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Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Sport - Sportsoziologie, Note: 1,3, Technische Universität München, Sprache: Deutsch, Abstract: Fahrradkuriere stellen eine soziale Gruppierung dar, die bisher noch kaum wissenschaftlich erschlossen bzw. überhaupt erkannt wurden. Vor dem Hintergrund, ein neues Feld für die Sportwissenschaft zu entdecken und zugleich Grundlagen für weitere Forschungen zu schaffen, leistet der Autor mit diesem Werk eine wichtige Pionierarbeit.
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Nicht immer wird im Text die weibliche Bezeichnung mitgenannt. Das liegt daran, dass der gesamte Text dann deutlich länger und umständlicher geworden wäre. Aber natürlich sind auch immer Frauen gemeint.
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Vorwort
Als ich nach dem Abitur die elterliche Wohnung verließ und nach Arbeit suchte, da verspürte ich tief in mir den Drang nach Selbständigkeit, den Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit und den Willen, endlich Eigenverantwortung im Leben zu übernehmen. Nachdem ich mich mit Gelegenheitsjobs für einige Monate über Wasser hielt, bewarb ich mich bei der Münchener Firma TransPedal 1998 als Fahrradkurier. Bei TransPedal war zu dieser Zeit kein Bedarf an zusätzlichen Fahrern, doch mit meiner Hartnäckigkeit konnte ich den damals Zuständigen überreden, mich dennoch einzustellen. Seit diesem Zeitpunkt in meinem Leben finanziere ich den Hauptanteil meines Lebensunterhaltes als Fahrradkurier. Durch das Kurierfahren sammelte ich schmerzliche Erfahrungen an eisigen Wintertagen oder nach Unfällen, erlebte aber auch immer wieder den Rausch der Erfüllung nach stundenlangen Fahrten. Das Kurierfahren hat mich erwachsen werden lassen und schließlich zu mir selbst geführt. Schon bald brach ich mein „Alibi“-Studium in Informatik ab und absolvierte den Eignungstest, um Sportwissenschaften zu studieren. Am Ende meines Studiums möchte ich nun in meiner Abschlussarbeit die Thematik „Fahrradkurier“ aufgreifen, um meinen Beitrag zu leisten, das Phänomen auch wissenschaftlich zu erschließen. Noch während ich diese Arbeit verfasse, bin ich nebenzeitlich für gleichzeitig drei Münchner Kurierfirmen als Fahrradkurier im Einsatz. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Fahrradkurieren, die mir während der Forschungsarbeit ausnahmslos zur Seite standen und sich durchweg bereitwillig und in einer sehr offenen Haltung von mir befragen ließen. Meinen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle an Benni und Flo aussprechen, die durch ihre unermüdliche Arbeit zum Zusammenhalt der Szene beitragen und durch ihr Engagement die Entstehung einer echten Szene mit gemeinschafltichen Aktivitäten auch jenseits des Kurierfahrens in München überhaupt ermöglicht haben.
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Nach ethnographischen Gesichtspunkten ist das Phänomen Sport ein Teilgebiet typisch moderner Lebenswelten und damit eine Art Sonderkultur. Diese Sonderkultur umfasst wiederum zahlreiche Subkulturen, die sich um die verschiedenen Sportarten und Gebiete des Sports bilden. Aber wie treten solche Subkulturen in Erscheinung? Wo bestehen Gemeinsamkeiten und worin unterscheiden sie sich? Und was sind überhaupt die entscheidenden Elemente, die eine Subkultur zu einer Subkultur des Phänomens „Sport“ machen? Auf diese und noch weitere Fragen werde ich in meiner Arbeit versuchen, eine Antwort zu finden, vor allem aber auf die Frage, ob Fahrradkuriere eben eine solche „sportliche“ Subkultur repräsentieren.
Die Fahrradkuriere stellen dabei zunächst eine Gruppierung dar, die bisher noch kaum von den Sportwissenschaften erschlossen bzw. überhaupt erkannt wurden. Vor dem Hintergrund, ein neues Feld für die Sportwissenschaft zu entdecken und zugleich Grundlagen für weitere Forschungen zu schaffen, leiste ich durch die Exploration nach sportwissenschaftlichen Aspekten in diesem Feld also Pionierarbeit. Insbesondere verfolge ich dabei die Absicht, zu verstehen und zu übersetzen, welchen Sinn die Akteure mit ihrem Tun verbinden. Über die Erweiterung der Kenntnis neuer sportlicher Kulturkreise gewinnt schließlich auch das Bild über den „Sport“ als Ganzes in den Sportwissenschaften an Schärfe und ermöglicht Vergleiche zwischen den verschiedenen Formen des Sports.
Um eine erste Richtung bei den Forschungsarbeiten einzuschlagen werde ich mich zunächst den in der Fragestellung auftauchenden Begriffen „Fahrradkurier“, „sportlich“ und „Subkultur“ zuwenden, ihre genaue Bedeutung in diesem Zusammenhang herausarbeiten und auf notwendige thematische Abgrenzungen eingehen. In den nachfolgenden Ausführungen über die Methodik erörtere ich die wesentlichen Aspekte der Forschungstheorie und begründe mein methodisches Vorgehen. Im Hauptteil nähere ich mich dem Phänomen „Fahrradkurier“ zunächst von außen und beschreibe im Detail die Vorgangsweise im Fahrradkurierbetrieb, um die Arbeitsweise des Fahrradkuriers zu erklären und so eine Basis für das Verständnis zu schaffen. Anschließend wende ich mich der geschichtlichen Entwicklung zu, um Bedingungen und Auswirkungen des Zeitwandels auf das Kurierwesen festzumachen und evtl. schon
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den Zeitpunkt der Entstehung von ersten sportlichen Subkulturen einzukreisen. Danach nähere ich mich der Innenansicht des Phänomens, indem ich beginne, den Menschen hinter dem Fahrradkurier zu beschreiben und greife dabei auf Datenmaterial in Form von selbst durchgeführten Interviews zurück. Dabei werde ich Aufzeichnungen und Beobachtungen immer wieder den Begriffen „sportlich“ und „Subkultur“ gegenüberstellen. Die genaue Beschreibung der Menschen leitet mich dann weiter zu einer dichten Beschreibung der Szene, die von diesen Menschen gebildet wird. Von der Szene gelange ich wiederum zur Schilderung des dort ursächlichen Wettkampfwesens, ehe ich am Schluß der Arbeit nochmals zusammenfassend auf die Fragestellung eingehe und versuchen werde, in kurzen Worten eine abschließende Antwort zu finden.
Synonyme für den Fahrradkurier im deutschen Sprachraum sind Velokurier, Fahrrad-, Eil- oder auch Kurierbote, im englischen Sprachgebrauch ist von „bicycle messenger“ oder kurz „bike messenger“ die Rede. Die grundlegenden Arbeitsvorgänge sind dabei stets die selben: Eine Ware muss innerhalb einer möglichst kurzen Zeitspanne vom Ort des Absenders zum Ort des Empfängers der Sendung überbracht werden. Den größten Teil der Strecke legt der Fahrradkurier dabei mit Hilfe seines Fahrrades zurück. Im Branchenreport 2004 heißt es dazu außerdem: „Beim Kurierdienst ist die persönliche Begleitung der anvertrauten Sendung das entscheidende Merkmal. Der Kurierbote transportiert die Sendung direkt und unverzüglich zum Empfänger“ (Mathejczyk, 2004, S.13). Den Fahrradkurier in seiner ursprünglichen Wortbedeutung kann es also prinzipiell überall dort geben, wo ein Mensch sich mittels eines Fahrrades fortbewegen kann. Fahrräder sind über die ganze Welt verbreitet und vereinzelt existieren auch Berichte über Fahrradkuriere in ferneren Ländern.
Außerhalb der westlichen Industriestaaten finden sich nur vereinzelt Berichte über größere Fahrradkurierdienste. Taraki (2003) beschreibt zum Beispiel einen Fahrradkurierdienst in Afghanistan, der mit Hilfe des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) zur Reintegration von kriegsversehrten Frauen und Männern ins Leben gerufen wurde: „Ausgestattet mit Mountainbike, Helm und Atemmaske befördern sie [d. Verf.: die Fahrradkuriere] Briefe, Päckchen und Güter rund um die Uhr durch die Straßen von Kabul“ (Taraki, 2003, Abs. 2). An anderer Stelle berichtet Walter (2004, Abs. 1) von einem Fahrradkurierdienst in der Mongolei: „Wer als Fahrradkurier in Ulan Bator
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arbeitet, hat einen Knochenjob. Doch allen Gefahren des Verkehrsdschungels zum Trotz - die Kuriere treten unermüdlich in die Pedale, auch wenn sie nicht wissen, wo die Post eigentlich hin soll.“
Dennoch konzentriert sich in meiner Arbeit das Hauptaugenmerk auf den Fahrradkurier in den westlichen Industrieländern der „ersten Welt“ bzw. primär auf die Szene in Mitteleuropa und Nordamerika. Die Eingrenzung gründet sich jedoch keineswegs auf Desinteresse oder gar mangelnder Toleranz, sondern einfach darauf, dass die Fahrradkuriere in den „nicht-westlichen“ Ländern zwar teilweise ähnlichen Bedingungen unterliegen wie hierzulande, jedoch aufgrund großer struktureller und ökonomischer Unterschiede letztlich nur sehr begrenzt Vergleiche zulassen. -So beklagt ein mongolischer Fahrradkurier zum Beispiel, „es ist schwierig, sich in Ulan Bator zu orientieren. Denn fast nirgendwo gibt es Straßennamen und Hausnummern.“ (Walter, 2004, Abs. 11). Ein weiterer großer Nachteil ist der Mangel bzw. das totale Nichtvorhandensein seriöser Datenquellen und wissenschaftlicher Literatur über Fahrradkuriere in ferneren Ländern. Aber auch die Literatur über Fahrradkuriere insgesamt beschränkt sich auf nur wenige Standardwerke, zumeist Biographien langjähriger Fahrradkuriere (z.B. Culley, 2002) oder vereinzelte Diplomarbeiten (z.B. Recher, 2002), worin die Thematik „Fahrradkurier“ zumindest am Rande aufgegriffen wird. Eine im Vergleich dazu fast unüberschaubare Datenmenge findet sich hingegen im Internet, das von der Fahrradkurierszene ausgiebig als Szeneportal genutzt wird und deshalb auch mir als einer von vielen Forschungsbereichen diente. So ergaben ausgiebige Internetrecherchen, dass schon in den Randstaaten Europas größere Ansammlungen von Fahrradkurierdiensten nur mehr relativ wenig verbreitet sind (siehe auch „Bicycle Messengers Europe:http://www.bme.org/),so dass hier der Schwerpunkt klar auf Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und Schweiz liegt. Die wenigen Fahrradkurier-Unternehmen in den nördlichen Staaten Europas erklären sich wohl u.a. durch das ungünstige Klima, während in den südlichen Staaten wohl auch gesellschaftliche Gründe verantwortlich gemacht werden müssen. Insbesondere die große Beliebtheit von Motorrollern steht dort im Gegensatz zu einer größeren Verbreitung von Fahrrädern.
Die Arbeitsbedingungen in Nordamerika sind denen in Mitteleuropa wiederum sehr ähnlich, so dass auch hinsichtlich der Szene Parallelen gezogen werden können. Kennzeichnend für eine gemeinsame Szene sind überregionale Vereinigungen wie die „IFBMA-International Federation of Bicycle Messengers“
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(http://www.messengers.org/), die auch gleichzeitig die zentrale Anlaufstelle für
offizielle und inoffizielle, regionale und überregionale Fahrradkurierwettkämpfe darstellt. So konzentrieren sich auch die jeweiligen Austragungsorte der großen Fahrradkurierweltmeisterschaften bezeichnenderweise auch ausschließlich auf die Metropolen in Nordamerika oder Mitteleuropa.
Der Begriff „sportlich“ ist grammatikalisch zunächst einmal ein in dieser Fragestellung dem Begriff „Subkultur“ vorangestelltes Adjektiv. Um zu verstehen, welche Eigenschaften es dadurch dem Begriff Subkultur verleiht, muss man wissen, was nun „sportlich“ überhaupt genau bedeutet. Ich verwende dabei die allgemeine Übersetzung des Dudens, worin als Erklärung an erster Stelle angeführt wird: „den Sport betreffend, auf ihm beruhend“. Das führt wiederum weiter zu der Frage, was denn nun überhaupt Sport sei?
Und damit befinden wir uns in einem existentiellen Dilemma der Sportwissenschaften, denn ein Konsens über eine allgemein gültige Definition des Begriffs ist bisher noch nicht zustandegekommen. Während auf der einen Seite Holzke (2001) von der „Unzulässigkeit oder Unerwünschtheit einer Definition“ (S.86) bzw. von der „Unmöglichkeit einer Definition“ (S.82) nach epistemologischen Kriterien berichtet, existiert auf der anderen Seite eine unüberschaubare Anzahl an Definitionsvorschlägen (Grieswelle, Rigauer, Heinemann, Voigt u.a), bis hin zu Versuchen, Sport über das allgemeine Verständnis, „was uns als Sport erscheint“ (Honer, 2003, S.45) zu definieren. Und tatsächlich ist Sport zu einem umgangssprachlichen Begriff geworden, der weltweit angewandt wird und aufgrund vielfältiger kultureller Einflüsse entsprechend unterschiedlichen Deutungen unterliegt, die in ihrer Gesamtheit auch nur schwer zu umfassen sind. Ferner entrückt das Aufkommen zahlreicher neuer Modesportarten und Sinnrichungen den Sportbegriff zunehmend von seiner traditionellen Bedeutung:
„Die Weiterentwicklung des modernen Sports löst die ehemals markanten Begrenzungslinien und Konventionen dieses Handlungsfeldes [...] schleichend auf und wird insgesamt durch die neuartigen Formen des Umgangs mit Kultur sowie den Wandel der Orientierungen im Reich des Geschmacks vorangetrieben“ (Schwier, 2000, Abs.1)
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Röthig & Pohl (2003) schreiben in diesem Zusammenhang auch von einer „Entsportlichung des Sports“ (S.494) vor dem Hintergrund der „Versportlichung der Gesellschaft“ (S.494).
Es geht mir in dieser Untersuchung im Vorfeld also weniger um eine strikte Definition notwendiger Kriterien des Sports, die anschließend der Reihe nach durchgegangen und abgehakt werden, um letzten Endes nach dem Motto „schwarz oder weiß“ zu entscheiden, in welche Schublade dieses Phänomen denn nun einzuordnen ist. Viel mehr ziehe ich in meiner Untersuchung genau diejenigen Aspekte in Betracht, die die Grundlage für mögliche Kriterien in den jeweiligen Definitionen bilden. Nach Röthig & Pohl (2003) wird Sport in der Literatur dabei hauptsächlich unter folgenden Aspekten interpretiert:
Zweckfreies Tun, Aggressionsventile, Bewegungstrieb, Leistungsmotivation, Schönheit der Bewegung, Emanzipation, Existenzerlebnis, Gesellungsbedürfnis und soziale Tugenden, rituelle Ersatzbefriedigung, kollektive Identifikation, Fitness und Gesundheit, Prestige und Präsentation.
Dieses Vorgehen erlaubt eine mehrdimensionale Sichtweise zur Erschließung eines mehrdimensionalen Phänomens um im Nachhinein die Möglichkeit offen zu halten, die Kriterien verschiedener Definitionen „schablonenhaft“ aufzulegen und so -eben je nach Definition- zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. Als Schablone dienen abschließend drei unterschiedlich eng gefasste Begriffsbestimmungen nach den Vorstellungen von Heinemann, Voigt und Hägele