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Mona Kasten

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Beschreibung

Können sie sich retten? Oder werden sie sich gegenseitig zerstören?


Ruby steht unter Schock: Sie wurde vom Maxton-Hall-College suspendiert. Und das Schlimmste: Alles deutet darauf hin, dass niemand anders als James dafür verantwortlich ist. Ruby kann es nicht glauben - nicht nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden haben. Sie dachte, dass sie den wahren James kennengelernt hat: den, der Träume hat, den, der sie zum Lachen bringt und ihr Herz mit einem einzigen Blick schneller schlagen lässt. Doch während Ruby dafür kämpft, trotz allem ihren Abschluss machen zu können, droht James einmal mehr unter den Verpflichtungen gegenüber seiner Familie zu zerbrechen. Und die beiden müssen sich fragen, ob die Welten, in denen sie leben, nicht vielleicht doch zu verschieden sind ...

"Save Me hat all das, was ich an Büchern liebe, und noch viel mehr." Sarah-liest

"Gefühlvoll, mitreißend, voller Liebe." Nichtohnebuch


Das große Finale der mitreißenden Liebesgeschichte von Ruby und James!

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Seitenzahl: 462

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungPlaylistZitat123456789101112131415161718192021222324252627282930EpilogDanksagungDie AutorinDie Romane von Mona Kasten bei LYXImpressum

MONA KASTEN

SAVE US

Roman

Zu diesem Buch

Ruby steht unter Schock: Sie wurde vom Maxton Hall College suspendiert, weil sie eine Affäre mit ihrem Geschichtslehrer haben soll. Von einer Sekunde auf die andere hat sich ihr Traum von einem Studium in Oxford in Luft aufgelöst. Doch das ist nicht alles: Ausgerechnet James scheint für die Fotos, die von ihr und Mr Sutton kursieren, verantwortlich zu sein. Ruby kann es nicht glauben. Sie und James haben so viel miteinander durchgestanden, so viele Hindernisse gemeinsam überwunden – würde er ihr das wirklich antun? Schnell stellt sich allerdings heraus, dass sich dahinter mehr verbirgt, als es zunächst den Anschein hat. Und während Ruby dafür kämpft, trotz allem ihren Abschluss machen zu können, droht James einmal mehr unter den Verpflichtungen gegenüber seiner Familie zu zerbrechen. Sind die Welten, in denen sie leben, doch zu verschieden? Oder können sie einander retten, auch wenn scheinbar alle Zeichen gegen sie stehen?

Für Anna

Playlist

A Day to be Certain – Gersey

You – Keaton Henson

Surrender – Natalie Taylor

The Tide – Niall Horan

Dream In A Dream – TEN

In My Blood – Shawn Mendes

Fallin’ All In You – Shawn Mendes

The Shortchange – Thomston

Bill Murray – Phantogram

Critical – Jonas Brothers

Doesn’t today feel like a day to be certain?

Certain, yet to decide.

GERSEY, A DAY TO BE CERTAIN

1

Graham

Mein Großvater hat mich früher immer gefragt: Wenn der Tag kommt, an dem du alles verlierst – was wirst du tun? Ich habe nie ernsthaft über die Antwort auf diese Frage nachgedacht, sondern immer das gesagt, was mir im jeweiligen Moment als Erstes in den Sinn gekommen ist.

Als ich sechs Jahre alt war und mein Bruder meinen Spielzeugbagger absichtlich kaputt gemacht hat, war es: Dann werde ich den Bagger reparieren.

Mit zehn, als wir von Manchester in die Nähe von London gezogen sind, habe ich trotzig gesagt: Dann suche ich mir eben neue Freunde.

Und als meine Mum gestorben ist und ich als Siebzehnjähriger versucht habe, für meinen Dad und meinen Bruder stark zu sein: Wir werden das schaffen.

Selbst damals war Aufgeben keine Option für mich.

Doch jetzt, mit fast vierundzwanzig Jahren, in diesem Büro, in dem ich mich plötzlich wie ein Krimineller fühle, habe ich keine Antwort mehr. Meine Situation kommt mir in diesem Moment ausweglos vor, meine Zukunft ungewiss. Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll.

Ich ziehe die quietschende Schublade des schweren Kirschholzschreibtisches auf und krame die Stifte und Notizblöcke heraus, die im vergangenen Jahr dort ihren Platz gefunden haben. Meine Bewegungen sind langsam, meine Arme bleiern. Dabei muss ich mich beeilen: Ich soll das Gebäude verlassen, bevor die Mittagspause zu Ende ist.

Sie sind mit sofortiger Wirkung suspendiert. Ich untersage Ihnen jeglichen Kontakt zu Schülern der Maxton Hall. Sollten Sie gegen dieses Verbot verstoßen, wird Anzeige gegen Sie erstattet.

Die Stifte fallen mir aus der Hand und landen klackernd auf dem Boden.

Verfluchter Mist.

Ich bücke mich, sammle sie auf und schmeiße sie achtlos zu den restlichen Habseligkeiten, die ich in einem Karton verstaut habe. Es ist ein wildes Durcheinander an Notizen, Lehrbüchern, dem alten Globus meines Großvaters und Unterrichtsmaterial, das ich für morgen kopiert habe und jetzt eigentlich wegwerfen müsste, es aber nicht über mich bringe.

Ich sehe mich in dem Büro um. Die Regale sind leer geräumt, einzig ein paar Papierfetzen auf dem Schreibtisch und die verschmutzte Unterlage lassen darauf schließen, dass ich hier bis vor wenigen Stunden noch Arbeiten korrigiert habe.

Du bist selbst schuld, erklingt eine gehässige Stimme in meinem Kopf.

Ich reibe mir über die pochende Schläfe und kontrolliere danach ein letztes Mal alle Schubladen und Fächer im Schreibtisch. Ich sollte meinen Abschied nicht länger hinauszögern als nötig, aber es kostet mich mehr Kraft, mich von diesem Raum zu lösen, als ich gedacht hätte. Ich habe schon vor Wochen den Entschluss gefällt, mir einen Job bei einer anderen Schule zu suchen, um mit Lydia zusammen sein zu können. Doch es besteht immer noch ein gewaltiger Unterschied darin, das Arbeitsverhältnis zu eigenen Bedingungen zu verlassen oder vom Sicherheitsdienst nach draußen eskortiert zu werden.

Ich schlucke hart und nehme den Mantel von dem hölzernen Garderobenständer. Mechanisch ziehe ich ihn mir über, danach schnappe ich mir den Karton und gehe zur Tür. Ohne mich ein weiteres Mal umzusehen, verlasse ich das Büro.

In meinem Kopf überschlagen sich Fragen: Weiß Lydia es schon? Wie geht es ihr? Wann werde ich sie das nächste Mal sehen? Was soll ich jetzt tun? Wird mich jemals wieder eine Schule als Lehrer einstellen? Was, wenn nicht?

Doch ich kann die Antworten darauf jetzt auf keinen Fall ergründen. Stattdessen dränge ich die in mir aufsteigende Panik zurück und gehe durch den Flur in Richtung Sekretariat, um meinen Schlüsselbund abzugeben. Schüler laufen an mir vorbei, manche von ihnen grüßen mich freundlich. Ein schmerzhaftes Stechen erfüllt meinen Bauchraum. Nur mit Mühe schaffe ich es, ihr Lächeln zu erwidern. Es hat mir großen Spaß gemacht, hier zu unterrichten.

Ich biege in den Flur des Sekretariats, und mit einem Mal fühlt es sich an, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Ich bleibe so abrupt stehen, dass mich jemand von hinten anrempelt und sich murmelnd entschuldigt. Doch ich höre kaum hin – mein Blick ist auf den hochgewachsenen, rotblonden jungen Mann gerichtet, dem ich diese ganze Situation zu verdanken habe.

James Beaufort verzieht keine Miene, als er mich erblickt. Im Gegenteil, er sieht vollkommen unbeteiligt aus – als hätte er nicht gerade mein Leben zerstört.

Ich wusste, wozu er in der Lage ist. Und mir war klar, dass es keine gute Idee ist, ihn gegen mich aufzubringen. »Er und seine Freunde sind unberechenbar«, hat Lexington mich an meinem ersten Tag an der Schule gewarnt. »Nehmen Sie sich in Acht.« Ich habe seinen Worten kaum Beachtung geschenkt, weil ich damals bereits die andere Seite der Geschichte kannte. Lydia hatte mir erzählt, wie sehr dieser Junge unter dem Erbe seiner Familie leidet, wie verschlossen er sich selbst seiner Zwillingsschwester gegenüber gibt.

Im Nachhinein fühle ich mich so dumm, nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass James für Lydia alles tun würde. Wahrscheinlich ist mein beruflicher Ruin in seinem Tagesablauf nicht mehr als eine Lappalie.

Neben James steht Cyril Vega, den ich glücklicherweise nie unterrichten musste. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen wäre, eine professionelle Fassade aufrechtzuhalten. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erscheint ein Bild von ihm und Lydia vor meinen Augen. Wie sie gemeinsam die Schule verlassen und in einen Rolls-Royce steigen. Wie sie miteinander lachen. Wie er sie in den Arm nimmt und tröstet, während ich das nach dem Tod ihrer Mutter nie konnte.

Nach einem kurzen Moment beiße ich die Zähne fest zusammen und setze meinen Weg fort, den Karton unter den Arm geklemmt. Ich schließe die Hand fester um den Schlüssel in meiner Manteltasche, je näher ich den beiden komme. Sie haben das Gespräch, das sie geführt haben, unterbrochen und beobachten mich, ihre Gesichter zwei harte, undurchdringliche Masken.

Vor der Tür zum Sekretariat bleibe ich stehen und wende mich an James. »Bist du jetzt zufrieden?«

Er gibt keine Reaktion von sich, was die Wut in meinem Inneren weiter hochkochen lässt.

»Was habt ihr euch dabei nur gedacht?«, frage ich und sehe ihn auffordernd an. Wieder antwortet er nicht. »Ist euch eigentlich klar, dass ihr mit euren kindischen Streichen Existenzen zerstört?«

James wechselt einen Blick mit Cyril, und seine Wangen nehmen einen leichten Rotton an – genau wie bei seiner Schwester, wenn sie wütend wird. Die beiden sehen sich so verdammt ähnlich, dabei könnten sie meiner Ansicht nach kaum unterschiedlicher sein.

»Sie sind derjenige, der sich vorher hätte Gedanken machen müssen«, speit Cyril.

Seine Augen funkeln noch wütender als die von James, und mir kommt der Gedanke, dass sie vermutlich gemeinsam den Plan entwickelt haben, mich von der Schule schmeißen zu lassen.

Cyrils Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er derjenige ist, der von uns beiden die Macht hat. Er kann alles mit mir machen, ganz gleich, ob ich älter bin als er. Er hat gewonnen, und er weiß es auch. Der Sieg steht ihm ins Gesicht geschrieben und spiegelt sich in seiner stolzen Haltung wider.

Ich stoße ein resigniertes Lachen aus.

»Es überrascht mich, dass Sie noch lachen können«, fährt er fort. »Es ist vorbei. Sie sind entlarvt – ist Ihnen das eigentlich klar?«

Ich schließe die Hand um den Schlüsselbund, so fest, bis die kleinen Metallzähne in meine Haut schneiden. Glaubt dieser reiche Bengel wirklich, ich wüsste das nicht? Ich wüsste nicht, dass es niemanden interessieren wird, wann und wo Lydia und ich uns kennengelernt haben? Dass uns niemand glauben wird, wenn wir beteuern, uns vor meiner Zeit an der Maxton Hall bereits gekannt und geliebt zu haben? Und wir unsere Beziehung in dem Moment beendet haben, als wir wussten, dass ich ihr Lehrer sein würde? Natürlich weiß ich das. Ab sofort und für alle Zeit werde ich der widerliche Typ sein, der während seiner Anfangszeit als Lehrer eine Affäre mit einer Schülerin hatte.

Bei dem Gedanken wird mir schlecht.

Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, gehe ich ins Sekretariat. Ich nehme den Schlüssel aus meiner Jackentasche, knalle ihn auf den Tresen und mache auf dem Absatz kehrt. Als ich wieder an den Jungs vorbeigehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Cyril James ein Handy in die Hand drückt. »Danke dafür, Mann«, höre ich ihn sagen, dann wende ich den Blick ab und gehe, so schnell ich kann, in Richtung Ausgang. Nur am Rande nehme ich wahr, dass James hinter mir laut wird.

Jeder Schritt schmerzt, jeder Atemzug kommt mir wie eine unlösbare Aufgabe vor. Ein Rauschen tritt in meine Ohren, das nahezu alle Geräusche übertönt. Das Lachen der Schüler, ihre hallenden Schritte, das Knarzen der doppelflügeligen Tür, durch die ich Maxton Hall verlasse und ins Ungewisse trete.

Ruby

Ich fühle mich wie betäubt.

Als die Busfahrerin mir sagt, dass wir bei der Endstation angekommen sind, weiß ich einen Moment lang überhaupt nicht, was das bedeutet – bis mir klar wird, dass ich aussteigen muss, wenn ich nicht den gesamten Weg zurück nach Pemwick fahren will. Ich habe keinerlei Erinnerung an die letzte Dreiviertelstunde, so sehr war ich in Gedanken versunken.

Meine Gliedmaßen fühlen sich schwer und kribbelig zugleich an, als ich die Stufen nach unten gehe und nach draußen trete. Ich klammere mich mit beiden Händen an den Gurten meines Rucksacks fest, als könnten sie mir Halt geben. Leider hilft mir das nicht, dieses Gefühl loszuwerden. Als wäre ich in einem Wirbelsturm gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt, und wüsste nicht länger, wo oben oder unten ist.

Das alles kann nicht wirklich passiert sein. Ich kann nicht von der Schule geworfen worden sein. Meine Mutter kann nicht wirklich glauben, ich hätte eine Affäre mit einem Lehrer. Mein Traum von Oxford kann sich gerade nicht in Luft aufgelöst haben.

Ich glaube, ich verliere den Verstand. Mein Atem geht immer schneller, und meine Finger verkrampfen sich. Ich spüre, wie Schweiß meinen Rücken hinunterläuft, gleichzeitig habe ich auf dem gesamten Körper eine Gänsehaut. Mir ist schwindelig. Ich schließe die Augen und versuche, meine Atmung wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Als ich sie öffne, habe ich schon nicht mehr das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Zum ersten Mal, seit ich aus dem Bus ausgestiegen bin, nehme ich meine Umgebung wahr. Ich bin drei Stationen zu weit gefahren und befinde mich am anderen Ende von Gormsey. Unter normalen Umständen würde ich mich furchtbar über mich selbst ärgern. Doch stattdessen fühle ich mich beinahe erleichtert, denn ich kann jetzt auf gar keinen Fall nach Hause. Nicht, nachdem Mum mich so angesehen hat.

Es gibt nur einen Menschen, mit dem ich in dieser Sekunde sprechen möchte. Einen Menschen, dem ich bedingungslos vertraue und der genau weiß, dass ich so etwas niemals tun würde.

Ember.

Ich laufe los in Richtung der örtlichen Highschool. Bis zum Schulschluss kann es nicht mehr lange dauern, denn ein paar jüngere Schüler kommen mir bereits entgegen. Eine Gruppe von Jungs versucht, sich gegenseitig von dem schmalen Gehweg in die Büsche zu schubsen. Als sie mich sehen, halten sie kurz inne und gehen dann mit gesenktem Kopf an mir vorbei, als hätten sie Angst, dass ich sie jeden Moment für ihr Verhalten zurechtweisen könnte.

Je näher ich der Gormsey Highschool komme, desto merkwürdiger fühle ich mich. Vor zweieinhalb Jahren bin ich selbst auf diese Schule gegangen. Ich vermisse die Zeit zwar nicht, aber jetzt wieder hier zu stehen, kommt mir vor wie ein Ausflug in die Vergangenheit. Nur dass sich damals niemand in meine Richtung umgedreht und mich angestarrt hat, weil ich die Schuluniform einer Privatschule trage.

Ich gehe die letzten Stufen zur Eingangstür nach oben. Die Wände des Gebäudes, die vermutlich einmal weiß verputzt waren, sind vergilbt, an den Fenstern blättert der Lack ab. Es ist nicht zu übersehen, dass in den letzten Jahren keine Gelder in diese Schule geflossen sind.

Ich schiebe mich an den Schülern vorbei, die mir aus dem Inneren entgegenströmen, und versuche, unter den vielen Gesichtern ein bekanntes zu finden. Es dauert nicht lange, bis ich ein Mädchen mit zwei eng am Kopf geflochtenen Zöpfen entdecke, das zusammen mit einem Jungen die Schule verlässt.

»Maisie!«, rufe ich ihr zu.

Maisie bleibt stehen und sieht sich suchend um. Als sie mich erkennt, hebt sie fragend die Augenbrauen. Sie bedeutet ihrem Freund, kurz zu warten, und schlängelt sich dann zu mir durch. »Ruby«, begrüßt sie mich. »Hey. Was gibt’s?«

»Weißt du, wo Ember ist?«, frage ich. Meine Stimme klingt vollkommen normal, und ich frage mich, wie das sein kann, wo gerade alles in mir zerbrochen ist.

»Ich dachte, Ember ist krank«, antwortet Maisie mit gerunzelter Stirn. »Sie ist heute nicht in der Schule gewesen.«

»Was?«

Das kann nicht sein. Ember und ich haben heute früh das Haus zur selben Zeit verlassen. Wenn sie nicht in der Schule gewesen ist – wo zum Teufel ist sie hingegangen?

»Sie hat mir geschrieben, dass sie mit Halsschmerzen im Bett liegt.« Maisie zuckt mit den Schultern und wirft einen Blick über die Schulter zu ihrem Freund. »Wahrscheinlich ist sie einfach zu Hause, und ihr habt euch verpasst. Hör zu, ich habe jetzt eine Verabredung. Wäre es okay, wenn ich …?«

Ich nicke schnell. »Klar. Danke.«

Sie winkt mir noch einmal zu, dann geht sie die Treppe nach unten und hakt sich bei ihrem Begleiter unter. Ich sehe den beiden hinterher, während meine Gedanken sich überschlagen. Wenn Ember heute Morgen Halsschmerzen gehabt hätte, hätte ich das mitbekommen. Sie sah nicht krank aus und hat sich auch nicht seltsam verhalten. Beim Frühstück war alles wie immer.

Ich krame mein Handy aus der Tasche. Drei verpasste Anrufe von James werden auf dem Display angezeigt. Ich lösche die Benachrichtigung mit heißen Wangen.

Ich bin derjenige, der die Fotos gemacht hat, erklingt seine Stimme in meinem Kopf, doch ich versuche, das schwere Gefühl in meiner Brust zu ignorieren. Ich gehe in meine Favoriten und klicke auf Embers Namen. Es klingelt, also ist ihr Handy nicht ausgeschaltet. Allerdings geht sie selbst nach dem zehnten Klingeln nicht ran. Ich lege auf und öffne dann eine neue Nachricht.

Bitte melde dich. Ich muss dringend mit dir reden.

Ich schicke sie ab und stopfe das Handy zurück in die Tasche meines Blazers, dann gehe ich die Treppe nach unten und drehe mich ein letztes Mal zur Schule um. Ich komme mir unglaublich fehl am Platz vor. Es besteht kein Zweifel, dass ich hier nicht mehr hingehöre. Aber dasselbe trifft jetzt auch auf Maxton Hall zu.

Ich gehöre nirgendwo mehr hin, schießt es mir durch den Kopf.

Mit diesem Gedanken verlasse ich das Schulgelände. Ohne darüber nachzudenken, biege ich links ab und gehe die Hauptstraße entlang in die Richtung unseres Wohnviertels, auch wenn unser Zuhause der letzte Ort ist, an dem ich jetzt sein möchte. Ich würde es nicht ertragen, wenn Mum mich noch einmal so enttäuscht ansieht, wie sie es in Lexingtons Büro getan hat.

Das, was geschehen ist, spielt sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab. Immer und immer wieder höre ich die Stimme des Rektors. Wie er mir mit wenigen Worten meine gesamte Zukunft genommen hat, alles, worauf ich seit Jahren hingearbeitet habe.

Während ich an einer Reihe von Cafés und kleinen Läden vorbeikomme, dringen Gesprächsfetzen der Schüler an mein Ohr, die sich vor und nach mir auf dem Heimweg befinden. Sie sprechen über Hausaufgaben, regen sich über Lehrer auf oder lachen über etwas, was in der ersten Pause passiert ist. Wie betäubt realisiere ich, dass ich niemanden mehr habe, mit dem ich solche Gespräche führen kann. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hier langzugehen, mich von der Sonne verspotten zu lassen mit der tiefen Gewissheit, dass es in meinem Leben nichts mehr gibt. Keine Schule, keine Familie, keinen Freund.

Tränen steigen in meine Augen, und ich versuche vergeblich, sie wegzublinzeln. Ich brauche meine Schwester. Ich brauche jemanden, der mir sagt, dass alles wieder gut werden wird, auch wenn ich selbst nicht daran glauben kann.

Gerade als ich wieder mein Handy herausholen will, kommt neben mir auf der Straße ein Auto zum Stehen. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass es ein dunkelgrünes, klappriges Gestell mit rostigen Felgen und schmutzigen Fenstern ist. Ich kenne niemanden, der ein solches Auto fährt, also gehe ich weiter, ohne ihm Beachtung zu schenken.

Doch der Wagen folgt mir. Ich drehe mich zur Seite, um ihn genauer anzusehen, als auf der Fahrerseite das Fenster heruntergekurbelt wird.

Mit dem Gesicht, das dahinter zum Vorschein kommt, habe ich auf keinen Fall gerechnet. Überrascht halte ich inne.

»Ruby?«, fragt Wren. Anscheinend sehe ich genauso schrecklich aus, wie ich mich fühle, denn Wren kneift die Augen zusammen und beugt sich ein Stück aus dem Fenster, um mich genauer ansehen zu können. »Alles okay bei dir?«

Ich presse die Lippen fest aufeinander. Wren Fitzgerald ist so ziemlich der Letzte, mit dem ich jetzt sprechen möchte. Schon gar nicht, wenn ich genauer darüber nachdenke, warum er mich so ansieht. Mit Sicherheit hat mein Rauswurf in Maxton Hall schon die Runde gemacht. Eine Woge unangenehmer Hitze überkommt mich, und ich gehe weiter, ohne ihm zu antworten.

Hinter mir wird eine Autotür zugeschlagen, kurz darauf kann ich schnelle Schritte hören. »Ruby, warte!«

Ich halte an und schließe die Augen. Dann nehme ich einen, zwei, drei tiefe Atemzüge. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie durcheinander ich gerade bin und was in mir vorgeht, bevor ich mich zu Wren umdrehe.

»Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen«, sagt er mit gefurchter Stirn. »Brauchst du Hilfe?«

Ich schnaube leise. »Hilfe?«, krächze ich. »Von dir?«

Daraufhin presst Wren die Lippen fest aufeinander. Er sieht kurz zu Boden, dann wieder hoch. »Alistair hat mir erzählt, was passiert ist. Das ist echt scheiße.«

Ich versteife mich und wende den Blick ab. Also ist es genau, wie ich gedacht habe. Die Sache hat sich schon in der Schule rumgesprochen. Einfach großartig. Ich betrachte die Fassade eines Fitnesscenters auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einige Leute trainieren auf Laufbändern, andere stemmen Gewichte von sich. Vielleicht sollte ich mich darin verkriechen. Dort findet mich bestimmt niemand.

»Großartig«, murmle ich.

Ich will mich wieder von ihm wegdrehen und weitergehen, doch irgendetwas lässt mich zögern. Vielleicht ist es die Tatsache, dass Wren nicht in einer Limousine hier langgefahren ist, sondern in einem Auto, das so aussieht, als würde es jeden Moment auseinanderfallen. Vielleicht ist es der Blick in seinen Augen, der ernsthaft und aufrichtig wirkt und nicht, als würde er sich einen Spaß mit mir erlauben. Vielleicht ist es aber auch die Tatsache, dass wir uns hier in Gormsey gegenüberstehen – dem letzten Ort, an dem ich mit jemandem wie Wren Fitzgerald gerechnet hätte.

»Was machst du eigentlich hier?«

Wren zuckt mit den Schultern. »Ich war zufällig in der Gegend.«

Ich hebe eine Augenbraue. »In Gormsey. Zufällig.«

»Hör zu«, wechselt Wren das Thema. »Ich weigere mich zu glauben, dass James etwas damit zu tun hat.«

»Hat er dich geschickt, um mir das einzureden?«, frage ich mit bebender Stimme.

Wren schüttelt den Kopf. »Nein. Aber ich kenne James. Er ist mein bester Freund. Er würde so etwas nicht tun.«

»Es sind Bilder, die aussehen, als würde ich mit einem Lehrer knutschen, Wren. Und James hat zugegeben, sie gemacht zu haben.«

»Vielleicht hat er sie gemacht. Aber das heißt nicht, dass er sie auch an Lexington geschickt hat.«

Ich presse die Lippen zusammen.

»James würde das nicht tun«, sagt Wren eindringlich.

»Wieso bist du dir da so sicher?«, frage ich.

»Weil ich weiß, wie James für dich empfindet. Er würde nie etwas tun, was dir schadet.«

Er sagt das mit einer solchen Gewissheit, dass meine Gedanken und Gefühle aufs Neue aufgewirbelt werden. Würde es die Dinge ändern, wenn James die Fotos nicht eingereicht hat? Aber warum hat er sie überhaupt gemacht?

»Ich will selbst wissen, was es mit der ganzen Sache auf sich hat«, sagt Wren. »Ich fahre jetzt zu ihm. Komm mit mir, Ruby. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen.«

Ich starre Wren an. Es liegt mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er den Verstand verloren hat. Doch ich zögere.

Dieser Tag hat seinen absoluten Tiefpunkt schon erreicht. Es kann nicht schlimmer werden, denn ich habe nichts mehr zu verlieren.

Ich ignoriere die Alarmglocken, die in diesem Moment in meinem Kopf zu schrillen beginnen. Ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich zu Wrens rostigem Wagen und steige ein.

2

Lydia

Die Nachricht, dass Graham suspendiert wurde, hat sich wie ein Lauffeuer in der gesamten Maxton Hall verbreitet. Es war unerträglich, vor der Schule zu stehen und darauf zu warten, dass Percy mich endlich abholt, zumal ich weder James noch Ruby erreicht habe – von Graham ganz zu schweigen. Bei dem Gedanken, wie er sich gerade fühlen muss, wird mir schlecht, und es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, wie es ihm geht.

Als ich schließlich zu Hause ankomme, gehe ich direkt in mein Zimmer und versuche erneut, ihn zu erreichen. Dieses Mal nimmt er ab, und ich schnappe erleichtert nach Luft.

»Graham?«

»Ja.« Seine Stimme ist tonlos.

»Es tut mir so leid«, platze ich raus, während ich in meinem Zimmer auf und ab laufe. Mein ganzer Körper ist mit Adrenalin geladen, und mein Herz pocht schnell und heftig gegen meinen Brustkorb. »Es tut mir so leid. Das habe ich nicht gewollt.«

Ich kann Graham scharf einatmen hören. »Es ist nicht deine Schuld, Lydia.«

Doch, das ist es. Es ist meine Schuld, dass Graham und Ruby von der Schule geflogen sind. »Ich werde heute Nachmittag zu Rektor Lexington fahren und das aufklären. Alles wird wieder gut, glaub mir. Ich werde die Schuld auf mich nehmen und …«

»Lydia«, unterbricht er mich sanft.

»Ruby ist auch suspendiert worden. Sie hat das absolut nicht verdient. Ich kann nicht zulassen, dass sie für etwas bestraft wird, was sie gar nicht getan hat.«

»Lydia, ich …« Bevor er den Satz beenden kann, wird das Handy aus meiner Hand gerissen. Vor Schreck stoße ich einen kleinen Schrei aus und fahre herum.

Dad steht mir gegenüber und sieht mich aus kalten Augen an. Er senkt den Blick auf das leuchtende Display meines Handys. Dann hebt er einen Finger und beendet den Anruf.

»Hey! Was …?«, fange ich an.

»Du wirst nie wieder mit diesem Lehrer sprechen«, unterbricht mich mein Vater mit eisiger Stimme. »Hast du das verstanden?«

Ich öffne den Mund, aber die Kälte in Dads Stimme und der zornige Blick in seinen Augen halten mich davon ab, auch nur ein Wort zu sagen.

Er weiß Bescheid.

Dad weiß von Graham und mir.

Oh Gott.

»Dad …«, flüstere ich verzweifelt.

Bei dem Wort verzieht er das Gesicht zu einer beinahe schmerzvollen Grimasse. »Wenn deine Mutter noch am Leben wäre, würde sie sich für dich schämen.«

Er sagt das so ruhig, dass es eine Sekunde dauert, bis die Worte in ihrer vollen Bedeutung zu mir durchdringen. Sie treffen mich wie ein Schlag, und ich weiche ein Stück von ihm und seinem Zorn zurück. »Lass es mich bitte erklären, Dad, es ist wirklich nicht, wie du denkst. Graham und ich kannten uns schon vorher, wir …«

Plötzlich reißt mein Vater seinen Arm hoch und schmettert das Handy mit voller Wucht gegen die Wand. Es zersplittert in seine Einzelteile und landet in schwarzen Scherben und Plastikteilen verstreut auf dem Boden. Fassungslos starre ich ihn an.

»Ich sage es dir ein letztes Mal: Du wirst nie wieder mit diesem Mann sprechen. Hast du das verstanden?« Mittlerweile bebt seine Stimme vor Wut.

»Ich versuche doch gerade, dir zu erklären, dass es …«

»Ich will deine Erklärungen nicht hören, Lydia«, fährt er dazwischen.

Ich hasse es, wenn er so ist. Dass er mich nicht anhören möchte, obwohl er genau weiß, dass ich etwas zu sagen habe.

»Ich habe nicht mit allen Mitteln deinen guten Ruf gewahrt, nur damit du gleich die nächste leichtsinnige Entscheidung triffst. Das wird ab sofort aufhören, verstanden?«

Es fühlt sich an, als hätte mir jemand Eiswasser ins Gesicht geschüttet. Ich brauche einen Moment, bis ich meine Stimme wiederfinde. »Was meinst du damit – meinen guten Ruf gewahrt?«

Dads Gesichtsausdruck verhärtet sich. »Ich habe dafür gesorgt, dass der Name dieser Familie nicht noch mehr Schaden nimmt. Du solltest froh darüber sein, statt mich so anzusehen.«

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Du warst das?«, krächze ich heiser. »Du hast die Bilder an Rektor Lexington gegeben?«

Dads kalte Augen sind auf mein Gesicht geheftet. »Ja.«

Ich habe das Gefühl, mir fehlt die Luft zum Atmen. Übelkeit steigt in mir auf, und der Raum beginnt sich zu drehen. Mit einer Hand greife ich nach dem Stuhl vor mir, um mich abzustützen.

Mein eigener Vater ist schuld daran, dass Graham seinen Job verloren hat und James’ Freundin suspendiert worden ist.

»Wieso hast du das getan?«, flüstere ich.

Das Bedürfnis, ihm meine Situation zu erklären, ist zu Staub zerfallen. In mir ist nur noch Platz für Ungläubigkeit – und für unsägliche Wut, die sich von Sekunde zu Sekunde schneller in meinen Adern ausbreitet.

»Weil du diese Familie zerstören könntest – ist dir völlig egal, was du mit deinem rücksichtslosen Verhalten aufs Spiel gesetzt hast? Bedeutet dir diese Familie nichts?«, fragt mein Vater.

»Familie? Du kümmerst dich doch einen Scheißdreck um diese Familie!«, fauche ich und balle die Hände zu Fäusten. Meine Arme zittern, und ich habe das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. »Das Einzige, was dich interessiert, ist Geld. Wie es James und mir seit Mums Tod geht, ist dir scheißegal. Und jetzt stehst du vor mir und verlangst von mir, froh darüber zu sein, dass du meinen Freund von der Schule hast schmeißen lassen?«

Dads Nasenflügel blähen sich bei dem Wort »Freund« kurz auf, ansonsten ist in seinem Gesicht keine Regung zu erkennen. »Ich würde noch mehr tun, um den Namen dieser Familie zu retten.«

Seine ruhige Stimme macht mich wahnsinnig. Mein Atem kommt immer schneller, und ich kralle die Nägel so fest in die Handinnenflächen, dass ich mit Sicherheit bald blute.

»Du solltest mir dankbar sein, Lydia«, fügt er hinzu.

Meine Wut erreicht ihren Höhepunkt. Ich kann die Worte nicht mehr zurückhalten, sie sprudeln unkontrolliert aus mir heraus. »Du hast ihn vielleicht von der Schule geworfen, aber du kannst ihn nicht aus meinem Leben streichen!«, schreie ich mit voller Kraft.

»Und ob ich das kann.« Dad dreht sich um und will das Zimmer verlassen.

Aber ich bin noch nicht fertig.

»Nein, kannst du nicht. Ich bin nämlich schwanger.«

Er bleibt auf dem Absatz stehen. Wie in Zeitlupe dreht er sich zu mir zurück. »Was?«

Ich recke das Kinn trotzig vor. »Ich bin schwanger. Von Graham.«

Es ist seltsam, seine Reaktion zu beobachten. Einen Moment lang sieht er mich nur an und blinzelt mehrmals hintereinander – wie der merkwürdig dreinblickende Mann auf diesem GIF, das seit Monaten im Umlauf ist. Dann beginnen seine Schultern zu zucken, als würde es ihm schwerfallen, eine gleichmäßige Atmung beizubehalten, und rote Flecken bilden sich auf seinen Wangen, seiner Stirn und seinem Hals.

Ich dachte eigentlich, ich hätte alle Formen von Dads Zorn bereits kennengelernt. James und ich haben früh gelernt, die kleinsten Regungen in seiner Mimik und seiner Haltung richtig zu deuten und uns rechtzeitig aus dem Staub zu machen.

Doch so wie in diesem Moment habe ich ihn noch nie gesehen.

Sein Blick liegt auf mir, eine Sekunde, noch eine, und ich mache langsam einen Schritt zurück, weil ich nicht einschätzen kann, was passieren wird. Aber zu meiner Überraschung macht Dad kehrt und verlässt mein Zimmer ohne ein weiteres Wort.

Die Tür knallt er so heftig zu, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Ich presse mir eine Hand auf den Brustkorb und atme tief durch. Mein Puls rast, ich kann mein Herz unter meiner Hand wummern spüren.

Keine zehn Sekunden später geht die Tür plötzlich wieder auf – so schwungvoll, dass der Knauf gegen die Wand knallt und dort mit Sicherheit eine Delle hinterlässt. Mein Vater kommt zurück ins Zimmer und baut sich vor mir auf.

»Weiß er es?«, fragt er so leise, dass ich ihn kaum verstehe.

Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet, und ich brauche mehrere Sekunden, bis ich es schaffe, den Kopf zu schütteln. »Nein, ich …«

»Gut«, unterbricht mich Dad. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, schreitet er mit großen Schritten durch mein Zimmer. Er reißt die Tür zu meinem begehbaren Kleiderschrank auf und betritt den kleinen Raum. Ich höre ein lautes Rumpeln.

Ich hechte zur Tür und starre meinen Vater an, der offensichtlich gerade einen meiner großen Reisekoffer von der oberen Ablage des Schrankes heruntergezogen hat. Gerade greift er nach einer Reisetasche, die er geräuschvoll auf den Boden daneben feuert. Er tritt den Deckel des Koffers mit dem Fuß auf und fängt anschließend an, wahllos Kleidungsstücke aus den Regalen und von den Bügeln zu reißen und sie hineinzuwerfen.

»Was tust du da?«

Dad reagiert nicht. Wie im Wahn greift er nach T-Shirts, Blusen, Hosen, Unterwäsche, Taschen und Schuhen. Seine Haare stehen durch die ruckartigen Bewegungen in alle Richtungen ab, die Flecken auf seinem Gesicht und dem Hals werden immer dunkler. Selbst als der Koffer voll ist, hört er nicht auf, und die Sachen landen in einem unordentlichen Haufen auf der Tasche und dem Boden daneben.

»Dad, was machst du denn?«, schreie ich und trete einen Schritt nach vorn, um ihn dazu zu bringen aufzuhören. Ich greife nach seinem Arm, aber er reißt sich los. Die Wucht seiner Bewegung lässt mich zurücktaumeln, und nur gerade so schaffe ich es, mich mit einer Hand am Türrahmen festzuhalten.

In dem Moment platzt James ins Zimmer.

»Was ist hier los?«, fragt er. Sein Blick ist besorgt, als er mich von oben bis unten mustert, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Dann entdeckt er Dad in meinem Schrank, und seine Augen weiten sich.

»Was machst du da, Dad?«, fragt er.

Dad fährt auf dem Absatz herum und deutet auf James. »Du wusstest davon?«, fragt er.

James runzelt die Stirn. »Wovon?«

»Was frage ich überhaupt. Natürlich wusste er davon«, murmelt Dad zu sich selbst. Einen Moment lang betrachtet er das Chaos, das er um sich herum angerichtet hat, dann beugt er sich runter und beginnt kurzerhand, die Klamotten, die neben dem Koffer gelandet sind, mit gewaltvollen Bewegungen in die Reisetasche zu stopfen.

»Wofür packst du meine Sachen, Dad?«, frage ich heiser.

»Du ziehst sofort aus.«

Eine Welle von Übelkeit überrollt mich. »Was?«, keuche ich.

James legt eine Hand auf meinen Rücken, wie um mir zu zeigen, dass er bei mir ist.

»Wir hatten in diesem Jahr schon mit genug Schlagzeilen zu kämpfen. Ich lasse nicht zu, dass das Wohl meines Unternehmens gefährdet wird, nur weil du so dumm bist und dich von einem Lehrer schwängern lässt!« Die letzten Worte brüllt Dad in meine Richtung.

Ich rücke näher an James heran, und seine Hand verkrampft sich an meinem Rücken. Ich kann förmlich spüren, wie viel Willenskraft es ihn gerade kostet, sich zurückzuhalten.

Seine Stimme klingt bemüht ruhig, als er versucht, auf unseren Vater einzugehen. »Du kannst nicht einfach so tun, als wäre das nicht passiert.«

Dad zerrt am Reißverschluss der Reisetasche. Ein Stück Stoff hat sich darin verkeilt, und ein unschönes Ratschen erklingt. Ich zucke zusammen.

»Und ob ich das kann«, ächzt er und schließt die Tasche mit einem heftigen Ruck. Dann wendet er sich dem Koffer zu. Er stemmt ein Knie auf den Deckel, während er den Reißverschluss zuzieht. »Du fährst zu deiner Tante. Und zwar sofort. Niemand darf von deinen … deinen Umständen erfahren.«

Ich schnappe keuchend nach Luft. »W-was?«

»Das kannst du nicht machen«, sagt James.

Dad hält inne und sieht uns an. Es ist ein beinahe groteskes Bild, wie er da auf meinem silbernen Koffer kniet, schwer atmend, mit zerzausten Haaren und verschwitztem Hemd. »Ich bin der Einzige, der in diesem Haus noch bei Verstand ist. Glaubst du wirklich, dass ich dich so …« Er deutet auf meinen Bauch. »… weiter diese Familie repräsentieren lasse? Hast du eine Ahnung, welches Licht das auf uns wirft? Auf Beaufort?«

»Darum geht es dir?« James’ Stimme bebt. »Nur darum?«

»Natürlich. Worum denn sonst?«

»Es sollte dir um deine Tochter gehen, verdammt!«

Dad schnaubt. »Sei nicht so naiv, James.« Sein eiskalter Blick landet auf mir. »Du hättest dir vorher überlegen müssen, wo deine Prioritäten liegen, Lydia. So bist du für diese Familie nicht tragbar.«

Die Wände meines Zimmers bewegen sich auf mich zu. Ich schwanke gegen James und kralle mich an ihm fest.

»Du kannst Lydia nicht ins Exil schicken und so tun, als würde sie nicht existieren«, sagt James aufgebracht. Ich spüre, wie seine Hand auf meinem Rücken zittert.

Dad steht auf und reißt den Koffer hoch. Mit hochrotem Kopf nimmt er ihn am Griff, schnappt sich die Reisetasche und kommt dann mit strammen Schritten auf uns zu.

James stellt sich ihm in den Weg.

»Geh zur Seite, James.«

»Selbst wenn du Lydia wegschickst, spätestens in ein paar Monaten wird die Öffentlichkeit Wind davon bekommen. Es wird nichts ändern, du zerstörst bloß unsere Familie!«

Eine Sekunde vergeht. Dann lässt Dad die Reisetasche fallen, hebt die Hand und …

Meine Reaktion ist instinktiv.

Ich werfe mich vor James, als Dad zuschlägt. Er trifft mich an der Wange und am Ohr, so fest, dass mein Kopf herumgerissen wird und schwarze Punkte vor meinen Augen erscheinen. In meinen Ohren ist ein Rauschen, das immer lauter und heftiger wird, und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich verliere das Gleichgewicht und versuche nach etwas zu greifen, was mich aufrecht halten kann. In dem Moment, in dem James’ Arme mich auffangen, wird mir schwarz vor Augen.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich wieder zu Bewusstsein komme. Sekunden oder doch Minuten? Ich glaube, ich liege auf dem Boden. Laute Stimmen dringen an meine Ohren und verstärken den Schmerz in meinem Kopf. Das Pochen in meiner Schläfe wird mit jeder Sekunde heftiger. Ich versuche, die Augen zu öffnen.

Jemand kniet neben mir und schüttelt sanft meine Schulter. James. Er sagt meinen Namen mehrmals hintereinander und klingt mit jedem Mal ein bisschen verzweifelter.

Ich blinzle, und allmählich nimmt meine Umgebung wieder feste Umrisse an. Ich liege vor der Tür meines begehbaren Kleiderschranks. James hat mich auf seinen Schoß gebettet und streichelt meine Arme. Seine Augen sind weit aufgerissen, aber als er sieht, dass ich wieder bei Bewusstsein bin, stößt er einen erleichterten Seufzer aus. Neben uns steht Dad und sieht auf uns herunter, noch immer den Koffer in einer Hand. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich meine, auch in seinem Blick Erleichterung aufblitzen zu sehen. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn im nächsten Moment zieht er sein Handy aus der Hosentasche, drückt eine Taste und hebt den Hörer ans Ohr.

Er sieht mir in die Augen, als er ohne jegliche Intonation sagt: »Percival? Kommen Sie bitte in den ersten Stock und tragen die Taschen aus dem Zimmer meiner Tochter in den Wagen. Lydia wird heute noch ausziehen.«

Dann wendet er den Blick von James und mir ab, steigt über die Taschen hinweg und geht aus dem Zimmer.

Es fühlt sich an, als würde jemand die Hände um meinen Hals legen und zudrücken. Ich fahre mit den Fingern vorsichtig über die Stelle, an der er mich getroffen hat, und kann die Tränen nicht länger zurückhalten.

»Es wird alles gut«, flüstert James und hält mich fest. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin.«

Allerdings glaube ich, dass mich mein Bruder zum ersten Mal in unserem Leben nicht vor dem beschützen kann, was auf mich zukommt.

3

Ruby

»Was hat es mit diesem Auto auf sich?«, frage ich Wren, nachdem wir ein paar Minuten lang schweigend auf der Landstraße in Richtung Pemwick gefahren sind. Das einzige Geräusch ist die Musik, die knisternd aus den Lautsprechern kommt. Vor ein paar Minuten hat es wie aus dem Nichts angefangen zu regnen, und ich rechne jeden Moment damit, dass die dünnen Scheibenwischer den Dienst einstellen. Oder abfallen. Mit jeder Bewegung quietschen sie lauter. Wren scheint sich allerdings bereits daran gewöhnt zu haben.

»Im Hause Fitzgerald hat es ein paar … finanzielle Umstellungen gegeben«, antwortet er nach einer kurzen Pause. »Und die haben mir George beschert.«

Ich blicke mich zum wiederholten Mal im Inneren des Wagens um. Er sieht nicht aus wie ein George. Ehrlich gesagt sieht er überhaupt nicht wie etwas aus, das man auf einen Namen tauft. Die Sitze sind mit braunem Cord überzogen, der an manchen Stellen ausgeblichen ist und in den sich der Geruch von Zigarren und altem Opa hineingefressen hat. »Du hast dein Auto wirklich George getauft?«

»Nicht ich. Das war … eine Freundin.« Wren biegt nach links ab und fummelt dann an dem Radio rum, das das einzige Teil hier drinnen zu sein scheint, das jünger als zwanzig Jahre alt ist. Allerdings hat es einen Wackelkontakt, denn Wren muss es nach jeder Abbiegung anstupsen, damit die Musik weiterläuft.

»Ah«, sage ich, woraufhin sich erneut Schweigen zwischen uns ausbreitet. Ich traue mich nicht nachzuhaken, was genau er mit »finanziellen Umstellungen« meint. Wren und ich sind quasi Fremde. Wir haben nichts gemeinsam, bis auf dieses eine Ereignis in unserer Vergangenheit und unsere Freundschaft zu James. Unruhig rutsche ich auf dem Sitz hin und her. Wieso bin ich noch gleich in seinen Wagen gestiegen?

Wren wirft mir einen Seitenblick zu, sieht aber schnell wieder auf die Straße.

»Ich wollte mich schon seit längerer Zeit mit dir unterhalten, Ruby«, sagt er plötzlich.

Unsicher sehe ich ihn an. »Wieso?«

»Weil ich mich dir gegenüber wie ein totales Arschloch benommen habe. Damals auf der Party. Ich hätte mich dafür längst entschuldigen müssen.« Wren räuspert sich und rüttelt erneut an dem Radio, obwohl wir um keine Ecke gefahren sind und die Musik nach wie vor blechern aus den Lautsprechern kommt. »Ich hätte mich nicht so benehmen dürfen. Ich war unerfahren und dumm. Jetzt im Nachhinein schäme ich mich dafür. Und es tut mir leid.«

Das ist das Letzte, womit ich gerechnet habe, und es dauert einen Moment, bis die Bedeutung seiner Worte wirklich bei mir angekommen ist. Ich schlucke schwer. Sie klingen, als würde er sie ernst meinen, aber gleichzeitig bin ich skeptisch. Menschen verändern sich nicht von einem Tag auf den anderen.

»Du hast mich damals auf Cyrils Party total vor den Kopf gestoßen, indem du mich so darauf angesprochen hast. Da kam es mir nicht so vor, als würde dir die Sache von damals leidtun«, sage ich.

»Ich weiß. Ich … war skeptisch, weil du mit James auf dieser Party aufgetaucht bist, und wollte herausfinden, wieso. Irgendwie habe ich mich dabei total zum Idioten gemacht. So etwas wie auf der Party vor zwei Jahren würde ich nie wieder tun. Ich habe mich verändert. Ich hoffe, dir das bei Gelegenheit beweisen zu können.«

Stirnrunzelnd sehe ich aus dem Fenster. Grüne Bäume ziehen an uns vorbei, zwischendurch vereinzelt Wohnhäuser und kleinere Felder.

»Ich hätte dich damals auch ohne Alkohol geküsst«, sage ich schließlich und sehe Wren an. Er erwidert meinen Blick kurz, bevor er wieder nach vorn sieht. »Was du getan hast, war wirklich nicht in Ordnung. Du hättest mir sagen sollen, dass das nicht nur Fruchtpunsch ist.«

»Ich bereue, wie ich mich verhalten habe. Wirklich. Ich weiß, wie viel James an dir liegt, und deshalb bist du auch wichtig für mich. Ich hoffe, du kannst mir mein Verhalten irgendwann verzeihen.«

So kenne ich Wren überhaupt nicht. Was auch immer gerade bei ihm los ist – es scheint ihn dazu gebracht zu haben, über einiges nachzudenken.

»Danke für die Entschuldigung«, sage ich nach einer Weile.

Er nickt knapp und konzentriert sich wieder auf die Fahrbahn.

In der Stille, die darauf folgt, wandern meine Gedanken wie automatisch zu den Fotos und dem geschwungenen B auf dem Umschlag, der an Rektor Lexington adressiert gewesen ist. Ich erinnere mich an James’ Blick, als er zugegeben hat, die Fotos gemacht zu haben.

Ich habe ihm vertraut. Ich habe geglaubt, sein wahres Ich zu kennen. Kann ich mich wirklich so in ihm getäuscht haben? Aber wieso sollte er mir das antun wollen? Nach allem, was wir in den letzten Monaten zusammen durchgestanden haben?

Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger passen die verschiedenen Puzzleteile zusammen. Diese gesamte Situation ist so unwirklich. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war der Plan, die nächste Veranstaltung mit dem Team zu besprechen und mit James in der Bibliothek zu lernen. Und jetzt? Jetzt sitze ich in Wren Fitzgeralds Auto, weil dieser mir seine Hilfe angeboten hat.

»Warum interessiert es dich überhaupt, ob James und ich uns vertragen?«, frage ich ihn. Mein Ton ist misstrauischer, als ich beabsichtigt habe, und ich sehe, wie sich Wrens Schultern versteifen. »Das kam falsch raus«, schiebe ich schnell hinterher. »Ich dachte nur, es nervt dich eher, dass James Zeit mit mir verbringt.«

Wren setzt den Blinker, und wir biegen auf eine weitere Landstraße ab. Jetzt sind es noch höchstens zehn Minuten, bis wir bei James sind. Als dieses Mal die Musik verstummt, lässt Wren sie ausgeschaltet.

»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagt er nach einem Moment. »Ich konnte bloß nicht verstehen, wie wir James nach mehr als fünfzehn Jahren Freundschaft plötzlich nicht mehr wichtig sein konnten.«

»Das stimmt nicht. Eure Freundschaft bedeutet ihm mehr als alles andere.«

Wren lächelt. »Für einen kurzen Moment habe ich daran gezweifelt. Wahrscheinlich, weil ich selbst so viel um die Ohren hatte.«

Ich nicke nachdenklich.

»Und ich …« Einen Moment lang sucht Wren nach den richtigen Worten. »Ich habe James noch nie so gesehen wie in den letzten Wochen. Die meisten Leute wissen das nicht, aber er war lange Zeit wirklich unglücklich. Sein Vater ist ein Arschloch, und obwohl James es mir gegenüber noch nie ausgesprochen hat: Hätte er eine Wahl, würde er niemals bei Beaufort arbeiten. Daran kann er nichts ändern, aber seit er dich kennt, ist er irgendwie … lockerer. Ruhiger.«

Ich spüre, wie mein Gesicht warm wird.

»Ich wünsche mir, dass er glücklich ist.« Er wirft mir einen Blick zu. »Und du machst ihn glücklich.«

Ich suche nach den richtigen Worten, doch Wren ist noch nicht fertig.

»Als Alistair mir vorhin von der Sache mit deiner Suspendierung erzählt hat und ich dich dann in Gormsey gesehen habe, wollte ich euch einfach helfen. Ich habe hierbei keinen Hintergedanken. Ehrenwort.«

»Okay«, sage ich.

»Außerdem …«, Wren räuspert sich. »… kann ich James mittlerweile viel besser verstehen. Vielleicht hat es auch damit was zu tun.«

Ich will ihn fragen, was er damit meint, aber in diesem Moment fahren wir auf das Grundstück der Beauforts. Wren kurbelt sein Fenster hinunter, und ich erwarte, dass er auf die Klingel an der Seite des Tors drückt, neben der sich ein kleines Display befindet, auf dem man via Kamera den jeweiligen Besucher sehen kann. Zu meiner Überraschung holt er allerdings eine Schlüsselkarte aus dem kleinen Fach über seiner Sonnenblende hervor und legt sie neben das Display auf eine glänzende schwarze Fläche. Das Tor geht langsam auf, und wir fahren die Auffahrt hoch.

Mein Magen macht einen Satz, als ich von Weitem die Limousine erkenne, die vor dem Eingang des Herrenhauses steht.

»Was ist denn da los?«, höre ich Wren murmeln.

Erst da fällt mir auf, dass der Kofferraum offen steht und Percy gerade große Taschen darin verstaut.

Ich schlucke schwer. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Wren parkt den Wagen, und wir steigen aus. In diesem Moment erscheint Lydia im Hauseingang. Sie hat beide Hände vors Gesicht geschlagen, und ihre Schultern beben. James steht mit aschfahlem Gesicht neben ihr und hat einen Arm um ihre Schultern gelegt. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, was Lydia dazu bringt zu nicken. Der Anblick erinnert mich an die Bilder der Beerdigung, und mich überläuft es kalt.

Wren und ich wechseln einen beunruhigten Blick, dann setzen wir uns in Bewegung. Gerade als wir an der Treppe ankommen, die zum Eingang hochführt, erscheint Mortimer Beaufort in der Haustür. Sein stählerner Blick trifft mich mit voller Wucht, doch er kann mich nicht davon abhalten, die Stufen zu Lydia nach oben zu gehen.

James’ Augen weiten sich, als er mich erblickt. »Ruby«, flüstert er. »Was –«

Ich schüttle nur den Kopf und berühre sanft Lydias Arm. »Lydia«, wispere ich.

Sie lässt die Hände sinken. Ihre Wangen sind tränenüberströmt, aber das ist nicht das Schlimmste: Rote und leicht bläuliche Flecken verfärben eine Hälfte ihres Gesichts. Mein Herz macht einen schmerzhaften Satz, und wie von selbst hebe ich den Blick zu Mr Beaufort.

Dieser verzieht keine Miene. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Mann mehr hassen könnte, als ich es ohnehin schon tue, aber in diesem Moment würde ich am liebsten auf ihn losgehen und ihn das Leid, das er James und Lydia zufügt, am eigenen Körper spüren lassen.

»Was ist passiert?«, fragt Wren neben mir und sieht zwischen James und Lydia hin und her. »Wofür sind die Koffer?«

Die beiden sehen aus, als stünden sie unter Schock.

»Lydia, es wird Zeit«, erklingt Mr Beauforts erhabene Stimme. Er geht an uns vorbei und die Stufen hinab zum Auto. Dann öffnet er demonstrativ die Tür.

»Dad weiß von der Schwangerschaft. Ich … ich soll weg von hier«, bringt Lydia hervor. »Zu meiner Tante.«

»Schwangerschaft?«, fragt Wren stirnrunzelnd.

James’ Griff um Lydias Schulter verstärkt sich.

»Ich bin schwanger«, flüstert Lydia. »Von Graham Sutton.«

Wren starrt Lydia an und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn aber wieder. Offensichtlich hat es ihm die Sprache verschlagen.

»Lydia!«, donnert Mr Beaufort.

Panik wallt in mir auf, und ich blicke über die Schulter zurück zum Wagen. »Kann ich irgendetwas tun?«, frage ich. Das Gefühl von Abschied liegt in der Luft – etwas, womit ich überhaupt nicht umgehen kann. Schon gar nicht, wenn es so plötzlich über mich hereinbricht.

»Gibt es nichts, was ich machen kann?«, frage ich panisch.

Sie schüttelt nur den Kopf und wischt sich über die Wangen. »Nein. Ich … ich melde mich bei dir, sobald ich wieder ein Handy habe.«

»Okay«, krächze ich.

Sie macht sich langsam von James los und geht die Stufen der Treppe nach unten. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so machtlos gefühlt.

»Ruby«, sagt James leise, und unsere Blicke treffen sich. Er greift zögerlich nach meiner Hand und fährt mit dem Daumen über meinen Handrücken.

»Ich schwöre dir, dass ich diese Fotos nicht an Lexington geschickt habe.«

In meinem Kopf wirbeln die unterschiedlichsten Gedanken umher, und ich weiß nicht, worauf ich mich als Erstes konzentrieren soll. James scheint es ähnlich zu gehen.

»Ich würde dir so gern alles erklären, aber ich kann Lydia nicht allein mit Dad nach Beckdale fahren lassen.« Er drückt meine kalte Hand. »Bitte vertrau mir.«

Ich denke an das, was James und ich in den letzten Monaten aufgebaut haben. Dass wir uns versprochen haben, immer offen miteinander zu sprechen, füreinander da zu sein und nicht mehr zuzulassen, dass sich irgendetwas zwischen uns drängt.

Jetzt ist nicht der richtige Augenblick für eine Aussprache. Und auch wenn ich noch vor wenigen Stunden dachte, dass ich James nie wieder in die Augen sehen könnte, weiß ich nun, dass ich bereit bin, mir seine Erklärung anzuhören.

»Ich kann nicht ewig warten«, sage ich. »Du hast mich heute wirklich verletzt.«

»Ich weiß. Es tut mir so leid. Aber ich bitte dich – dieses eine letzte Mal«, sagt er leise.

Ich nicke und lasse dann seine Hand los.

James wendet sich an Wren. »Die anderen wissen nichts von der Schwangerschaft. Bitte behalte das für dich.«

Wren nickt knapp.

Dann geht James die Treppe hinunter und steigt zu Lydia in den Wagen. Percy schließt die Tür und geht zur Fahrerseite. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke über den Rolls-Royce hinweg. Percy sieht genauso traurig aus, wie ich mich fühle.

Dann steigt auch er ein, und gleich darauf startet der Wagen. Ich sehe den roten Rücklichtern nach, bis sie durch das Tor verschwunden sind, mein Puls rast wie verrückt.

»Verdammt«, sagt Wren.

Ich kann nicht anders, als stumm zu nicken.

Ein paar Minuten bleiben wir nebeneinander stehen und starren in die Richtung, in die der Rolls-Royce verschwunden ist. Dann seufzt Wren.

»Komm«, sagt er. »Bringen wir uns auf andere Gedanken.«

Alistair

Das Training heute ist richtig übel. James, Wren und Cyril tauchen nicht auf, und keiner von ihnen hat dem Coach Bescheid gegeben, was bei diesem für miese Laune sorgt. Er bellt uns Befehle zu und scheucht uns wie ein Irrer über den Platz, und als es nach eineinhalb Stunden endlich vorbei ist, mache ich innerlich drei Kreuze. Völlig durchgeschwitzt will ich zur Bank gehen, um meine Flasche zu holen, doch ich komme nicht weit.

Einer der Frischlinge rempelt mich heftig von der Seite an. Er trifft mich so unvorbereitet, dass ich ins Straucheln komme und mich nur gerade so wieder fangen kann. Als ich ihn mahnend ansehe, wirft er mir einen herausfordernden Blick zu. Das ist wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Ich mache einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Hast du ein Problem, Kenton?«, frage ich.

»Wegen deiner beschissenen Clique hat der Coach uns heute gequält«, zischt er und spuckt neben mir auf den Boden.

»Und das ist meine Schuld, weil …?«

»Du kannst dich darum kümmern, dass das nicht noch mal passiert. Es gibt nämlich noch Leute, die das hier ernst nehmen.«

Mit diesen Worten stapft er in Richtung Umkleide davon. Es kostet mich alle Mühe, ihm nicht hinterherzulaufen und zu zeigen, was ich von seiner Aufmüpfigkeit halte. Ich beiße die Zähne fest aufeinander und reiße die Verschlüsse der Handschuhe auf. Ich ziehe sie mir von den Händen und stopfe sie seitlich in meine Trainingshose.

Gegen meinen Willen wandern meine Augen zum Tor, wo Kesh gerade noch dabei ist, die Bälle einzusammeln und in einer der Kisten zu verstauen.

Normalerweise hätte ich mich bei ihm über den Frischling aufgeregt. Kesh hat die Gabe, mich in solchen Situationen wieder beruhigen zu können, einfach nur, indem er zuhört.

Wenn Kesh einem zuhört, hat man das Gefühl, ernst genommen zu werden. Er ist ruhig und besonnen, und seine Ratschläge sind gut durchdacht. Das war schon immer eine der Eigenschaften, die ich am meisten an ihm geschätzt habe, zumal ich das genaue Gegenteil von ihm bin – aufbrausend und impulsiv. Wir ergänzen uns perfekt, was auch der Grund dafür ist, dass Kesh, seit ich denken kann, mein bester Freund ist.

War, korrigiere ich mich in Gedanken.

Kesh war mein bester Freund.

Manchmal frage ich mich, ob ich mich niemals auf ihn hätte einlassen sollen. Vielleicht hätten wir unsere Freundschaft so retten können. Dann denke ich aber an unsere gemeinsamen Momente zurück und spüre ein Echo des Kribbelns und der Gefühle, die er in mir ausgelöst hat.

Doch das mit uns ist vorbei, und ich sehe auch keine Möglichkeit, unsere Fehler rückgängig zu machen. Als Kesh vor ein paar Wochen meinen Bruder angefahren hat, ist der Streit zwischen uns daraufhin eskaliert. Ich habe Kesh gesagt, dass ich so nicht mehr weitermachen kann und ich es keinen Tag länger aushalte, in der Schule so tun zu müssen, als wären wir bloß Freunde, während wir immer, wenn wir allein waren, so etwas wie ein Paar waren. Dass ich ihn auch in der Öffentlichkeit küssen und seine Hand halten möchte, wenn wir mit unseren Freunden unterwegs sind. Und ich, sollte er mir das alles nicht geben können, wieder an den Punkt zurückmöchte, wo wir uns noch vor einem Jahr befunden haben. Ich wollte, dass wir wieder beste Freunde sind. Nur beste Freunde. Mehr nicht.

Keshs Antwort war ein ruhiges »Geht klar«, welches sich einerseits wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt, mir andererseits aber auch Hoffnung gegeben hat, dass es zumindest für unsere Freundschaft eine zweite Chance geben kann, weil wir die Dinge zwischen uns endlich geklärt haben.

Doch egal wie sehr wir uns auch bemühen, unbefangen miteinander umzugehen, fühlt es sich seitdem überhaupt nicht so an, als wäre alles wie früher. Da ist etwas zwischen uns, was ich nicht ignorieren kann, und es wird stärker, je länger ich in Keshs Gegenwart bin.

Oder je länger ich ihn anstarre, womit ich jetzt definitiv aufhören sollte.

Ich wende den Blick von ihm ab und gehe zum Rand des Trainingsplatzes, wo meine Sporttasche auf der Bank liegt. Mit einer Hand hole ich die Wasserflasche, mit der anderen mein Handy heraus. Wren hat mir geschrieben.

SOS. Kann ich mit Ruby zu dir kommen? Irgendeine Scheiße ist bei den Beauforts vorgefallen, und wir könnten Ablenkung brauchen.

»Fuck«, murmle ich. Das hat jetzt gerade noch gefehlt.

»Was ist los?«, erklingt Keshs Stimme hinter mir. Er hält ein ganzes Stück Abstand, und trotzdem stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich konzentriere mich darauf, die Antwort an Wren zu tippen, dann schiebe ich das Handy zurück in die Sporttasche.

»Wren kommt gleich mit Ruby zu mir.« Ich drehe mich zu Kesh um. Sein Blick liegt auf mir, und es kostet mich einiges an Mühe, die Reaktion zu unterdrücken, die mein Körper jedes verdammte Mal auf ihn hat.

»Ruby muss sich schrecklich fühlen«, sagt Kesh. Er nimmt seine Sachen von der Bank, und zusammen gehen wir in Richtung Umkleide. »Angeblich hatte sie was mit Sutton und ist deshalb von der Schule suspendiert worden.« Sein skeptischer Tonfall verrät mir, dass er den Gerüchten keinerlei Glauben schenkt.

»Sie hat definitiv nicht mit Sutton rumgemacht.«

Kesh sieht mich fragend von der Seite an.

»Du warst dabei, als James die Fotos gemacht hat, oder?«, frage ich. Kesh ist ein guter Beobachter. Das kann ihm eigentlich nicht entgangen sein.

»Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie weitergeschickt hat. Ich glaube, da steckt mehr hinter.«

Ich brumme unschlüssig. James hat schon weitaus schlimmere Dinge getan, als ein paar Fotos weiterzuleiten, aber gleichzeitig kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er irgendetwas tun würde, was Ruby derart schadet.

Ich räuspere mich. »Kommst du mit zu mir?«

Kesh bleibt mitten im Flur stehen. Fragend sieht er mich an. Ein paar Strähnen haben sich aus dem unordentlichen Knoten gelöst, den er sich fürs Training immer macht. Am liebsten würde ich die Hand ausstrecken und sie hinter sein Ohr schieben. Ich unterdrücke den Impuls und umklammere stattdessen die Wasserflasche so fest mit den Fingern, dass das Plastik knackt.

»Möchtest du mich denn dabeihaben?«, entgegnet er.