„Es is‘ die größte und geilste Location Ecstacitys, Pierre“, antwortete ich, wie immer verwundert darüber, dass mein Freund es noch nie besucht hatte.
„Mag ja sein, dass es die größte is‘, aber die geilste – I don’t know.“
„Du hast ja keine Ahnung.“
Er zuckte die Schultern und nahm einen großen Bissen von seinem Burger.
„Du bist Mitte zwanzig, Bac, ich bin Ende fünfzig. Das sind Welten“, sagte er schmatzend.
„Da sind auch Alte“, erwiderte ich.
„Darum geht‘s doch gar nich‘. Warte: Du denkst, ich bin alt?“
„Na ja ...“
„Fick dich, Bac“, lachte er. „Was ich sagen will, is‘, dass ich weiß, was mir gefällt. Warum sollt‘ ich irgendwohin, wenn ich weiß, dass es mir nicht taugt?“
„Der Exzess sagt, frag niemals warum, sondern nur, warum nich‘“, entgegnete ich schnell.
Pierre nickte und lächelte.
„Ich werd‘ heut‘ mit ‘nem alten Kumpel vom Abgrund unter der Brücke saufen“, tat er das Gespräch ab. „Kannst gerne nachkommen. Werden ‘n Lagerfeuer machen, vielleicht dort pennen. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Heißt ja nich‘ umsonst Flussbett, ‘ne?“
Er lachte einmal laut auf. Es war sein typisches, kurzes Lachen, das so laut war, dass meist der ganze Raum, und sei er noch so groß, zusammenzuckte. Auch wenn ich kein Freund seiner Wortspiele war, lachte ich aus Höflichkeit mit. Das war ihm zwar bewusst, aber völlig gleichgültig.
„Ich überleg‘s mir. Jetzt schau ich erst mal, was im Tripper so geht, und dann komm ich gerne nach. Soll ich was mitbringen?“
„Nee, nee, alles dabei. Wir sehen uns so selten, da kannste von ausgehen, dass wir uns eindecken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kissen, Decken, alles im Auto. Eingedeckt, versteht du?“
Sein lachendes Gebrüll, das einem Löwen alle Ehre machte, erschallte. Sämtliche Köpfe drehten sich zu ihm um. Im Burgerlee waren nicht viele Leute anwesend. Zwei ältere Männer an der Theke, ein fünfköpfiges Rudel, bestehend aus drei Erwachsenen und zwei Kindern, sowie ein knutschendes Knäuel im hintersten Eck des Ladens. Jeder ihrer entsetzten Gesichtsausdrücke Richtung dröhnendem Pierre war Gold wert und tausendmal lustiger als dessen Witz.
Als ich aufgegessen und er gerade seinen zweiten Cheeseburger bekommen hatte, wischte ich die Hände an meiner Jeans ab und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Es gab noch etwas, das mir im Kopf herumschwirrte. Mal lauter, mal leiser, aber immer pulsierend im Hintergrund. Und das seit inzwischen mehreren Jahren.
„Hör mal, Pierre, du weißt, wie dankbar ich für die easy Stelle in der EdE bin. Das is‘ mega cool. Ist gutes, leicht verdientes Geld. Aber du weißt ja, eigentlich will ich zum Abgrund. Deshalb – …“
„Wie oft denn noch?“, stöhnte er auf.
„Pierre, ich will zum Abgrund.“
„Hör zu, ich versteh‘ dich ja. Ich mein‘, das wollen doch alle in deinem Alter. Aber sag mir, warum nich‘ hier bleiben? Du weißt, dass du den Laden irgendwann übernehmen sollst.“
„Aber warum denn ich?“
„Erstens möchte ich, dass es jemand aus unserem Rudel is‘ – …“
„Dann frag Karim“, warf ich sofort ein.
„Und zweitens ist sonst keiner so vom Exzess durchdrungen wie du. Irgendjemand muss die EdE übernehmen. Du sagst es ja selbst. Ich bin schon alt.“
Er lachte. Ich schüttelte verärgert den Kopf.
Mit einer Sache hatte er allerdings recht. Von allen aus unserem Rudel war ich wohl der Geeignetste, um eines Tages Pierres Platz als Vorsitzender der EdE einzunehmen.
„Unsere Leute zu unterstützen, is‘ auf jeden Fall mehr wert, als dein Leben im Abgrund zu opfern.“
„Aber ich opfer‘ es doch für die richtige Sache. Für das, wofür du gekämpft hast. Wie kann das nich‘ richtig sein?“
„Es is‘ nich‘ richtig, dass du dafür stirbst, wenn du auch anders helfen kannst“, wurde Pierre allmählich lauter, den Blick abgewandt.
„Und wie? Indem ich Werbung gestalte, lustige Videos drehe und täglich irgendwelche Kalendersprüche poste?“
„Besser, als im Abgrund zu verrecken.“
„Das tun andere auch.“
„Ja, aber doch nicht du!“, brüllte er aufgebracht. „Du warst nicht da. Du hast keine Ahnung, wie es is‘, in diesem ewigen Gemetzel zwischen Exzess und Vernunft seine Freunde zu verlieren. Nicht nur das, irgendwann ... irgendwann verlierst du dich selbst. Vergisst, wer du bist.“
Eine unangenehme Stille trat ein.
Ich wusste weder was noch ob ich darauf antworten sollte. Pierre strich sich nachdenklich durch den Bart und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Er schien mit den Gedanken noch immer bei seiner Zeit im Abgrund zu sein. Seine Augen füllten sich langsam mit Tränen.
„Bac, bitte. Ich will dich nich‘ verlieren. Kannste das echt nich‘ verstehen?“
Ich nickte, versuchte aber trotzdem, ihn weiterhin von meinem Wunsch zu überzeugen.
„Pierre, dieser Scheißkrieg muss beendet werden“, meinte ich behutsam. „Wir brauchen endlich Frieden. Das is‘ es doch, wofür wir kämpfen.“
„Stirbst du dort, wirst du den Frieden nie erleben.“
„So wie dutzende Generationen vor und nach mir. So is‘ das Leben.“
„Nein, das is‘ nicht das Leben“, sagte er und ließ den Kopf hängen, um sich den Nacken zu massieren, wobei sein Pferdeschwanz in die Pommes baumelte.
„Pierre, wir müssen uns gegen diesen ewigen Terror der Vernunft wehren. Diese Selbstgeißelung, dieses Nicht-Leben. Das darf nich‘ passieren. Das darf nich‘ die Zukunft sein.“
„Ich weiß“, nuschelte Pierre.
„Darf es einfach nicht“, setzte ich noch einmal energischer nach.
„Ich weiß!“, schrie mein Gegenüber plötzlich und hämmerte seine Faust gegen den Tisch, sodass seine Tasse umfiel und der Kaffee sich über die Pommes ergoss.
Die Leute wandten sich erneut zu uns um. Pierre aber sah mir eisern in die Augen. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und wandte mich der dunklen Lache mit den darin schwimmenden Pommes zu.
Nach einer gefühlten Ewigkeit zerbrachen vier Worte, die ich so von Pierre noch nie gehört hatte, die Stille wie ein Peitschenhieb. „Ich verbiete es dir.“
Ich blickte entsetzt auf. Er sah mich entschlossen an. Ich brauchte eine Weile, um das Gesagte zu verarbeiten. Hatte ich mich auch nicht verhört? Hatte er wirklich „verbiete“ gesagt? Das konnte doch gar nicht sein. Oder?
„Was?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.
Dabei ein Lächeln im Gesicht, sicher, dass ich ihn falsch verstanden hatte. Haben musste.
„Du wirst nicht gehen. Tut mir leid, Bacchus. Ich verbiete es. Basta!“
Was zum Fick war hier los? Seit wann schrieb mir Pierre vor, was ich zu tun hatte? Er hatte mir stets zur Seite gestanden, hatte mich überall mit hingenommen, mich in das Leben, sein Leben eingeführt. Aber er hatte mir nie, niemals, etwas verboten. Ich wusste gar nicht, dass das für ihn eine Option war. Verbot.
Der Exzess sagte, es gibt keine Verbote, nur Möglichkeiten.
War es nicht genau das, wogegen er seit seiner Geburt angekämpft hatte? Verbot, das Wort der Vernunft.
Es herrschte eine noch unangenehmere Stille als zuvor. Er sah mich an, ich sah ihn an. Er entschlossen, ich ratlos. Ich suchte nach Worten, nach Argumenten. Ich hatte keine Ahnung, wie man darauf reagierte. Was sagte man bei einem Verbot?
„Doch“, war das Erste, das mir über die Lippen kam.
„Nein!“, entgegnete Pierre sehr bestimmt - und meine Gedanken gingen wieder von vorne los.
„Ich werde an die Front gehen. So oder so“, protestierte ich.
„Nein, wirst du nich‘. Ich verbiete es dir.“
„Mann, fick dich doch!“, schrie ich von unbändigem Zorn gepackt auf. „Seit Jahren bleib ich hier, nur um‘s dir recht zu machen. Aus Mitleid, mehr nich‘.“
Der Sex mit Rahel huschte durch meinen Kopf. Ich wurde nur noch wütender.
„Ich mach diesen Scheißjob bei der EdE, anstatt wirklich was zu unternehmen. Ich will kämpfen. Die Vernunft besiegen. Und wenn ich dabei draufgehe, so what? Wenigstens ende ich dann nich‘ so wie du.“
Ich hielt erschrocken inne. Pierre sah mich mit großen, verletzten Augen an. Sein Gesichtsausdruck versetzte mir einen derartigen Stich, dass ich ihn keine Sekunde länger ertragen konnte.
Im Hinausgehen hörte ich Mr. Lee noch in die Runde rufen, ob noch jemand etwas wolle, da die Küche für die nächste halbe Stunde nicht besetzt sei.
Niemand antwortete.
Ich hatte Karim angerufen und schlenderte jetzt mit ihm Richtung Tripper, um unterwegs über das Geschehene zu sprechen. Er war sowohl mit mir in einem Rudel aufgewachsen als auch mein mit Abstand bester Freund. Gab es ein Problem, wurde Karim angerufen. Niemand hatte mir öfter sein Ohr geliehen und helfende Ratschläge gegeben als er. Manchmal glaubte ich, er kenne mich besser als ich mich selbst.
„Hm, scheiße gelaufen“, meinte er, als ich ihm von dem Streit erzählt hatte.
Seine Stimme war ruhig und sanftmütig. Ich hatte den Typen nie wütend erlebt, er war die Ruhe selbst. Er hatte weiche Gesichtszüge und kurze, zerzauste Haare. Sein Blick hatte stets etwas beruhigend Liebevolles, seine vollen Lippen meist ein Lächeln aufgesetzt. Ich konnte Ewigkeiten mit ihm quatschen.
Karim war ein magerer, fast schon untersetzter Typ, der, sobald es die Temperaturen zuließen, nackt herumlief. Nur mit Turnschuhen und einer kleinen, schwarzen Bauchtasche schlurfte er neben mir her und zuckte lächelnd die Schultern.
„Klare Sache.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du musst dich bei ihm entschuldigen.“
„Fuck. Kannst du nich‘ so was sagen wie ‚Mach‘ dir kein‘ Stress, das wird schon wieder?‘“
„Könnte ich schon, aber das wär‘ halt dann gelogen. Ihr müsst euch aussprechen. Das darf nicht zwischen euch stehen. Vor allem, wenn du ihn überzeugen willst, dass du zum Abgrund gehst.“
„Muss ich ja nich‘. Ich kann machen, was ich will“, sagte ich, noch immer verbittert über das Verbot, das mir ausgesprochen worden war.
„Pierre auch. Er war ja damals ‘n ziemlich hohes Tier an der Front. Schätze, er hat da immer noch einige Kontakte. Der ruft da kurz an und schon war‘s das für dich, verstehst du? Die lassen dich da erst gar nich‘ hin. Nein, mein Freund, dein Weg führt über Pierre.“
„Shit.“
Karim hatte recht. Das hatte ich nicht bedacht. Wenn Pierre es wollte, war ich innerhalb kürzester Zeit auf irgendeiner Liste und würde von keiner Miliz aufgenommen werden.
Aber wie sollte ich Pierre überzeugen? Ich kannte ihn zu lange und zu gut, als dass ich eine Chance sah, er könnte seine Meinung ändern. So deutlich wie heute hatte er mir seine Haltung dazu noch nie gesagt. Bisher war er immer nur ausgewichen oder hatte mich mit irgendwelchen Ausreden vertröstet. Aber heute ... dieser eiserne Blick. Für ihn war das Ganze abgeschlossen.
Meine einzige Möglichkeit, das Thema überhaupt wieder aufzunehmen, lag darin, Reue zu zeigen. Zumal ich mich tatsächlich mies fühlte. Es war nicht so, dass wir uns nie stritten. Lieber schreiend ausgesprochen als lächelnd totgeschwiegen, wie Pierre immer sagte. Problem war nur, wir hatten uns zwar angeschrien, aber leider nicht ausgesprochen.
„Komm, das hilft jetzt nichts. Später gehst du einfach hin und entschuldigst dich. Dann sehen wir weiter. Aber jetzt wird erst mal steilgegangen.“
Karim packte mich an der Schulter und drückte mich Richtung Eingang unseres Lieblingsortes. Das Tripper.
Die größte und beliebteste Partylocation der Stadt befand sich in einem pompösen steinernen Gebäude mit vielerlei kleinen Verzierungen und Schnörkeln, die im Neonlicht erstrahlten. Früheren Wasserspeiern waren blinkende Partyhüte aufgesetzt worden, die Ecken wurden von Schwarzlichtröhren umschlossen, Lichterketten schlängelten sich um die abgedunkelten Fenster und vor der Eingangstür erstreckte sich ein roter Teppich.
Es gab alles, was das Herz und der Trieb begehrten. Stripclub, Tanzareas, Spielothek, Kneipen, Swingerräume. Drei Stockwerke, zwei Flügel, eine Dachterrasse und ein Innenhof voller hemmungsloser Grenzenlosigkeit. Purer Exzess.
Wir waren mit unseren Freunden in unserer Lieblingskneipe verabredet. Die Stammlocation in der Stammlocation quasi. Es war eine verrauchte, mit Stickern vollgeklebte, abgefuckte Kaschemme. Wir liebten sie. Wenn uns jemand nach dem Ort gefragt hätte, der einer Heimat am nächsten kam, wir hätten sofort diese Kneipe angegeben. Wir, das waren Karim, Rahel, Yuuki und Franz. Mein eigenes kleines Rudel.
Unsere drei Freunde saßen wie üblich in der hintersten Ecke. Der Stammplatz in der Stammlocation der Stammlocation quasi. Während Yuuki und dessen Daueraffäre Franz uns zu sich winkten, hatte Rahel ihre Arme um zwei mir unbekannte Frauen geschlungen. Die Hände in deren BHs vergraben, die Zunge tief im Schlund einer der beiden Fremden. Ein nervender, unangebrachter Stich durchzuckte mich.
Karim fing meinen Blick auf und zog mich beiseite, Richtung Theke. Dahinter standen wie immer die Zwillinge Paff und Bamm. Beide um die dreißig, hochgewachsen, schmal und mit der Eigentümlichkeit versehen, dass an ihnen alles irgendwie einen Tick zu lang war. Wirklich alles, wie mir Yuuki versichert hatte. Umso erstaunlicher, wie agil und flink die beiden hinter der Bar waren.
Paff war ein abgeklärter, extrovertierter Typ, Bamm hingegen ruhig und zurückhaltend. Der größte sichtbare Unterschied zwischen den beiden war aber, dass Paff eine bunt tätowierte Glatze hatte, während Bamm einen braven, zurechtgegelten Mittelscheitel trug.
Bamm stand gerade vor uns und starrte mit einem ungewöhnlich nervösen, fast verängstigten Blick an uns vorbei. Seine Augen zuckten leicht hin und her, als würde er innerlich einem Gedanken hinterherhetzen.
„Bamm? Jemand zuhause?“, fragte Karim und klopfte auf das verklebte Holz der Theke.
Der Barkeeper erschrak fürchterlich, wodurch er einen großen Schritt zurückwich. Noch ehe wir jedoch fragen konnten, ob bei ihm alles in Ordnung sei, stotterte er verlegen: „Jungs, hey, sorry. War weg. War – egal. Lang nicht mehr gesehen. Das heißt, wenn lang gestern is‘. War doch gestern? Eigentlich immer. Was darf‘s sein?“
„Zwei Old fashioned.“
„Klar, klar. Old fashioned, wie immer, wird gemacht“, nickte Bamm und machte sich an die Arbeit.
Ich sah Karim verwirrt an. Der konnte seinen Blick jedoch nicht von unserem Barkeeper lassen.
„Ich hab‘ noch nie erlebt, dass Bamm so viele Wörter auf einmal gesagt hat“, flüsterte ich ihm spaßhaft zu.
„Alter, Bamm, was hast du genommen? Ich glaub‘, das sollten wir auch mal probieren“, scherzte er.
„Ja“, lachte Bamm kurz gespielt auf, stellte die zwei Drinks ab und ging hastig zu einem der anderen Gäste.
Jetzt war es Karim, der mich verwirrt ansah.
„Will er kein Geld von uns?“
Ich wollte gerade meine Hand heben, als mein bester Freund sie runterschlug und mich lachend anzischte.
„Spinnst du?! Wenn er unsre Kohle nich‘ will, sein Pech.“
Er schnappte sich sein Getränk und ging zu unserem Rudel. Ich sah noch einmal zu Bamm, der bereits den nächsten Gast verwirrt und geistesabwesend bediente, griff dann aber nach meinem Glas und ging.
Kaum hatten wir uns zu unseren Freunden gesetzt, prosteten wir uns zu und begannen das übliche Besäufnis.
„Bac, alles klar bei dir?“, fragte Rahel knapp, mit den Augen schon wieder bei ihrer Gespielin.
„Ja, alles cool. Nur – “, begann ich zögernd, doch Karim sprang für mich ein.
„Er hatte Stress mit Pierre, weil der ihn nich‘ zum Abgrund gehen lassen will.“
Rahel nickte nur, die Zunge bereits tief im Mund der zweiten Frau. Danke fürs Gespräch.
„Ich versteh‘ eh nich‘, was du da willst“, meinte Yuuki, der sich gerade einen Joint anzündete.
Es war davon auszugehen, dass es der beste Stoff war, den man in ganz Ecstacity bekommen konnte, da Yuukis Erzeuger Apotheker war und sogar eigene Produkte entwickelte. Auch er selbst probierte sich inzwischen an den ein oder anderen Pillen, die wir mit Vergnügen als Versuchskaninchen testeten. Deshalb und aufgrund seiner draufgängerischen, stets auf Krawall gebürsteten Art war er wohl so etwas wie unser Leitwolf.
Er scheute vor keiner Schlägerei zurück und hatte schon mehrere Leute ins Krankenhaus geprügelt. Und das, obwohl er auch während eines Kampfes extrem auf sein Äußeres bedacht war: Eine Falte im T-Shirt und er rastete aus. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er immer gewann.
Er hatte täglich ein anderes, aufeinander abgestimmtes Outfit an. Meist passend zu der fast ebenso häufig wechselnden Farbe seines Irokesenschnitts. Dann noch ein aufdringlich gut riechendes Parfüm, lackierte Fingernägel, farblich abgestimmt natürlich, mehrere Ketten, Dutzende Piercings in den Ohren und - schon war er nach mehreren Stunden bereit, loszuziehen.
„Komm, zieh‘ auch mal“, bot er mir seinen Joint mit einem gewinnenden Lächeln an. „Bleib doch einfach hier. Is‘ doch ‘n geiles Leben.“
„Das Leben hier is‘ aber nur geil, weil die Menschen im Abgrund für dich elendig verrecken“, argumentierte ich verärgert.
Yuuki gähnte provokativ.
„Wenn du dich auch nur ein bisschen mit dem Ganzen auseinandersetzen würdest!“, begehrte ich weiter auf, ohne dass er Notiz davon nahm.
„Lass gut sein“, besänftigte Karim mich schmunzelnd. „Wolltest du den Abgrund für heute nich‘ ohnehin vergessen?“ Ich brummte.
„Hier, das bringt dich wieder hoch.“
Yuuki warf mir eine kleine Pille Marke Eigenbau zu. Ich schluckte sie, ohne zu fragen. Wieder einmal traf er genau ins Schwarze. Nach wenigen Sekunden war der Streit vergessen und wir beide mit den anderen eng umschlungen auf der Tanzfläche.
Der Rausch war eine klebrige, zähe Masse, die uns wie ein gewaltiger Strom mit sich riss. Bunte Hände griffen nach uns und schleuderten uns von Raum zu Raum, geradewegs durch die Zeit hindurch. Alles war jetzt. Ich küsse Karim, Rahel küsst Yuuki und Yuuki küsst einfach jeden.
„Krieg is‘ dort und hier. Überall!“, schreit jemand viel zu nah neben mir, sodass mir Spuckfetzen ins Ohr spritzen.
Nicht mal flüssige Spucke, eher so rotzig. Vielleicht sind es auch mehrere Leute, die da meinen Gehörgang mit ihrem Schleim säubern. Oder ist das nur meine eigene Stimme? Meine Gedanken?
„Hier tobt der wahre Krieg“, brüllt jemand anderes und tippt mir gegen die Brust. „Da drin.“
Ich johle freudestrahlend und reiße die Arme in die Luft. Ich will tanzen. Jetzt. Ich muss jetzt tanzen, unbedingt.
„Hier und da tobt er, der Krieg.“
Ein Tippen auf meine Stirn, dann wieder auf die Brust.
„Herz und Verstand.“
„Seele“, schreie ich zurück.
Antworte mir selbst. Wie auch immer. Ich muss jetzt tanzen.
Verschwitzt lösen wir uns aus der wabernden Menge der Tanzfläche. Endlich Ruhe. Meine Füße tun weh. Yuuki schmeißt mir noch eine Pille zu.
Hab ich etwa schon getanzt? Rahel rennt auf der Suche nach irgendwelchen Stühlen nackt herum. Wie eine Drohne fliege ich ihr hinterher. Alle Sinne sind auf diesen Körper fokussiert.
„Reise nach Jerusalem. Nackt, jetzt! Reise nach Jerusalem. Nackt, jetzt!“, schreit sie.
Ich sitze auf Franz, der nicht mehr aufhören kann zu lachen. Wollte ich nicht tanzen?
„Wir tanzen doch schon“, schreit er mir über die dröhnenden Beats mit schallendem Gelächter zu.
„Das hab‘ ich laut gesagt, oder?“, frage ich.
Er gibt mir zu verstehen, dass es hier zu laut ist, und tanzt davon.
„Wehe, du kriegst ‘n Steifen“, höre ich neben mir den nackten Karim nervös zischen. Er sitzt auf dem ebenfalls nackten und breit grinsenden Yuuki.
„Entspann dich, dann tut‘s nich‘ so weh.“
„Kann bitte jemand die Musik wieder anmachen?!“
Ich lache sofort los und sehe plötzlich mehrere strahlende Pierreköpfe, die sich zu mir umdrehen. Ich lache noch lauter. Ich lache Tränen. Immer weiter und weiter, bis ich checke, dass ich nicht lache, sondern Rotz und Wasser heule. Rahel liegt mit ihren beiden Ladies in der Ecke und reibt sich wild und hemmungslos an ihnen, als ginge es um ihr Leben. Tut es ja auch. Sie verschmelzen ineinander. In eine klumpige, mich auslachende Masse.
„Spielt hier überhaupt noch jemand mit?“, ruft Karim verzweifelt, während ich mit dem weinenden Franz draußen beim Rauchen stehe.
Ich starre auf die glühende Kippe und versuche fieberhaft, herauszufinden, was da drin für ein Zeug eingewickelt ist.
Neben mir die 65-jährige Daueraffäre Yuukis am Heulen. Wieder einmal. Ganz egal, was er sich davor einschmeißt, am Ende des Tages läuft Franz der Rotz durch seinen grauen, schmuckbesetzten Vollbart. Er streicht sich seine wenigen Kopfhaare zurecht und jammert was. von wegen er wolle nur weg, warum tue er sich das nur an, warum nicht einfach eine einsame Beziehung, das tue so weh, ständig ihn mit anderen zu sehen, er wäre doch so treu, warte nur darauf, dass Yuuki das endlich einsehe und die beiden zur Ruhe kommen könnten, und überhaupt tut diese ganze Scheiße hier so weh und warum muss das denn so sein, er will sich endlich lösen, endlich nicht mehr – er verstummt endlich. Oder zumindest ist er nicht mehr vor mir. Wahrscheinlich bin ich einfach gegangen. Ich habe die Hälfte der Kippe weggeschmissen. Alles hat seine Grenzen, auch unter Freunden. Soll er doch einen Smiley nehmen.
„Noch einen“, rufe ich, doch Bamm hört nicht. „Noch einen.“
Er hört nicht, steht einfach nur da. Ich tanze mit einem Whisky in der Hand. Karim zwinkert mir zu.
„Bezahlt?“, frage ich.
„Wir bezahlen für alles. Früher oder später.“
Also nein.
„Hey, deins, meins. Alles dasselbe.“
Der klebrige Rausch erreicht seinen Höhepunkt. Rahel huscht vorüber. Ich will hinterher, doch etwas hält mich zurück. Reißt mich in die Tiefe des Blackouts.
Da ist nichts weiter als ein Gewirr aus Stimmen. Einmal ist es nur eine, dann wieder Tausende auf einmal. Von links, von rechts, von überall sausen sie wie Peitschenhiebe auf mich herab.
„Nächstes Jahr, nächstes Jahr. Das sagst du doch schon seit Jahren. Immer wieder. Du willst weg, sieht man ja. Du willst unbedingt weg. Du hast keinen Bock mehr auf die Scheiße hier. Welche Scheiße? Gute Frage. Alles! Du kommst da nich‘ mehr klar drauf irgendwann. Das is‘ ja nur natürlich. Du willst in den Abgrund. In den Abgrund. Also los. Geh! Geh und kämpf‘ für den Exzess. Exekution statt Existenz im Exzess. Aber für den Exzess. Bac, du musst dich auskotzen. Pierre versteht das. Du musst dich auskotzen.“
Ich beuge mich über die Toilettenschüssel und kotze unter heftigen Krämpfen die letzten Stunden heraus. Das Bewusstsein kommt langsam zurück. Rahel boxt Yuuki zu Boden. Er lacht, sie tritt nach. Dann hilft sie ihm auf und küsst ihn auf die Stirn. Franz rennt davon. Jetzt lache ich und knalle einen Geldschein auf den Tresen. „Bamm!“, rufe ich, obwohl sein Bruder vor mir steht.
„Fast“, sagt dieser grinsend. „Der ist nich‘ mehr hier. Geht‘s nich‘ so gut. Is‘ den ganzen Tag schon total wirr im Kopf. Drei Flaschen hat der Idiot fallenlassen. Drei Flaschen!“
„Was ‘ne Flasche“, sage ich, höre dabei aber die Stimme von Pierre sprechen. Sofort lache ich gezwungen über diesen schlechten Wortwitz. „Tut mir leid.“
„Was ‘n?“ Paff sieht mich verdutzt an.
„Keine Ahnung, Mann. Keine fucking Ahnung.“
Eine seltsame Stille tritt ein, bis ich plötzlich in die Runde schreie:
„So, ich hab‘s gemacht. Hab‘s gemacht.“
„Willst du nichts bestellen?“, ruft mir Paff nach, doch ich schüttle nur den Kopf.
„Das Geld da schuld‘ ich dir. Glaub‘ ich.“
Rahel und ich hatten uns mit einer Lower wieder runtergebracht und lehnten jetzt am Geländer der großen Dachterrasse des Tripper. Wir bliesen schweigend unseren Zigarettenrauch in die kalte Nachtluft. Meine beste Freundin hatte lange, schwarze Haare, die scheinbar nicht zu bändigen waren. Die wilden Locken umspielten ihr Gesicht, in dem mehrere Tattoos zu sehen waren. Darunter großflächig schwarz tätowierte Augenschatten, ein Herz auf der linken Schläfe, ein nicht zu entziffernder Schriftzug im rechten Ohr und eine winzig kleine Pille neben ihrem linken Mundwinkel. Wenn sie nach der Bedeutung eines dieser Tattoos gefragt wurde, sagte sie immer, sie seien dafür da, damit man ihr nicht ständig auf die Brüste starre. Tatsächlich hatte sie phantastische Rundungen und einen sexy, durchtrainierten Körper. Sie achtete sehr auf ihre Gesundheit und war, was ihr tägliches Sportprogramm und ihren Speiseplan anbelangte, extrem akribisch. Ihre Klamotten waren stets körperbetont und freizügig. Oft sogar so sehr, dass das bisschen durchsichtiger Stoff geradezu unnötig erschien. Denn BHs trug sie grundsätzlich nicht.
In allem, was sie tat, lag etwas extrem Aufreizendes. Für mich war sie immer sexy. Völlig gleichgültig, ob nun beim Tanzen, beim Essen, beim Schlafen, oder einfach nur beim irgendwo Herumstehen und in die Ferne Starren, so wie in diesem Moment.
Ihre feurig braunen Augen waren mein persönlicher Abgrund. Ich wäre gestorben, um mit ihr etwas anzufangen. Doch außer dieser einen verfluchten Nacht aus Mitleid war nie etwas gewesen. Noch immer hatten wir nicht darüber gesprochen. Noch immer spielten meine Gefühle verrückt. Noch immer wollte ich über sie herfallen und mit ihr verschmelzen. Sie aufsaugen und verzehren. Sie komplett in mein Innerstes – ...
„Wärst du auch manchmal gerne ein Stern?“, fragte sie mich plötzlich, den Blick in den Himmel gerichtet.
„Nah“, schüttelte ich den Kopf. „Die Aussicht von hier unten ist deutlich besser.“
Stille.
„Ich geh‘ auch zum Abgrund“, sagte sie dann. „Bei der nächsten Einzugswelle bin ich weg.“
„Dein Ernst?“
Sie nickte schmunzelnd und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, bevor sie antwortete.
„Ich will endlich weg von hier. Jeden Tag steh‘ ich irgendwo mit irgendwem irgendwann auf und kratz‘ mir die ganze Scheiße der letzten Nacht ab. Oder Tag, was auch immer. Dann schlüpf ich wieder in die Rolle als Sicherheitskraft und tu‘ so, als würde mich interessieren, was irgendwelche Spasten für ‘ne Scheiße bauen. Dann hol ich mir mein Geld ab und schon geht die Scheiße wieder von vorne los. Manchmal mach‘ ich Sit-ups und frag‘ mich, wofür eigentlich? Weißt du, was ich mein‘? Und dann, weil ich nich‘ weiter nachdenken will, baller ich mir ‘ne Power Up rein und der Kopf is‘ leer. Aber ich bin immer noch da. Also das hier, das is‘ noch da.“
Sie zog an ihrer Haut, als wolle sie sie vom Körper ziehen wie Klebeband.
„Haut, Muskeln, Fett, Venen. Und zwischen all dieser Scheiße is‘ noch was anderes und ich check nich‘, was das is‘. Manchmal will ich mich aufschlitzen, um wenigstens in der letzten Sekunde zu verstehen. Das is‘ wie so ‘n Zerren und Reißen. Wie so ‘n Sog weg von hier. Weg von - von allem!“ Sie hielt schwer atmend inne. Ihr Blick war tief nach innen gerichtet, als suche sie verzweifelt nach etwas.
„Alter, hast du ‘ne Emo genommen? Du bist ja total drauf“, lachte ich.
Sie sah mich irritiert an. Ließ mich auslachen. Lange blickte sie mir einfach nur in die Augen.
„Ja“, sagte sie leise und schmunzelte mir zu. „Total.“
Jetzt lachte auch sie und schüttelte den Kopf.
„Aber cool, dass du auch gehst. Dann hab ich in der Miliz jemanden, den ich schon kenn‘.“
„Kein‘ Plan, in welche Miliz du gehst, aber ich werd‘ in ‘ne andere gehen.“
Ich sah sie verblüfft an. „Was?“
„Nimm‘s mir nich‘ übel. Is‘ nix Persönliches. Nur ... ich will ‘n Schlussstrich ziehen. Was Neues anfangen. Mein Leben hier war geil, ganz klar. Aber jetzt kommt ‘n anderes.“
Sie zuckte die Schultern, schnippte ihre glühende Kippe in den Sternenhimmel und war weg.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Kurz glaubte ich, selbst noch zugedröhnt zu sein. Aber das war definitiv real gewesen. Die Wirkung der Pillen hatte schon längst nachgelassen. Dennoch schüttelte ich den Kopf und rieb mir kurz die Augen, als hätte ich geträumt. Nein, das war echt.
Fuck!
Nie zuvor hatte Rahel etwas Derartiges angedeutet. Weder ihren Wunsch, zum Abgrund zu gehen, noch ihr Verlangen danach, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie wollte mit uns, ihrem Rudel, brechen. Wir hatten alles geteilt, wirklich alles. Und jetzt waren wir Vergangenheit für sie. Einfach so.
Im Treppenhaus hatte ich sie eingeholt. Ich packte sie am Arm, schleuderte sie ein wenig zu kräftig herum und drückte sie an die Wand. Ich stand direkt vor ihr. Aus dem Kontext heraus würde jeder denken, dass wir gleich hemmungslos rummachen würden. Doch in Wirklichkeit war ich kurz davor, ihr ins Gesicht zu boxen. Verdient hätte sie es.
„Was soll die Scheiße?“, fuhr ich sie dementsprechend wütend und fassungslos an.
Sie hingegen sah mich in aller Seelenruhe an und betrachtete, nein, belächelte meinen Zorn. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass das passierte. Sie strich mit ihrer Hand zärtlich über meine Wange und ließ sie dann dort liegen. Sofort war sämtliche Wut in mir wie weggeblasen. Mein ganzer Körper entspannte sich, als würden mir die Muskeln versagen. Ich zerfloss unter ihrer sanften Berührung.
Zu solchen Zärtlichkeiten war sie mir gegenüber normalerweise nicht fähig. Vor allem, wenn wir unter vier Augen waren. Niemand wollte irgendwelche unsichtbaren Linien überschreiten. Ja nichts falsch machen. Ja nicht zu viel flirten. Trotzdem aber völlig ungezwungen bleiben und total offen miteinander umgehen. Jeder Blick, jedes Lächeln, einfach alles wurde in die Waagschale der Liebe geworfen.
Dieser Moment, in dem die Wärme ihrer weichen, nach Zigarettenrauch duftenden Hand mein Gesicht durchflutete, war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ich das Gefühl hatte, sie wollte mir das sagen, was ich stets von ihr zu hören hoffte.
Dann küsste sie mich vorsichtig.
„Sorry, das hätt‘ ich nich‘ tun sollen.“
Sie wandte sich ab und ging unnötig viele Schritte von mir weg, bevor sie sich wieder zu mir umdrehte.
„Wie du gesagt hast: total drauf“, lachte sie. „Bac, Mann, es tut mir leid, aber du weißt, dass das nich‘ funktionieren kann. Zwischen uns, das ... “
Sie schüttelte den Kopf.
„Freunde, okay?“
Ich nickte, während in mir etwas implodierte. Schon wieder. Wie oft hatte ich das jetzt schon mit ihr erlebt? Und es war jedes Mal dasselbe.
„Ich hab‘ das einfach nich‘ gemacht, ja? Is‘ nie passiert.“ Ich nickte immer noch. Nickte und nickte. Hörte gar nicht mehr auf damit.
„Hör auf, so zu gucken“, sagte Rahel und wirkte bei meinem Anblick sowohl angeekelt als auch seltsam überfordert.
„Sorry.“ Mehr brachte ich nicht hervor.
„Also komm, Soldat.“
Sie schmunzelte und ging wieder nach unten, während es mir eiskalt den Rücken herablief. Ich wollte ihr etwas nachbrüllen, sie aufhalten. Ich wollte sie packen und rütteln und küssen und lieben. Doch alles, was ich tat, war, mir noch eine von Yuukis Pillen einzuschmeißen und zu verschwinden.
Vom Rausch getragen, vorbei an flirrenden Laternen und beleuchteten Fenstern, die in einem Lichtstrudel verschmolzen, verlor ich mich in einem dreckigen Viertel, dessen Gassen mir völlig unbekannt waren. Ich schluckte eine Lower, um runterzukommen und meinen Orientierungssinn zurückzugewinnen. Die dritte Pille war zu viel des Guten. Ich musste mich runterfahren, wenn ich nicht zusammen mit den letzten Stunden im Blackout verschwinden wollte.
Ich erkannte in einem der vorüberziehenden Gebäude das Haus, in dem ich vor einiger Zeit untergekommen war. Ich überlegte, ob ich dort Unterschlupf suchen sollte, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Es war einfach noch nicht die Zeit, um zu schlafen.
Mein Kopf drohte in einen Scherbenhaufen zu zerspringen. Wie wunderschöne, scharfkantige Diamanten schnitten Rahels Worte meine Gehirnwindungen auseinander. Trennten positive Erinnerungen fein säuberlich von der zermalmenden Realität.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie von hier wegwollte. Es gab keine Welt ohne Rahel. Ohne sie wäre die Welt nur noch ein runder im Weltall schwebender Haufen Müll.
Klar, da waren Yuuki, Karim, Franz und Pierre. Aber ohne Rahel ... mein Herz zog sich zusammen wie ein Embryo. Versuchte, sich in sich selbst zu verkriechen, bis es nur noch ein zusammengekauerter Klumpen Fleisch war, der weinend hin und her wippte. Das war dann wohl mein Herzschlag.
Als meine Umgebung langsam wieder vom verwischten Einerlei in klare Formen überging, erkannte ich in einiger Entfernung zwei Gestalten im Schatten einer kleinen Gasse. Die Kleinere der beiden zischte wütend und gestikulierte wild mit den Händen, während die andere mit gesenktem Kopf regungslos dastand. Plötzlich wurde ihr so kräftig in den Magen geschlagen, dass sie in die Knie ging. Gleich darauf verschwand die kleinere Gestalt im Dunkeln. Ich eilte zu der verletzten Person und half ihr hoch.
„Alles in Ordnung?“
„Ja – ja, alles – ja.“
Der Mann vor mir wollte gerade davonhuschen, als ich in ihm ein mir bekanntes Gesicht erkannte.
„Bamm?! Was machst’n du hier? Paff meinte, du wärst krank.“ Der Barkeeper erstarrte, als er seinen Namen hörte. Sein Gesicht begann zu zittern und hinter seinen Augen schossen tausend Gedanken vorüber. Sein Mund zuckte, verzerrte sich zu einer ängstlich erschrockenen Grimasse. Er hatte etwas von einem aufgescheuchten Tier, das im Angesicht des Todes weder vor noch zurück wusste.
„Bamm, alles gut, ich bin’s, Bac. Aus ‘m Tripper.“
Er nickte schnell und lachte kurz, aber laut auf, als wäre nichts gewesen. Doch seine Miene verfinsterte sich weiter. Er legte die Stirn in tiefe Falten, schüttelte den Kopf, nur um dann sofort wieder zu nicken.
„Ja, klar, Bac, natürlich. Entschuldige, ich - ja. Danke nochmal“, lächelte er nervös und wollte gerade davoneilen, als ich ihn erneut aufhielt.
„Wer war’n das?“
„Wer denn?“
„Wer denn?! Na der – oder diejenige, die dich gerade in den Bauch geboxt hat.“
Reflexartig hielt sich Bamm die Magengrube. Der Hieb schmerzte wohl mehr, als er zugeben wollte.
„Das hast du gesehen?“, fragte er langsam.
„Klar. Deswegen hab’ ich dir doch hochgeholfen.“
Er sah sich hektisch um. Seine Hand wanderte langsam hinter seinen Rücken und schien etwas hervorkramen zu wollen.
„Sollen wir hinterher? Zu zweit dürfte das kein Problem sein“, bot ich lächelnd an.
Kaum hatte ich das gesagt, hielt Bamm inne. Er überlegte, haderte mit sich. Dann fluchte er laut und lief plötzlich davon. Ich zuckte die Schultern und ging weiter. Auch wenn ich keine Ahnung hatte wohin.
Erst auf der großen Brücke, die über den Fluss führte, hielt ich inne. Warum, wusste ich selbst nicht.
Es war eine fantastische Nacht. Keine einzige Wolke war zu sehen. Der prächtige Vollmond stand leuchtend am Himmel. Um ihn herum zahllose, glitzernde Sterne. Lichtjahre von hier entfernt. Alles schon passiert.
Ich blickte auf die glatte Oberfläche des Flusses, in der sich die Vergangenheit der Sterne spiegelte. Vergangenheit und Gegenwart in einem. Und ich mittendrin. Es war wunderschön.
Je länger ich in das fließende Wasser hineinsah, desto mehr verlor ich mich in meinem eigenen Spiegelbild. Was, wenn nicht ich, sondern die Spiegelung die Realität war? Ich schüttelte verwirrt den Kopf und rieb mir die Augen. Was zum Fick war das nur für Zeug in meiner Blutbahn?
„Bac? Hey, Bac!“, dröhnte es von der Seite zu mir herauf.
Ich sah mich um und erkannte etwas abseits am Flussufer Pierre, der mir überschwänglich zuwinkte. Ich nickte und ging schweren Schrittes, mit einem geißelnden Schuldgefühl im Nacken, auf ihn zu. Je eher ich mich entschuldigte, desto besser, das war klar.
Kaum war ich jedoch bei ihm angelangt, packte er mich grinsend und zeigte auf einen dicklichen, verlotterten Mann mit langen, zerzausten Dreadlocks im Rollstuhl. Sein furchteinflößend faltiges Gesicht war von einem schwarzen Bartgestrüpp umwuchert und zur Hälfte von einem zerfledderten Basecap verdeckt. Seine Beine waren von einer schmutzigen Wolldecke verhüllt, die Arme in einem zerfetzten Poncho versteckt.
„Darf ich vorstellen“, sagte Pierre lächelnd. „Das is’ mein alter Freund Rex. Rex, das is’ Bacchus.“
„Bac reicht“, hängte ich automatisch an.
„Freut mich“, entgegnete der Mann mit einer angenehm rauen Stimme. „Du willst also zum Abgrund, hm?“
Ehe ich antworten konnte, brüllte Pierre sein herzliches, lautes Lachen und warf mir ein Dosenbier zu.
„Das wollen sie doch alle in dem Alter“, zwinkerte er mir zu.
Er hatte mir also verziehen. Ich lächelte dankbar und setzte mich auf den Boden. Vor mir prasselte das Lagerfeuer, das Pierre durch wahlloses Herumgestochere am Brennen hielt, während Rex die wohl sinnvollere Arbeit übernahm, ab und an Holz nachzulegen. Es tat gut, bei ihnen zu sein. Es half, den Rest auszublenden. Rahel auszublenden.
Vielleicht war es aber auch die Power Up, die ich mit Pierre kippte. „Du glaubst aber nich’ wirklich, dass die jetzt ‘nen Rückzug planen, oder?“, knüpfte er dann an ein Gespräch mit Rex an, das sie wohl meinetwegen unterbrochen hatten.
„Klar. Nach dem, was ich gehört hab’, glaub’ ich das sofort“, antwortete dieser langsam und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. „Ich wüsste auch nich’, was daran verkehrt sein soll. Im Gegenteil, je weiter die Miliz sich zurückzieht, desto besser. Du weißt selbst, wie es da abgeht. ‘N bisschen Ruhe kann Wunder bewirken.“
„Aber wär’s nich’ ‘ne Form der Kapitulation? Sie verschenken Land.“
„Bullshit. Kein Land, verbrannte Erde. Dieses ständige Hin und Her is’ doch totaler Schwachsinn. Seit Jahrzehnten hat sich nichts verändert. Mal ist die vorderste Front da, mal dort. Die Vernünftlinge kriegen das doch nich’ mal mit. Und selbst wenn: Was wollen sie machen? Schnell ‘n paar Meter vorrücken, nur um dann in ein, zwei Monaten wieder selbst ‘nen Rückzug zu machen? Lächerlich.“
Rex nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie auf der Decke über seinen Beinen aus.
„Also, Junge, erzähl ma’. Du willst also zum Abgrund?“, fragte er und musterte mich skeptisch.
Ich blickte zu Pierre, der ins Lagerfeuer starrte, mit seinem Stock hoch konzentriert Aschebrocken hin und her schob und so tat, als würde er nicht zuhören. Benutzte er seinen Freund im Rollstuhl etwa dazu, mir mein Vorhaben auszureden?
„Ja. Wieso?“, antwortete ich misstrauisch.
„Freut mich“, zuckte Rex die Schultern und lächelte schief. „Die Milizen können Nachschub immer gut gebrauchen. Krieg is’ es nur, solange noch jemand stirbt. Kannst du schießen?“
„Keine Ahnung. Aber so schwer wird’s schon nich’ sein. Zielen und abdrücken.“
Beide konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Glaub mir, Junge, so einfach is’ das nich’. Weißt du, wir sagen immer, zwischen Zielen und Abdrücken liegt ‘n ganzes Leben.“
Was sollte dieses Spielchen? Ich wusste, worauf ich mich einließ. Es war doch klar, dass, wenn es hieß, der Feind oder ich, ich mein Leben immer über seines stellen würde.
Natürlich würde ich abdrücken und natürlich starb da jemand. Ich war doch nicht blöd.
Rex nickte, als könne er meine Gedanken lesen.
„Also, pass auf, Junge, es is’ so. Dein fetter Freund hier wollte, dass ich dir das Ganze ausrede, falls du vorbeischaust. Aber keine Sorge, ich hab’ abgelehnt.“
Ich sah verärgert zu Pierre hinüber, der grummelnd das Holz klein schlug. Funken stoben auf und knisterten über uns.
„Jeder soll machen, was er für richtig hält. Dafür haben wir schließlich gekämpft“, fuhr Rex fort und lachte.
Sein Mundwinkel zuckte, als würde ihn ein Schmerz durchfahren.
„Wir waren damals ja die gleichen Idioten. Und Fehler, tja, Fehler sind dazu da, sie zu machen. Immer und immer wieder. Von Generation zu Generation. So is’ es immer schon. Nein, geh zum Abgrund, meinen Segen hast du.“
Wieder lachte er.
„Als würdest du den brauchen, he? Nur eins noch, Junge. Sag mir, wofür kämpfst du?“
„Für den Exzess. Den Frieden“, antwortete ich entschlossen.
„Der Exzess ... klar. Was sonst.“
Ein Ruck durchfuhr Rex, als wolle er aufstehen und nervös hinund hergehen.
„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest. Du denkst, du kämpfst für ‘ne gute Sache, aber wenn du erst mal da bist, geht’s nur noch ums Überleben. Dort, wo Exzess und Vernunft aufeinanderprallen, findest du die Wahrheit. Und wenn du der Wahrheit in die Augen gesehen hast, Junge – ha! – glaub mir, dann weißt du, dass dein Leben ‘ne Lüge war. Alles Lüge. Von Beginn an. Alles!“
Rex zitterte vor innerer Aufregung und sein durchdringender Blick bekam etwas unangenehm Fanatisches.
„Hör zu, Junge, der Exzess, das alles, das is’ geil, versteh’ mich nich’ falsch, ich liebe es“, ein wahnsinniges Lächeln huschte um seine Mundwinkel. „Aber am Abgrund, da gibt es weder Exzess noch Vernunft. Es gibt nur Leben und Tod.“
Langsam senkte sich sein Blick zu Boden. Seine Zähne mahlten aufeinander.
„Meine Rudelsführerin war Musikerin. Das heißt, nich’ von Beruf natürlich. Gab’s damals ja schon lang nich’ mehr. Aber sie hatte ‘ne Geige versteckt. Sie hat mir, als ich klein war, immer heimlich dieses eine Lied vorgespielt.“
Er schloss die Augen und begann zu summen. Ich musste an mich halten, ihn nicht gleich zu unterbrechen. Die Geschichte ging in eine Richtung, die mir überhaupt nicht gefiel.
„Ich hab die Melodie nie wieder gehört. Nur in meinem Kopf. Sie is’ dann zum Abgrund und hat die Geige mitgenommen. Hat ernsthaft geglaubt, ihre Kameradinnen könnten etwas Aufmunterung gebrauchen. Schon im ersten Brief wurde mir mitgeteilt, dass ihre Vorgesetzte die Geige auf dem Boden zerschmettert und sie dann vor gesammelter Mannschaft erschossen hatte.“
Stille.
Zu Recht, wollte ich entgegnen. Stattdessen donnerte ich mir einen großen Schluck meines dritten Bieres rein und beließ es beim Schweigen.
„Is’ das dein Exzess, Junge? Deine Freiheit? Jeder macht, was er will, he? Oh nein. Kunst zum Beispiel stirbt aus. Außer natürlich, es is’ von oben abgesegnet. Aber wirkliche Künstler, so wie früher, die findest du nirgends mehr.“
„Richtig so!“, platzte es endlich aus mir heraus. „Kunst is’ gefährlich, wenn sie nich’ kontrolliert wird. Sie kann verleiten, versteckte Botschaften übermitteln oder gar den Exzess kritisieren.“
„Und trotzdem glaubst du, du bist frei?“, lachte Rex abschätzig.
Ich wollte den Exzess gerade weiter gegen das sich willkürlich verbreitende Geschwür Kunst verteidigen, als er sich von Pierre ein neues Bier zuwerfen ließ, wobei ihm seine Decke herabrutschte. Zum Vorschein kamen zwei Stumpen. Nicht einmal Knie waren mehr zu sehen. Nur noch traurig unnütze Brocken Oberschenkelfleisch. Rex sah wohl meinen irritierten Blick und begann laut zu lachen.
„Was dachtest du denn?“, fragte er verblüfft. „Auf die Freiheit.“
Er lächelte bitter und prostete mir zu.
Als ich aufwachte, war das Lagerfeuer ausgebrannt und die Sonne in ihrem Zenit angekommen. Zumindest, soweit ich das hinter der dünnen Wolkenschicht erkennen konnte.
Ich setzte mich unter hämmernden Kopfschmerzen auf, rieb mir die Augen und sah erstaunt mit an, wie Pierre und Rex sich entweder schon wieder oder noch immer gegenübersaßen und lachend über alte Zeiten sprachen. Ich sah auf mein Handy, um zu checken, wie spät es war. Zur Begrüßung blinkten gefühlt hundert Meldungen auf. Die drei, die mir zuerst ins Auge sprangen, waren von Rahel.
„Ruf“
„mich“
„an!“
Untereinandergeschrieben. Ein Tick von ihr und erfahrungsgemäß nicht als Dringlichkeit, sondern als Anfall verlorener Aufmerksamkeit oder tödlicher Langeweile zu verstehen.
Ich steckte das Handy weg und kroch aus dem Schlafsack hervor, den ich mir wohl von Pierre tags zuvor geliehen hatte. Viele Erinnerungen nach dem Disput mit Rex waren mir nicht geblieben.
„Na, auch mal wach?“, fragte Pierre und lächelte mir belustigt entgegen. „Lust auf Frühstück?“
Er warf mir einen Apfel zu, den ich gierig hinunterschlang. Meine letzte Mahlzeit war ewig her. So ewig, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie lange ewig war. Unterwegs, im Tripper, oder gar der Burger? Kein’ Plan.
„Und ihr?“, fragte ich, als ich den letzten Bissen im Mund hatte. „Seid ihr immer noch wach oder schon wieder?“
Rex schüttelte schmunzelnd den Kopf. Pierre hingegen musterte mich besorgt. Statt mir zu antworten, brachte er mir eine Tasse Kaffee. Er kniete sich vor mich und sah mir kontrollierend in die Augen.
„Was?“
„Alles gut bei dir?“, fragte er beunruhigt.
„Hä? Ja. Wieso? Was’n los?“
Er kam etwas näher heran, um leiser zu sprechen.
„Alter, du hast den kompletten gestrigen Tag verpennt.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt und sah noch einmal auf mein Handy.
Tausend verpasste Anrufe. Rahel, Karim, Franz, ja sogar Yuuki. Pierre sagte etwas, doch ich war nicht in der Lage, ihm zuzuhören, als ich auf das Datum sah.
„Fuck!“
Mit einem Satz war ich in der Höhe, doch die Kopfschmerzen drückten mich unnachgiebig wieder nach unten. Ich hatte dreißig Stunden geschlafen.
Mein Gehirn raste. Gedanken sprangen durch meinen Kopf wie Gummibälle.
Warum?
Diese Frage schoss am häufigsten vor meinem inneren Auge vorbei, bis ich von zwei kräftigen Händen festgehalten wurde. Ich blickte auf und sah in das sanfte Gesicht von Pierre.
„Beruhig’ dich. Alles is’ gut.“
„Gut? Pierre, ich hab’ ‘nen ganzen Tag verpennt. Einen Tag für nichts und wieder nichts verloren. Einfach so.“
„Ja, ich weiß. Das liegt an dem Zeug von Yuuki.“
„Woher weißt du denn davon?“, fragte ich verwirrt.
„Karim hat bei mir angerufen. Außerdem hat’s doch immer mit irgendeinem Zeug von Yuuki zu tun. Und jetzt trink das. Du musst ‘n klaren Kopf kriegen.“
Erneut drückte mir Pierre die Tasse in die Hände. Ich nickte und trank einen kräftigen Schluck von dem Kaffee. Kaum hatte die Brühe meine Geschmacksnerven erreicht, musste ich würgen.
„Was zum Fuck is’ das?“, spuckte ich wütend die letzten Reste aus meinem Mund.
„Bullbean. Kaffee mit Energydrink aufgebrüht“, erklärte Pierre auf meinen fragenden Blick hin.
„Wie kommt man denn auf so ‘ne bescheuerte Idee?“
Ich schüttelte angeekelt den Kopf, während ich vorsichtig an dem Getränk roch, worauf ich erneut würgen musste.
„Am Abgrund muss man erfinderisch werden, wenn’s um Stoff geht“, meinte Rex. „Ein Bullbean am Morgen ist da Gold wert. Denk an meine Worte.“
Pierre zwang mich, das Gesöff auszutrinken, indem er mir mehrfach versicherte, wie gut es mir danach gehen würde. Das, der folgende Liter Wasser, die Rühreier über dem neu entfachten Lagerfeuer und der kleine Pillencocktail, den mir Pierre gegen den Kater gab, brachten meinen Körper wieder auf Betriebstemperatur.
Ich konnte gar nicht genug von den Eiern bekommen und hätte noch Stunden davon essen können, wenn nicht plötzlich mein Handy vibriert und mich damit mahnend daran erinnert hätte, dass ich einiges verpasst hatte.
Es war Karim, dem es ähnlich ergangen war wie mir. Wir lachten über unser geteiltes Leid und verfluchten Yuuki, dessen einzige
Entschuldigung in folgende liebevolle Nachricht verpackt war: „Hey ho. Der Alte meint, das is’ ne Nebenwirkung.“ Gefolgt von mehreren Lachemojis.
Yuuki hatte zwar einen Apotheker in seinem Rudel, verstand aber oft nur die Hälfte von dem, was ihm erklärt wurde. Wenn überhaupt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass wir mit heftigen Nebenwirkungen aufwachten, die erst mit einigen anderen Pillen wieder in den Griff zu bekommen waren.
Inzwischen hatte ich allen ein Lebenszeichen von mir gegeben. Bis auf einer. Doch anstatt Rahel anzurufen, schrieb ich Yuuki zurück.
„Danke, du Arsch.“ Gefolgt von mehreren Mittelfingern.
Dann verabredete ich mich mit Karim zum Essen. Ich musste meinen Magen füllen und meinen Kopf leeren.
Ich verabschiedete mich von Pierre, der mich auf morgen in die EdE bestellte und bat, nicht wieder so einen Scheiß von Yuuki zu nehmen. Ich nickte, doch wir wussten beide, dass das gelogen war.
Als ich Rex zum Abschied die Hand reichte, packte er mich plötzlich am Unterarm und zog mich gewaltsam zu sich herab.
„Geh nicht!“, zischte er plötzlich mit bebender, bettelnder Stimme. „Geh nicht!“
Seine Augen durchbohrten mich, als wäre ich seine einzige Rettung. Die Antwort auf all seine Fragen. Er griff in meinen Nacken und zog mich noch näher an sich heran. Ich versuchte, mich zu lösen. Doch je stärker ich es versuchte, desto kräftiger bohrten sich Rex’ dreckige Fingernägel in meine Haut.
„Du darfst nich’ gehen.“
Sein Gesicht verzog sich zu einer entstellten Fratze aus Wut und Verzweiflung. Wie ein Baby, das kurz davor war zu weinen.
„Rex!“
Pierre kam angerannt, um mir zu helfen, doch der Rollstuhlfahrer stieß mich, kurz bevor Pierre bei uns war, von sich.
„Entschuldige“, murmelte er, ließ den Kopf hängen und drehte seinen Rollstuhl von uns weg.
„Nimm’s ihm nich’ übel“, meinte Pierre, als er mich beiseitegenommen hatte. „Das passiert immer mal wieder. Is’ so ‘n Art Anfall, den er nich’ steuern kann.“
Ich nickte, hatte aber keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.
„Wir alle nehmen was aus’m Abgrund mit“, meinte er schulterzuckend.
Dann zog er seinen Notizblock aus der Weste, setzte sich neben Rex und begann zu zeichnen.
Karim und ich trafen uns an einem alten Brunnen, der, seit ich denken konnte, kein Wasser mehr führte. Wir nannten ihn die trockene Dame, da obenauf eine steinerne Frau thronte. Sie trug ein wallendes Kleid und einen tiefen Ausschnitt. Ihre Augen hatten etwas Laszives. Die Beine übereinandergeschlagen, lud sie mit ihnen jeden dazu ein, sich zu ihr zu setzen. Irgendetwas hatte diese Frau an sich, das mir ein Gefühl von Glückseligkeit gab. Und das, obwohl sie nichts weiter als ein toter Brocken Stein war.
Karim schlenderte um die Ecke und umarmte mich zur Begrüßung. „Na, wie geht’s dir so?“, fragte er.
„Ich fühl’ mich völlig deplatziert. Weißt du, was ich mein’?“
Er nickte lachend. Ich erzählte ihm kurz von Rex und Pierre, dafür aber umso ausführlicher von dem Gespräch mit Rahel.
„So hab’ ich sie echt noch nie erlebt. Kannst du dir nich’ vorstellen. Richtig ... keine Ahnung, beängstigend“, schloss ich meine Erzählung.
„Beängstigend? Inwiefern?“
„Na, weil ... es war ihr einfach scheißegal. Wir waren ihr scheißegal. Ich war ihr scheißegal. Als wären die letzten Jahre einfach nie passiert. Gerade gut genug, um sie nich’ zu vergessen. Aber auch nur vielleicht.“
„Das hat sie gesagt? Glaub’ ich nicht.“
„Nein, so nich’. Aber ich hab’s ihr ja angesehen. Außerdem: Wenn sie sagt, dass sie was anderes braucht, frag’ ich mich halt, warum. Ich mein’, was stimmt denn nich’ mit dem Leben, das sie hat? Sind wir ihr nich’ mehr gut genug oder was? Warum will sie unbedingt weg? Ich check’s nich’. Echt nich’.“
Karim schwieg, kaute aber nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Er holte tief Luft, hielt kurz inne und stieß sie dann unentschlossen wieder aus.
„Was?“, fragte ich.
Karim blieb stehen. Mit gesenktem Blick und den Händen an den Oberschenkeln sah er aus, als würde er sich für etwas schämen. Doch dann, als hätte ihm irgendetwas von innen heraus einen Ruck gegeben, richtete er sich plötzlich auf, deutete mit den Händen auf mich und sagte laut: „Du bist doch genauso.“
Ich runzelte die Stirn, musste aber gar nicht erst nachfragen, da Karim sofort wütend fortfuhr, sich zu erklären.