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DER AUFTAKT DER NEUEN REIHE VON PLATZ-1-SPIEGEL-BESTSELLER-AUTORIN MONA KASTEN
Ich werde dich nicht gehen lassen, Zoey. Niemals.
Als die siebzehnjährige Zoey King den Tod eines Mitschülers voraussieht, wird ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Denn statt der Gabe des Heilens, die sie eigentlich von ihrer ruhmreichen Mutter erben sollte, ist sie eine Banshee, die Todesmagie besitzt. Von dieser Erkenntnis erschüttert, muss sie an der Everfall Academy den Zweig wechseln und bekommt Dylan Dae Park als Mentor an die Seite gestellt, einen Reaper, der anderen mit einer bloßen Berührung die Seele entreißen kann und Zoey nun dabei helfen soll, mit ihrer neu erweckten Magie umzugehen. Doch der Tod ihres Mitschülers lässt ihr keine Ruhe. Als sie beschließt, den Fall genauer unter die Lupe zu nehmen, findet sie nach und nach heraus, dass mehrere Leute an der Akademie dunkle Geheimnisse hüten. Allen voran Dylan, bei dessen Anblick ihr Herz immer schneller schlägt ...
»Diese Geschichte hat alles, was ich mag: gefährliche Intrigen, geheimnisvolle Fähigkeiten und die unwiderstehliche Anziehung zwischen den beiden Protagonisten.« MARAH WOOLF
Band 1 der EVERFALL ACADEMY
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Seitenzahl: 538
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Mona Kasten bei LYX
Impressum
Mona Kasten
Fallen Princess
Roman
Als die siebzehnjährige Zoey King auf dem Sternennachtball der Everfall Academy den Tod eines Mitschülers voraussieht, steht ihr Leben von einem Augenblick auf den anderen völlig Kopf. Denn in ihr ist nicht, wie bei den Nachfahren der mächtigen Göttin Cliodhna seit Generationen üblich, die Gabe des Heilens erwacht, sondern Zoey ist eine Banshee und besitzt Todesmagie. Erschüttert von der Erkenntnis, dass sie nicht in die Fußstapfen ihrer ruhmreichen Mutter treten wird, muss Zoey sofort einen anderen Zweig an der Akademie einschlagen und in das Haus der Silver Ravens – das Haus des Todes – wechseln. Und nicht nur das: Sie bekommt außerdem den mysteriösen Dylan Dae Park als Mentor an die Seite gestellt, einen Reaper, der die Seelen Verstorbener ins Jenseits begleitet und um den sich an der Schule die wildesten Gerüchte ranken. Zoey ist alles andere als begeistert davon, dass ausgerechnet Dylan ihr dabei helfen soll, sich mit ihrer neuen Magie vertraut zu machen, zumal es nicht lange dauert, bis ihr Herz in seiner Gegenwart nicht mehr vor Irritation, sondern aus einem ganz anderen Grund schneller schlägt. Gleichzeitig kann sie nicht aufhören, über den Tod ihres Mitschülers nachzudenken. Gemeinsam mit ihren neu gewonnenen Freunden beginnt sie, den Fall genauer unter die Lupe zu nehmen, und deckt dabei ungeahnte dunkle Geheimnisse auf, die ihr schon sehr bald zum Verhängnis werden …
Für alle, die selbst im Dunkeln an einem Funken festgehalten haben, um ihn in ein Licht entflammen zu lassen.
Einst umgaben Irland dichte Wolken undurchdringlichen Nebels. Aus diesem Nebel erreichten die Tuatha De Danann das Land. Sie waren die Kinder von Danu, der altehrwürdigen Göttin der Erde, beschenkt mit einer übernatürlichen Kraft. Manche von ihnen waren mit der Macht des Kampfes gesegnet, andere wiederum mit der Kraft der Heilung oder gar Verzauberung. Die Tuatha De Danann nutzten ihre Macht für das Gute, um eine Brücke zwischen Normalsterblichen und Gottheiten zu schlagen – und gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen, die die irdische Welt ins Chaos zu stürzen drohte.
Nach ihrer letzten Schlacht zogen die Tuatha De Danann sich in den Hügeln Irlands zurück und wurden von da an nur noch die Sidhe, das Volk der Hügel, genannt. Obwohl die Tuatha De Danann längst nicht mehr auf der irdischen Welt wandeln, setzen sich ihre Fähigkeiten bis heute in den Blutlinien ihrer Nachfahren fort. Nun ist es ihre Aufgabe, die Welt vor dem Bösen zu bewahren.
Mir war schlecht. Genau genommen fühlte sich mein Magen an, als wäre ich ungefähr zwanzigmal Achterbahn mit Looping gefahren. Unter den zehn Schichten Make-up, die mir an diesem Abend aufgetragen worden waren, sah ich zweifellos aus wie ein grün angelaufener Schimmelkäse – doch davon bekam hoffentlich niemand etwas mit.
Ich war mir nicht sicher, woran es lag. Immerhin hatte ich heute nur eine einzige Rolle zu erfüllen und somit keinen Grund, derart durchzudrehen. Vielleicht war aber auch das Kleid mit der aufwendigen Schnürung am Rücken schuld an der Übelkeit. Wobei das Ganze schon gestern angefangen hatte und ich dies eigentlich ausschließen konnte.
Ich strich über den Saum des mauvefarbenen Kleides, das ab der Hüfte in einen weiten, wallenden, mit Tüll und Chiffon versetzten Rock ausfiel. Dann trat ich an die Balustrade neben meine beste Freundin Violet und lehnte mich auf das Geländer.
»Es ist atemberaubend, nicht wahr?«, fragte Vi, woraufhin ich mich zu einem Lächeln zwang. Vielleicht konnte ich die Übelkeit mit schierer Willenskraft verdrängen, davon hatte ich nämlich eine ganze Menge.
Monatelang hatte ich mit Violet, Beau und all meinen Freunden auf diesen Abend hingefiebert, und irgendwie konnte ich immer noch nicht glauben, dass es jetzt wirklich so weit war. Vor einer Woche noch hatte es gewirkt, als läge der Sternennachtball in weiter Ferne – nun stand ich hier und konnte die surrende Energie, die in der Luft lag, im ganzen Körper spüren.
Ich überblickte den Ballsaal, der in goldenes Licht getaucht war. Schon im Normalzustand war dieser Raum der mit Abstand schönste in der ganzen Akademie. Doch heute wirkte er schlichtweg magisch.
Die vergoldeten Ornamente an der Decke glommen im Licht der Kronleuchter, und die goldgerahmten Wandgemälde mit den Tuatha De Danann – unser aller Vorfahren – schienen wie verzaubert. Unter den Kronleuchtern befanden sich auf dem glänzenden Parkett viele kleinere und größere Gruppen, und die leisen Gespräche drangen als monotones Gemurmel zu uns hinauf. An der Balustrade und entlang der breiten geschwungenen Treppe waren unzählige kleine Gläser mit Irrlichtern angebracht worden, die ein weicher Schimmer umgab.
Das Orchester hatte bereits begonnen zu spielen, und ich konzentrierte mich auf die Harmonie, die durch das Zusammenspiel der Streichinstrumente und der whiskeyweichen Stimme der Sängerin entstand. In jedem anderen Fall wäre ich mit Violet sofort die Treppen hinuntergehastet, um auf die Tanzfläche zu gehen und dort ausgelassen zu feiern. Heute hielt mich das Unwohlsein jedoch davon ab. Ich fürchtete, dass mein Magen nicht kooperieren würde. Meine Hände zitterten und ich ließ das Geländer los, um sie an meinen Seiten kurz zu Fäusten zu ballen. Ich nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich mein Kleid wieder glatt strich.
Ganz gleich, wie sehr ich mich auch konzentrierte, das ungute Gefühl blieb. Und das war mehr als nur merkwürdig. Nicht einmal letztes Jahr war mir derart schlecht gewesen. Dabei war es zu der Zeit um das Diadem gegangen. An jenem Abend war ich im zweiten Jahr an der Akademie gewesen und somit im selben Alter wie meine Mum, als sie zur Miss Everfall gewählt worden war. Damals hätte ich sie enttäuschen können, deshalb war der Druck besonders groß gewesen. Das war heute jedoch nicht der Fall. Ich hatte nichts zu verlieren, und darum verstand ich einfach nicht, wieso mir kalter Schweiß den Nacken hinabrann und weshalb meine Hände so stark bebten.
Ich blickte mich weiter im Saal um und betrachtete die Besucher des Balls ein wenig genauer, um mich abzulenken und zu sammeln, bevor wir hinuntergingen. Die Roben der meisten Schüler waren genauso extravagant wie meine eigene, mit weiten, fließenden Röcken aus unterschiedlichen Stoffen und mit filigranen Stickereien, die verschlungene Ranken, Tiere oder verschiedene Jahreszeiten zu Ehren unserer Vorfahren symbolisierten. Tüll, Chiffon, Seide, Samt und maßgeschneiderte Anzüge, wohin ich auch schaute. Ich kam mir fast vor, als wäre ich in ein anderes Jahrhundert katapultiert worden. In eine Zeit, in der solche Veranstaltungen alltäglich gewesen waren. Es war, als hätten alle Schüler der Akademie ihre eigentlichen Fassaden abgelegt und stattdessen eine andere, polierte Version von sich offengelegt. Ich liebte diese Feste. Das rief ich mir wieder und wieder in Erinnerung, während ich versuchte, meinen rasenden Puls zu beruhigen.
»Zoey?«, fragte Violet erneut und riss mich aus meinen Gedanken.
Hastig wandte ich mich zu ihr um. »Du hast recht. Es ist atemberaubend.«
Sie erwiderte mein Lächeln und hielt mir den Arm hin, damit ich mich bei ihr unterhaken konnte.
Nebeneinander schritten Violet und ich die geschwungene Treppe hinab. Vorsichtig setzten wir einen Fuß vor den anderen, wobei ich jedes Mal den langen Saum meines Kleides ein Stück nach vorn kickte, um nicht zu stolpern. Nach einigen Sekunden machte sich ein Kribbeln in meinem Nacken bemerkbar. Und als dieses mit jedem Schritt intensiver wurde, nahm ich wahr, dass die Person, nach der ich mich am meisten sehnte, zu mir aufblickte. Also drückte ich die Schultern noch ein Stück nach hinten und versuchte, so anmutig wie möglich hinunterzuschreiten.
Erst am Ende der Treppe wagte ich es, aufzusehen. Als ich das tat, verschlug es mir eine Sekunde lang den Atem. Mein Herz machte einen Satz, als Beaus Blick meinem begegnete. Etwas Dunkles flammte darin auf, das meinen Puls erneut zum Rasen brachte – diesmal jedoch aus ganz anderen Gründen.
Genau deshalb hatte ich dieses Kleid ausgewählt. Na gut, auch, weil ich als amtierende Miss Everfall das Diadem an die diesjährige Gewinnerin überreichen musste und daher ohnehin im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen würde, aber Beau scharf zu machen, war auf jeden Fall ein nennenswerter Bonus. Wie es aussah, war die Mission geglückt.
Sein Blick glitt über meinen Körper; erst über mein honigblondes Haar, das in einem aufwendigen lockeren Knoten nach hinten gesteckt worden war und aus dem sich einige Strähnen um mein Gesicht wellten, dann über den Herzausschnitt des Kleides, das mit einem komplexen Muster aus Pailletten und Stickereien versehen war. Als sein Blick weiter an mir hinab wanderte und noch dunkler wurde, schoss Hitze in meine Wangen. Er wirkte, als würde er mich lieber ohne das Kleid sehen, was bloß dafür sorgte, dass ich die letzten Stufen am liebsten hinabgesprungen wäre und mich auf ihn gestürzt hätte. Aber ich bemühte mich darum, meine Schritte gleichmäßig zu halten und jene Eleganz an den Tag zu legen, die mir meine Mutter seit siebzehn Jahren einbläute, als hinge mein Leben davon ab.
Einer Nachfahrin Cliodhnas liegt Eleganz und Anmut im Blut, Zoey. Sie strahlt es von innen nach außen, mit allem, was sie hat, und allem, was sie ist.
Zwar war meine Magie noch nicht erwacht, aber laut den Leuten in meinem Umfeld war das bloß noch eine Frage der Zeit. Ganz besonders, wenn es nach meiner Mutter ging. Denn sie war der festen Überzeugung, dass ich endlich die Fähigkeit meiner Blutlinie erlangen würde, wenn ich mich nur gut genug benähme. Cliodhna war unter den Tuatha De Danann die Göttin der Schönheit und Liebe. Es hieß, sie habe heilende Kräfte besessen, die durch ihre Stimme und Berührung hervorgerufen wurden. Cliodhna war sanft, aber unglaublich mächtig gewesen, ihre Schönheit so betörend, dass alle in ihrer Gegenwart in ihren Bann gezogen wurden. Bei Cliodhnas Nachfahren konnten sich verschiedene Kräfte entwickeln, so wie es bei fast allen Nachkommen der Tuatha De Danann der Fall war, die über mehr als eine Kraft verfügt hatten. So war in meiner Familie vor allem die heilende Macht vorhanden, und das schon seit Jahrhunderten.
Selbst wenn ich zwischendurch daran zweifelte, dass meine Magie bald erwachte, wollte ich meine Familie stolz machen. Auf manchen von uns lastete ein deutlich schwereres Gewicht als auf anderen. Auch das war eine der Tatsachen, die Mum mir immer einprägte.
Mit Mühe verdrängte ich die Gedanken an meine Mutter und betrachtete stattdessen meinen Freund. Beau kannte den Druck, der auf einem lastete, wenn man in eine der Ratsfamilien der Tuatha De Danann geboren wurde, und das war einer der Gründe, weshalb wir diese enge Bindung miteinander teilten. Jedes Mal, wenn wir uns ansahen, jedes Mal, wenn wir einander berührten, war da dieses Urvertrauen, das wir ineinander hatten. So auch jetzt.
Der Blick aus seinen blauen Augen traf auf meinen, und Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln, während er mich anlächelte. Ich spürte, wie sofort ein kleines Stück der Anspannung von mir abfiel. Beau war hier. Selbst wenn ich vor Nervosität umkippen sollte oder mich in die nächste Blumenvase erbrach – er war hier und würde mich auffangen. Ich gestattete mir, ihn einer ebenso intensiven Betrachtung zu unterziehen, wie er es zuvor bei mir getan hatte. Er hatte sich genauso sehr in Schale geworfen wie alle anderen Gäste des Sternennachtballs. Sein schwarzer maßgeschneiderter Anzug schmiegte sich an seine von den vielen Übungskämpfen breit gewordene Statur und die schmal zulaufende Taille; sein dunkelblondes Haar war mit Gel locker nach hinten gestrichen, was eine totale Abwechslung zu der Wuschelfrisur war, die er sonst immer trug, und er hatte sich rasiert. Eigentlich mochte ich die rauen Stoppeln auf seinen Wangen, aber so gefiel er mir auch außerordentlich gut. Je länger ich ihn ansah, desto wärmer wurde mir.
»Wenn ihr fertig damit seid, euch gegenseitig mit Blicken auszuziehen, würde ich mich freuen, wenn wir unsere Hintern langsam in Richtung Tanzfläche bewegen. Es wird Zeit«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme direkt neben uns, und ich zog die Nase kraus.
»Geht klar, Vi«, sagte Beau, schlang aber gleichzeitig einen Arm um meine Taille, um mich an seine Seite zu ziehen. Ich liebte die Gewissheit, mit der er das tat. Vor einem Jahr hätte er sich dagegen nämlich noch gesträubt. Es hatte gedauert, bis er dazu bereit gewesen war, sich auf eine ernsthafte Beziehung einzulassen. Beau wollte nie, dass wir die Freundschaft, die uns seit Kindertagen verband, aufs Spiel setzten. Aber schlussendlich hatte das Knistern zwischen uns überhandgenommen. Seit jener Nacht kurz vor dem letzten Ball, in der wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, waren wir unzertrennlich.
»Fabelhaft, Maguire«, sagte Violet und strich sich eine ihrer seidig glatten, schwarz glänzenden Strähnen hinters Ohr. Sie hatte sich bereits bei ihrem Date, einem süßen Typen namens Eoin aus dem Abschlussjahrgang, untergehakt und blickte zwischen uns und der Tanzfläche hin und her. Dort nahmen schon die Miss-Everfall-Teilnehmerinnen des letzten Jahres Formation an.
»Was meinst du, Zoey?«, murmelte Beau und senkte den Kopf, bis sein Mund meine Ohrmuschel leicht streifte. Gänsehaut überzog meine Arme. »Bereit für deinen letzten großen Auftritt als Diademträgerin?«
Ich unterdrückte ein Grinsen. »Du freust dich doch nur, dass ich ab sofort mehr Zeit für dich habe.«
Als amtierende Miss Everfall hatte es im vergangenen Jahr zu meinen Aufgaben gehört, den neuen Teilnehmerinnen als Mentorin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Nach heute Abend würde diese Rolle an die neue Miss Everfall übergehen, und auch wenn Violet und ich nach wie vor einiges im Misswahl-Komitee zu tun hatten, hatte ich ab sofort deutlich mehr Freizeit. Freizeit, die Beau und ich unbedingt nutzen wollten.
»Ich habe dich während deiner Amtszeit liebend gern mit einer Gruppe tollwütiger Sechzehnjähriger geteilt«, murmelte er. »Aber ich kann nicht bestreiten, froh zu sein, dich ab sofort ein bisschen mehr für mich zu haben.«
Ich nickte anerkennend. »Chapeau für diese Ehrlichkeit, Maguire.«
Er zog sich ein Stück zurück und grinste mich schief an. »Zweisamkeit, Zoey. Stell dir nur vor, was wir alles machen können …« Sein Blick ging erneut auf Wanderschaft, doch bevor er mich weiter reizen konnte, legte ich einen Finger unter sein Kinn und zwang ihn, mir wieder in die Augen zu sehen.
»Nach heute Abend gehöre ich dir. Und dann können wir alles tun, was du willst«, wisperte ich. Sein Grinsen wurde breiter und ein Stückchen schmutziger, und in diesem Moment waren sowohl die Übelkeit als auch meine zitternden Hände fast vergessen.
»Alles?«, fragte er.
Ich nickte. »Aber nur, wenn du dich jetzt konzentrierst.«
Ehe ich mich versah, griff Beau nach meiner Hand und zog mich mit mehr Elan als je zuvor in Richtung der Tanzfläche. Ich stieß ein Lachen aus und sah Violet im Vorbeigehen grinsend den Kopf schütteln. Ich hielt an den glücklichen Gesichtern meiner Freunde fest. Konzentrierte mich auf sie und nicht auf die innere Unruhe, die immer noch als leise, aber hartnäckige Stimme in meinem Hinterkopf präsent war und mir zuflüsterte, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Es war ein Fehler, sie so zu ignorieren.
Als die Formation vollständig war und alle Teilnehmerinnen aus dem vergangenen Jahr anwesend, wurde es langsam still im Saal. Die meisten Leute betrachteten Beau und mich eingehend, und als ich die Reihen überblickte, sah ich einige Menschen tuschelnd die Köpfe zusammenstecken. Ich konnte mir nur denken, was sie sagten.
Das ist die Tochter der legendären Calliope King.
Das Mädchen, deren Magie noch nicht erwacht ist, obwohl sie schon siebzehn ist.
Trotzdem hat sie die Wahl im letzten Jahr gewonnen.
Mir war bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis meine Magie erwachte. Doch dieses ständige Warten … Es machte mich wahnsinnig. Ich wollte auch Kranke heilen können, so wie meine Mum. Mithilfe der Magie Leute in meinen Bann ziehen. Egal, welche von Cliodhnas Fähigkeiten es sein würde, mir wäre alles recht. Hauptsache endlich Magie. Aber nein. Als einzige Nachfahrin der Kings brauchte mein Talent eine halbe Ewigkeit, um sich bemerkbar zu machen. Und niemand wurde müde, mich genau daran zu erinnern. Wenn das so weiterging, würde sich selbst Codys Magie früher zeigen, und er war drei Jahre jünger als ich. Normalerweise erwachte die Magie in den Nachfahren der Danu zwischen dem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr – ich war siebzehn und gerade im dritten Schuljahr angekommen, und das bedeutete, dass immerhin schon die Hälfte der Ausbildung an der Everfall Academy vorbei war. Was, wenn meine Magie bis zu meinem Abschluss immer noch nicht erwacht war? Ich hatte bisher von niemandem gehört, bei dem das der Fall gewesen war … aber vielleicht stellte ich eine Ausnahme dar. Eine schreckliche, nichtsnutzige Ausnahme.
Ich versuchte, die Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen und wollte mich stattdessen an das erinnern, was Mum ständig zu mir sagte. Nur, weil die Magie der Danu in den meisten Fällen früher erwacht, bedeutet das nicht, dass du minderwertig bist, Zoey. Also benimm dich auch nicht so.
Habe ich nicht vor, Mum, dachte ich, als das Orchester begann, das Lied zu spielen, zu dem wir wochenlang unseren Tanz einstudiert hatten. Das Licht der Kronleuchter wurde gedimmt, sodass nur die Tanzfläche im Fokus stand. Ich tat das, was ich am besten konnte, und glitt über das Parkett, während mein Freund mich beständig festhielt. Ich versank in den Schrittfolgen und ließ mich von der Musik treiben. Als es zum Partnerwechsel kam, funktionierte selbst das reibungslos. Das war normalerweise die Stelle, bei der Violet und ich uns die Haare rauften, weil es unglaublich schwierig war, den Ablauf der Schritte fließend und ohne Stolpern vonstattengehen zu lassen. Diesmal klappte es aber ohne Zwischenfall, und ich kam nicht umhin, meiner Freundin ein Lächeln zuzuwerfen, das sie genauso erleichtert erwiderte.
Doch als unser Tanz zu Ende war und andere Pärchen auf die Tanzfläche traten, kehrte die Übelkeit plötzlich mit voller Wucht zurück. Es war, als würden sich die Wände drehen, und Hilfe suchend krallte ich mich in Beaus Armen fest. Je länger ich dort stand, desto mehr verschwamm meine Sicht, und ich blinzelte mehrmals hintereinander. Leider half es nicht.
»Alles okay?«, fragte Beau und legte die Hände sanft um meine Oberarme.
»Mir ist schwindelig«, murmelte ich.
Eine Falte bildete sich zwischen Beaus Brauen. Er hob die Hand und befühlte meine Stirn.
»Du glühst ja.« Er sah sich um und deutete dann mit dem Kopf nach links, wo das Buffet aufgebaut war. »Komm. Wir holen dir was zu trinken.«
Ich nickte. Beau klemmte meinen Arm unter seinen und führte mich in Richtung der Bar, an der Getränke ausgeschenkt wurden. Da sich nach der Formation bereits alle Gäste auf die entgegengesetzte Seite des Saals begeben hatten, war es im Moment leer hier. Beau trat an die Bar.
»Gibt es hier eine Möglichkeit, sich kurz zu setzen? Meiner Freundin geht es nicht gut«, erklärte er dem Barkeeper. Dieser begutachtete mich zunächst skeptisch – bis er uns erkannte und schnell nickte. Danach fing er an, ein paar Getränkekästen übereinanderzustapeln und bedeutete mir, hinter die Bar zu kommen. Beau half mir, und ich ließ mich nicht besonders elegant auf den provisorischen Sitz fallen. Wenn meine Mutter das gesehen hätte, hätte sie mich übel getadelt. Ich konnte von Glück reden, dass sie nicht anwesend war.
»Hier«, sagte Beau und hockte sich vor mich, um mir ein Glas Wasser zu reichen.
Mit bebenden Fingern nahm ich es entgegen, wobei ich aufpassen musste, nichts zu verschütten. Schnell trank ich ein paar Schlucke. Zwar fühlte ich mich nicht wirklich besser, aber ich rang mich trotzdem zu einem Lächeln durch. »Danke.«
Er erwiderte mein Lächeln nicht. Stattdessen war immer noch diese kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die ihn viel zu ernst wirken ließ. »Seit wann fühlst du dich so?«
Ich druckste eine Weile herum, aber als er nicht aufhörte, mich so eindringlich anzusehen, seufzte ich leise. »Es hat gestern angefangen.«
»Wieso hast du nichts gesagt?«, fragte er weiter. Ich zuckte nur mit den Schultern.
»Weil ich dachte, es läge an der Aufregung.«
»Gibt es sonst noch irgendwelche Symptome? Außer Schwindel und Fieber, meine ich?«
Ich runzelte die Stirn und trank einen weiteren Schluck. Die Wände drehten sich langsamer. Ich war froh, hier sitzen zu können. Auch der Barkeeper war kurz verschwunden, um uns Freiraum zu geben. Einer der Vorteile, wenn man zu den Ratsfamilien gehörte – die Leute erfüllten einem nahezu jeden Wunsch, wenn sie dachten, dass sie das mit dem Rat der Danu gut stellte.
»Im Moment nicht. Wieso fragst du?« Beau senkte den Blick zu Boden, und hinter seinen Augen konnte ich es arbeiten sehen. Es dauerte eine Sekunde, bis er mich wieder ansah. »Es könnten Zeichen sein«, sagte er nach einer Weile. »Dafür, dass deine Magie erwacht.«
Ruckartig setzte ich mich auf. All die Dinge, die ich in den Jahren vor meiner Zeit an der Everfall Academy gelernt hatte, schossen mir durch den Kopf. Manche Leute wurden von dem jähen Erwachen ihrer Magie regelrecht überwältigt, sodass ihr Körper sich zunächst an die Kraft gewöhnen musste.
»Du hast recht«, sagte ich langsam.
»Natürlich habe ich recht. Ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass es dir so gehen würde. Weißt du noch, wie es bei Violet war?«
Ich nickte. Violet und ihr großer Bruder Cree stammten von zwei verschiedenen Blutlinien ab. Während Cree die Kampfbegabung des Gottes Nuada geerbt hatte, besaß Violet aufgrund der Blutlinie des Heilers und Pflanzenmagiers Dian Cecht die Kraft von Pflanzen und konnte sie mit ihrem Willen steuern.
Violet war vor knapp zwei Jahren morgens aufgewacht und hatte sich so mächtig gefühlt, dass sie ganz beflügelt durch den Tag gegangen war – bis ihr in den Schulfluren aufgefallen war, dass die Pflanzen von draußen nach innen wuchsen, nur um näher bei ihr zu sein. Es war vollkommen verrückt, dass ihre Kraft direkt am ersten Tag derart ausgewachsen gewesen war, aber auf der anderen Seite war Violet genau wie Beau und ich Mitglied einer Ratsfamilie. Und diese waren seit Anbeginn der Zeit bekannt für ihre mächtigen Fähigkeiten.
»Die Pflanzen konnten gar nicht genug von ihr bekommen. Sie sind regelrecht durchgedreht und haben sogar ein paar Fenster zerbersten lassen.«
»Ich dachte, bei dir würde es ähnlich werden, und nicht, dass du krank wirst«, resümierte Beau.
Ich wollte mich gerade bei ihm für sein unermessliches Vertrauen in meine Fähigkeiten bedanken, als ein unangenehmes Fiepen durch die Lautsprecher im Saal ertönte. Beau und ich drehten uns gleichzeitig in Richtung der Bühne, auf die, wie ich mit Erschrecken feststellte, soeben Sylvia Walsh trat. Sie war die Vorsitzende des Miss-Everfall-Komitees, und es sah aus, als würde sie jeden Moment mit der Zeremonie beginnen wollen. Ich stieß einen unterdrückten Fluch aus und stand schnell auf – zu schnell. Sofort fingen die Wände wieder an, sich zu drehen. Sanft, aber bestimmt schob Beau mich zurück auf die Kisten.
»Ich gebe schnell Bescheid, dass du noch einen Moment brauchst.«
Ehe ich protestieren konnte, beugte er sich vor und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Dann verschwand er eiligen Schrittes und begab sich auf die andere Seite des Saals, wo ich ihn in der Menge aus den Augen verlor. Mir blieb nichts weiter übrig, als sitzen zu bleiben.
Ich legte den Kopf in den Nacken und trank das Wasser aus. Eben noch hatte ich Panik verspürt, aber jetzt kam mir dieses unangenehme Gefühl nicht mehr ganz so schlimm vor. Nicht, wenn es bedeutete, dass ich bald endlich die Gewissheit hatte, in die Fußstapfen meiner Mutter treten zu können. Ich beugte mich zur Seite, stellte das Glas ab und schloss dann die Augen.
Ich versuchte, es mir vorzustellen. Wie es wäre. Wie es sich anfühlen würde, wenn die gleißende Macht Cliodhnas durch meine Adern strömte. Wie es wohl wäre, jemanden von der Schwelle des Todes zu retten und ihn sicher und wohlbehalten zu seiner Familie zurückzubringen? Oder Leute mithilfe der eigenen Schönheit und Ausstrahlung in den Bann zu ziehen?
Konzentriert zog ich die Augenbrauen zusammen und fokussierte meine gesamte Aufmerksamkeit auf mein Inneres. Ich versuchte, in mir nach dieser Macht zu graben. Ein kaum spürbares Kribbeln machte sich in meinem Magen bemerkbar, und für einen Moment glaubte ich, dieser Macht schon etwas näher zu sein. Ich atmete tief ein und bemühte mich, noch intensiver in die Konzentration zu gehen.
Plötzlich riss mich ein Klirren aus dem Fokus, und ich zuckte zusammen. Ich blickte auf – und wünschte sofort, ich hätte es nicht getan.
Hinter der Bar stand Dylan Dae Park. Exakt in diesem Moment entdeckte er mich auf den Getränkekisten. Das war nun wirklich das Letzte, was ich an diesem Abend gebrauchen konnte. Zwar kannte ich ihn nicht besonders gut, aber ich wusste genau, dass man ihn besser nicht zu lange anstarren sollte, wenn einem das eigene Leben lieb war.
Dylan war ein Nachfahre des großen Dagda, einem der mächtigsten Götter der Tuatha De Danann. Dagda war einst derjenige gewesen, der über alles gebot: die Zeit, die Jahreszeiten, das Wetter, aber auch Leben und Tod. Manche Nachfahren der Danu trugen einen Splitter der lichten Seite dieser ursprünglichen Macht in sich. Leute wie Beau, Violet und ich, die an der Everfall Academy im Haus der Golden Leaves – dem Haus des Lebens – unterkamen und dementsprechend ausgebildet wurden. Andere Schüler hingegen besaßen eine besondere Begabung für Kunst und Handwerk – diese wurden dem Haus der Bronze Wolves zugeteilt. Und dann gab es noch das dritte Haus. Die Silver Ravens – das Haus des Todes.
Dort lebten Leute wie Dylan Dae Park, also diejenigen, die einen Splitter der Dunkelheit abbekommen hatten. Denn Dylan war ein Reaper. Ein Todbringer, der die Seelen Verstorbener ins Jenseits begleitete. Jemand, der die Fähigkeit besaß, dem Körper in einem Kampf die Seele zu entreißen, was ihn zu einer der gefährlichsten Personen an der Akademie machte. Und somit jemand, von dem man sich besser fernhalten sollte, wenn man wie ich von einer Blutlinie abstammte, deren Fähigkeit darin bestand, Leben zu schenken, statt es zu nehmen.
Unzählige Gedanken rasten durch meinen Kopf, und ich fragte mich, ob es ihm genauso ging. Er musterte mich nämlich mindestens so kritisch wie ich ihn. In diesem Moment wünschte ich mir, ich wüsste mehr über ihn als nur die Tatsache, dass er ein Reaper war, seine Kraft schon im Kindesalter und somit erstaunlich früh entwickelt hatte, und dass er koreanische Wurzeln hatte. Denn so hätte ich mich in dieser Situation, wo er von oben auf mich niederblickte, vielleicht ein klein wenig sicherer gefühlt.
Ich konnte nicht bestreiten, dass Dylan auf eine raue Art schön war, mit seinem wie in Stein gemeißelten Gesicht, den dunklen, immer ernst blickenden Augen und dem schwarzen, längeren Haar, das ihn zusammen mit dem silbernen Piercing in seiner Nase wie den Regelbrecher schlechthin wirken ließ. Gleichzeitig wurde dieser Eindruck durch seine steife Haltung wieder wettgemacht. Ich war ihm schon manchmal auf den Fluren im Akademiegebäude begegnet und wusste, dass die Leute meistens einen großen Bogen um ihn schlugen. Das lag neben seiner gefährlichen Gabe auch an der Tatsache, dass er riesig war und generell immer so angespannt aussah, als wäre er jederzeit dazu bereit, einem an die Gurgel zu gehen.
Hätte er eine andere Fähigkeit gehabt, wären wir vielleicht Freunde geworden. Schließlich konnte man nie genug Freunde haben, die anderen Respekt einflößten und im Notfall für einen in die Bresche sprangen. Doch das Schicksal hatte einen gegenteiligen Weg für ihn vorgesehen. Einen dunklen, der ihn konstant mit dem Tod in Berührung brachte – was der Grund dafür war, dass er meines Wissens nach selbst in seinem eigenen Haus nicht besonders viele Freunde hatte. Mit einem Reaper wollte niemand befreundet sein, der an seinem Leben hing. In der Geschichte der Danu hatte es immer wieder Gerüchte über Reaper gegeben, die sich dem Sog ihrer Magie nicht entziehen hatten können und völlig der Dunkelheit verfallen waren, indem sie wahllos Seelen geraubt hatten. Es war wohl nicht so leicht, über so viel Macht zu verfügen und diese nicht kaltblütig auszunutzen.
Ich ließ meinen Blick an seinem schwarzen, für den Ball echt unangemessenen Langarmshirt hinabwandern und entdeckte die Sektflaschen, die er unter seinen Arm geklemmt hatte. Dann begriff ich. Dylan war nicht auf dem Ball, weil er so gern tanzte. Er war hier, um sich an den Freigetränken zu bedienen und irgendwo eine kleine Privatparty zu schmeißen.
»Dabei solltest du dich lieber nicht erwischen lassen«, sagte ich mit einem Nicken auf die Flaschen. Es war das erste Mal, dass ich mit ihm redete, und ich fragte mich unwillkürlich, was in mich gefahren war. Wahrscheinlich hatte das Fieber jegliche Schutzwälle weggebrannt.
Ein paar Sekunden lang sah er mich bloß stumm an. Sein Blick zuckte zum Ausgang und zurück zu mir. »Zu spät«, erwiderte er. »Die Frage ist nur, ob du Stillschweigen wahren kannst.«
Allmählich wurde es unangenehm, so unter ihm zu sitzen, also stand ich auf. Sofort war der Schwindel wieder da, und ich machte einen Schritt zur Seite, um mich an dem provisorisch aufgebauten Tresen festzuhalten. Als ich erneut zu ihm sah, realisierte ich erst, wie riesig er wirklich war. Er überragte mich mehr als Beau, mit Sicherheit war er fast eins neunzig groß.
»Du musst schon zugeben, dass es ein klein wenig unverschämt ist, Getränke zu klauen, ohne am Ball teilzunehmen.«
Dylan sah an mir hinab, wobei sein Blick eine Sekunde zu lange an meiner Schärpe hängen blieb. Sein Mundwinkel zuckte kaum merklich, und in dieser Regung erkannte ich puren Spott.
»Was wirst du tun, Miss Everfall? Mich der Schulleitung melden?« Seine Stimme klang ruhig und besonnen; es war offensichtlich, dass er mich für eine Witzfigur hielt.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht mache ich das.«
Dylans Gesichtsausdruck blieb unbeteiligt. Doch dann, innerhalb eines Wimpernschlags, verklärte sich sein Blick. Dort, wo eben noch ein dunkles Braun zu sehen gewesen war, war es nun, als würde eine Art Nebel über seinen Augen liegen. Einen Moment lang wirkte er wie weggetreten. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde, dennoch sorgte es dafür, dass ein unangenehmer Schauer über meinen Körper rieselte. Seine Brauen verzogen sich dicht über seinen Augen. Dann schüttelte er kurz den Kopf, blinzelte, und alles war wie vorher. Als er mich diesmal ansah, kehrte der Spott zurück in seinen Blick.
»Tut, was Ihr nicht lassen könnt, Hoheit.« Er deutete eine knappe Verbeugung an, dann drehte er sich auf dem Absatz um, schnappte sich im Vorbeigehen eine weitere Flasche Sekt und lief in Richtung Ausgang davon.
Ich biss die Zähne fest zusammen und hätte am liebsten irgendeinen Gegenstand genommen, um ihn Dylan an den Kopf zu werfen, aber dafür war er leider zu schnell verschwunden. Zum Glück tauchte Beau in diesem Moment wieder auf. Er hielt mir auffordernd den Arm entgegen und erleichtert hakte ich mich unter.
»Ich habe Mrs Walsh Bescheid gegeben, sie weiß, dass du gleich kommst«, sagte er. Ich drückte seinen Arm in stummer Dankbarkeit. Dann durchquerten wir den Saal in einem langsamen, stetigen Tempo.
Inzwischen hoffte ich einfach nur, diesen Abend heil zu überstehen. Ob meine Magie nun erwachte oder nicht – ich fühlte mich immer noch zittrig, mir war schlecht, und das schöne Kleid war mittlerweile total durchgeschwitzt. Daran hatte auch das Glas Wasser leider nichts ändern können.
Mrs Walsh hatte sich bereits in Position gebracht. Sie war eine hübsche Frau Anfang sechzig, mit stahlgrauen, perfekt frisierten Haaren und einem bordeauxroten, schulterfreien Kleid, das eng an ihrem Körper anlag. Vor fünfundvierzig Jahren war sie Miss Everfall gewesen, und seitdem setzte sie sich für das Komitee und die Teilnehmerinnen der Wahl ein. Sie hatte uns während der Vorbereitungen des Balls unterstützt und uns Tanzstunden und anderen Unterricht gegeben. Ich mochte sie sehr, obwohl sie eine knallharte, strenge Lady war. Sie testete kurz, ob das Mikrofon funktionierte, und ihr Räuspern tönte laut durch den Saal.
»Guten Abend, Schüler und Schülerinnen, wertes Kollegium.« Sie überblickte die gesamte Menge, und ein strahlendes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Liebe Teilnehmerinnen. Ihr habt uns im vergangenen Jahr mit eurem Talent verzaubert und durch enormes Engagement bewiesen, wie couragiert ihr euch für das Wohl der Akademie einsetzt. Einen Applaus dafür.«
Sie hob ihre Hände ans Mikrofon, und Applaus brandete in der Menge auf. Beau und ich hatten inzwischen ein gutes Stück des Weges geschafft, von hier aus konnte ich bereits Violet sehen. Jeder Schritt sorgte dafür, dass die Übelkeit schlimmer wurde. Wieder und wieder rief ich mir ins Gedächtnis, dass ich nur noch das Diadem abgeben und diese paar Minuten überstehen musste, bevor ich diesen Saal endlich verlassen konnte. Doch mit jedem Schritt fühlte es sich so an, als würde ich immer weiter auf mein Verderben zustürzen. Das konnte unmöglich meine Magie sein.
Schließlich kamen wir bei der Bühne an, und ein Rauschen dröhnte in meinen Ohren, das dafür sorgte, dass ich Mrs Walshs Worte kaum noch verstehen konnte. Auch als Beau mir noch etwas zumurmelte, hörte ich es nicht richtig. Violet reichte mir das Samtkissen, auf dem das mit feinen goldenen Ranken geschmückte Diadem lag, das im letzten Jahr mir gehört hatte. Als ich es entgegennahm, schnürte sich meine Kehle zu, und meine Haut fühlte sich an, als würden Tausende kleiner Nadeln darauf einstechen. Ich blinzelte mehrmals, atmete tief ein und aus, so wie ich es vorhin versucht hatte, doch es half nicht. Das Einzige, was ich machen konnte, war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Stufen zur Bühne nach oben zu gehen. Neben Mrs Walsh zu treten, so wie wir es geübt hatten. Den Kloß in meiner Kehle mit Gewalt zu verdrängen.
Ich musste mich zusammenreißen.
Ich musste einfach.
Ich realisierte kaum, was um mich herum geschah. Mrs Walsh trat beiseite, und dann war es an mir, meine Rede zu halten und das Diadem zu übergeben. Nur mit schierer Willenskraft schaffte ich es, mir das Zittern meiner Hände nicht anmerken zu lassen. Das Licht im Saal wirkte mit einem Mal viel zu grell, die sanfte Melodie des Orchesters donnerte in meinem Kopf wie ein Vorschlaghammer.
Ich überblickte das Publikum, räusperte mich und fing an, den Text vorzutragen, den ich auswendig gelernt hatte. »Miss Everfall zu sein, ist eine der größten Auszeichnungen, die man sich an dieser Akademie erkämpfen kann. Miss Everfall zu sein bedeutet Mut zu zeigen, offen gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen und sich für das Gute starkzumachen. Ich …« Die Ränder meines Sichtfelds verdunkelten sich. Wieder blinzelte ich hektisch, doch alles verschwamm vor meinen Augen. Ich fürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden, aber ich kämpfte dagegen an. Nur noch eine Minute, höchstens. Ich konnte durchhalten, wenn ich mich nur genug anstrengte.
»Im vergangenen Jahr habe ich versucht … Ich habe versucht, für …«
Die Geräusche um mich herum wurden dumpf, und meine Worte verklangen im Saal. Ich konnte nicht mehr weitersprechen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich sah mich im Saal um, konnte aber nicht begreifen, was gerade passierte.
Vom einen auf den nächsten Moment verlor die Welt an Farbe.
All die wunderschönen Kleider, all die Gäste im Saal wirkten ausgebleicht, beinahe, als hätte jemand sämtlichen Kontrast aus dem Raum gesogen. Ich erkannte niemanden mehr. Ein Gesicht glich dem anderen, jeder Mensch im Raum schien grau, blass und verschwommen, und das Rauschen in meinen Ohren übertönte alles. Wirr zuckte mein Blick hin und her. Es war, als würde mein Körper krampfhaft nach einem Anker suchen. Nach etwas, an dem er sich festklammern konnte.
Dort.
Da war jemand. Eine Person, die aus der Menge hervorstach. Eine Person, die im Gegensatz zu allen anderen nicht an Farbe verloren hatte und völlig normal für mich aussah. Erleichterung wallte in mir auf.
Mitten im Publikum konnte ich einen Jungen erkennen, der mich mit weit aufgerissenen Augen ansah. Er wirkte wie ein Schüler aus dem ersten Jahr, war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ich. Er hatte braunes Haar und trug einen weißen, zerknitterten Anzug über einem dunkelgrünen Hemd. Als mein Blick auf seinen traf, verschwand mit einem Mal das Rauschen in meinen Ohren, genauso wie das Pochen in meinem Kopf, und es kam mir vor, als hätte ich ein Heilmittel für die Qual gefunden, die mich schon seit gestern fest mit ihren Klauen umklammerte.
Sein Blick hielt meinem stand. Nach und nach wurde meine Erleichterung durch etwas anderes ersetzt. Tief in meinem Magen verknotete sich alles. Eine unsägliche Kälte erfasste Besitz von mir. Vor Schmerz krampfte sich mein Herz zusammen. Mir war zuerst nach Weinen zumute, danach wollte ich etwas zerstören vor Zorn, und mich anschließend in einer Ecke zusammenzurollen, einfach nur, um dieses Elend zu überstehen. Während mich die Eiseskälte förmlich lähmte, wandelte sich der Gesichtsausdruck des Jungen. Die gesunde Röte verschwand aus seinen Wangen. Sein Gesicht wurde blasser, immer blasser, bis jegliches Blut daraus gewichen war und seine Haut so bleich wurde wie Schnee. Er runzelte die Stirn und presste sich eine Hand auf den Brustkorb. Mit einem Mal lief sein Gesicht rot an und er stieß ein gequältes Keuchen aus. Er sagte etwas, aber ich verstand ihn nicht. Als er wieder den Mund öffnete, war das Einzige, was daraus hervorkam, ein trockenes Röcheln.
Dann setzte der Schmerz ein.
Der Junge krümmte sich zusammen und würgte, und in der Sekunde, als er das tat, erfasste meinen eigenen Körper eine solch brennende Pein, dass meine Haltung ein Spiegelbild der seinen wurde. Es war, als würden meine Eingeweide von innen heraus zerreißen, und ich wimmerte vor Schmerz.
Plötzlich taumelte der Junge auf der Stelle. Wieder sah er zu mir, nur diesmal kam es mir beinahe vor, als würde er sich Hilfe von mir erhoffen. Doch bevor ich die Hand ausstrecken oder irgendetwas anderes tun konnte, knickten die Beine des Jungen ein, und er sackte in sich zusammen. Mein Körper tat es ihm gleich. Die Knie gaben unter mir nach, und ich sank zu Boden. Ich wollte etwas sagen, um Hilfe rufen, aber kein Wort verließ meine Kehle. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen, und ich wiegte mich vor und zurück. Nichts würde mir je wieder helfen, das wurde mir in dieser Sekunde bewusst. Genauso wie dem Jungen in der Menge. Wir waren verloren.
Von jetzt auf gleich erfasste ein Beben meinen Körper. Ich wurde von einer schier unbändigen Kraft gepackt, die den Schmerz in meinem Inneren verdrängte. Meine Muskeln spannten sich bis zum Zerreißen an. Etwas baute sich in meiner Kehle auf. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, mich von der Stelle zu rühren, aber es funktionierte nicht; ich war wie festgefroren. Das Einzige, was ich vermochte, war, wieder zu dem Jungen zu sehen.
Der Junge, der dort auf dem Parkett lag. Der mich mit seinem stummen, gequälten Blick um Hilfe anflehte. Der sich immer heftiger zusammenkrümmte und die Hände immer wieder auf seinen Brustkorb presste. Dessen Blick immer glasiger wurde. Der Junge, der schließlich seinen letzten Atemzug tat und regungslos liegen blieb.
Eine Energiewelle brach aus mir hervor, die den gesamten Saal erschütterte. Endlich erwachte mein Körper aus der Starre, doch nichts bereitete mich auf das vor, was als Nächstes geschah.
Ein markerschütternder Schrei erklang. Ein schrilles Wehklagen, das immer lauter wurde, bis es in meinen Ohren klingelte und ich mir am liebsten die Hände darauf gepresst hätte. Ein Schrei, der so gellend war, dass die Kronleuchter zerbarsten und Scherben auf das Parkett rieselten wie Platzregen. In meiner Brust ging etwas mit genau derselben Heftigkeit zu Bruch. Eine Macht jagte durch mich hindurch, die alles in ihrem Umfeld niederriss und dabei kein Erbarmen kannte. Der Boden unter meinen Füßen bebte, als ich realisierte, dass ich diejenige war, die diese fürchterlichen Geräusche von sich gab.
Ich konnte nicht aufhören. Nicht, als die Welt langsam wieder an Farbe gewann. Nicht, als ich auf die Leiche des Jungen starrte, neben der sich eine dunkle Gestalt aufbaute, die einen Arm ausstreckte und den Jungen an der Schulter berührte. Nicht, als Beau sich vor mich kniete und seine Arme schützend um mich schlang.
Ich schrie, bis jegliche Energie aus mir herausgeflossen und nichts mehr übrig war als bittere Dunkelheit.
Mein Schädel pochte wie verrückt. Ich hob die Hand an meine Stirn und rieb darüber. Dann versuchte ich vorsichtig, die Augen zu öffnen. Nachdem ich ein paarmal geblinzelt hatte, gewöhnte ich mich an die Dunkelheit. Das Erste, was ich sah, war die weiße Decke über mir. Als ich den Kopf zur Seite drehte, erkannte ich neben mir eine Reihe von Betten, die alle mit weißer, steril wirkender Bettwäsche bezogen waren. Direkt an meinem Bett stand ein kleiner silberner Wagen mit Verbänden und anderem verpackten Zubehör.
Offensichtlich befand ich mich in der Krankenstation der Everfall Academy.
Ich versuchte, den Nebel in meinen Gedanken zu lichten. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt, und ein übler Geschmack lag mir auf der Zunge. Während ich nachdachte, sah ich zur anderen Seite des Raumes, wo sich eine breite Fensterfront erstreckte. Die schweren dunkelgrauen Vorhänge waren zugezogen und nur durch einen Spalt konnte ich erkennen, dass draußen helllichter Tag war.
Ich konnte mich nicht erinnern, was geschehen war. Also kniff ich die Augen zu und grub in meinem Kopf. Nach und nach fügten sich Bilder zusammen, die zunächst keinen Sinn ergaben.
Ich war beim Sternennachtball gewesen, und ich wusste auch noch, dass ich mich krank gefühlt hatte … aber danach gähnte ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis.
Von weiter hinten im Raum ertönte ein leises Scharren. Ich versuchte, mich aufzusetzen, und entdeckte Heiler Sheehan, den Leiter der Krankenstation. Er war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit einem braunen Lockenkopf und warmen braunen Augen, deren Wärme jedoch durch eine harte Unnachgiebigkeit im Rest seines Gesichts wettgemacht wurde. Heiler Sheehan war bekannt für seine Strenge und die fiesesten Prüfungen aller Zeiten. Ich hatte in jedem Semester mindestens einen seiner Kurse belegt, auch wenn er mich und meine Mutter nicht ausstehen konnte. Er war ein begnadeter Heiler, mir war es jedoch nur recht, dass er der Blutlinie Airmeds angehörte. Obwohl beide Linien heilende Magie wirken konnten, unterschieden sich unsere Blutlinien dennoch in ihrer Ausführung.
Es hieß, als Airmed am Grab ihres Bruders Miach, der von ihrem Vater Dian Cecht aus Rachsucht getötet worden war, Tränen vergossen hatte, waren über dreihundert verschiedene Sorten heilender Kräuter um das Grab herum gewachsen, die selbst heute noch von unseresgleichen genutzt wurden, um schwere Wunden und Krankheiten zu heilen. Aber da Cliodhnas Nachfahren vor allem mit Zaubersprüchen und der Magie in ihrem Inneren arbeiteten, mussten sich Airmeds Nachfahren das komplexe Wissen um die Kräuter zunächst jahrelang aneignen und konnten nicht mit bloßem Handauflegen heilen. So herrschte zwischen beiden Blutlinien an der Akademie eine unausgesprochene Rivalität, die sich bei Violet und mir jedoch nie gezeigt hatte, da wir von Kindesbeinen an befreundet gewesen waren. Somit hatte es gar nicht erst dazu kommen können. Allerdings bevorzugte Sheehan Violet aufgrund ihrer ähnlichen Fähigkeiten, und das ließ er mich in jedem seiner Kurse deutlich spüren.
Heiler Sheehan war besonders im Bereich der Botanik versiert und konnte damit so ziemlich jede Wunde heilen, auch wenn er es nicht so schnell bewerkstelligen konnte wie meine Mum mit ihren heilenden Händen. Jedoch kannte sich niemand besser aus mit magischen Kräutern, Tränken und Medikamenten, und ich kam nicht umhin, ihn widerwillig für seine Fähigkeit zu bewundern, auch wenn ich das niemals laut zugegeben hätte. Gerade als ich mich bemerkbar machen wollte, drehte er den Kopf und entdeckte, dass ich mich aufsetzte.
»Ah, Sie sind wach«, sagte der Heiler und kam strammen Schrittes auf mich zu.
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch alles, was herauskam, war ein trockenes Röcheln. Im nächsten Moment wurde mein Körper von einem Hustenanfall geschüttelt. So heftig, dass mir Tränen in die Augen schossen. Mein ganzer Körper krümmte sich, und mit der Hand umfasste ich meine Kehle. Sie fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen. Panisch blickte ich zu dem Heiler auf, der sogleich neben mich trat.
»Hier, trinken Sie.«
Er reichte mir ein schmales Glas, das mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.
Sofort legte ich den Kopf in den Nacken und trank. Entgegen meiner Erwartung handelte es sich bei dem Gebräu nicht um bittere Medizin. Stattdessen schmeckte es unglaublich süß und erinnerte mich ein bisschen an Honig gemischt mit einer blumigen Note. Ich leerte das ganze Glas, und das brennende Gefühl in meiner Kehle ließ binnen weniger Sekunden nach. Erschöpft sank ich zurück in die Kissen. Ich blickte den Heiler an und ergriff erneut das Wort, diesmal jedoch weitaus vorsichtiger.
»Was ist passiert?« Meine Stimme klang, als hätte ich sie seit Monaten nicht benutzt. Mein Rachen und Hals schmerzten bei jeder Silbe, und das brennende Gefühl setzte wieder ein, wenn auch nicht ganz so stark wie zuvor.
»Es gab einen Vorfall beim Ball. Können Sie mir sagen, woran Sie sich erinnern?«
Ich erwiderte den Blick seiner dunklen Augen, und ein ungutes Gefühl überkam mich. Wieder berührte ich vorsichtig meinen Hals. Als ich es diesmal tat, fluteten Bilder meinen Kopf.
Wie ich auf die Bühne gegangen war.
Wie das Diadem in meinen Händen gebebt hatte.
Wie die Welt langsam an Farbe verloren hatte, bis ich nichts mehr gesehen hatte, bis auf eine einzige Person.
Und letztlich … der Junge, der direkt vor meinen Augen gestorben war.
Mit einem Mal waren meine Gedanken nur noch von diesem einen Bild erfüllt: wie der Junge langsam zu Boden sackte und das Leben aus ihm herausfloss, bis nichts mehr übrig war.
Mein Herz pochte schmerzhaft. Obwohl ich in dieser Welt groß geworden war und einiges an Theorie gelernt hatte, was das Erwachen der Magie betraf, schien das alles keinen Sinn zu ergeben. Hatte ich vielleicht eine Art Vision oder Fiebertraum gehabt?
Unzählige Fragen türmten sich in meinem Kopf, aber ich rief mir ins Bewusstsein, wer ich war. Was für einen Ruf meine Familie und ich zu verlieren hatten, sollte ich jetzt aus der Fassung geraten. Dass ich zusammengebrochen war, war schon peinlich genug gewesen. Ich durfte jetzt nichts von wirren Visionen erzählen oder sonst irgendetwas, das dafür sorgen könnte, dass man mich für verrückt erklärte. Also räusperte ich mich, wobei ich vor Schmerz zusammenzuckte, richtete mich ein Stückchen auf und begegnete dem Heiler mit dem Blick, der mir – genau wie alles andere – seit Kindertagen beigebracht worden war. Ich war Calliope Kings älteste Tochter, und genauso würde ich mich auch benehmen.
»Ich habe mich den ganzen Abend nicht besonders gut gefühlt, aber es war meine letzte Amtshandlung als Miss Everfall, und ich wollte das Diadem unbedingt noch überreichen. Wahrscheinlich habe ich mir einen Virus eingefangen und bin deshalb zusammengeklappt. Ich hätte früher reagieren sollen, tut mir leid.«
Heiler Sheehan sah mich zweifelnd an. Sein Blick war durchdringend und kühl zugleich. »Es ist wichtig, dass Sie ehrlich zu mir sind, Zoey. Das, was passiert ist, ist keine Kleinigkeit. Sie haben einen Zusammenbruch auf der Bühne erlitten, bei dem Ihre Magie den halben Saal zerstört hat.«
Ich versuchte, mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen. Es war meine Aufgabe, mich durch diese Situation hindurchzumanövrieren, ohne dass dem Ruf meiner Familie geschadet wurde. Gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen sollte. Denn es klang so, als wäre das Ganze absolut kein Fiebertraum gewesen.
»Meine Familie wird für den entstandenen Schaden aufkommen. Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen.«
Eine steile Falte bildete sich zwischen den Augenbrauen des Heilers. »Es geht mir nicht um den entstandenen Schaden.«
Stille.
Das Einzige, was ich wahrnahm, war das Rauschen in meinen Ohren. Ich wollte nicht, dass er weitersprach.
»Augenzeugenberichten zufolge haben Sie sich in dem Saal umgesehen, bevor sich Ihr Blick auf jemanden geheftet hat. In diesem Moment haben Sie am ganzen Körper angefangen zu zittern und schließlich zu schreien.«
Bilder blitzten vor meinem inneren Auge in rascher Abfolge auf. Ein Junge, den ich nicht kannte. Sein qualvoller Blick. Sein rasselnder Atem – der schließlich … verstummt war.
Das, was er sagte, schien keinen Sinn zu ergeben. Es musste eine Art Vision gewesen sein. Ein Fiebertraum, nichts weiter. »Ich sagte doch, dass ich mich nicht gut gefühlt habe. Ich muss mir etwas eingefangen haben.«
Der Heiler schüttelte den Kopf. »Sie haben sich nichts eingefangen. Ihre Magie ist erwacht. Und das sehr plötzlich und sehr stark.«
Das konnte nicht sein.
»Sie müssen sich irren. Ich stamme von Cliodhna ab – meine ganze Familie hat heilende Magie. Sie besteht aus Leben, Anmut, und sie gewinnt ihre Kraft durch die Natur und das Leben um sich herum. Das, was gestern geschehen ist, kann unmöglich mit Magie zusammenhängen.« Ich konnte selbst hören, dass meine Stimme immer höher und gleichzeitig heiserer wurde. In jedem meiner Worte schwang unermessliche Panik mit. Meine Hände fingen an zu zittern, und ich umfasste die Decke auf meinem Schoß fest.
Heiler Sheehan legte eine Hand auf meinen bebenden Arm. Ich sah so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen aufflackern und das war so ungewöhnlich für ihn, dass ich noch panischer wurde. »Ich weiß, welcher Blutlinie Sie angehören. Ich weiß auch, in welchem Haus Sie ausgebildet werden, wie sich die Magie in Ihrer Familie manifestiert hat und wie Ihr Stundenplan aussieht – ich habe einen Blick in Ihre Akte geworfen.«
»Dann wissen Sie auch, dass es nicht sein kann. Ich kann nicht … es ist schlichtweg nicht möglich.«
»Zoey«, sagte der Heiler eindringlich, die Hand immer noch auf meinem Arm. Mit einem Mal war sein Blick so ernst, dass ich wusste, er würde als Nächstes etwas sagen, was meine Welt völlig aus den Angeln heben würde. »Der Junge, den Sie gestern Abend beim Ball angesehen haben, hieß Finn Thompson. Und es ist kein Zufall, dass Sie bei seinem Anblick angefangen haben zu schreien. Kurz darauf ist Finn nämlich gestorben.«
Die Worte des Heilers wiederholten sich in meinem Kopf, immer und immer wieder, und obwohl ich ihre Bedeutung begriff, wollte diese gleichzeitig nicht so richtig zu mir durchdringen. Aber er war noch nicht fertig.
»Mir ist bewusst, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie die Gabe Ihrer Mutter geerbt haben. Doch das, was sich in der letzten Nacht zugetragen hat, beweist, dass eine andere Magie in Ihnen geschlummert hat.«
Gequält sah ich Heiler Sheehan an und schüttelte den Kopf. Still flehte ich ihn an, nicht weiterzusprechen. Aber er zeigte kein Erbarmen.
»Die Schreie, die Sie gestern ausgestoßen haben, bezeichnet man als Wehklagen. Die Tatsache, dass die Kronleuchter sowie die Fensterscheiben des Saals zerborsten sind, haben gezeigt, worin Ihre wirkliche Macht besteht. Dass Finn Thompson kurz darauf einen Zusammenbruch erlitten hat, hat unsere Vermutung bestätigt.«
Bitte nicht, flehte ich stumm und kniff die Augen zusammen. Bitte, bitte nicht.
Ich hatte mich schrecklich gefühlt, und das den ganzen Abend über. Ich hatte Angst gehabt, gezittert, und war völlig aus der Haut gefahren. Das hatte nichts mit Magie zu tun. Es konnte nicht die Kraft sein, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte.
»Cliodhnas Gabe war nicht nur Schönheit, Liebe oder Heilung. Sie hatte auch einen anderen Namen. Aber den kennen Sie mit Sicherheit.«
Panisch schüttelte ich den Kopf, denn mir wurde klar, worauf er hinauswollte. Ich wollte es nicht hören. Er sollte es nicht aussprechen. Allerdings kannte Heiler Sheehan kein Erbarmen.
»Cliodhna wurde auch als Königin der Banshees bezeichnet. Diese Magie ist nicht mehr weit verbreitet, doch wie es scheint, sind Sie von der Göttin persönlich gesegnet worden«, sagte Heiler Sheehan mit seiner ruhigen, gefassten Stimme, während in mir alles entzweibrach. »Sie sind eine Banshee.«
Mein Leben war eine einzige Lüge.
Siebzehn Jahre lang hatte man mir eingetrichtert, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Magie meiner Familie auch in mir zum Vorschein kam. Dass meine Familie direkte Nachfahren Cliodhnas waren und wir das große Glück hatten, zu den Ratsfamilien zu gehören, und somit einen besonderen Status in der Welt der Danu innehatten. Der Rat hielt unsere Welt im Gleichgewicht, bewahrte uraltes Wissen und sorgte für unser aller Sicherheit, indem er uns vor Bedrohungen schützte. Nur die mächtigsten Erben der Tuatha De Danann gehörten zu den Ratsfamilien, und nur ihretwegen waren wir heute an einem Punkt, wo sich die Erben der Danu in Ruhe ihrer Ausbildung widmen konnten, ohne Sorge zu tragen, jeden Moment von Fomoriern – einem bösartigen, ebenfalls uralten Volk – angegriffen zu werden. Ohne den Rat würde wahrscheinlich immer noch Krieg zwischen den Tuatha De Danann und Fomoriern herrschen. Und ich war eine der Personen, die in diesem Rat tätig werden sollte. Eigentlich.
Jetzt war nichts mehr von diesem Versprechen übrig.
Ich saß im Wohnzimmer meines Elternhauses und zupfte an einem Faden, der sich aus den Stickereien des Sofas gelöst hatte. Ich zog daran und begann, ihn mir um den Finger zu wickeln. Nach einer Weile hob ich den Kopf und betrachtete meine Mutter, die mir gegenüber auf dem anderen antiken Zweisitzer Platz genommen und bisher kein einziges Wort gesagt hatte.
Für die kommenden Tage war ich vom Unterricht entschuldigt. Nachdem meine Mum von dem Vorfall erfahren hatte, hatte sie einen Chauffeur zur Akademie geschickt, um mich den ganzen Weg von Connemara nach Skibbereen zu bringen. Für den Weg bis in den Landkreis Cork hatten wir etwa fünfeinhalb Stunden gebraucht. Fünfeinhalb Stunden, in denen ich mir den Kopf darüber zerbrochen hatte, was mich zu Hause wohl erwartete, und in denen ich unzählige Nachrichten an Beau und Violet geschrieben hatte, die unbeantwortet geblieben waren. Ich wollte unbedingt wissen, was in der Akademie vor sich ging, jetzt, wo bekannt geworden war, dass ein Junge gestorben war. Aber wie es schien, hatten meine Freunde bisher keine Zeit für mich gefunden.
Inzwischen befand ich mich auf dem Landsitz, auf dem ich groß geworden war. Alles daran kam mir falsch vor. Das Prasseln des Feuers im Kamin, dessen Wärme nicht zu mir durchdringen wollte. Die schillernde Brokattapete, deren Anblick mir vertraut hätte vorkommen sollen. Die Ritter, die beide Seiten des Saloneingangs flankierten, was mich bloß daran erinnerte, dass man als Mitglied einer ranghohen Familie immer auf der Hut sein sollte. Zuletzt das Familienporträt, auf dem meine Mutter, meine jüngere Schwester und mein kleiner Bruder zu sehen waren. Das Bild war vor drei Jahren in Öl gemalt worden. Damals war ich vierzehn, mein Bruder Cody elf und unsere kleine Schwester Maeve gerade erst neun gewesen. Inzwischen waren wir siebzehn, vierzehn und zwölf Jahre alt, und in diesem Moment wünschte ich, ich würde hier nicht so allein mit meiner Mutter sitzen, sondern dass ich mich in Maeves oder Codys Zimmer verkriechen könnte. Die beiden konnten es überhaupt nicht erwarten, auch mit fünfzehn endlich an die Everfall Academy zu kommen, daher musste ich sie bei jedem Besuch auf dem Landsitz mit den neuesten Informationen versorgen. Cody hatte sich sogar inzwischen schon einen Account in dem Akademienetzwerk erstellt, um alle Updates und Newsletter zu erhalten. Er wollte bestmöglich für seine Einschulung im nächsten Jahr vorbereitet sein.
Leider war es noch nicht so weit. Bis zum Eintritt an die Everfall Academy gingen sie – genau wie ich damals – auf eine reguläre Schule für Normalsterbliche. Was bedeutete, dass ich allein mit Mum war. Doch obwohl sich meine Mutter mit mir im selben Raum befand, hatte ich das Gefühl, sie war gar nicht richtig da.
Ihr Blick wirkte abwesend, aber das erkannte man nur, wenn man lange genug Zeit mir ihr verbracht hatte, um hinter die Maske der Perfektion zu schauen. Ihr schulterlanges blondes Haar war perfekt frisiert und ihr Make-up war so makellos aufgetragen, dass man keine einzige Pore erkennen konnte. Obwohl ich bereits seit bestimmt zwanzig Minuten hier war, hatte sie bis auf eine Begrüßung kein Wort zu mir gesagt, was mein Unbehagen bloß verstärkte. Ich kam mir ohnehin schon furchtbar unzulänglich vor. Beinahe, als hätte ich sie enttäuscht, dabei war es nicht meine Schuld, dass die falsche Fähigkeit in mir zum Leben erwacht war. Das Einzige, was ich mir wünschte, war eine feste Umarmung. Doch diese Art Zuneigung hatte es bei den Kings nie gegeben. Sicher würde meine Mutter nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen.
»Wann hattest du vor, es mir zu sagen?«, fragte ich, als die Stille langsam unerträglich wurde. Noch immer schmerzte meine Kehle, aber ich ließ mir nichts davon anmerken.
Lass niemanden an deinen Emotionen teilhaben, wenn du gekränkt bist. Du bist eine Frau, das kann dir zur Last gelegt werden, ertönten ihre Worte in meinem Kopf. Daran hielt ich fest.
Mum schlug die Beine übereinander und erwiderte meinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen. »In unserer Familie hat es noch nie eine Banshee gegeben. Ehrlich gesagt zweifle ich gerade am Verstand des Kollegiums der Akademie. Wenn dein Vater das wüsste …« Sie sprach den Rest des Satzes nicht aus.
Ich schluckte schwer, als Bilder von meinem Dad meine Gedanken fluteten. Zwar war er nicht auf dem Familienporträt über dem Kamin zu sehen, doch ich hatte noch immer Erinnerungen, die ich fest in mir verankert hatte. Maeve und ich hatten das helle Haar unserer Mutter geerbt, einzig bei Cody hatte sich das schwarze Haar unseres Vaters durchgesetzt. Aber immerhin hatte ich die grünen Augen von Dad mitbekommen. Ich erinnerte mich an seine Umarmungen, sein Lachen und dass die Stimmung, sobald er den Raum betreten hatte, stets merklich heller wurde. Mein Vater war kein Nachfahre der Tuatha De Danann gewesen, aber Teil der Eingeweihten. So wurden diejenigen genannt, die über die Kräfte der Danu Bescheid wussten. Dad war gestorben, kurz nach dem Maeve geboren wurde. Ich war damals fünf Jahre alt gewesen und hatte gar nicht richtig verstanden, was geschah. Ich hatte noch Erinnerungen an meinen Dad, ein Teil davon waren meine eigenen und ein anderer Teil war unserem Personal sowie meinem Großvater zu verdanken, die mir und meinen Geschwistern stets Geschichten über unseren Vater erzählt hatten.
Meine Mutter war durch seinen Tod härter geworden, ihre Maske noch undurchdringlicher. Es hieß, einzig unser Vater hatte es je geschafft, ihr ein strahlendes Lächeln zu entlocken. Nachdem er bei einem Unfall ums Leben gekommen war, war dies nie wieder einer Person geglückt.
Sie war versessen darauf, mich zu ihrer Nachfolgerin zu machen. Eines Tages sollte ich ihren Platz als Emissärin im Rat einnehmen, der mit unzähligen Pflichten einherging. Die meisten davon waren geheim und einzig diejenigen, die dem Rat einen Eid ableisteten, wurden eingeweiht. Doch ich wusste, wie angespannt Mum während meiner Kindheit immer gewesen war und wie oft sie verletzt von Missionen zurückkehrte. Mal waren diese Blessuren äußerlich gewesen, eine schnell heilende Schnittwunde hier, ein paar verblasste Blutergüsse da. Schlimmer jedoch waren die innerlichen Verletzungen gewesen. Mum war gut darin, ihre Gefühle zu verbergen, aber dieser erschreckend leere Ausdruck in ihren Augen hatte mir manchmal mehr verraten, als wenn sie geweint hätte. Ich wusste, dass der Rat unser aller Sicherheit gewährleistete, doch mir war auch klar, dass der Preis dafür mitunter sehr hoch sein musste und dass nicht jede Wunde auf magische Weise geheilt werden konnte.
Seit ich denken konnte, hatte Mum versucht, mich an all den Dingen teilhaben zu lassen, die sie durfte. Sie wollte mich zu einer würdigen Nachfolgerin heranziehen und der Druck, der damit einherging, schnürte mir manchmal geradezu die Luft ab, aber ich hatte mich damit abgefunden. Weil ich meine Mutter stolz machen wollte. Weil ich wusste, dass das Erbe, das mir zuteilgeworden war, unglaublich wichtig war.
Jetzt schien diese Zukunft in Bruchstücken zu meinen Füßen zu liegen.
Mums Reaktion ähnelte meiner. Sie wollte es nicht wahrhaben. Ihre goldene, perfekte Tochter – allen Ernstes eine Banshee.
»Was soll ich jetzt machen?« In meinen geflüsterten Worten schwang all die Verzweiflung der letzten Stunden mit. Ich fühlte mich allein, machtlos, und ich sah Hilfe suchend zu meiner Mutter, denn sie wusste immer auf alles eine Antwort. Ich wollte mich an ihrer Stärke festklammern, wo ich selbst gerade über keine mehr verfügte.
Ein paar Sekunden verstrichen. Dann noch ein paar. Als sie nach mehr als zwei Minuten immer noch nicht geantwortet hatte, breitete sich schwelende Hitze in meiner Magengegend aus. Mein Blick glitt von meiner Mutter zu unseren antiken Vasen mit Blumenmalereien, die ich am liebsten von ihrem Platz auf dem Kaminsims genommen und gegen die nächstbeste Wand geschleudert hätte. Wut, realisierte ich stumpf. Eine Emotion, die mir beinahe fremd vorkam. Weil sie, seit ich denken konnte, ständig im Keim erstickt worden war. Wut war nichts, das zum Image der gefassten, stets Haltung wahrenden Kings passte. Es war schon gar keine Emotion, die etwas im Rat zu suchen hatte, der unsere Welt mit klugen, klar durchdachten Entscheidungen in ihren Fugen hielt.
»Wir werden etwas dagegen unternehmen.«