Fahles Feuer - Vladimir Nabokov - E-Book

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Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Nabokovs vierzehnter Roman – der erste aus der Zeit nach «Lolita» – gibt sich als die kommentierte Ausgabe eines 999 Zeilen langen Gedichts mit dem Titel «Fahles Feuer», verfasst von John Shade, einem bedächtigen neuenglischen Lyriker und Professor, der von einem Mörder erschossen wurde, ehe er die letzte, die tausendste Zeile zu Papier bringen konnte. Der Herausgeber ist sein Kollege, Nachbar und angeblicher Freund Charles Kinbote. Dessen Kommentar verfehlt jedoch Shades ernstes Poem, in dem es um den Selbstmord der schwierigen und hässlichen Tochter, um den Tod und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens danach geht, auf eine so dreiste wie groteske Weise. Kinbote gibt sich nämlich als der exilierte König von Zembla zu erkennen, Carl der Vielgeliebte, der Shade nicht dazu bringen konnte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, und der es nun in Form von Anmerkungen zu «Fahles Feuer» selber tut. Ihm galt, so meint er, auch die Kugel, die Shade tötete. Freilich ist zweifelhaft, ob es sich so verhält. Nabokov lockt den Leser auf Rätselgänge, Licht des fahlen Feuers flackert von Spiegel zu Spiegel, Echos erklingen: ein Virtuosenstück, «eine Amalgamierung von Ernst und Spiel, einer anrührenden menschlichen Geschichte mit dem kühlen Kalkül einer Problemschachaufgabe». Dieter E. Zimmer

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Seitenzahl: 615

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Vladimir Nabokov

Fahles Feuer

Roman

Deutsch von Uwe Friesel und Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nabokovs vierzehnter Roman – der erste aus der Zeit nach «Lolita» – gibt sich als die kommentierte Ausgabe eines 999 Zeilen langen Gedichts mit dem Titel «Fahles Feuer», verfasst von John Shade, einem bedächtigen neuenglischen Lyriker und Professor, der von einem Mörder erschossen wurde, ehe er die letzte, die tausendste Zeile zu Papier bringen konnte. Der Herausgeber ist sein Kollege, Nachbar und angeblicher Freund Charles Kinbote. Dessen Kommentar verfehlt jedoch Shades ernstes Poem, in dem es um den Selbstmord der schwierigen und hässlichen Tochter, um den Tod und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens danach geht, auf eine so dreiste wie groteske Weise.

 

Kinbote gibt sich nämlich als der exilierte König von Zembla zu erkennen, Carl der Vielgeliebte, der Shade nicht dazu bringen konnte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, und der es nun in Form von Anmerkungen zu «Fahles Feuer» selber tut. Ihm galt, so meint er, auch die Kugel, die Shade tötete. Freilich ist zweifelhaft, ob es sich so verhält. Nabokov lockt den Leser auf Rätselgänge, Licht des fahlen Feuers flackert von Spiegel zu Spiegel, Echos erklingen: ein Virtuosenstück, «eine Amalgamierung von Ernst und Spiel, einer anrührenden menschlichen Geschichte mit dem kühlen Kalkül einer Problemschachaufgabe». Dieter E. Zimmer

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoVorwortFahles FeuerErster CantoZweiter CantoDritter CantoVierter CantoKommentarRegisterAnhangNachwort des HerausgebersNachdichtung oder ÜbersetzungZeittafel zur Entstehung des RomansKalender der RomanhandlungVladimir Nabokov über Fahles FeuerLiteratur

Für Véra

Das erinnert mich an den lächerlichen Bericht über den beklagenswerten Zustand eines jungen Herrn aus gutem Hause, den er Mr. Langton gab. «Sir, als ich das letzte Mal von ihm hörte, lief er in der Stadt herum und schoss Katzen tot.» Und dann, in einer Art gutmütiger Träumerei, besann er sich auf seinen Lieblingskater und sagte: «Aber Hodge wird nicht erschossen: Nein, nein, Hodge wird nicht erschossen.»

JAMES BOSWELL: Das Leben des Samuel Johnson[1]

Vorwort

Pale Fire, ein Gedicht von neunhundertneunundneunzig Zeilen in Heroic Couplets[2], unterteilt in vier Cantos, wurde verfasst von John Francis Shade (geb. am 5. Juli 1898, gest. am 21. Juli 1959) während der zwanzig letzten Tage seines Lebens an seinem Wohnsitz in New Wye, Appalachia, USA.[3] Das Manuskript, größtenteils eine Reinschrift, an die sich der vorliegende Text getreulich hält, besteht aus achtzig Karteikarten mittlerer Größe, auf deren jeder Shade die rosa Kopflinie für Überschriften reservierte (Nummer des Cantos, Datum) und die vierzehn hellblauen Linien darauf verwendete, mit einer feinen Schreibfeder in zierlicher, sauberer, bemerkenswert leserlicher Handschrift den Text seines Gedichts niederzuschreiben, wobei er jeweils eine Linie übersprang, wo er eine Leerzeile markieren wollte, und jeden Canto auf einer neuen Karte begann.

Der kurze Erste Canto (166 Verse) mit all jenen amüsanten Vögeln und Nebensonnen umfasst dreizehn Karten. Der Zweite – Ihr Lieblingscanto – und diese schockierende Tour de Force, der Dritte Canto, sind gleich lang (334 Verse) und zählen je siebenundzwanzig Karten. Der Vierte Canto wendet sich, was die Länge betrifft, wieder zum Ersten hin und besteht noch einmal aus dreizehn Karten, deren vier letzte, an seinem Todestag beschrieben, anstelle der Reinschrift eine korrigierte Rohfassung bieten.

Als systematischer Mensch schrieb John Shade für gewöhnlich sein tägliches Quantum an fertigen Versen um Mitternacht ins Reine, aber selbst wenn er sie später nochmals abschrieb, wie er es nach meiner Vermutung bisweilen tat, brachte er auf seiner Karte oder seinen Karten nicht das Datum der letzten Korrekturen, sondern vielmehr das der revidierten Rohfassung oder ersten Reinschrift an. Will sagen, er bewahrte lieber das Datum der wirklichen Entstehung als jenes zweiter oder dritter Erwägungen. Vor meiner momentanen Herberge befindet sich ein sehr lauter Vergnügungspark.

Wir sind demzufolge im Besitz eines kompletten Zeitplans seines Werkes. Der Erste Canto wurde in der Frühe des 2. Juli begonnen und am 4. Juli abgeschlossen. Den nächsten Canto begann er an seinem Geburtstag und war am 11. Juli damit zu Ende. Eine weitere Woche war dem Dritten Canto gewidmet. Der Vierte Canto hebt an mit dem 19. Juli und wird – wie schon vermerkt – im letzten Drittel seines Textes (Verse 949–999) durch einen korrigierten Entwurf wiedergegeben. Dieser nun zeigt ein extrem grobes Äußeres, strotzt von verheerenden Tilgungen und kataklysmischen Einschüben und folgt den Zeilen der Karte nicht so streng wie die Reinschrift. In Wirklichkeit erweist er sich als wunderbar genau, taucht man nur erst ein und zwingt sich, in den klaren Tiefen unter der verschwommenen Oberfläche die Augen zu öffnen. Er enthält nicht einen lückenhaften Vers, nicht eine zweifelhafte Lesart. Schon diese Tatsache wäre Beweis genug, dass die Bezichtigungen, die (am 24. Juli 1959) in einem Zeitungsinterview von einem unserer erklärten Shadeaner erhoben wurden – ohne das Manuskript des Gedichts gesehen zu haben, behauptete er, es bestehe «aus zusammenhanglosen Entwürfen, von denen keiner einen endgültigen Text ergibt» –, eine böswillige Erfindung von Seiten derer darstellen, denen offenbar nicht so sehr daran gelegen ist, den Zustand zu beklagen, in dem der Tod das Werk eines großen Poeten unterbrach, als vielmehr daran, die Kompetenz und womöglich die Rechtschaffenheit seines derzeitigen Herausgebers und Kommentators in Zweifel zu ziehen.

Eine weitere von Professor Hurley und seiner Clique öffentlich abgegebene Erklärung bezieht sich auf ein Strukturproblem. Aus demselben Interview zitiere ich: «Niemand kann sagen, welche Länge John Shade seinem Gedicht zugedacht hatte, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass das von ihm Hinterlassene nur einen Bruchteil jener Komposition darstellt, die er dunkel wie in einem Spiegel sah.»[4] Wiederum Unfug! Neben dem regelrechten Trompetengeschmetter innerer Evidenz, das den gesamten Vierten Canto durchtönt, existiert die Bestätigung von Sybil Shade (in einem Schriftstück vom 25. Juli 1959), dass ihr Mann «nie die Absicht hatte, mehr als vier Teile zu schreiben». Für ihn war der Dritte Canto der vorletzte, und so habe ich selbst ihn davon sprechen hören im Verlauf einer Sonnenuntergangspromenade, als er gleichsam laut vor sich hin denkend die Tagesarbeit Revue passieren ließ und dabei in verzeihlicher Selbstgefälligkeit gestikulierte, während sein taktvoller Begleiter erfolglos versuchte, den Schwung seiner langbeinigen Gangart dem ruckweisen Schlürfschritt des strubbeligen alten Poeten anzugleichen. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten (da unsere Schatten noch immer ohne uns wandeln), dass nur noch eine Zeile des Gedichts zu schreiben blieb (nämlich der tausendste Vers), die mit der ersten identisch gewesen wäre und die Symmetrie des Baus vervollständigt hätte, dessen zwei weitläufige und festgefügte deckungsgleiche Mittelteile zusammen mit den kürzeren Flanken zwei Zwillingsflügel von je fünfhundert Versen gebildet hätten, und zum Teufel mit dieser Musik. Als Kenner von Shades Kombinationsgabe und seinem subtilen Sinn für harmonische Balance kann ich mir nicht vorstellen, dass er vorhatte, die Flächen seines Kristalls zu deformieren, indem er dessen absehbares Wachstum störte. Und als wäre all dies noch nicht genug – und es ist, es ist genug –, hatte ich am Abend des 21. Juli die dramatische Gelegenheit, meinen armen Freund mit eigener Stimme das Ende oder wenigstens das baldige Ende seiner Mühen proklamieren zu hören. (Siehe meine Anmerkung zu Vers 991.)

Dieser Stapel von achtzig Karten wurde durch ein Gummiband zusammengehalten, das ich nun mit andächtiger Sorgfalt wieder darüberstreife, nachdem ich ihren kostbaren Inhalt zum letzten Mal durchgesehen habe. Ein anderer, viel dünnerer Stoß von zwölf zusammengeklammerten Karten, die in denselben Manila-Umschlag geschoben waren wie der Hauptstapel, enthält noch ein paar weitere Verspaare, deren kurzer und manchmal schmieriger Lauf durch ein Chaos von ersten Entwürfen hindurchführt. In der Regel vernichtete Shade solche Entwürfe, sobald er sie nicht mehr benötigte: Gut kann ich mich erinnern, wie ich ihn von meiner Veranda aus an einem strahlenden Morgen einen ganzen Haufen davon verbrennen sah, im fahlen Feuer des Gartenofens, vor dem er mit gebeugtem Haupte stand gleich einem offiziellen Trauergast zwischen den im Winde schaukelnden schwarzen Schmetterlingen dieses vor der Hintertür stattfindenden Autodafés. Aber jene zwölf Karten bewahrte er wegen der ungenutzten glücklichen Einfälle, die durch den Abfall verbrauchter Entwürfe hindurchschimmerten. Vielleicht dachte er vage daran, bestimmte Passagen der Reinschrift durch einige der entzückenden verworfenen Zeilen aus seinem Kartenmaterial zu ersetzen, oder, wahrscheinlicher noch, eine versteckte Vorliebe für diese oder jene Vignette, unterdrückt aus architektonischen Erwägungen oder weil sie Mrs. S. geärgert hatte, drängte ihn, ihre Verwendung bis zu dem Zeitpunkt aufzuschieben, da die marmorne Endgültigkeit eines makellosen Maschinenskripts sie bestätigen würde oder aber eine noch so köstliche Variante plump und fehlerhaft erscheinen ließe. Und vielleicht – erlauben Sie mir, dies in aller Bescheidenheit hinzuzufügen – beabsichtigte er, mir das Gedicht vorzulesen, um mich dann um Rat zu fragen, wie er es meines Erachtens bestimmt vorhatte.

In meinen Anmerkungen zu dem Gedicht wird der Leser diese gestrichenen Lesarten finden. Ihre Stellen werden von den Entwürfen endgültiger Verse in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft angezeigt oder zumindest angedeutet. In einem gewissen Sinne sind viele von ihnen künstlerisch und historisch wertvoller als manche der besten Passagen im endgültigen Text. Ich muss nunmehr erklären, wie es dazu kam, dass Fahles Feuer von mir herausgegeben wurde.

Sofort nach dem Tod meines lieben Freundes bewog ich seine fassungslose Witwe, den kommerziellen Leidenschaften und akademischen Intrigen vorzubeugen, ja zuvorzukommen, die sich unweigerlich an dem Manuskript ihres Mannes entzünden würden (das ich an einen sicheren Ort geschafft hatte, noch ehe sein Leichnam ins Grab gesenkt war), indem sie ein Abkommen unterzeichnete des Inhalts, dass er mir das Manuskript überlassen habe; dass ich es ohne Verzug herausbringen würde, versehen mit meinem Kommentar, in einem Verlag meiner Wahl; dass alle Erlöse mit Ausnahme der Verlagsanteile ihr zufallen würden; und dass am Tage der Veröffentlichung das Manuskript der Kongressbibliothek zur dauernden Aufbewahrung übergeben würde. Ich fordere jeden ernst zu nehmenden Kritiker heraus, diesen Vertrag unfair zu heißen. Nichtsdestoweniger ist er (von Shades früherem Rechtsanwalt) ein «phantastisches Gebräu der Bosheit» genannt worden, während eine weitere Person (sein ehemaliger Literaturagent) sich naserümpfend darüber aufgehalten hat, ob Mrs. Shades zittrige Signatur nicht «in einer merkwürdigen Art von roter Tinte» geleistet worden sei. Solche Herzen, solche Hirne wären nie fähig einzusehen, dass die Bindung an ein Meisterwerk überwältigend sein kann, besonders wenn es die Rückseite des Gewebes ist, die den Betrachter und eigentlichen Verursacher[5] hinreißt, dessen eigene Vergangenheit sich dort mit dem Fatum seines unschuldigen Autors verflicht.

Wie, glaube ich, in meiner letzten Anmerkung zum Gedicht erwähnt, sprengte die Wasserbombe des Shade’schen Todes so viele Geheimnisse empor und ließ so viele tote Fische auftreiben, dass ich gezwungen war, New Wye bald nach meinem letzten Interview mit dem inhaftierten Mörder zu verlassen. Die Abfassung des Kommentars musste aufgeschoben werden, bis ich mir in ruhigerer Umgebung ein neues Inkognito suchen konnte, jedoch waren praktische, das Gedicht betreffende Dinge unverzüglich zu regeln. Ich nahm ein Flugzeug nach New York, ließ das Manuskript photographieren, einigte mich mit einem von Shades Verlegern und war drauf und dran, den Handel abzuschließen, als mein Gesprächspartner inmitten eines ausladenden Sonnenuntergangs (wir saßen in einer Zelle aus Nussbaum und Glas, fünfzig Stock über der Skarabäenprozession) ganz nebenher bemerkte: «Sie werden froh sein über die Nachricht, Dr. Kinbote, dass Professor Soundso [eines der Mitglieder des Shade-Ausschusses] eingewilligt hat, bei der Edition des Materials als Ihr Berater zu fungieren.»

Nun ist «froh» etwas ausgesprochen Subjektives. Eines unserer weniger geistreichen zemblanischen Sprichwörter lautet «Der verlorene Handschuh ist froh». Prompt ließ ich das Schloss meiner Aktentasche wieder zuschnappen und verfügte mich zu einem zweiten Verleger.

Stellen Sie sich einen sanften, unbeholfenen Riesen vor; stellen Sie sich eine historische Persönlichkeit vor, deren finanzielle Kenntnisse auf die abstrakten Milliarden einer Staatsverschuldung begrenzt sind; denken Sie sich einen exilierten Fürsten, der von der Goldgrube in seinen Manschettenknöpfen nichts ahnt! Will sagen – natürlich nur hyperbolisch –, dass ich der unpraktischste Mensch der Welt bin. Zwischen einem solchen Menschen und einem alten Fuchs im Verlagsgeschäft sind die Beziehungen zunächst einmal rührend sorglos und kumpelhaft, mit mitteilsamen Neckereien und allen möglichen Freundschaftsbeweisen. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass je etwas passieren wird, das diese anfängliche Beziehung zum lieben alten Frank, meinem gegenwärtigen Verleger, davon abhalten könnte, eine ständige Einrichtung zu bleiben.

Frank hat die sichere Rückkehr der Korrekturfahnen bestätigt, die man mir hierher gesandt hatte, und mich gebeten, in meinem Vorwort zu erwähnen – und ich tue es gern –, dass ich allein verantwortlich bin für alle Fehler in meinem Kommentar. (Einfügen vor Ein professioneller.)[6] Ein professioneller Korrektor hat den gedruckten Text des Gedichts auf das sorgfältigste mit den Photoabzügen des Manuskripts verglichen und ein paar belanglose Druckfehler gefunden, die mir entgangen waren; das war alles an wie auch immer gearteter fremder Hilfe. Überflüssig zu sagen, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, von Sybil Shade mit reichlichen biographischen Informationen versorgt zu werden; unglücklicherweise verließ sie New Wye, noch ehe ich selbst abreiste, und wohnt heute bei Verwandten in Quebec. Wir hätten natürlich eine höchst fruchtbare Korrespondenz miteinander führen können, aber die Shadeaner waren nicht abzuschütteln. Sie brachen in Schwärmen auf nach Kanada, um sich auf die arme Frau zu stürzen, kaum dass ich den Kontakt zu ihr und ihren wechselhaften Stimmungen verloren hatte. Anstatt einen Monate alten Brief zu beantworten, den ich aus meinem Schlupfwinkel in Cedarn geschrieben und worin ich einige meiner verzweifeltsten Anfragen aufgeführt hatte wie zum Beispiel die nach dem wahren Namen von «Jim Coates»[7] usw., kabelte sie mir plötzlich ein Telegramm, in dem sie mich ersuchte, Prof. H. (!) und Prof. C. (!!) als Mitherausgeber des Gedichts ihres Mannes zu akzeptieren. Wie groß war meine Überraschung, wie tief mein Schmerz! Natürlich war damit jede Zusammenarbeit mit der fehlgeleiteten Witwe meines Freundes ausgeschlossen.

Und er war in der Tat ein sehr lieber Freund! Dem Kalender nach habe ich ihn nur wenige Monate gekannt, aber es gibt Freundschaften, die ihre eigene innere Dauer entwickeln, ihre eigenen Äonen transparenter Zeit, unabhängig von rotierender böswilliger Musik. Nie werde ich vergessen, wie hochgestimmt ich war, als ich erfuhr – dies alles erwähnt in einer Anmerkung, die mein Leser noch finden wird –, dass das Vororthaus (mir zur Miete überlassen von Richter Goldsworth, der sein freies siebentes Jahr zu einem Englandaufenthalt nutzte), in das ich am 5. Februar 1959 einzog, gleich neben dem des berühmten amerikanischen Dichters stand, dessen Verse ich zwei Jahrzehnte zuvor ins Zemblanische zu übertragen versucht hatte! Außer dieser glanzvollen Nachbarschaft hatte das Goldsworth’sche Schloss, wie ich bald merken sollte, wenig zu seiner Empfehlung zu bieten. Das Heizungssystem war eine Farce, denn es verließ sich auf Schieber im Fußboden, aus denen die lauwarmen Exhalationen eines puckernden und stöhnenden Kellerofens mit der Mattheit letzter Atemzüge eines Todgeweihten in die Räume gehaucht wurden. Indem ich die Öffnungen im Obergeschoss verstopfte, versuchte ich, mehr Energie zur Klappe im Wohnzimmer zu leiten, aber das Klima dort erwies sich als unheilbar verdorben, da zwischen Zimmer und arktischen Regionen nichts weiter war als eine Haustür voller Ritzen, nicht die Spur von einem Vestibül – entweder, weil das Haus im Hochsommer von einem naiven Siedler errichtet worden war, der sich nicht vorstellen konnte, was für Winter New Wye für ihn in petto hatte, oder weil es der gute Ton von ehedem erheischte, dass ein unerwarteter Besucher sich schon von der Schwelle aus davon überzeugen konnte, dass im Salon nichts Unziemliches vorging.

Auch in Zembla[8] waren Februar und März (die beiden letzten der vier «weißnasigen Monate», wie sie bei uns heißen) immer ziemlich rau, aber sogar eine Bauernstube bot dort einen soliden Block gleichmäßiger Wärme – nicht ein Netzwerk tödlichen Luftzugs. Es ist wahr, dass mir, wie Neuankömmlingen meist, sogleich versichert wurde, ich hätte mir den schlimmsten Winter seit Jahren ausgesucht – und dies auf der geographischen Breite von Palermo. An einem der ersten Vormittage dort, als ich mich anschickte, in dem starken roten Wagen, den ich gerade erworben hatte, zum College zu fahren, bemerkte ich, dass Mr. und Mrs. Shade, deren beider Bekanntschaft ich noch nicht gemacht hatte (später sollte ich dann erfahren, dass sie angenommen hatten, ich wünschte in Ruhe gelassen zu werden), mit ihrem alten Packard Schwierigkeiten auf der schlüpfrigen Zufahrt hatten, wo er zwar ein Gestöhn der Agonie von sich gab, jedoch das eine der gequälten Hinterräder nicht aus einem konkaven Eisinferno herauswinden konnte. John Shade machte sich unbeholfen mit einem Eimer zu schaffen, woraus er mit den Gebärden eines Sämanns Hände voll braunen Sands über die blaue Glasur verteilte. Er trug Filzstiefel, sein Vikunjawollkragen stand hoch, sein reichliches graues Haar blinkte wie von Reif bedeckt in der Sonne. Ich wusste, dass er ein paar Monate zuvor krank gewesen war, mir fiel ein, dass ich meinen Nachbarn ja eine Fahrt zur Universität in meinem starken Automobil anbieten könnte, und ich eilte zu ihnen hinüber. Ein Fahrweg, der um die leichte Erhöhung herumführte, auf der mein Mietkastell stand, trennte dieses von der Zufahrt meines Nachbarn, und ich wollte jenen Weg gerade überqueren, als ich den Halt verlor und mich in den überraschend harten Schnee setzte. Mein Hinfallen wirkte wie ein chemisches Reagens auf die Shade’sche Limousine, die auf der Stelle anzog und, während John Grimassen schneidend am Steuer saß und Sybil hitzig auf ihn einredete, mich beim Hinausgleiten auf den Fahrweg fast überrollte. Ich glaube nicht, dass mich einer von beiden bemerkt hat.

Ein paar Tage später jedoch, nämlich am Montag, dem 16. Februar, wurde ich während der Mittagszeit im Dozentenclub dem alten Poeten vorgestellt. «Endlich meine Vollmacht überreicht», wie es ein wenig ironisch in meinem Tagebuch heißt. Man lud mich ein, mit ihm und vier oder fünf anderen bedeutenden Professoren an seinem angestammten Tisch Platz zu nehmen, unter einem vergrößerten Photo des Wordsmith College[9], so leblos und ärmlich, wie es an einem bemerkenswert trüben Sommertag des Jahres 1903 ausgesehen hatte. Sein lakonischer Vorschlag, ich möge doch «den Schweinebraten probieren», amüsierte mich. Ich bin strenger Vegetarier und koche gern selbst. Etwas zu mir zu nehmen, worin ein Mitmensch herumgemanscht hat, so ließ ich meine rotwangigen Tischgenossen wissen, sei mir so widerwärtig, wie irgendeine Kreatur zu verspeisen, und das schlösse – ich senkte die Stimme – die üppige Studentin mit dem Pferdeschwanz ein, die, unserer Bestellungen harrend, an ihrem Bleistift leckte. Außerdem hatte ich bereits die in der Aktentasche mitgebrachten Früchte verzehrt, und deshalb würde ich mich lieber, sagte ich, mit einer Flasche guten College-Biers begnügen. Mein freies und einfaches Benehmen entkrampfte alle. Man stellte mir die üblichen Fragen, ob Eggnogs und Milkshakes für jemanden mit meinem Weltbild akzeptabel seien oder nicht. Shade sagte, bei ihm sei es gerade umgekehrt: Er müsse sich regelrecht zwingen, Gemüse zu sich zu nehmen. Sich über einen Salat herzumachen, sei für ihn das Gleiche, wie an einem eisigen Tag ins Meer zu steigen, und stets aufs neue koste es ihn Überwindung, die Festung eines Apfels zu attackieren. Noch war ich nicht an die ziemlich ermüdenden Verulkungen und Neckereien gewöhnt, wie sie sich zwischen amerikanischen Intellektuellen des akademischen Inzuchttypus abspielen, und nahm davon Abstand, John Shade vor all diesen grinsenden alten Männern zu sagen, wie sehr ich sein Werk bewunderte, damit nicht eine ernsthafte Diskussion über Literatur in bloße Fazetien abglitte. Stattdessen erkundigte ich mich nach einem meiner neu erworbenen Studenten, der auch bei ihm eine Übung belegt hatte, einem launenhaften, empfindsamen, wirklich wunderbaren Jungen; aber der alte Poet schüttelte resolut die ergraute Stirnlocke und sagte, dass er schon vor langer Zeit aufgehört habe, sich an Gesichter und Namen von Studenten zu erinnern, und dass die einzige Person in seinem Poetikseminar, die ihm vor Augen stehe, eine Gasthörerin auf Krücken sei. «Na, na, na», sagte Professor Hurley, «wollen Sie damit etwa sagen, John, Sie hätten in Kopf oder Bauch wirklich keine Vorstellung von jener sagenhaften Blondine in schwarzem Body, die Lit 202 heimsucht?» Shade strahlte über das ganze faltige Gesicht und tippte Hurley wohlwollend aufs Handgelenk, damit er schwieg. Ein weiterer Quälgeist wollte wissen, ob es wahr sei, dass ich in meinem Keller zwei Tischtennisplatten aufgestellt hatte. Ich fragte, ob das ein Verbrechen wäre. Nein, sagte er, aber warum gleich zwei? Ist das ein Verbrechen?, konterte ich, und alle fingen an zu lachen.

Trotz eines wankelmütigen Herzens (siehe Vers 735), eines leichten Hinkens und einer gewissen merkwürdigen Verrenktheit bei der Fortbewegung hatte Shade einen unmäßigen Hang zu langen Spaziergängen, nur störte ihn der Schnee, weshalb er es im Winter vorzog, sich nach den Vorlesungen von seiner Frau mit dem Wagen abholen zu lassen. Ein paar Tage später, als ich gerade den Parthenocissus-Bau[10] – oder das Hauptgebäude (oder nunmehr, ach ja, den Shade-Bau) – verlassen wollte, sah ich ihn draußen darauf warten, dass Mrs. Shade ihn abholte. Ich stand eine Minute lang neben ihm auf den Stufen des Säulengangs, und während ich mir die Handschuhe überstreifte, Finger für Finger, und dabei umherblickte, als wollte ich eine Parade abnehmen, kommentierte der Dichter: «Das war ganze Arbeit.» Er sah auf seine Armbanduhr. Eine Schneeflocke fiel darauf. «Kristall auf Kristall», sagte Shade. Ich bot ihm eine Heimfahrt in meinem starken Kramler an. «Ehefrauen, Mr. Shade, sind vergesslich.» Er reckte den struppigen Kopf, um einen Blick auf die Bibliotheksuhr zu werfen. Quer über die kahle Fläche schneebedeckten Rasens kamen lachend und rutschend zwei strahlende Jünglinge in farbenfroher Winterkleidung vorbei. Shade blickte abermals auf die Uhr und akzeptierte achselzuckend mein Angebot.

Ich erkundigte mich, ob er etwas gegen einen Umweg habe, da ich beim Einkaufszentrum halten wollte, um Schokoladenkekse und ein wenig Kaviar zu kaufen. Er sagte, es würde ihm nichts ausmachen. Aus dem Innern des Supermarktes beobachtete ich durch ein Schaufenster, wie der Alte in einem Spirituosenladen verschwand. Als ich mit meinen Einkäufen zurückkam, saß er wieder im Wagen und las ein Boulevardblatt, von dem ich angenommen hatte, kein Poet würde sich dazu herablassen, es auch nur anzurühren. Ein wohliger Rülpser sagte mir, dass er irgendwo an seiner warm vermummten Gestalt eine Flasche Brandy verborgen hielt. Als wir in die Zufahrt seines Hauses einbogen, sahen wir Sybil gerade vorn ankommen. Mit höflicher Lebhaftigkeit sprang ich heraus. Sie sprach: «Da mein Mann nichts davon hält, Leute vorzustellen, lassen Sie’s uns selbst tun: Sie sind Dr. Kinbote, nicht wahr? Und ich bin Sybil Shade.» Dann wandte sie sich an ihren Mann und meinte, er hätte ruhig noch eine Minute in seinem Büro ausharren können: Sie hätte gehupt und gerufen und sei bis zu ihm hinaufgestiegen und so weiter. Ich wandte mich zum Gehen, um nicht einer Eheszene beiwohnen zu müssen, doch sie rief mich zurück. «Trinken Sie ein Gläschen mit uns», sagte sie, «oder besser mit mir, denn John darf keinen Alkohol anrühren.» Ich erklärte, lange könnte ich nicht bleiben, weil ich bald so etwas wie ein kleines Seminar in meinem Haus abhalten wolle, dem ein bisschen Tischtennis folgen sollte – mit zwei charmanten eineiigen Zwillingen und noch einem Jungen, noch einem.

Von da an bekam ich meinen berühmten Nachbarn immer öfter zu Gesicht. Der Blick aus einem meiner Fenster brachte mir stets aufs neue erstklassige Unterhaltung, besonders wenn ich auf einen verspäteten Gast wartete. Vom ersten Stock meines Hauses blieb das Fenster zum Wohnzimmer der Shades so lange sichtbar, wie die Zweige der Laubbäume zwischen uns noch kahl waren, und fast jeden Abend konnte ich den behausschuhten Fuß des Poeten sachte schaukeln sehen. Daraus war zu folgern, dass er mit einem Buch in der Hand in einem Sessel saß, aber nie vermochte man mehr als jenen Fuß und dessen Schatten zu erhaschen, wie sie sich zu dem geheimen Rhythmus geistiger Versunkenheit im konzentrierten Lampenlicht auf und ab bewegten. Immer zur selben Zeit glitt der braune Saffianpantoffel von dem Wollsockenfuß, der weiter pendelte, jedoch mit leicht nachlassendem Tempo. Man wusste, die Schlafenszeit mit all ihren Schrecknissen kam näher; in wenigen Minuten würde der Zeh nach dem Pantoffel angeln und sich hineindrängen und damit dann aus meinem goldenen Blickfeld entschwinden, das nur von der schwarzen Strebe eines Zweigs gekreuzt wurde. Und gelegentlich trippelte Sybil Shade vorbei, mit der Hast und den fuchtelnden Armen eines Menschen, der in einem plötzlichen Wutanfall davonstürzt, kam jedoch wenig später mit viel langsameren Schritten zurück, so als hätte sie ihrem Mann die Freundschaft mit einem exzentrischen Nachbarn verziehen; indes, das Rätsel ihres Verhaltens löste sich eines Abends völlig, als ich, ihre Nummer anwählend und gleichzeitig ihr Fenster beobachtend, sie auf magische Weise dazu brachte, die hastigen und ganz unschuldigen Handlungen zu vollführen, die mir so rätselhaft vorgekommen waren.

Ach, mein Seelenfrieden sollte bald erschüttert werden. Das zähe Gift des Neids spritzte mich an, sobald das akademische Spießertum erkannt hatte, dass John Shade meine Gesellschaft höher schätzte als die der Übrigen. Ihr Gekicher, meine liebe Mrs. C., entging uns nicht, als ich dem müden alten Poeten half, nach jener öden Kennenlernparty in Ihrem Hause die Galoschen wiederzufinden. Eines Tages, als ich zufällig ins Büro der Abteilung für Englische Literatur trat, wo ich eine Zeitschrift mit dem Bild des Königsschlosses in Onhava entleihen wollte, um sie meinem Freund zu zeigen, überraschte ich einen jungen Dozenten in grüner Samtjacke, den ich gnädig Gerald Emerald[11] nennen will, wie er auf eine Frage der Sekretärin lässig entgegnete: «Ich nehme an, Mr. Shade ist bereits mit dem Großen Biber fortgegangen.» Gewiss, ich bin ziemlich hoch gewachsen, und mein brauner Bart ist von recht reicher Färbung und Beschaffenheit; der dumme Spitzname, augenscheinlich auf mich gemünzt, war es aber nicht wert, vermerkt zu werden, und so begnügte ich mich denn damit, nachdem ich die Zeitschrift in aller Ruhe von einem pamphletübersäten Tisch genommen hatte, auf dem Wege nach draußen im Vorbeigehen mit einem deftigen Ruck meiner Finger Gerald Emeralds Fliege loszuzupfen. Auch gab es jenen Morgen, da Dr. Nattochdag, Chef der Abteilung, der auch ich angehörte, mich mit förmlicher Stimme Platz zu nehmen bat, alsdann die Tür schloss und, nachdem er stirnrunzelnd wieder seinen Drehstuhl eingenommen hatte, mir dringlich empfahl, doch «etwas vorsichtiger zu sein». In welchem Sinne vorsichtig? Ein Junge hatte sich bei seinem Studienberater beschwert. Worüber denn, du lieber Gott? Darüber, dass ich ein Literaturseminar kritisiert hatte, an dem er teilnahm («ein lächerlicher Überblick über lächerliche Werke, veranstaltet von einer lächerlichen Mediokrität»). Erleichtert lachte ich auf, umarmte meinen guten Netotschka und versprach, nie wieder unartig zu sein. Ich nehme diese Gelegenheit wahr, ihm meine Reverenz zu erweisen. Sein Benehmen mir gegenüber war stets von so ausgesuchter Höflichkeit, dass ich mir manchmal Gedanken darüber machte, ob er nicht ahnte, was auch Shade vermutete und was nur drei Personen (zwei Kuratoren und der Präsident der Universität) definitiv wussten.

Oh, es gab viele solche Vorfälle. In einem Sketch, den eine Gruppe von Schauspielschülern aufführte, wurde ich als aufgeblasener Frauenhasser mit deutschem Akzent dargestellt, der ständig Housman[12] zitiert und an rohen Karotten knabbert; und eine Woche vor Shades Tod geschah es, dass eine gewisse bissige Lady, deren Club ich ein Referat verweigerte über das Thema «The Hally Vally» (wie sie es ausdrückte, dabei Odins Walhall mit dem finnischen Epos Kalewala vermengend), mitten in einem Lebensmittelladen zu mir sagte: «Sie sind ein bemerkenswert unangenehmer Mensch. Mir ist völlig schleierhaft, wie John und Sybil Sie ertragen können», und aufgebracht über mein höfliches Lächeln fügte sie hinzu: «Außerdem sind Sie wahnsinnig.»

Aber lassen Sie mich diese Aufreihung von Trivialitäten nicht weiterführen. Was immer gedacht, was immer gesagt wurde, ich fand vollen Lohn in Johns Freundschaft. Diese Freundschaft war umso kostbarer, als ihre Zartheit, besonders wenn wir nicht allein waren, absichtlich von jener Schroffheit kaschiert wurde, die aus dem hervorgeht, was sich mit Würde des Herzens umschreiben lässt. Sein ganzes Wesen stellte eine Maske dar. John Shades physische Erscheinung stimmte so wenig überein mit den Harmonien, die wie Bienen in ihm summten, dass man geneigt war, sie als grobe Verkleidung oder vorübergehende Mode einzustufen; denn wenn die Moden des romantischen Zeitalters die Mannhaftigkeit des Poeten dadurch verfeinerten, dass sie seinen anziehenden Nacken frei ließen, sein Profil verschönerten und in seinem ovalen Blick einen Bergsee spiegelten, sehen die Barden der Gegenwart, vielleicht dank der günstigeren Bedingungen fürs Älterwerden, wie Orang-Utans oder Geier aus. Das Gesicht meines sublimen Nachbarn hatte etwas an sich, das dem Auge hätte schmeicheln können, wäre es nur leoninisch oder ausschließlich irokesisch gewesen; da es jedoch beides miteinander verband, gemahnte es unglücklicherweise nur an einen der feisten Trunkenbolde Hogarth’scher[13] Prägung von unbestimmbarem Geschlecht. Sein missgestalteter Körper, dieser graue Mopp überschüssigen Haars, die gelben Nägel seiner Knubbelfinger, die Taschen unter den glanzlosen Augen waren einem nur dann verständlich, wenn man sie als Abfallprodukte betrachtete, ausgeschieden von seinem wahren Selbst von ebenjenen Kräften der Vollkommenheit, die auch seinen Vers verfeinerten und ziselierten. Er war sein eigener Widerruf.

Ich habe ein Photo von ihm, das ich besonders liebe. Auf diesem farbigen Schnappschuss, den ein damaliger Freund von mir an einem strahlenden Frühlingstag aufgenommen hat, sieht man Shade auf einen handfesten Spazierstock gestützt, der seiner Tante Maud gehört hatte (siehe Vers 86). Ich trage eine weiße, in einem lokalen Sportartikelgeschäft erstandene Windjacke sowie eine lila Hose, die aus Cannes stammte. Meine Linke ist halb erhoben – nicht, um Shade auf die Schulter zu klopfen, wie es die Absicht zu sein scheint, sondern um meine Sonnenbrille abzunehmen, die sie jedoch in diesem Leben, dem des Bildes, nie mehr erreichte; und das Buch aus der Bibliothek unter meinem rechten Arm ist ein Traktat über gewisse zemblanische Freiübungen, für die ich meinen jungen Untermieter, der das Photo knipste, zu interessieren hoffte. Schon eine Woche darauf sollte er mein Vertrauen verraten, indem er sich meine Abwesenheit während einer Washington-Reise auf das gemeinste zunutze machte, denn bei der Rückkehr musste ich erkennen, dass er inzwischen eine rothaarige Hure aus Exton ausgehalten hatte, die ihre Haarreste und ihren Geruch in allen drei Badezimmern zurückließ. Natürlich trennten wir uns auf der Stelle, und durch einen Spalt im Fenstervorhang sah ich den bösen Bob mit seinem Bürstenschnitt, dem schäbigen Koffer und den Skiern, die ich ihm geschenkt hatte, ziemlich kläglich und gänzlich verloren am Straßenrand stehen und darauf warten, dass ein Kommilitone ihn für immer hinwegchauffieren würde. Alles kann ich verzeihen, nur keinen Treubruch.

Wir haben nie, John Shade und ich, über meine persönlichen Missgeschicke gesprochen. Unsere enge Freundschaft bewegte sich auf jener höheren, ausschließlich intellektuellen Ebene, wo man sich von den Kümmernissen des Gefühlslebens ausruhen kann und sie nicht miteinander teilen muss. Meine Bewunderung für ihn war mir so etwas wie eine Hochgebirgskur. Mich überkam bei seinem Anblick jedes Mal große Verwunderung, vor allem, wenn andere, wenn Geringere dabei waren. Diese Verwunderung wurde noch bestärkt durch mein Bewusstsein, dass sie nicht fühlten, was ich fühlte, dass sie nicht sahen, was ich sah, dass sie Shade für selbstverständlich nahmen, anstatt sozusagen jeden Nerv im Zauber seiner Gegenwart zu baden. Hier steht er, sagte ich mir dann, dies ist sein Kopf, der ein Hirn von anderer Machart enthält als jene synthetischen Gelees, die in den Schädeln um ihn herum aufbewahrt werden. Er blickt von der Terrasse (des Hauses von Prof. C. an jenem Märzabend) auf den entfernten See. Ich blicke auf ihn. Ich werde Zeuge eines einzigartigen physiologischen Phänomens: John Shade, wie er die Welt wahrnimmt und sie transformiert, sie herein- und auseinandernimmt, ihre Elemente, noch während er sie speichert, neu zusammenfügt, um zu irgendeinem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt ein organisches Wunder hervorzubringen, eine Fusion von Bild und Musik, eine Verszeile. Und ich spürte die gleiche Erregung wie einmal in meiner frühen Jugend, als ich im Schloss meines Onkels über den Teetisch hinweg einen Taschenspieler beobachtete, der gerade eine phantastische Vorstellung gegeben hatte und jetzt friedlich ein Vanilleeis schleckte. Ich starrte auf seine gepuderten Wangen, auf die magische Blume in seinem Knopfloch, wo sie eine Folge von verschiedenen Farben durchlaufen hatte und nun endgültig als weiße Nelke befestigt worden war, und besonders auf seine wunderbaren, flüssig scheinenden Finger, die, wenn er nur wollte, seinen Löffel in einen Sonnenstrahl aufzulösen vermochten, indem er ihn einfach hin und her drehte, oder seinen Teller in eine Taube verwandelten, indem er ihn hoch in die Luft warf.

Shades Gedicht ist in der Tat jenes plötzliche Erblühen von Magie: Mein grauhaariger Freund, mein geliebter alter Zauberer, legte einen Packen Karteikarten in seinen Hut – und schüttelte ein Gedicht daraus hervor.

Diesem Gedicht müssen wir uns nunmehr zuwenden. Mein Vorwort war, hoffe ich, nicht zu dürftig. Weitere Anmerkungen, zu einem fortlaufenden Kommentar geordnet, werden sicher auch den unersättlichsten Leser zufriedenstellen. Obwohl diese Anmerkungen, wie es Usus ist, dem Gedicht hintanstehen, wird dem Leser nahegelegt, zunächst sie zu befragen und erst dann mit ihrer Hilfe das Gedicht zu studieren; natürlich sollte er, während er dessen Text durchgeht, erneut in den Anmerkungen lesen und womöglich, sobald er das Gedicht zu Ende gebracht hat, sie noch ein drittes Mal konsultieren, damit das Bild sich runde. In Fällen wie diesem finde ich es ratsam, das lästige Vor- und Zurückblättern dadurch zu umgehen, dass man entweder den Kommentar seitenweise herausschneidet und mit den Textseiten verklammert oder, noch einfacher, dass man zwei Exemplare desselben Werks ersteht, die man dann nebeneinander auf einen komfortablen Tisch legen kann – einen anderen als diese wacklige Winzigkeit, auf der eben jetzt meine Schreibmaschine unsicher thront, in dieser erbärmlichen Automobilistenherberge, mit diesem Karussell inner- und außerhalb meines Kopfes, meilenweit entfernt von New Wye. Erlauben Sie mir zu erklären, dass Shades Text ohne meine Anmerkungen einfach keine menschliche Wirklichkeit besitzt, weil die menschliche Wirklichkeit eines Gedichts wie des seinen (das als autobiographisches Werk zu sprunghaft und zu verschwiegen ist) bei Weglassung vieler bedeutungsschwangerer Zeilen, die er leichtsinnig verwarf, ganz auf die Realität des Autors und seiner Umgebung, seiner Neigungen und so weiter gestellt ist, eine Realität, die nur durch meine Anmerkungen herbeigeschafft werden kann. Diese Erklärung hätte mein geliebter Poet womöglich nicht unterschrieben, indes, ob nun zum Besten oder zum weniger Guten, es ist der Kommentator, der das letzte Wort hat.

CHARLES KINBOTE

19. Okt. 1959, Cedarn, Utana

Fahles Feuer

Ein Gedicht in vier Cantos

Erster Canto

(1) Ich war der Schatten eines Seidenschwanzes,

Den trügerisches Azurblau im Fensterglas erschlug;

Ich war der Schmutzfleck aschnen Flaums – und ich

Flog weiter, lebte fort im reflektierten Himmel.

Und auch von innen her verdoppelte

Ich selbst mich, meine Lampe, einen Apfel auf dem Teller:

Zog von der Nacht den Vorhang und ließ dunkles Glas

Nun alle Möbel übern Rasen hängen,

Und welch Entzücken, wenn ein Schneefall dann

(10) Mein Stückchen Rasen deckte und sich derart häufte,

Dass Stuhl und Bett genau auf jenem Schnee

Zu stehen kamen, draußen, im kristallnen Land!

 

Den Schnee noch mal: jede herbeigewehte Flocke,

Gestaltlos, langsam, taumelnd und opak,

Ein duffes Weiß im fahlen Weiß des Tages

Und abstrahierte Lärchen im neutralen Licht.

Und dann das graduelle Blau, verdoppelt,

Da Nacht Betrachter und Betrachtetes vereint,

Und morgens drücken Raureifdiamanten

(20) Erstaunen aus: Wessen gespornte Füße haben

Das leere Blatt des Wegs von links nach rechts gequert?

Im Code des Winters zeigen sie von links nach rechts:

Ein Punkt, ein Pfeil, der rückwärts weist; noch mal:

Punkt, Pfeil, der rückwärts weist … Fasanenspur!

Du Schöner mit dem Halsring, sublimierter Feldhahn,

Gleich hinter meinem Haus fandst du dein China.

Stammt er aus Sherlock Holmes[14], der Bursche, dessen Spur

Nach hinten wies, als er die Schuh umdrehte?

 

Mich machten alle Farben glücklich: selbst das Grau.

(30) Es waren so geartet meine Augen, dass

Sie regelrechte Photos machten. Wenn ich’s zuließ

Oder es ihnen leise schaudernd anbefahl,

Wurde, was immer sich in meinem Blickfeld zeigte –

Ein Innenraum, das Hickorylaub oder die schlanken

Stilette eines frosterstarrten Stillicidiums[15] –,

Der Rückwand meiner Augenlider aufgedruckt,

Wo es dann ein, zwei Stunden säumte, und in dieser Zeit

Braucht’ ich nicht mehr zu tun, als meine Augen

Zu schließen, und das Laub, die Innenszene oder die

(40) Trophäen an der Traufe waren abgebildet.

 

Ein Rätsel ist mir, dass ich auf dem Schulweg

Entlang der Lake Road die Veranda unsres Hauses

Erkennen konnte, während ich jetzt nicht einmal,

Obschon kein Baum dazwischentrat,

Das Dach erblicke. Womöglich hat ein Winkelzug im Raum

Bewirkt, dass eine Falte oder Furche den fragilen

Ausblick verschob, das Holzhaus zwischen

Goldsworth und Wordsmith dort auf seinem grünen Viereck.

 

Ich mochte einen jungen Hickorybaum[16] besonders

(50) Mit seinem dunklen Jadeblattwerk und dem magren

Zerfurchten schwarzen Stamm. Der Sonnenuntergang

Bronzierte seine schwarze Borke, auf der nun

Der Blätterschatten lag wie losgebundene Girlanden.

Jetzt ist er stark und rau; er hat sich gut gemacht.

Durch seinen Schatten gleiten weiße Falter,

Lavendelblau getönt, wo sachte das Phantom

Der Schaukel meines Töchterchens zu schwingen scheint.

 

Das Haus ist etwa so geblieben, wie es war. Wir haben

Den einen Flügel renovieren lassen. Es gibt nun ein Solarium

(60) Sowie ein Panoramafenster mit zwei Sesseln an den Seiten.

Des Fernsehns Riesenheftklammer blinkt jetzt

Anstatt der steifen Wetterfahne, die so oft

Besuch von der Spottdrossel hatte, zartgrau und naiv;

Nunmehr erzählt sie die Programme nach, die sie mithört,

Gelangt dabei von tschippo-tschipp zu einem klaren

To-wih, to-wih und drauf zu einem krächzenden come here,

Come here, come herrr; sitzt dann mit wippem Stert

Oder nach einem einen leichten graziösen Aufwärtsschwung

Im nächsten Augenblick (to-wih!) schon wieder

(70) Auf ihrem Rastplatz – unsrer neuen Dachantenne.

 

Ich war ein Kind, als meine Eltern starben.

Ornithologen beide. Zu beschwören suchte ich

So oft sie, dass ich heute eine Tausendschaft

Von Eltern habe. Traurig gehn sie auf

In ihren eignen Tugenden, entweichen,

Doch manches Wort, ein Zufallswort wie «Herzkrankheit»,

Wenn ich es höre oder lese, meint es immer ihn,

«Bauchspeicheldrüsenkrebs» dagegen weist auf sie.

 

Der Präterist[17]: ein Mensch, der kalte Nester sammelt.

(80) Hier lag mein Schlafzimmer, jetzt Gästen vorbehalten.

Hier lauschte ich, vom Dienstmädchen aus Kanada

Zu Bett gebracht, dem Stimmgeschwirr dort unten – betend,

Ein jeder möge stets gesund und wohlauf sein,

Die Onkel und die Tanten, auch die Putzfrau samt Adele,

Der Nichte, die den Papst gesehn, Leute aus Büchern, Gott.

 

Ich wuchs bei Tante Maud auf, einer lieben und

Bizarren Malerin und Dichterin mit einem Hang

Zu realistischen Objekten, eng verflochten mit

Grotesken Wucherungen, Untergangsvisionen.

(90) Sie hörte noch das nächste Baby schreien.[18] Ihr Zimmer,

Wir haben’s so gelassen. All sein Kleinkram bildet

Ein Stillleben nach ihrer Art: der Briefbeschwerer,

Konvexes Glas, umschließt eine Lagune.

Beim Index offen liegen die Gedichte (Mond,

Mondaufgang, Moor, Moral). Eine vereinsamte Gitarre.

Ein Schädel; und aus dem Lokalblatt

Ein Kuriosium: Red Sox schlagen Yankees 5:4

Nach Chapmans Homer[19], an die Tür gepinnt.

 

Mein Gott starb jung. Ich fand Theolatrie

(100) Erniedrigend und die Prämissen brüchig.

Der freie Mensch braucht keinen Gott. Doch war ich frei?

Natur – wie fest ich sie doch an mir kleben fühlte,

Wie liebt’ mein Kindergaumen den Geschmack

– Halb Fisch, halb Honig – dieses goldnen Kleisters!

 

Mein Bilderbuch war schon sehr zeitig jenes

Bemalte Pergament, das unsern Käfig tapeziert:

Die Malvenringe um den Mond; die Blutorangensonne;

Der Doppelregenbogen; und das rare Phänomen

Iridulum[20] – wenn, fremd und schön,

(110) Im klaren Himmel über einer Kette Berge

Ein einzelnes opalnes Wölkchen von ovalem Umriss

Den Regenbogen des Gewitters reflektiert,

Das sehr weit ab in einem Tal in Szene geht –

Denn äußerst kunstvoll sind wir eingesperrt.

 

Und da ist auch die Mauer des Geräuschs: die Wand,

Im Herbst nachts von Trillionen Grillen aufgestellt,

Massiv und dicht! Auf halber Höhe hielt ich –

Gebannt von ihrem irren Trillern – inne.

Dort ist das Licht von Dr. Sutton. Dort der Große Bär.

(120) Vor tausend Jahren waren fünf Minuten

So viel wie vierzig Unzen feinen Sands.

Die Sterne niederstarrn. Endlose Vorzeit und

Endlose Nachzeit: Über deinem Kopfe schlagen sie

Zusammen wie zwei Riesenflügel, und dann bist du tot.

 

Der ganz normale Spießer, so behaupte ich,

Ist besser dran: Die Milchstraß’ sieht er nur,

Wenn er sein Wasser lässt. Damals wie heute

Ging ich auf eigene Gefahr: gepeitscht vom Ast,

Gefällt vom Stumpf. Asthmatisch, lahm und dick,

(130) So dribbelte ich nie den Ball, schwang nie das Schlagholz.

 

Ich war der Schatten jenes Seidenschwanzes,

Erschlagen von der Fensterscheibe trügerischer Ferne.

Ich hatte ein Gehirn, fünf Sinne (einer unvergleichlich),

Doch sonst war ich ein tölpelhafter Tropf.

Des Nachts im Traum, da spielte ich mit andren Jungen,

Doch hegt’ ich wirklich keinen Neid – es sei denn auf

Das Wunder einer Lemniskate[21],

Von nonchalanten Fahrradreifen mit Geschick

In nassen Sand gepresst.

    Ein Faden feiner Pein,

(140) Vom spielerischen Tod gezupft, dann wieder losgelassen,

Doch immer da, durchwirkte mich. Dann eines Tags,

Ich war grad elf geworden und verfolgte bäuchlings

Am Boden liegend, wie ein Aufziehspielzeug –

Ein Blechkerl, einen Blechschubkarren schiebend –

An Stuhlbeinen vorbei unter dem Bett verschwand,

Gab’s plötzlich einen Lichtausbruch in meinem Kopf.

 

Dann schwarze Nacht. Die Schwärze war erhaben.

Ich fühlte mich durch Raum und Zeit verteilt:

Ein Fuß auf einem Gipfel, eine Hand

(150) Unter den Kieseln eines keuchenden Gestades,

Ein Ohr im Apennin, ein Auge in Iberien,

Mein Blut in Höhlen, in den Sternen mein Gehirn.

In meiner Trias war ein dunkles Pochen; grüne

Optische Flecken waren im Obren Pleistozän,

Durch meine Steinzeit rann ein eisig Schauder,

Und alle Morgen in dem Musikantenknochen.

 

Für einen Winter sank ich jeden Nachmittag

In diese Augenblicke lange Ohnmacht.

Dann ließ es nach. Erinnerung verblich.

(160) Mir ging es besser, ja. Ich lernte sogar schwimmen.

Doch einem Knaben gleich, den eine Dirne zwang,

Verworfnen Durst mit seiner reinen Zung’ zu stillen,

War ich verdorben, aufgeschreckt, behext;

Auch wenn der alte Doktor Colt mich für geheilt erklärte

Von dem, was er für nichts als Wachstumsschmerzen hielt,

Beharrt das Wunder doch, und es verweilt die Scham.

Zweiter Canto

Es gab in meiner irren Jugend eine Zeit,

Da glaubte ich aus irgendeinem Grunde,

Die Wahrheit übers Weiterleben nach dem Tode

(170) Sei allgemein bekannt: Nur ich allein

Sei unwissend, und mir enthielte ein umfassendes Komplott

Von Büchern und Personen diese Wahrheit vor.

 

Dann kam der Tag, da ich am menschlichen Verstand

Zu zweifeln anfing: Wie nur konnte einer leben, ohne

Mit Sicherheit zu wissen, welch ein Morgen, Tod, Verhängnis

Jenseits des Grabs auf das Bewusstsein warten?

 

Und endlich kam die ruhelose Nacht,

Da ich den eklen, unerlaubten Abgrund zu erforschen

Und zu bekämpfen mich entschloss, und fortan

(180) Weiht’ ich mein ganzes krummes Leben diesem

Einz’gen Zweck. Heut bin ich einundsechzig. Seidenschwänze sind

Beim Beerenpicken. Die Zikade singt.

 

Die kleine Schere, die ich halte, ist

Aus Stern und Sonne eine blendende Synthese.

Ich stehe vor dem Fenster, schneide

An meinen Fingernägeln und bemerke vage

Gewisse zage Ähnlichkeiten: Hier der Daumen,

Des Krämers Sohn; der Zeigefinger ist der mürrischmagere

Starover Blue, der College-Astronom;

(190) Der mittlere ein hochgewachsner Priester, den ich kannte;

Der feminine vierte eine alternde Kokette;

Und Kleinchen, das ihr an der Schürze hängt.

Und ich verzieh’ den Mund beim Schneiden

Der Häutchen, Tante Maud nannt’ sie «Kutikula».

 

Maud Shade war achtzig, da kam plötzlich Stille über

Ihr Leben. Wir sahn, wie Zornesröte und

Tordierte Lähmung von den noblen Wangen

Besitz ergriffen. Brachten sie nach Pinedale

Mit dem berühmten Sanatorium. Dort saß sie

(200) Im eingeglasten Sonnenlicht und sah der Fliege zu,

Die erst auf ihrem Kleid und dann am Handgelenk sich niederließ.

Ihr Geist entschwand in immer dichtren Nebel.

Noch sprach sie. Unterbrach sich, tastete und fand,

Was ihr zu Anfang wie ein anwendbarer Laut erschien,

Doch nahmen Eindringlinge aus den Nachbarzellen

Den Platz der Wörter, die sie brauchte, und der Blick

War voller Flehn, da sie vergeblich

Mit ihren Monstern im Gehirn zu rechten suchte.

 

Welchen Moment im graduellen Niedergang

(210) Wählt sich die Auferstehung? Welches Jahr? Welch’ Tag?

Wer hält die Stoppuhr? Wer spult’s Band zurück?

Hat mancher wen’ger Glück, oder entkommen alle?

Ein Syllogismus: Andre Menschen sterben, aber ich

Bin niemand anders; also sterb’ ich nicht.[22]

Raum ist ein Schwärmen in den Augen; Zeit

Ein Summen in den Ohren. Dieser Bienenstock

Hält mich gefangen. Dennoch, hätten vor dem Leben wir

Die Fähigkeit besessen, es uns vorzustelln,

Als welch ein irrer, unsagbar befremdlicher

(220) Und wunderbarer Unsinn wär’ es uns erschienen!

 

Warum also in das gemeine Lachen stimmen? Weshalb

Ein Nachher lästern, das sich nicht beweisen lässt:

Des Türken Honig, künftige Leiern, Zwiegespräche

Mit Sokrates und Proust auf den Zypressenwegen,

Auch der Seraph mit seinen sechs Flamingoschwingen,

Und flämische Infernos voller Stachelschweine und dergleichen?

Nicht dass der Traum gar zu phantastisch wäre:

Der Haken ist, dass wir’s nicht schaffen, ihn ausreichend

Exorbitant zu machen; was wir bestenfalls

(230) Erfinden, ist ein zahmer Hausgeist.

 

Wie unsinnig, sich damit abzuplagen,

Ein allgemeines Los in eigne Sprach’ zu übertragen!

Anstelle göttlich knapper Poesie

Zerstückelte Notizen, fieser Vers der Insomnie!

 

Das Leben eine Botschaft, in das Dunkel

Gekritzelt. Anonym.

    Erspäht auf einer Kiefernrinde,

Als wir an ihrem Todestag nach Hause gingen,

Ein leeres Smaragdfutteral[23], froschäugig, gedrungen,

Am Stamme haftend; und sein Gegenstück,

(240) Die Ameise, im Harz gefangen.

    Jener Engländer in Nizza,

Ein glücklicher und stolzer Linguist, sprach: Je nourris

Les pauvres cigales – und er wollte damit sagen,

Er füttere die armen sea gulls[24]!

    La Fontaine lag falsch[25]:

Der Kiefer, der ist tot, es lebt das Lied.

 

Und also schneid’ ich mir die Fingernägel, träume, lausche

Auf deine Schritte über mir, und alles, meine Liebe, ist in Ordnung.

 

Solange wir zur Schule gingen, Sybil, wusste ich,

Wie schön du warst, doch ich verliebte mich in dich

Erst, als wir in der Prima jenen Ausflug machten

(250) Zu New Wyes Wasserfall. Picknick auf feuchtem Gras.

Eingehend sprach der Lehrer von des Katarakts

Geologie. Sein Lärm, sein Regenbogenstaub

Verlieh dem zahmen Park Romantik. Ich ließ mich

Im Aprildunst gleich hinter deinem Rücken,

Dem schlanken, nieder, sah, wie sich dein hübscher kleiner Kopf

Zur Seite neigte. Eine Hand, die Finger abgespreizt,

War zwischen einem Trilliumstern und einem Stein

Aufs Gras gestützt. Beständig zuckte

Ein kleines Fingerglied. Dann drehtest du dich um und botest

(260) Mir eine Flaschenkappe voller Tee, klar und metallen.

 

Dasselbe noch ist dein Profil. Die Zähne, schimmernd,

Die die achtsame Lippe beißen; unterhalb des Augs

Der Schatten langer Wimpern; dann der Pfirsichflaum,

Der deine Wangenknochen rahmt; das seidig-dunkle Braun

Der Haare, von Genick und Schläfe hochgekämmt;

Der äußerst nackte Nacken; das persische Maß

Von Nase, Augenbraue, sie sind dir geblieben –

Und in den stillen Nächten hören wir den Wasserfall.

 

So komm, sei angebetet, sei liebkost, du meine

(270) Dunkle Vanessa[26] mit den karminroten Streifen,

Mein admirabler Schmetterling! Erkläre mir,

Wie du im Dämmerlicht der Lilac Lane es dulden konntest,

Dass dieser täppische, hysterische John Shade

Dir das Gesicht und Ohr und Schulterblatt abschleckte?

 

Wir sind jetzt vierzig Jahr verheiratet. Mehr als

Viertausend Mal schon war dein Kissen eingedellt

Von unsern beiden Köpfen. Hundert Mal so oft

Markiert’ mit heiserem Westminster-Schlag

Die Standuhr unsere gemeine Stunde. Wie viele

(280) Gratiskalender werden noch die Küchentüre zieren?

 

Ich liebe dich, wenn du so auf dem Rasen stehst

Und in den Baum hochspähst: «Weg ist’s.

Es war so klein. Vielleicht kommt es zurück.» (Dies alles

Gehaucht in einem Flüstern zarter als ein Kuss.)

Ich liebe dich, wenn du mich rufst, der rosa Jetspur

Über dem Abendrot Bewunderung zu zollen.

Ich liebe dich, wenn summend du den Koffer packst

Oder den Witz von einer Autotasche

Mit Rundumreißverschluss. Am meisten liebe ich dich dann,

(290) Wenn du nachdenklich nickend ihren Geist begrüßt,

Ihr erstes Spielzeug in der Hand hältst oder eine Karte,

Von ihr geschrieben und in einem Buch gefunden.

 

Sie hätte du sein können, ich, apart gemischt wir beide:

Doch mich wählt’ die Natur, um dir und mir das Herz

Zu sprengen, zu zerreißen. Anfangs sagten wir nur lächelnd:

«So klein sind alle Mädchen Pummel» oder «Jim McVey

(Der Augendoktor der Familie) wird ruckzuck

Dies leichte Schielen heilen». Später: «Sie wird einmal

Ganz hübsch, weißt du»; und um der immer größren Qual

(300) Einhalt zu bieten: «Es ist dies das link’sche Alter.»

«Sie sollte reiten lernen», pflegtest du zu sagen

(Und unsre Blicke mieden sich). «Sie sollte

Wohl Tennis spielen, Federball. Mehr Obst und weniger Stärke!

Zwar ist sie keine Schönheit, aber niedlich.»

 

Doch alles nützte nichts, es nützte nichts. Gewiss,

Die Preise in Französisch und Geschichte machten Freude;

Gewiss auch gab’s auf Weihnachtspartys grobe Spiele,

Und so ein scheuer kleiner Gast wurd’ leicht mal ausgelassen;

Doch seien wir gerecht: Indes die Kinder ihres Alters

(310) Als Feen und Elfen auf die Bühne traten,

Die sie geholfen hatte auszumalen für die Pantomime,

Erschien mein sanftes Kind als Mutter Zeit,

Gebeugte Aufwartfrau mit Besen und mit Eimer,

Und ich, ich heulte wie ein Narr auf der Toilette.

 

Und noch ein Winter ward samt Schnee hinweggeschaufelt.

Der Zahnwurzweißling[27] sucht’ im Mai die Wälder heim.

Der Sommer ward gemäht mit der Maschine, der Herbst verbrannt.

Doch ach, das schmuddelige Schwänchen wurde nie

Zu einer Sponsa[28]. Wieder deine Stimme:

(320) «Das ist doch Vorurteil! So freu dich doch

An ihrer Unschuld. Was musst du den Körper

So stark betonen? Schließlich will sie garstig aussehn.

Brillante Bücher wurden schon von Jungfrauen verfasst.

Die Liebe ist nicht alles. Tolles Aussehn ist

Doch gar nicht unbedingt erforderlich!» Und dennoch rief

Von jedwedem gemalten Hang der alte Pan, vernahmen

Wir den Dämon unsres Mitleids: Niemands Lippen würden

Das Rot am Mundstück ihrer Zigarette mit ihr teilen;

Das Telephon, das, stand ein Ball bevor,

(330) Fortwährend klingelte in dem Sorosa-Heim[29],

Tät’s nie für sie; und mit großart’gem Räderquietschen

Würd auf dem Kies der Einfahrt nie ein Beau

Mit weißem Schal aus der lackierten Nacht

Sie holen kommen; niemals ginge sie,

Ein Traum aus Gaze und Jasmin, zu jenem Tanz.

Wir schickten sie jedoch auf ein Château in Frankreich.

 

Sie kehrte weinend heim, nach neuen Niederlagen

Und neuer Qual. An Tagen, wenn die Straßen alle

Vom Campus hin zum Stadion führten, saß sie auf den Stufen

(340) Der Bibliothek und strickte oder las; denn meist

War sie alleine oder mit der netten zarten Zimmer-

Genossin, die jetzt Nonne ist; und ein-, zweimal,

Mit einem jungen Koreaner, der an meinem Kursus teilnahm.

Sie hatte sonderbare Ängste, Phantasien und eine sonderbare

Charakterstärke – wenn sie etwa während dreier Nächte

Gewisse Lichter und Geräusche untersuchte

In einer alten Scheune. Sie verdrehte Wörter: ‹Rebe› – ‹Eber›,

Und ‹Ton› zu ‹Not›. Aus ‹lese› wurde ‹Esel›.

Sie nannte dich didaktische – was? – Catytide[30].

(350) Sie zeigte kaum ein Lächeln und wenn doch, so war’s

Ein Schmerzsignal. Sie kritisierte wild herum

An unsren Plänen, saß mit ausdruckslosem Blick

Auf dem zerwühlten Bett, hielt die geschwoll’nen Füße

Gespreizt und kratzte sich am Kopf

Mit ihren Tüpfelfingernägeln, stöhnte, stieß

Mit monotoner Stimme Schreckenswörter aus.

 

Sie war mein Liebling: schwierig, mürrisch –

Und doch mein Liebling. Du erinnerst dich

An die fast ungestörten Abendstunden, da wir drei

(360) Mah-Jongg zusammen spielten oder sie fast attraktiv

Beim Anprobieren deiner Pelze wirkte, wenn dazu

Die Spiegel lächelten, das Licht ihr hold war und die Schatten mild.

Zuweilen half ich ihr bei einer Hausaufgabe in Latein,

Oder sie las in ihrem Zimmer neben meinem,

Dem fluoreszier’nden Horst, dieweilen du

In deinem Arbeitszimmer warst, zwiefach von mir getrennt,

Und eure beiden Stimmen dann und wann zu mir herüberdrangen:

«Hej, Mutter, was ist grimpen[31]?» – «Was ist was?» – «Grimpen.»

Nach einer Pause kam mit Vorsicht deine Scholie. Weiter dann:

(370) «Hej, Mutter, was ist chtonic[32]?» Du erklärtest ihr auch das

Und sagtest noch: «Magst du nicht eine Mandarine?»

«Nein. Ja. Und was bedeutet sempiternal[33]?»

Du zögertest. Und lustig brüllte ich die Antwort

Von meinem Schreibtisch aus durch die geschlossne Tür.

Es ist nicht wichtig, was sie damals las

(Eine moderne Scharlatanerie[34], im Englischseminar,

Als Dokument bezeichnet «so eindringlich

Wie angaschiert» – und niemand wusste,

Was das besagen sollte); wichtig aber ist, dass die drei Zimmer,

(380) Durch dich und sie und mich damals verbunden,

Dass sie ein Triptychon heut bilden, ein Dreiaktestück,

Das das darin Beschrieb’ne allzeit aufbewahrt.

 

Ich glaub’, sie nährte immer eine kleine Wahnsinnshoffnung.

 

Ich hatte grad mein Buch beendet über Pope.

Da bot ihr meine Schreibkraft an, Jane Dean,

Sie mit Pete Dean bekannt zu machen, einem Vetter.

Mit seinem neuen Auto wollt’ sie Janes Verlobter

Zur zwanzig Meilen fernen Bar Hawaii chauffieren.

Der Knabe ward um viertel neun

(390) In New Wye[35] abgeholt. Die Straßen glatt von Graupel.

Sie langten endlich an – da plötzlich griff Pete Dean

Sich an die Stirn und rief, er habe fast

Das Rendezvous mit seinem Freund verschwitzt,

Der würde im Gefängnis landen, ließe er ihn sitzen,

Et cetera. Sie sagte, sie verstehe.

Nachdem er fort war, standen die drei jungen Leute

Noch eine Weile lang vor dem azurnen Eingang.

Die Pfützen hatten Neonbalken; und mit einem Lächeln

Bemerkte sie, sie sei de trop, viel lieber würde sie

(400) Einfach nach Hause gehn. Die Freunde brachten sie

Zur Haltestelle, gingen dann; sie aber, statt im Bus

Nach Haus zu fahren, stieg in Lochanhead schon aus.

 

Du blicktest auf dein Handgelenk: «’s ist viertel neun.

(Hier war die Gabelung der Zeit.) Ich schalt’ mal ein.»

Die leere Bildschirmbrühe fand zu fast lebend’gem Flimmern,

Musik schwoll an.

    Er schenkte ihr nur einen Blick und richtete

Auf Jane, die wohlmeinende, den Todesstrahl.

 

Von Florida bis Maine folgt’ eine Männerhand

Den Äolskriegen mit den kurvenreichen Pfeilen.

(410) Du sagtest, später würde ein Quartett

Von Langweilern, zwei Kritiker, zwei Schreiber,

Den Grund der Poesie ausloten. Kanal 8.

Im Wirbel weißer Blütenblätter nahte eine Nymphe

Pirouettierend, sank zu einem Frühlingsritus

Im Wald vor einem Altar auf die Knie,

Auf dem verschiedene Toiletteartikel[36] standen.

Ich ging nach oben, wo ich einen Fahnenabzug las,

Und hörte auf dem Dach den Wind mit Murmeln rollen.

«Sieh, wie der blinde Bettler tanzt, der Krüppel singt»[37]

(420) Hat unverwechselbar den ordinären Klang

Von seiner hanebüch’nen Zeit. Dann drang dein Ruf,

Du zarte Spottdrossel, vom Flur herauf.

Rechtzeitig kam ich, um bei einer Tasse Tee mit dir

Noch kurzen Ruhm zu hören: Mein Name fiel

Zwei Mal, wie üblich (einen schlamm’gen Schritt)

Nach Frost[38].

    «Sie haben wirklich nichts dagegen?

Ich nehm’ den Flug nach Exton, nämlich, wissen Sie,

Wenn ich bis Mitternacht nicht mit der Knete komme …»

 

Dann folgte eine Art von Reisesendung: Ein Erzähler

(430) Geleitete uns durch die Nebelschwaden einer Märznacht,

Aus denen Scheinwerfer von fernher näher kamen

Und wie ein Quellstern wuchsen

Bis hin zum Meer, grün, indigo und gelblich braun,

Wo wir im Jahre dreiunddreißig waren,

Neun Monate vor der Geburt. Jetzt war das alles

Nur Salz-und-Pfeffer, kaum Erinnerung

An jenen ersten langen Rundgang, das erbarmungslose Licht,

Die Herde Segel (zwischen lauter weißen stieß ein blaues

Sich seltsam mit der See, zwei waren rot),

(440) Den Mann im alten Blazer, Krumen streuend,

Die dicht gedrängten, unerträglich lauten Möwen

Und eine dunkle Taube watschelt’ mittendrin.

«War das das Telephon?» Du horchtest an der Tür.

Nichts. Nahmst vom Boden das Programmheft hoch.

Mehr Scheinwerfer im Nebel. Fensterreiben

Half nichts: Nur so ein weißer Zaun

Und Rückstrahlpfosten trieben unmaskiert vorbei.

 

«Sie macht doch sicherlich nichts falsch?», so fragtest du.

«Genau genommen kennen sich die zwei doch gar nicht.

(450) Gleich gibt’s als Vorschau Reue[39] – wollen wir mal sehn?»

In aller Ruhe ließen wir es uns gefallen,

Dass der berühmte Film sein Zauberlichtnetz spannte;

Dass schön und leer hereinglitt das berühmte Angesicht:

Die Lippen halb geöffnet, Augen feucht und auf der Wange

Das Schönheitsmal, ein wunderlicher Gallizismus,

Und dann verschwamm die weiche Form im Prisma

Der kollektiven Lust.

    «Ich glaube», sagte sie,

«Hier steig ich aus.» – «Wir sind doch erst in Lochanhead.»

«Ja, ja, ich weiß.» Sie griff die Haltestange, starrte

(460) Auf geisterhafte Bäume. Bus hielt. Bus war fort.

 

Gewitter überm Dschungel. «Bloß nicht das!»

Pat Rosa, unser Gast (Antiatomgeplauder).

’s schlug elf. Du hast geseufzt. «Ich fürchte fast,

Da kommt nichts Interessantes mehr.» Du spieltest

Kanalroulette: Den Wählknopf drehen, klck.

Geköpft die Werbespots. Gesichter flackerten.

Ein offener Mund ward weggewischt, mitten im Lied.

Ein Psychopath mit Koteletten wollte gerade die Pistole

Abdrücken, doch du warst viel zu flink.

(470) Ein jovialer Neger[40] setzte die Trompete an den Mund. Klck.

Dein Rubinring schuf Leben, gab Gesetze.

Ach, mach es aus! Und als das Leben abriss, sahen wir

Ein nadeldünnes Licht zusammenschrumpfen und in schwarzer

Unendlichkeit verlöschen.

    Aus der Uferhütte tauchte

Grau und gebückt ein Wächter, Vater Zeit,

Mit seinem ruhelosen Hund auf. Ging

Das riedbewachsene Ufer ab. Er kam zu spät.

 

Du gähntest leise, stelltest deinen Teller weg.

Wir hörten Wind. Hörten ihn rauschen

(480) Und Zweige an die Scheiben werfen. Telephon? Nein, nein.

Ich half beim Abwasch dir. Die Standuhr

Zerstörte weiter jungen Wuchs und alten Stein.

 

Du sagtest «Mitternacht». Was heißt das, wenn man jung ist?

Auf einmal strahlten fünf Wacholderstämme

Festlich im Glanz, Schneepfade wurden sichtbar,

Und auf der Holperstraße stoppte knirschend

Ein Streifenwagen. Nimm es noch einmal, noch mal auf!

 

Manch einer hat geglaubt, dass sie bei Lochan Neck

Quer übern See gehn wollte, dort, wo flotte Schlittschuhläufer

(490) Bei starkem Frost von Exe nach Wye hinüberliefen.

Andre vermuteten, sie habe sich vielleicht verirrt, indem

Nach links sie von der Bridge Road abbog; ein’ge sagen, dass

Sie sich ihr armes junges Leben nahm. Ich weiß. Du weißt.

 

’s war eine Nacht des Tauens und des Stürmens,

Erregung in der Luft. Der schwarze Frühling,

Gleich um die Ecke harrte zitternd er

Auf feuchtem Grund im nassen Licht der Sterne.

Im Nebel lag der See, sein Eis schon halb ertrunken.

Vom schilfbestand’nen Ufer trat undeutlich jemand

(500) In knackenden und schmatzenden Morast, versank.

Dritter Canto

L’if, toter Baum! Dein groß’ Vielleicht, Rabelais:

The grand potato.[41]

    I.P.H., ein Laien-I-nstitut

Zur Präparierung (P) auf das Hiernach (das H),

Von uns das If genannt – das große if! –

Berief mich, ein Semester lang vom Tod

Zu sprechen («Unser Wurmdozentenposten»,

Wie Präsident McAber schrieb).

    Wir beide

Und sie, ein kleines Ding noch, zogen von New Wye

Nach Yewshade[42] um in einen andren, höh’ren Staat.

(510) Ich liebe hohe Berge. Von der Eisenpforte

Des altersschwachen Hauses, das wir uns gemietet hatten,

Sah man die schneebedeckte Form, so fern, so schön,

Dass man nur seufzen konnte, ganz als ob

Assimilierung dadurch leichter würde.

    Iph

War ein Larvorium, ein Veilchen:

Ein Grab im frühen Frühling der Vernunft. Und dennoch

Verfehlte es den Kern der ganzen Angelegenheit; verfehlte,

Was vordringlich den Präteristen interessiert;

Denn alle Tage sterben wir; Vergessen mästet nicht

(520) An trocknen Schenkelknochen sich, es frisst das blühende Leben,

Und unsre besten Gestern sind jetzt faul’ge Haufen

Von Telephonnummern, zerknüllten Namen, muff’gen Akten.

Von mir aus mag aus mir ein Blümchen werden oder

’ne fette Fliege, doch vergessen will ich nie.

Und selbst die Ewigkeit schlage ich aus,

Sofern nicht Zartheit und Melancholie

Sterblichen Lebens; seine Lust, sein Leiden;

Das Licht am Heck des Flugzeugs, weinrot schrumpfend

Gen Hesperus; die Unmutsgeste, wenn dir

(530) Die Zigaretten ausgehn; deine Art, den Hunden zuzulächeln;

Die Schneckenspur aus Silberschleim

Auf Bodenfliesen; diese gute Tinte, dieser Reim,

Auch diese Indexkarte und dies schlanke Gummiband,

Das immer eine Lemniskate[43] bildet, wenn man’s fallen lässt,

Im Himmel von den Neuverstorbenen vorgefunden werden,

Bewahrt in seinem Bollwerk Jahr für Jahr.

    Stattdessen

Hielt es das Institut für klug, vom Paradies

Nicht allzu viel sich zu erhoffen: Wie,

Wenn niemand da wär’ für den Neuankömmling,

Der ihn begrüßt, wenn jede Rezeption,

(540) Jedwede Unterweisung fehlten? Wenn in grenzenlose Leere

Du stürztest, jeder Orientierung bar,

Die Geisteskräfte abgebaut, gänzlich allein,

Die Pflichten unerfüllt, Verzweiflung hierorts unbekannt,

Dein Körper grad beginnend zu verwesen,

Ein nicht mehr ausziehbarer Mensch im Bratenrock,

Die Witwe bäuchlings auf dem schattenhaften Bett

Auch sie ein Schemen nur in dem zerfließenden Gehirn!

 

Obwohl es Göttern, samt dem großen G, die kalte Schulter wies,

(550) Entlieh sich Iph diverse periphere Trümmer

Von mystischen Visionen; bot auch Tipps

(Getönte Augengläser für die Lebensfinsternis),

Wie der soeben Geist Geword’ne ohne Panik weiterkommt:

Man robbt sich seitlich an, sucht sich im Leeren eine glatte Kurve,

Und schon geht’s ab! Trifft man auf feste Körper,