Fair führen - Veronika Hucke - E-Book

Fair führen E-Book

Veronika Hucke

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Beschreibung

Erster Praxisguide für faire Führung Je diverser das Team, desto kontroverser die Meinungen und Bedürfnisse seiner Mitglieder. Umso größer aber auch die Erfolgsaussichten für das ganze Unternehmen! Führungskräfte stellt Vielfalt erstmal vor eine Herausforderung. Wie setzt man ein solches Team zusammen? Wie vermeidet man das gefürchtete Gruppendenken? Wie sorgt man dafür, dass nicht immer dieselben Leute die ungeliebten Aufgaben erledigen? Und wie funktioniert faire Führung über Standortgrenzen hinweg? Veronika Hucke nähert sich dem Thema Gerechtigkeit auf praktische Art. Sie erzählt Geschichten aus dem Unternehmensalltag und präsentiert universal einsetzbare Lösungsvorschläge. Damit wirklich jede und jeder Gehör findet und Wertschätzung erfährt.

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VERONIKA HUCKE

{FAIR}FÜHREN

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Erster Praxisguide für faire Führung Je diverser das Team, desto kontroverser die Meinungen und Bedürfnisse seiner Mitglieder. Umso größer aber auch die Erfolgsaussichten für das ganze Unternehmen! Führungskräfte stellt Vielfalt erstmal vor eine Herausforderung. Wie setzt man ein solches Team zusammen? Wie vermeidet man das gefürchtete Gruppendenken? Wie sorgt man dafür, dass nicht immer dieselben Leute die ungeliebten Aufgaben erledigen? Und wie funktioniert faire Führung über Standortgrenzen hinweg? Veronika Hucke nähert sich dem Thema Gerechtigkeit auf praktische Art. Sie erzählt Geschichten aus dem Unternehmensalltag und präsentiert universal einsetzbare Lösungsvorschläge. Damit wirklich jede und jeder Gehör findet und Wertschätzung erfährt.

Vita

Veronika Hucke war fast 20 Jahre in Führungspositionen für Kommunikation und Markenführung bekannter Unternehmen tätig, bevor sie in der zentralen Personalabteilung von Philips in Amsterdam die weltweite Verantwortung für Vielfalt und Chancengleichheit übernahm. Heute unterstützt sie als Beraterin verschiedene Dax-Konzerne sowie die UNO in Fragen zu Diversity und Inclusion (D&I).

Inhalt

Vorwort

Kapitel EinleitungWarum fair führen wichtig und schwierig ist

In einem unsicheren Umfeld wird Vertrauen wichtiger

Unterschiedliche Erwartungen und Erfahrungen

Es geht selten fair zu

Ausgebremst

Rückenwind für die Karriere

Ein faires Umfeld schaffen

TEIL 1TAG FÜR TAG

Kapitel 1Stellen Sie sich nicht so an — Wie Mikro-Ungerechtigkeiten und -Aggressionen uns den Spaß an der Arbeit rauben

Mikro-Ungerechtigkeiten

Ungerecht ist man auch aus Versehen

Mikro-Ungerechtigkeiten treffen nicht nur Einzelne

Männerberufe? Frauenberufe?

Ein paar Tipps zur geschlechtergerechten Sprache

Kapitel 2In verdeckter Mission — Was es heißt, wenn Sie bei der Arbeit nicht so sein dürfen, wie Sie sind

Humor kann viel

Worte verletzen

Covering

Für Covering zahlen alle einen Preis

Kapitel 3Gleich und gleich gesellt sich gern — Warum uns unser bestehendes Netzwerk kaum in die Zukunft führt und wie es sich zielgerichtet erweitern lässt

In- und Out-Group

Privilegien

Gleich und gleich gesellt sich gern

Keine »anderen« zu kennen hat einen hohen Preis

Und jetzt?

Halten Sie Ihr Netzwerk breit

Halten Sie Ihr Netzwerk vielfältig

Halten Sie Ihr Netzwerk frisch und dynamisch

TEIL 2IM TEAM

Kapitel 4Das konnte doch keiner ahnen — Warum homogene Teams und Gruppendenken schlechtere Ergebnisse liefern

Priming

Gruppendenken

Wir wissen gar nicht, was wir verpassen

Verschiedenen Perspektiven Raum geben

Vielfältige Teams sind innovativer

Kapitel 5Sie machen das immer besonders gut — Wieso Delegation oft unfair ist und Beschäftigte ausbremst

Ungeliebte Tätigkeiten werden ungerecht verteilt

Widerstand zwecklos

Aufgaben fair verteilen

Standardaufgaben

Sichtbare Projekte

Richtig delegieren

Kapitel 6Können Sie mir mal kurz eben helfen? — Warum erfolgreiche Zusammenarbeit Regeln braucht und wie sich Konflikte thematisieren lassen

Viel zu viel des Guten

Beiträge unterscheiden sich

Verhalten und Standards unterscheiden sich

Eine erfolgreiche Zusammenarbeit fördern

Feedback und schwierige Gespräche

TEIL 3EIN- UND AUFSTEIGEN

Kapitel 7Ich kenne genau den Richtigen — Wie wir Menschen im Bewerbungsprozess ausschließen

Ansprechend – aber nicht für alle

»Passende« Beschäftigte gesucht

Wir haben es gleich gewusst

Wer »passt«? Und ist das relevant?

Holen Sie sich Hilfe

»Blindes« Vorspielen klappt nicht nur im Orchester

Unstrukturierte Interviews sind beliebt und ungerecht

Wir sind nicht objektiv

Faire Chancen für alle

Kapitel 8Das kauft dem doch keiner ab — Warum ganz oft nicht die Qualifikation über den Aufstieg entscheidet

Groß und schlank statt »dick und dumm«?

Warum sind wir bloß so gemein?

Die eigene Wahrnehmung ist Realität

Sich benachteiligt zu fühlen hat eine Wirkung

Typisches Verhalten einplanen

Typische mentale Abkürzungen systematisch adressieren

Wir haben zu viele Informationen

Was wir wissen, ergibt wenig Sinn

Wir haben zu wenig Zeit

Wir haben nicht genügend Kapazität

Berücksichtigen Sie, »was bisher geschah«

Kapitel 9Für Feedback gab es einfach noch keine Gelegenheit — Warum wir uns vor Feedback drücken und wie es gelingt

Er ist entschlossen, sie aggressiv

Ob wir uns sicher fühlen, beeinflusst, wem wir helfen

Sicherheit vermitteln

Feedback geben, das hilft, zu wachsen

Mehr Vertrauen schaffen

TEIL 4REMOTE, DIGITAL UND INTERNATIONAL

Kapitel 10Aus den Augen, aus dem Sinn — Warum Distanz Chancen rauben kann und wie man sie überwindet

Wer uns »nahesteht«, tut das gewöhnlich wortwörtlich

Distanz kostet, aber auch räumliche Nähe hat ihren Preis

Statt des Blicks zurück: Lösungen für morgen

Klare Regelungen für den täglichen Trott

Sorgen Sie als Führungskraft für »Gleichstand«

Kapitel 11Das kommt mir spanisch vor — Warum es logisch ist, dass andere anders handeln, auch wenn es mir ein Rätsel ist

Interkulturelle Zusammenarbeit lohnt sich – und sie kann schwierig sein

Ein systematischer Blick auf Unterschiede

Kommunizieren

Bewerten

Überzeugen

Führen

Entscheiden

Vertrauen

Meinungsverschiedenheiten

Planen

Den persönlichen Standort bestimmen

Erfolgreich mit internationalen Teams

Kapitel 12So klappt das doch im Leben nicht! — Wie man mit internationalen Teams erfolgreich ist

Clinch der Kulturen

Kommunikation

Sprechfrequenz

Direkte und indirekte Kommunikation

Diskussionen und Feedback

(Fremd-)Sprache

Hierarchie

Entscheiden

TEIL 5FRAUEN UND MÄNNER

Kapitel 13Ich muss heute früher gehen, Theateraufführung im Kindergarten — Wie Wärme und Kompetenz unser Urteil über andere Menschen bestimmen

Eltern sind mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert

Freund oder Feind? Und ist das relevant?

Unterschiedliche Erwartungen bringen Frauen ins Dilemma

Vertrauen aufbauen

Kapitel 14Eigenlob stinkt — Wie unsere Erwartungen unser Urteil trüben

Im Job sprechen Männer deutlich mehr

Frau oder freundlich – mit manchen Themen nicht vereinbar

Unterschiedliche Standards machen Frauen zu schaffen

Veränderungen systematisch angehen

Checklisten fürs Team

Checklisten für Personalentscheidungen

Kapitel 15Zickenkrieg — Warum es wichtig ist, sich für andere einzusetzen

Ein totes Konzept zuckt weiter vor sich hin

Stereotype und Vorurteile wirken fort

Unterstützung beflügelt Karrieren

Schaffen Sie ein neues »Normal«

Loslegen

UND JETZT?

Kapitel 16Fair Führen

Vorbild sein

Dazugehören

Erfolgreiche Teams

Psychologische Sicherheit ermöglicht konstruktive Konflikte

Viel Erfolg

Danksagung

Anhang

Glossar

Literatur

Anmerkungen

Register

Vorwort

»Menschen verlassen keine Unternehmen, sondern ihre Vorgesetzten«, heißt es. Eventuell haben Sie das selbst schon mal erlebt und die Segel gestrichen. Dann sind Sie in guter Gesellschaft. Die Hälfte der Beschäftigten hat aus diesem Grund bereits einen Arbeitsplatz aufgegeben. Denn Spaß an der Arbeit und Erfolg im Team stehen und fallen mit den Führungskräften. Gehe ich gerne ins Büro oder hoffe ich, dass es endlich wieder Freitag wäre? Teste ich Grenzen aus und probiere Neues oder navigiere ich mit minimalem Aufwand durch den Tag? Fühle ich mich gefordert und gefördert oder einfach nur frustriert?

Herausragende Vorgesetzte zeichnen fünf Talente aus: Sie motivieren ihr Team und geben seinen Mitgliedern den Glauben, dass sie Hindernisse überwinden können. Sie schaffen eine Kultur, in der alle Verantwortung übernehmen. Sie entwickeln Beziehungen, die auf Vertrauen basieren, und treffen vorurteilsfreie Entscheidungen, die dem Team und dem Unternehmen dienen.1

Damit schaffen sie ein Umfeld, in dem es fair zugeht. In dem sich Menschen vertrauen und aufeinander zählen können. In dem alle »sie selbst« sind und es kein Problem ist, auch Fehler und Unsicherheiten zuzugeben oder verrückte Ideen zu teilen. In so einem Umfeld ist es in Ordnung und gewünscht, sich gegenseitig herauszufordern. Damit bietet es die besten Voraussetzungen für Spitzenleistungen.

Dieses Buch handelt davon, warum nicht alle Teams so funktionieren und was Sie tun können, damit es in Ihrem klappt.

Im Glossar werden wichtige Fachbegriffe erläutert. Im Text sind diese an der Stelle, an der sie erstmalig erwähnt werden, mit einem → gekennzeichnet.

Kapitel EinleitungWarum fair führen wichtig und schwierig ist

Früher war nicht alles besser, aber führen war definitiv leichter. Vorgesetzte sind heute – egal auf welcher Ebene – mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Mega-Trends wie die Globalisierung, der demografische Wandel, neue Arbeitsformen, der Einfluss von Internet, digitalen und sozialen Medien sowie die rasant gestiegene Veränderungsgeschwindigkeit haben einen unmittelbaren Einfluss darauf, was gute Führung heute ausmacht.

In einem unsicheren Umfeld wird Vertrauen wichtiger

»Nichts ist so beständig wie der Wandel«, soll schon Heraklit gewusst haben, aber spätestens in der VUCA-Welt (volatile, uncertain, complex, ambiguous) ist das in Unternehmen Realität. Statt einzelne Veränderungsprogramme abzuschließen und danach zum Regelbetrieb zurückzukehren, sind Agilität und kontinuierlicher Wandel angesagt. Die Konsequenz? Das Umfeld verliert an Stabilität, Erfordernisse und Ansprechpartner ändern sich häufig. Das kann verunsichern. Eine Führungskompetenz wird damit immer wichtiger: Fairness. Laut Duden ein »anständiges Verhalten; gerechte, ehrliche Haltung anderen gegenüber«.

Der Ruf, fair zu sein, befähigt Vorgesetzte, ihre Teams in Zeiten der Transformation erfolgreich zu führen und Veränderungen zu gestalten.2 Es ist logisch, dass Beschäftigte eher bereit sind, auch in unruhigen Zeiten ihr Bestes zu geben, wenn sie ihren Vorgesetzten vertrauen. Wenn sie davon überzeugt sind, gerecht behandelt zu werden, statt dass man sie bei nächster Gelegenheit im Regen stehen lässt. Voraussetzung dafür ist Verlässlichkeit – der anständige Umgang miteinander nach Regeln, die nachvollziehbar sind und für alle gleich gelten.

Diese Regeln müssen neuen Formen der Zusammenarbeit gerecht werden. Die wenigsten Abteilungen sitzen noch von 9 bis 5 Uhr gemeinsam an einem Ort. Ob international aufgestellt, den Wünschen von Beschäftigten geschuldet oder aufgrund von Real-Estate-Regelungen mit ambitionierten Zielen zur Senkung der Mietkosten, in vielen Teams sind Mitglieder heute häufig dezentral tätig. Das erfordert nicht nur einen anderen Austausch und zusätzliche Absprachen, es bietet auch einiges Potenzial für Reibereien und Missverständnisse.

Noch schwieriger wird das, wenn Menschen aus mehreren Kulturkreisen zusammenarbeiten. Dann wirken sich unterschiedliche Anschauungen und Normen auf die Kommunikation aus, darauf, wie Informationen bewertet und Entscheidungen getroffen werden. Wo ein gemeinsamer Standort noch die Chance bot, dass Mimik und Gestik Hinweise auf mögliche Missverständnisse geben, tappt man plötzlich völlig im Dunkeln und braucht neue Verfahren zur Orientierung.

Unterschiedliche Erwartungen und Erfahrungen

Die wachsende Vielfalt auf dem heimischen Arbeitsmarkt stellt Vorgesetzte vor Herausforderungen und erschwert einen fairen Umgang. Sie kennen bestimmt Bilder aus den Büros der frühen 1960er-Jahre. Die Männer rauchen, die Frauen sind adrett. Die Rollen sind klar und alle verbinden offensichtlich ähnliche Wünsche: die Männer nach einem Auto mit Heckflossen, die Frauen nach einem verlässlichen Mann. Selbst wenn dieses Bild auch die damaligen Realitäten nur unzulänglich widerspiegeln mag, hat sich die Arbeitswelt ohne jede Frage fundamental verändert.

Teams sind heute vielfältig und aus Mitgliedern mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen, Erfahrungen und Lebensentwürfen zusammengesetzt – Menschen unterschiedlichen Geschlechts, verschiedener Generationen, Nationalitäten und Herkunft, die jeweils andere Erwartungen an ihren Job, ihr Team, ihren Arbeitgeber und ihre Vorgesetzten haben.

Während diese Vielfalt Chancen bietet, fordert sie alle Beteiligten auch regelmäßig heraus. Denn die persönliche Demografie beeinflusst immer auch die eigene Weltsicht, was man erlebt und wie man es bewertet (siehe Abbildung 1). Es beeinflusst, wie andere mit einem umgehen und wie man gern behandelt werden will.

Abbildung 1: Aus verschiedenen Perspektiven, stellen sich die Dinge tatsächlich unterschiedlich dar.

Fair zu führen heißt, das Umfeld und das eigene Verhalten an die Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen anzupassen. Nur so ist es möglich, gleiche Voraussetzungen zu schaffen und Barrieren abzubauen, welche die Karriere blockieren können.

Wie wichtig das ist, kann bei Beschäftigten mit sichtbaren Behinderungen ganz offensichtlich sein. Man denke nur an Ansagen in Fahrstühlen für Blinde oder breitere Türen für Menschen im Rollstuhl. Komplizierter wird es, wenn die Barrieren unsichtbar sind – zumindest für die Nicht-Betroffenen. Leider trifft das für die Mehrzahl an Hindernissen zu, die Erfolge erschweren.

Es geht selten fair zu

Welches können solche unsichtbaren Barrieren sein? Ein beliebtes Beispiel sind Sinfonieorchester. Noch 1970 waren in den Top-US-Orchestern weniger als 5 Prozent Frauen vertreten. Sie galten als weniger begabt und schlicht ungeeignet. Wer heute ins klassische Konzert geht, sieht ein anderes Bild. Aber es sind nicht die Frauen, die sich verändert haben. Stattdessen waren neue Auswahlverfahren erforderlich, um Chancengleichheit herzustellen. Beim sogenannten »blinden« Vorspielen waren die Musizierenden – die in einigen Orchestern übrigens in Socken auf die Bühne kamen, um verräterische Geräusche zu vermeiden – hinter einem Schirm verborgen. Damit wurde verhindert, dass Vorurteile das Urteil trübten. Stattdessen fand die Auswahl tatsächlich auf Basis des Könnens statt. Die Auswirkungen waren gewaltig; innerhalb von knapp 30 Jahren hatte sich der Anteil an Frauen in den Top-5-Orchestern verfünffacht.3

Unabhängig von diesem Erfolg ist leider auch heute noch Diskriminierung in der Personalauswahl keine Seltenheit. Immer wieder zeigen Experimente, in denen gleiche Lebensläufe unter unterschiedlichen Namen verschickt werden, dass Tim Schultheiß oder Lukas Heumann viel eher zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden als Hakan Yilmaz oder Ahmet Aydin.4 Wer dann auch noch ein Kopftuch trägt, hat wirklich schlechte Karten. Selbst mit einem modernen Look muss eine angebliche Meryem Öztürk fast fünfmal so viele Bewerbungen schreiben wie Sandra Bauer.5

Auch die sexuelle Orientierung kann eine unsichtbare Barriere sein. Trotz »Ehe für alle« geben auch heute noch mehr als 30 Prozent der schwulen und lesbischen Beschäftigten an, sie hätten sich am Arbeitsplatz nicht oder nur gegenüber sehr wenigen Vertrauten »geoutet«, und gerade Führungskräften gegenüber ist man vorsichtig. Von den transgender Beschäftigten verbergen sogar fast 70 Prozent ihre sexuelle Identität.6 Der wichtigste Grund für Zurückhaltung ist die Furcht vor sozialer Ausgrenzung und dass sich andere in ihrer Gegenwart nicht mehr wohlfühlen.7 Das wirkt sich negativ auf die Ergebnisse von Unternehmen aus, denn auch vermeintlich »private« Aspekte beeinflussen selbstverständlich die Produktivität und die Fluktuationsrate. Wer sich jedes Mal unwohl fühlt oder sich eine Geschichte ausdenken muss, wenn nach Wochenendaktivitäten oder der Familie gefragt wird, kann im Job kaum aufblühen.

Ausgebremst

→  Stereotype, Vorurteile oder unbewusste Präferenzen (→  Unconscious Bias) beeinflussen nicht nur, was man jemandem zutraut. Sie definieren auch, was für ein Verhalten als wünschenswert oder auch nur akzeptabel gilt. An der Columbia-Universität wurden im Rahmen einer Vorlesung zwei Lebensläufe an die Studierenden verteilt. Die einen sollten einen Kandidaten namens Howard beurteilen, die anderen sich ein Bild von Heidi machen. Was sie nicht wussten: Beide Gruppen arbeiteten mit dem exakt gleichen Lebenslauf von Heidi Roizen, einer erfolgreichen Unternehmerin und Investorin im Silicon Valley. Dem Urteil über die beiden war das nicht anzumerken. Während Howard viele positive Rückmeldungen erhielt, als Gewinn für ein Unternehmen, als engagiert, erfolgreich und sympathisch eingeschätzt wurde, war Heidi weit weniger beliebt. Sie wurde als machthungrig eingeschätzt, zu wenig bescheiden und vor allem auf ihr eigenes Fortkommen bedacht. Sie war den Befragten schlicht zu aggressiv. Wie gesagt: Es war genau derselbe Lebenslauf. Das Einzige, was die Einschätzung beeinflusste, war die – unbewusste – Vorstellung über angemessenes Verhalten von Männern und Frauen.8

Eine solche Erwartungshaltung trifft selbstverständlich nicht nur Frauen. Sie wirkt sich auch auf Männer aus, die beispielsweise nicht dem Bild des »typischen« Alphatiers entsprechen oder wenn ihnen der Job nicht über alles geht. Eine Analyse der Yale-Untersuchung zeigt, dass männliche Vorstände, die viel reden, als kompetenter wahrgenommen werden als stillere Kollegen.9 Gegen klassische →  Geschlechterstereotype haben auch Männer verstoßen, die im Bewerbungsprozess freundlich und bescheiden auftraten. Die Konsequenz? Sie wurden kritischer betrachtet und weniger positiv beurteilt als Mitbewerberinnen, von denen dieses Verhalten schlicht erwartet wird.10

Laut einer Untersuchung von A. T. Kearney erlebt zudem jeder zweite Mann aufgrund familiärer Verpflichtungen Beeinträchtigungen im Job. Jeder Vierte befürchtet negative Auswirkungen auf die Karriere.11 Gleichzeitig zeigt eine australische Untersuchung, dass Männern der Wunsch, flexibel zu arbeiten, doppelt so oft abgeschlagen wird wie Frauen, selbst wenn es sich um eine kürzere Frist handelt.12

Was diese Beispiele illustrieren: Statt Wertschätzung zu erleben und bei der Karriere Rückenwind zu haben, bläst Menschen, die von echten oder vermeintlichen »Standards« abweichen, sehr häufig der Wind ins Gesicht. Dabei basieren längst nicht alle »Abweichungen« auf sichtbaren Unterschieden. Viele Aspekte, die uns und unsere Persönlichkeit ausmachen, sind unsichtbar (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Viele Aspekte, die Menschen unterscheiden, sind unsichtbar.

Rückenwind für die Karriere

Was können Unternehmen und Vorgesetzte tun, damit Menschen im Job aufblühen und Erfolge feiern?

Schon Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich Abraham Maslow Gedanken darüber gemacht, was für ein erfülltes Leben erforderlich ist. Er ist einer der Gründerväter der humanistischen Psychologie. Sie geht davon aus, dass Menschen nicht durch niedere Triebe gesteuert, sondern durch ein angeborenes Wachstumspotenzial angetrieben werden. Ihr höchstes Ziel ist Selbstverwirklichung.

Die »Maslowsche Bedürfnispyramide« hat den Weg dorthin noch in fünf Stufen beschreiben. Heute wird zunehmend eine dynamische Darstellung gewählt (siehe Abbildung 3). Schließlich stehen unsere Bedürfnisse nicht in einer »Eines nach dem anderen«- oder einer »Alles oder nichts«-Beziehung. Sie müssen nicht zu 100 Prozent erfüllt sein, bevor uns das nächste wichtig wird. Auch bezogen auf den Job leuchtet das ein. Selbst wenn das Großraumbüro nervt und der Rechner nicht so schnell ist, wie er sein sollte, will ich mit netten Menschen zusammenarbeiten und gemeinsam mit ihnen Erfolge feiern.

Abbildung 3: Die Maslowsche Bedürfnispyramide als dynamische Darstellung

Aber ganz unabhängig von der Darstellung haben die damals beschriebenen Bedürfnisse nicht an Aktualität verloren. Deshalb lohnt sich der Blick darauf, was Menschen laut Maslow brauchen, um zufrieden und glücklich zu sein. Er beschreibt fünf Kategorien von Bedürfnissen, von elementar bis wirklich erfüllend. Auf die Arbeitswelt übersetzt sieht das dann in etwa so aus:

Physiologische Bedürfnisse: ein angenehmer Arbeitsplatz, an dem man vernünftig arbeiten kann, eine anständige Kantine, die auch Obst oder etwas Vegetarisches anbietet – oder eine Currywurst.

Sicherheitsbedürfnisse: ein Beschäftigungsverhältnis ohne Angst, weder um Leib und Leben noch vor Mobbing oder dem Verlust des Arbeitsplatzes.

Soziale Bedürfnisse: eine gute Beziehung zu den Menschen, mit denen ich arbeite. Sich aufgehoben fühlen. Ein Umfeld, dem ich vertraue und auf das ich mich verlassen kann.

Individualbedürfnisse: der Wunsch nach Erfolg, Ansehen und Anerkennung. Wertschätzung erleben, egal wofür man stehen möchte.

Selbstverwirklichung: das eigene Potenzial ausschöpfen. Sich gefordert fühlen, an meine Grenzen gehen. Neues lernen und erleben und daran wachsen.

Ein faires Umfeld schaffen

Grundsätzlich gilt: Ob das Umfeld für mich passend ist, hängt stark von meiner persönlichen Demografie ab. Davon, wer ich bin, wo ich herkomme, welche Erfahrungen ich im Laufe meines Lebens gemacht habe. Denn die Standards werden zunächst einmal von und für die Mehrheit gesetzt.

Sehr deutlich kann man das beispielweise an den Wochenendtagen sehen: Anders als in traditionell christlichen Ländern fällt das Wochenende in muslimischen Ländern zumeist auf Freitag und Samstag. Aber ganz egal, ob ich religiös bin und welcher Religion ich angehöre, in den allermeisten Fällen definiert mein Wohnort die arbeitsfreien Tage.

Aber Standards sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn sie nicht mehr passen, lassen sie sich ändern. Selbst wenn es um das Wochenende geht. Was es dafür braucht? Problembewusstsein und den Willen zur Veränderung. In Saudi-Arabien waren bis 2013 Donnerstag und Freitag frei. Das war ein echtes Hindernis für internationale Geschäftsbeziehungen. Die einzige Möglichkeit, das Problem zu beseitigen, bestand darin, das Wochenende auf Anweisung des Königs um einen Tag zu verschieben, sodass es nun wie in den anderen muslimischen Ländern liegt.

Fair führen bietet Ihnen einen neuen Blick auf ungerechte Standards und wie Sie sie ändern können. Auf Barrieren und Herausforderungen, mit denen – im wahrsten Sinne des Wortes – »andere« konfrontiert sind. Sie bekommen einen Eindruck von dem Preis, den diese ebenso wie Sie und Ihr Unternehmen dafür zahlen und warum es sich lohnt, unterschiedlichen Menschen gleiche Möglichkeiten einzuräumen. Zudem erhalten Sie Tipps und Impulse, wie Sie persönlich Ihr Verhalten ändern können, um dabei zu helfen, ein faires und gleichberechtigtes Umfeld zu schaffen.

Wenn Sie sich auf die nächsten Kapitel einstimmen und noch mehr aus ihnen mitnehmen wollen, lohnt es sich, ein paar Minuten über die folgenden drei Fragen zu reflektieren:

Hatten Sie schon einmal das Gefühl, Sie gehören »nicht richtig dazu«? In einer Gruppe, bei einer Veranstaltung oder Diskussion? Was war das für eine Situation?

Wie hat sich das angefühlt? Wie ging es Ihnen dabei? Hat es Sie ärgerlich gemacht oder traurig? Haben Sie sich vielleicht allein gefühlt oder wütend?

Wie sind Sie damit umgegangen? Was haben Sie gemacht? Haben Sie sich weiter abgegrenzt? Sich eventuell auch räumlich von den anderen entfernt? Haben Sie sich stärker engagiert, um gesehen zu werden und Ihre Meinung einzubringen? Sind Sie verstummt und haben zugehört? Oder haben Sie eventuell einfach abgeschaltet?

TEIL 1

TAG FÜR TAG

Im ersten Teil des Buches geht es weniger um fair führen als schlicht ums Fair-sein – als Führungskraft oder im tagtäglichen Miteinander. Darum, wie wir durch unser Verhalten andere unterstützen oder ihnen das Leben unnötig schwer machen.

Das Kapitel 1 »Stellen Sie sich nicht so an« illustriert die Macht an sich trivialer Handlungen, mit denen wir andere – auch unbewusst – verletzen. Es beleuchtet, wie Kleinigkeiten ein Eigenleben entwickeln können, und hilft, das eigene Verhalten zu reflektieren.

Kapitel 2 »In verdeckter Mission« dreht sich um Ungerechtigkeiten, die Menschen aufgrund ihrer Demografie widerfahren. Weil sie schwul sind zum Beispiel oder schwarz und deshalb eventuell in einer Schublade landen, selbst bei Menschen, die sich als liberal bezeichnen würden. Das Kapitel erklärt, wie die Betroffenen mit der Situation umgehen, und gibt Tipps, um sie zu unterstützen.

Das dritte Kapitel »Gleich und gleich gesellt sich gern« steigt tiefer in das Konzept von Gruppen ein. Wen wir als »wir« definieren und wen als »die anderen« und wie sich das auf unser Verhalten und unser Urteil auswirkt. Der Bekanntenkreis der meisten Menschen ist ziemlich homogen. Das Kapitel zeigt, was Sie dadurch verpassen und wie Sie es ändern können.

Kapitel 1Stellen Sie sich nicht so an

Wie Mikro-Ungerechtigkeiten und -Aggressionen uns den Spaß an der Arbeit rauben

»Nächster Agendapunkt: unser Team Offsite. Yasmin hat mich vorhin auf dem Korridor angesprochen und sie hat eine tolle Idee. Na komm, erzähl schon«, ermuntert Peter seine Mitarbeiterin. Die lässt sich das nicht zweimal sagen und legt mit Elan los. Peter blickt begeistert in die Runde: »Und? Was sagt ihr?«

Es ist Johannes, der zuerst das Wort ergreift. »Ich finde, wir sollten einen Rahmen finden, der die Inhalte stärker unterstützt«, fängt er an, während sein Chef sich seinem Smartphone zuwendet. »Ich habe mir da was überlegt ...«

Den Blick fest auf seinem Handy steht Peter langsam vom Stuhl auf. »Entschuldigt mich, ich muss kurz telefonieren. Macht einfach weiter«, sagt er und verlässt den Raum.

*

»Ich habe es so satt!«, Johannes sitzt am Schreibtisch und lässt die Schultern hängen. »Ich kann machen, was ich will, aber Peter ignoriert mich einfach. Es ist unfair!«

»Ach komm. Ein Telefonat. Das kann doch mal passieren.«

»Es ist doch nicht nur heute. Für die Vorbereitung der großen Präsentation letzten Monat sollte ich ihm meine Inhalte zuschicken. Mit Yasmin hat er sich zusammengesetzt, und sie war auch bei den Abstimmungsmeetings mit den anderen Bereichen dabei. Mir hat er gesagt, er meldet sich, wenn es Fragen gibt.«

»Vielleicht war ja alles klar?«

»Offensichtlich nicht. Von meinen Empfehlungen ist nicht viel geblieben.«

»Hast du ihn darauf angesprochen?«

»Klar. Ich habe ihn um eine Rücksprache gebeten. Die hat er zweimal verschoben und den dritten Termin dann ganz abgesagt.«

Natürlich gibt es sie, ganz offensichtliche Diskriminierung, bei denen allen die Ungleichbehandlung deutlich auffällt und offene Entrüstung auslöst. Das Gros der Benachteiligungen findet jedoch anders statt. Es sind zahllose alltägliche kleine Zeichen mangelnder Wertschätzung.

Mikro-Ungerechtigkeiten

→  Mikro-Aggressionen oder →  Mikro-Ungerechtigkeiten richten sich vor allem gegen Menschen, die in einer Gruppe keinen besonders starken Stand haben. Mit ihnen fühlen sich die Beteiligten weniger verbunden oder sie reiben sich an ihnen, weil sie anders sind oder mit ihrem Arbeitsstil anecken. Obwohl jeder einzelne Vorfall ohne besondere Relevanz ist, können Mikro-Ungerechtigkeiten den Betroffenen mit der Zeit tiefe Verletzungen zufügen.

Am Anfang bin ich vielleicht nur ein bisschen irritiert, habe den Eindruck, dass meine Ideen in Besprechungen weniger zählen. Vielleicht schreibt meine Chefin E-Mails, während ich präsentiere, oder ist mit etwas beschäftigt, das mit meinen Erläuterungen offensichtlich nichts zu tun hat. Habe ich auf eine Nachfrage nicht gleich eine Antwort, ernte ich ein Kopfschütteln und den Kommentar: »Das hätten Sie aber schon voraussehen und vorbereiten können.« Eventuell werde ich nicht zu einer Arbeitsgruppe oder einer Veranstaltung eingeladen, obwohl ich qua Funktion eine Menge beitragen könnte.

Mikro-Ungerechtigkeiten können viele Formen annehmen. Wenn ich mich zu Wort melde oder einen Beitrag leiste, werden meine Ausführungen öfter einfach übergangen. Insistiere ich, rollt jemand mit den Augen. Es werden vielleicht Witze auf meine Kosten gemacht – nichts Schlimmes, aber irritierend ist das schon. Selbst wenn sie nicht zu meinen Aufgaben gehören, landen unbeliebte Tätigkeiten immer wieder bei mir – Kaffee machen, Konferenzräume buchen, schnell etwas kopieren oder ausdrucken. Bei der Einladung zu einem Treffen werde ich vergessen. Der Rest des Teams bricht zum Essen auf und keiner bemerkt, dass ich fehle.

All das sind Beispiele für Mikro-Aggressionen. Menschen wird durch das Verhalten und Gesten vermittelt, dass sie weniger geschätzt werden oder man von ihrer Arbeit nicht sonderlich beeindruckt ist. Jeder einzelne Vorfall wäre ohne Bedeutung – »kann mal passieren« –, doch aufgrund der Häufung werden sie zu einem schleichenden Gift.

Die Betroffenen haben lange Zeit keine Ahnung, was da abläuft. Es sind alles Kleinigkeiten, vielleicht ein Zufall oder ein Versehen, eventuell ist man auch nur selbst überempfindlich. Aber während der Kopf noch nach Erklärungen sucht, beginnen die Zurückweisungen im Unterbewusstsein zu wirken und untergraben das Selbstvertrauen.

Gerade dass die einzelnen Vorfälle trivial erscheinen, macht sie so zerstörerisch. Wenn man schon selbst kaum greifen kann, was geschieht, sind auch andere oft für das Geschehen blind. Wem offensichtliche Diskriminierung begegnet, kann auf Verständnis hoffen. Darauf, dass es Kanäle und Regelungen gibt, um die Situation abzustellen. Wer unter Mikro-Aggressionen leidet, erlebt das hingegen eher selten.

Selbst Familie und Bekannte reagieren vielleicht zunächst ungläubig. »Bist du sicher?«, »Vielleicht bildest du dir das nur ein?«, »Das hat doch jeder schon mal erlebt«, sind häufige Reaktionen, welche die Betroffenen davon abhalten können, rechtzeitig in die Offensive zu gehen und das Problem anzusprechen. Stattdessen verharren sie in einem Zustand, der zunehmend schmerzhafter wird.

Irgendwann entwickeln die Dinge ein Eigenleben. Die Betroffenen ziehen sich zurück, werden zunehmend unsichtbar und bleiben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Oder sie reagieren genervt und ruppig, um sich gegen die unfaire Behandlung zu wehren, ohne dass andere begreifen, wo der plötzliche Sinneswandel herrührt. Dann gelten sie als schlecht gelaunt, »haben ihre Tage« oder verstehen einfach keinen Spaß. Teamplayer sind sie auch nicht, weil sie sich lautstark dagegen verwehren, mal etwas für die Gruppe zu erledigen. Irgendwann verlassen sie das Unternehmen oder im Umfeld verfestigt sich ein negatives Bild und sie werden abgeschrieben.

Ungerecht ist man auch aus Versehen

Wichtig ist es, zu realisieren, dass Mikro-Ungerechtigkeiten für die Betroffenen Auswirkungen haben können, die weit über die triviale Natur des einzelnen Vorfalls hinausgehen. Dabei ist den Verursachenden ihr Verhalten zum Teil noch nicht einmal bewusst, denn es handelt sich längst nicht immer um gezieltes Piesacken – darum, den besonders nervtötenden Kollegen mit einigen gut getimten Gemeinheiten auf seinen Platz zu verweisen.

Mikro-Ungerechtigkeiten können sich sogar gegen völlig fremde Menschen richten. Das geschieht, wenn Stereotype beziehungsweise unsere persönlichen Vorurteile zum Tragen kommen. Deutsche mit Migrationshintergrund können davon ein Lied singen. Regelmäßig gefragt zu werden, wo man denn herkomme – also jetzt richtig –, mag dem Fragenden als ein Zeichen echten Interesses erscheinen. Beim Gegenüber kommt es eher an als »Sie gehören hier aber nicht wirklich hin« (siehe Tabelle 1).

Thema

Mikro-Aggression

Botschaft

Fremd im eigenen Land

»Wo kommst du her?«

»Wo bist du geboren?«

»Du sprichst aber gut Deutsch!«

»Wie heißt das denn bei euch?«

Du bist nicht von hier.

Du bist Ausländer.

Zuschreibung von Intelligenz

»Du bist eine Zierde für die hier lebenden xxx (Nationalität).«

»Du kannst dich aber gut artikulieren!«

Eigentlich erwarte ich von »Menschen wie dir« nicht besonders viel.

Es ist ungewöhnlich für jemanden »wie dich«, sich präzise ausdrücken zu können.

Kriminalisierung

Verkaufspersonal folgt Menschen mit ausländischen Wurzeln durch das Geschäft.

Menschen warten auf den nächsten Fahrstuhl.

Du bist vermutlich kriminell.Du bist potenziell gefährlich.

Leugnen von individuellem Rassismus

»Ich habe Freunde, die sind xxx (Hautfarbe/Nationalität).«

»Als Frau kenne ich Diskriminierung und weiß, was du durchmachst.«

Ich bin wegen meines Freundeskreises immun gegen Rassismus.

Ich kann kein Rassist sein. Wir machen die gleichen Erfahrungen.

Mythos der Meritokratie

»Ich denke, die qualifizierteste Person sollte den Job bekommen.«

»Alle können hier Erfolg haben, wenn sie sich nur genug anstrengen.«

Wenn Organisationen die persönliche Demografie bei der Personalauswahl berücksichtigen, schafft das unfaire Vorteile.

Menschen, die nicht erfolgreich sind, sind einfach zu faul, strengen sich nicht an oder sie sind nicht klug genug.

Kulturelle Werte beziehungsweise den Verhaltensstil pathologisieren

Bei Schwarzen: »Warum musst du immer so laut sein? Beruhig dich doch einfach mal.«

Bei Asiaten: »Warum bist du immer so still? Sag doch mal was. Wir wollen wissen, was du denkst.«

Agiere so, wie es hier üblich ist. Vergiss deine kulturellen Wurzeln.

Tabelle 1: Beispiele rassistischer Mikro-Aggressionen14

Als »ethnischen Ordnungsfimmel« bezeichnet das Ferda Ataman, als sie eine Szene aus Das Supertalent beschreibt.13 Mit der Aussage eines kleinen Mädchens, es käme aus Herne, will sich Dieter Bohlen nicht zufriedengeben und bohrt weiter, fragt nach den Eltern und sogar den Großeltern. »Das Interessante an der Szene: Das kleine Mädchen kapiert gar nicht, worauf der Mann hinauswill. Hier prallen zwei Welten aufeinander, die nicht nur mit 60 Jahren Altersunterschied erklärt werden können. Offenbar hat die kleine Melissa, so heißt das Mädchen, ihre Karriere als ›Deutsch-Asiatin‹ noch nicht angetreten. Das Kind dachte bis zu dieser Begegnung doch tatsächlich, es sei aus Herne und von hier. Leider wird ihr im Laufe ihres Lebens wohl noch öfter klargemacht, dass das nicht so sei.«

Einen Angriff auf ihr Selbstbild erlebt auch die IT-affine Seniorin, die mit einem beeindruckten »Sie machen das toll, und das in Ihrem Alter!« bedacht wird. Obwohl sie locker die Herausforderungen moderner Technik meistert, wird ihr deutlich gemacht, dass es diesbezüglich doch erheblichen Grund zu zweifeln gab. Das vermeintliche Kompliment ist damit vergiftet. Ohne eigenes Zutun befindet sie sich in einer »uphill battle«, muss Können und Kompetenz gegenüber einem misstrauischen Menschen demonstrieren. Dass das erheblich schwieriger ist, als wenn grundsätzlich erst mal Vertrauen in die Fähigkeiten besteht, haben die meisten von uns vermutlich schon einmal erlebt.

Mikro-Ungerechtigkeiten treffen nicht nur Einzelne

Die größte und lautstärkste Debatte ist in diesem Kontext aktuell sicherlich die Genderdiskussion. Die eine Seite bezweifelt, dass es wirklich nötig sei, die deutsche Sprache dermaßen zu verunstalten. Hält es für eine völlig sinnfreie Aktion übermäßig engagierter Feministinnen, die ein nicht existierendes Problem adressieren, weil ihnen der Unterscheid zwischen Sexus und Genus unbekannt ist. Der Genus ist eine grammatische Kategorie, eine vom Sexus – dem natürlichen Geschlecht – abstrahierende Ausdrucksform. Es heißt ja auch »die Tür« oder »der Stuhl«. Offensichtlich ist die Diskussion also absurd. Und außerdem ist man mit dem generischen Maskulinum, das Männer und Frauen gleichermaßen umfasst, seit ewigen Zeiten gut gefahren.

Das stimmt nicht, sagt der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Anatol Stefanowitsch. »Lange existierte gar keine feminine Form, die von einer männlichen abgeleitet werden konnte. Bis dahin wurden meist wirklich nur Männer angesprochen, etwa bei Wahlen. Als dann auch Frauen wählen durften, hieß es: Also gut, ab jetzt sind sie mit ›Wähler‹ auch gemeint.«15 Das generische Maskulinum ist eigentlich also gar nicht generisch. Als Frauen mehr Rechte erhielten, wurde die gesellschaftliche Veränderung sprachlich nicht vollzogen. Stattdessen wurde die männliche Form generisch und Frauen sind seitdem »mitgedacht« oder »mitgemeint«.

Das ist eine Mikro-Aggression. Es ist, als ob Sie auf eine Party kommen, aber während alle anderen per Handschlag begrüßt werden, ernten Sie noch nicht mal ein Kopfnicken, um Ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Es ist, als seien Sie unsichtbar.

Dass das »Mitmeinen« nicht besonders gut funktioniert, zeigt inzwischen eine wachsende Zahl an Studien. Hilfreich sind dabei Vergleiche mit dem Englischen, in dem es kein grammatisches Geschlecht gibt. Allerdings beeinflussen dort stereotype Vorstellungen von Beruf und Geschlecht die Erwartungshaltung. Experimente belegen, dass diejenigen, die etwas über einen »doctor«, »lawyer« oder »expert« hören, an einen Mann denken. Aber obwohl es auch im deutschsprachigen Raum klare Vorstellungen von Männer- beziehungsweise Frauenberufen gibt, radiert das grammatikalische Geschlecht stereotype Assoziationen aus.16 Wer von Grundschullehrern hört, kommt bestenfalls nach einigem Nachdenken darauf, dass es sich auch um Lehrerinnen handeln könnte.

Den gleichen Effekt erleben alle, die im eigenen Umfeld nach besonders berühmten oder bewunderten Sportlern, Wissenschaftlern, Schauspielern oder Autoren fragen. Die überwiegende Mehrzahl der Nennungen werden Männer sein. »Auch Frauen?«, wird dann eventuell nachgefragt, was illustriert, dass die Frage ganz und gar nicht eindeutig ist.

Die begeisterte Anhängerschaft kann das nicht verwundern, spiegele es doch die gesellschaftliche Realität wider. Männersport sei einfach schneller und spannender. Zudem wurden mehr Männer als Frauen mit einem Nobelpreis ausgezeichnet, sind Stars in Blockbustern oder haben berühmte Werke geschrieben. Sobald Frauen gleichziehen, wird sich das Problem angeblich erledigen. Doch das generischen Maskulinum trägt dazu bei, den Status quo zu erhalten. Denn schon Kinder reagieren auf die Ambiguität.

Männerberufe? Frauenberufe?

Forschende an der FU Berlin wollten wissen, ob sich durch Sprache Geschlechterstereotype bei der Berufswahl aushebeln lassen. Ob Sprache, welche die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass auch Frauen »typisch männliche Berufe« ausüben, die Wahrnehmung von Kindern beeinflussen kann.

Dazu wurden Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren Berufsbezeichnungen vorgelesen – entweder in der männlichen und weiblichen Form oder nur einzeln in der männlichen Pluralform. Das Ergebnis war eindeutig: Kinder, denen Anzeigen für »Ingenieurinnen und Ingenieure« oder »Automechanikerinnen und Automechaniker« präsentiert worden waren, trauten sich viel eher zu, einen Beruf zu ergreifen, in dem Frauen aktuell unterrepräsentiert sind.17

Wenn nur die männliche Pluralform genannt wurde, wurden solche Berufe als weniger leicht erlernbar und schwieriger eingeschätzt. Für Mädchen seien sie damit – nach der eigenen Einschätzung – weniger geeignet. Mädchen verlieren nämlich schon sehr früh den Glauben daran, dass sie große Herausforderungen meistern können. In einem Experiment wurde Kindern zwischen fünf und sieben Jahren eine Geschichte mit einer »sehr, sehr klugen« Hauptperson vorgelesen, ohne dass es irgendwelche Hinweise auf ihr Geschlecht gab. Anschließend sollten die Kinder auf vier Fotos – jeweils zwei mit Frauen und Männern – die Protagonisten identifizieren. Die Fünfjährigen entschieden sich jeweils für eine Person ihres Geschlechts. Die Sechs- und Siebenjährigen entschieden sich eher für einen der beiden Männer, und zwar sowohl die Jungen als auch die Mädchen. Zum gleichen Zeitpunkt verringerte sich bei den Mädchen auch das Interesse, sich auf Spiele einzulassen, für die man angeblich besonders schlau sein muss. Stattdessen entschieden sie sich lieber für solche, die harte Arbeit erfordern.18 Die direkte Ansprache ist für Mädchen daher ein wichtiger Mutmacher.

Was zeigt das? Um fair zu sein, reicht es nicht, aktiv zu werden, wenn man es selbst für nötig hält. Ob mein Verhalten in Ordnung ist oder nicht, definiert sich vor allem in der Erfahrung, die andere damit machen. Der weiterreichenden Konsequenzen meines Verhaltens bin ich mir zudem häufig nicht bewusst. Umso wichtiger ist es, offen für Feedback zu sein und Kritik ernst zu nehmen, selbst wenn sie einem selbst eventuell wenig relevant erscheint.

Ein paar Tipps zur geschlechtergerechten Sprache

Eventuell ist es zunächst ungewohnt, sich um geschlechtergerechte Sprache zu bemühen, aber es ist nicht sonderlich schwer. Diejenigen, die in einem Kontext (ausschließlich) Frauen und Männer adressieren wollen, sollten das am besten einfach tun (zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). Als Alternativen, die zusätzlich auch Menschen ansprechen, die sich mit keinem dieser beiden Geschlechter identifizieren, bieten sich der Genderstern (Mitarbeiter*innen) oder -strich (Mitarbeiter_innen) an. Geschlechtergerecht lässt sich auch sprechen und schreiben, indem man geschlechtsneutrale Formen, Institutions-, Funktions- beziehungsweise Kollektivbezeichnungen nutzt oder Texte umformuliert (siehe Tabelle 2).

Geschlechtsneutrale Formen

Geschlechtsneutrale Bezeichnungen: Person, Mitglied, Elternteil et cetera

Wortzusammensetzungen mit -person, -kraft, -hilfe, -leute (Bezugsperson, Führungskraft und so weiter)

Personenbezeichnungen, die im Plural geschlechtsneutral sind (zum Beispiel die Teilnehmenden)

Institutions-, Funktions- und Kollektiv­bezeichnungen

Sekretariat, Leitung, Vertretung

Umformulierungen

Unpersönliche Pronomen (diejenigen, alle, wer et cetera)

Adjektive statt Nomen: beratende Tätigkeit

Passivformen: »Nach dem Absolvieren des Seminars sind alle berechtigt, ...« »Sie sind engagiert und erfahren ...«

Plural verwenden (zum Beispiel »Alle, die …«, »Personen, die …«)

Tabelle 2: Geschlechtergerechte Formulierungen

Ich gebrauche in diesem Buch konkrete Geschlechterbezeichnungen (hoffentlich ausschließlich), wenn sie relevant sind, weil beispielsweise Männer oder Frauen das Ziel einer Studie waren oder weil sie eine bestimmte Botschaft unterstreichen. Andernfalls nutze ich neutrale Begriffe beziehungsweise habe dem Unterstrich vor dem sogenannten Genderstern den Vorrang gegeben, weil er für diejenigen tendenziell besser funktioniert, die eine Screenreader-App nutzen.

Zusammenfassung

Tipps für den Umgang mit Mikro-Aggressionen

Nehmen Sie Ihr eigenes Verhalten unter die Lupe.