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Nach über 125 Jahren die erste vollständige deutsche Ausgabe - in der bewunderten Neuübersetzung von Gisbert Haefs Während des Sommers wird Simla, die verträumte Hill Station in den Bergen Nordindiens, zur Hauptstadt des riesigen Kolonialreichs. Briten wie Inder flüchten hierhin vor der erstickenden Hitze. Doch die Widersprüche zwischen ihnen sind mit im Gepäck: Grell und farbig wie indischen Gewürze leuchtet die Gewalt zwischen den Kulturen, die hier wie dort den Alltag bestimmt. Als die »Plain Tales from the Hills« 1888 erschienen, war Kipling gerade 23 Jahre alt, aber schon seit 5 Jahren rasender Reporter und hatte seine Erzählkunst so perfektioniert, dass sie dem Schöpfer des »Dschungelbuchs« 1907 den Nobelpreis einbrachte.
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Seitenzahl: 480
Rudyard Kipling
Falsche Dämmerung
Geschichten aus Indien (Fischer Klassik)
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
FISCHER E-Books
LOOK, you have cast out Love! What Gods are these
You bid me please?
The Three in One, the One in Three? Not so!
To my own Gods I go.
It may be they shall give me greater ease
Than your cold Christ and tangled Trinities.
The Convert
Schau, du hast die Liebe ausgestoßen! Was sind das für Götter,
denen zu huldigen ihr mich auffordert?
Die Drei in Einem? Der Eine in Dreien? So nicht!
Ich gehe zu meinen eigenen Göttern.
Vielleicht geben sie mir mehr Seelenfrieden
Als euer kalter Christus und die wirren Dreiheiten.
Der Konvertit
Sie war die Tochter von Sonū, einem Bergmenschen aus dem Himalaya, und seiner Frau Jadéh. In einem Jahr gedieh ihr Mais nicht, und zwei Bären verbrachten die Nacht in ihrem einzigen Mohnfeld, knapp oberhalb des Sutlej-Tals auf dem Kotgarh-Ufer; deshalb wurden sie im folgenden Jahr Christen und brachten ihr Baby zur Mission, um es taufen zu lassen. Der Kaplan von Kotgarh taufte sie Elizabeth, und »Lispeth« ist die Berg- oder pahari-Aussprache davon.
Später kam die Cholera ins Kotgarh-Tal und holte Sonū und Jadéh, und Lispeth wurde halb Dienerin, halb Gesellschafterin der Frau des damaligen Kaplans von Kotgarh. Das war nach der Herrschaft der Herrnhuter in dieser Gegend, aber bevor Kotgarh den Titel »Herrin der Nördlichen Berge« ganz vergessen hatte.
Ob das Christentum Lispeth verbesserte oder ob die Götter ihres eigenen Volks auf jeden Fall das gleiche für sie getan hätten, weiß ich nicht; aber sie wurde sehr hübsch. Wenn ein Bergmädchen hübsch wird, ist sie es wert, daß man fünfzig Meilen über schlechten Boden reist, um sie anzuschauen. Lispeth hatte ein griechisches Gesicht – eines jener Gesichter, wie Leute es so oft malen und so selten sehen. Sie war von blasser Elfenbeinfarbe und sehr groß gewachsen für ihr Volk. Außerdem hatte sie Augen, die wunderbar waren; und wäre sie nicht in das scheußliche bedruckte Tuch gekleidet gewesen, das den Missionen teuer ist, hätte man sie, wenn man ihr unerwartet am Berghang begegnete, für die echte römische Diana halten können, die zum Töten auszieht.
Lispeth ergab sich dem Christentum ganz leicht, und anders als manche Bergmädchen gab sie es auch nicht auf, als sie zur Frau heranwuchs. Ihre eigenen Leute haßten sie, weil sie, wie sie sagten, eine weiße Frau geworden war und sich täglich wusch; und die Frau des Kaplans wußte nicht, was sie mit ihr machen sollte. Eine prächtige Göttin – fünf Fuß zehn Zoll, in Schuhen – kann man nicht Teller und Schüsseln spülen lassen. Sie spielte mit den Kindern des Kaplans und nahm an der Sonntagsschule teil und las alle Bücher im Haus und wurde immer schöner, wie die Prinzessinnen in Märchen. Die Frau des Kaplans sagte, das Mädchen solle als Krankenschwester oder »irgendwas Besseres« Dienst in Simla tun. Aber Lispeth wollte keinen Dienst tun. Sie war sehr glücklich da, wo sie war.
Wenn Reisende – davon gab es in diesen Jahren nicht viele – nach Kotgarh kamen, schloß Lispeth sich immer in ihrem Zimmer ein, aus Angst, man könnte sie mit fortnehmen nach Simla oder hinaus in die unbekannte Welt.
Eines Tages, ein paar Monate nachdem sie siebzehn geworden war, ging Lispeth spazieren. Sie ging nicht spazieren nach Art englischer Ladys – eineinhalb Meilen hin und eine Kutschfahrt zurück. Auf ihren kleinen Erfrischungsgängen legte sie zwanzig bis dreißig Meilen zurück, auf jeglichem Boden, zwischen Kotgarh und Narkanda. Diesmal kam sie zurück, als es schon Abend geworden war, und den halsbrecherischen Abstieg nach Kotgarh bewältigte sie mit etwas Schwerem auf den Armen. Die Frau des Kaplans döste eben im Wohnzimmer, als Lispeth mit ihrer Last hereinkam, schwer atmend und erschöpft. Lispeth legte die Bürde auf das Sofa und sagte schlicht: »Das ist mein Mann. Ich habe ihn auf der Straße nach Bagi gefunden. Er hat sich weh getan. Wir werden ihn pflegen, und wenn er gesund ist, wird Ihr Mann ihn mit mir vermählen.«
Dies war Lispeths erste Erwähnung ihrer Ansichten über die Ehe, und die Frau des Kaplans kreischte vor Entsetzen. Der Mann auf dem Sofa brauchte jedoch vordringliche Aufmerksamkeit. Er war ein junger Engländer, und sein Kopf war von etwas Zackigem bis auf den Knochen aufgeschnitten. Lispeth sagte, sie habe ihn am Fuß des Berghangs gefunden, und sie hatte ihn heimgebracht. Er atmete seltsam und war bewußtlos.
Er wurde ins Bett gelegt und vom Kaplan gepflegt, der etwas von Medizin verstand; und Lispeth wartete vor der Tür, falls sie gebraucht würde. Dem Kaplan erklärte sie, dies sei der Mann, den sie zu heiraten gedenke; und der Kaplan und seine Frau machten ihr strenge Vorhaltungen ob der Unziemlichkeit ihres Betragens. Lispeth lauschte ruhig und wiederholte ihre Absicht. Es ist eine ganze Menge Christentum nötig, um unzivilisierte östliche Instinkte wie Liebe auf den ersten Blick zu tilgen. Lispeth, die den Mann zum Vergöttern gefunden hatte, sah nicht ein, daß sie hinsichtlich ihrer Wahl stumm sein sollte. Sie hatte auch keineswegs vor, sich fortschicken zu lassen. Sie würde diesen Engländer pflegen, bis er gesund genug war, um sie zu heiraten. Das war ihr Programm.
Nach zwei Wochen mit leichtem Fieber und Entzündung kam der Engländer wieder völlig zu sich und dankte dem Kaplan und dessen Frau und Lispeth – vor allem Lispeth – für ihre Freundlichkeit. Er sagte, er sei auf Reisen im Osten – in jenen Tagen, als die P.&O.-Flotte klein war, sprach man noch nicht von »Globetrottern« –, und er sei von Dehra Dun hergekommen, um in den Bergen um Simla Pflanzen und Schmetterlinge zu suchen. Deshalb wisse niemand in Simla von ihm. Er nehme an, daß er über eine Felskante gefallen sei, als er nach einem Farn auf einem morschen Baumstumpf langte, und daß seine Kulis das Gepäck gestohlen haben und geflohen sein müßten. Er beabsichtige, nach Simla zurückzukehren, sobald er ein wenig kräftiger sei. Er lege keinen Wert auf weitere Bergtouren.
Er beeilte sich nicht sehr mit der Abreise und kam nur langsam wieder zu Kräften. Lispeth weigerte sich, Ratschläge des Kaplans oder seiner Frau anzunehmen; deshalb redete letztere mit dem Engländer und erzählte ihm, wie in Lispeths Herz die Dinge stünden. Er lachte herzlich und sagte, das sei alles sehr hübsch und romantisch; da er aber mit einem Mädchen zu Hause verlobt sei, werde wohl nichts daraus werden. Natürlich wolle er sich gebührlich betragen. Dies tat er. Dennoch fand er es sehr angenehm, mit Lispeth zu sprechen und mit Lispeth spazierenzugehen und ihr nette Dinge zu sagen und ihr Kosenamen zu geben, während er ausreichend kräftig wurde, um abzureisen. Ihm bedeutete es überhaupt nichts, und Lispeth bedeutete es alles auf der Welt. Diesen halben Monat lang war sie sehr glücklich, denn sie hatte einen Mann zum Lieben gefunden.
Als gebürtige Wilde gab sie sich keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und der Engländer war amüsiert. Als er aufbrach, ging Lispeth mit ihm die Bergstraße entlang bis nach Narkanda, sehr bekümmert und sehr unglücklich. Die Frau des Kaplans, als gute Christin und jeder Art Aufruhr oder Skandal abgeneigt – Lispeth war vollkommen jenseits ihrer Kontrolle –, hatte den Engländer angewiesen, Lispeth zu sagen, er werde wiederkommen, um sie zu heiraten. »Sie ist doch noch ein Kind, wissen Sie, und, fürchte ich, im Herzen eine Heidin«, sagte die Frau des Kaplans. Deshalb versicherte der Engländer die ganzen zwölf Meilen bergauf, mit dem Arm um Lispeths Hüfte, dem Mädchen, daß er zurückkommen und sie heiraten werde; und Lispeth ließ ihn das wieder und wieder versprechen. Auf dem Narkanda-Grat weinte sie, bis er auf dem Weg nach Matiana außer Sicht geraten war.
Dann trocknete sie die Tränen, ging zurück nach Kotgarh und sagte zur Frau des Kaplans: »Er wird wiederkommen und mich heiraten. Er ist zu seinen Leuten gegangen, um es ihnen zu sagen.« Und die Frau des Kaplans tröstete Lispeth und sagte: »Er kommt bald zurück.« Nach zwei Monaten wurde Lispeth ungeduldig, und man sagte ihr, der Engländer sei übers Meer nach England gereist. Sie wußte, wo England war, weil sie die kleinen Erdkundebücher gelesen hatte; als Bergmädchen hatte sie aber natürlich keine Vorstellung davon, was ein Meer ist. Im Haus gab es ein altes Weltkarten-Puzzle. Als Kind hatte Lispeth damit gespielt. Sie kramte es wieder hervor und setzte es abends zusammen, weinte vor sich hin und versuchte sich auszumalen, wo ihr Engländer war. Da sie keine Ahnung von Entfernungen oder Dampfern hatte, waren ihre Vorstellungen ziemlich wild. Es hätte nicht das geringste ausgemacht, wenn sie absolut richtig gelegen hätte; denn der Engländer hatte nicht die Absicht, zurückzukommen und ein Bergmädchen zu heiraten. Er hatte sie bereits völlig vergessen, als er in Assam Schmetterlinge jagte. Später schrieb er ein Buch über den Osten. Lispeths Name kam darin nicht vor.
Nach drei Monaten pilgerte Lispeth täglich nach Narkanda, um zu sehen, ob nicht ihr Engländer die Straße entlangkäme. Es tröstete sie, und da sie glücklicher schien, dachte die Frau des Kaplans, sie sei dabei, ihren »barbarischen und ganz ungehörigen Wahn« zu überwinden. Bald darauf halfen die Wanderungen Lispeth nicht mehr, und ihre Stimmung wurde sehr schlecht. Die Frau des Kaplans hielt dies für eine gedeihliche Gelegenheit, sie über den wirklichen Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen – daß der Engländer seine Liebe nur versprochen hatte, um sie ruhig zu halten – daß er es niemals ernst gemeint hatte und daß es von Lispeth töricht und unziemlich sei, an eine Heirat mit einem Engländer zu denken, der aus besserem Lehm geformt sei und außerdem einem Mädchen seines eigenen Volkes zur Ehe versprochen. Lispeth sagte, all dies sei ganz klar unmöglich, denn er habe gesagt, er liebe sie, und die Frau des Kaplans habe mit eigenen Lippen bestätigt, daß der Engländer wiederkommen werde.
»Wie kann unwahr sein, was er und Sie gesagt haben?«, fragte Lispeth.
»Wir haben es als Ausrede gebraucht, um dich zu beruhigen, Kind«, sagte die Frau des Kaplans.
»Dann habt ihr mich belogen«, sagte Lispeth, »Sie und er?«
Die Frau des Kaplans neigte den Kopf und sagte nichts. Lispeth schwieg ebenfalls kurze Zeit; dann ging sie hinaus, hinab ins Tal, und kam zurück in der Kleidung eines Bergmädchens – unsagbar schmutzig, aber ohne Nasenpflock und Ohrringe. Sie hatte ihr Haar zu dem langen, mit schwarzem Zwirn verstärkten Zopf geflochten, den Bergfrauen tragen.
»Ich gehe zurück zu meinen eigenen Leuten«, sagte sie. »Ihr habt Lispeth getötet. Jetzt gibt es nur noch die Tochter der alten Jadéh – die Tochter eines pahari und Dienerin von Tarka Devi. Ihr seid alle Lügner, ihr Engländer.«
Bis die Frau des Kaplans sich erholt hatte von dem Schock über die Verkündung, daß Lispeth sich wieder zu den Göttern ihrer Mutter bekenne, war das Mädchen verschwunden; und sie kam nie zurück.
Sie schloß sich ihrem unsauberen Volk mit wilder Inbrunst an, als ob sie die Rückstände des Lebens, aus dem sie ausgeschieden war, abarbeiten müßte; und nach kurzer Zeit heiratete sie einen Holzfäller, der sie schlug, nach Art der paharis, und ihre Schönheit schwand bald.
»Die Unbeständigkeit der Heiden entzieht sich jeder Gesetzmäßigkeit«, sagte die Frau des Kaplans, »und ich glaube, Lispeth war im Herzen immer eine Ungläubige.« Da sie im reifen Alter von fünf Wochen in die Englische Kirche aufgenommen worden war, spricht diese Feststellung nicht besonders für die Frau des Kaplans.
Lispeth starb als sehr alte Frau. Bis zum Ende beherrschte sie das Englische vollkommen, und wenn sie ausreichend betrunken war, ließ sie sich manchmal dazu verleiten, die Geschichte ihrer ersten Liebschaft zu erzählen.
Dann war es nicht leicht, sich klarzumachen, daß die triefäugige, runzlige Kreatur, die so sehr einem Bündel verkohlter Fetzen glich, je »Lispeth von der Kotgarh-Mission« gewesen sein sollte.
Wenn dir Halfter und Fersenleine entglitten sind,
jage nicht mit Stöcken, sondern mit gram.
(Punjabi-Sprichwort)
Nach der Hochzeit tritt eine Reaktion ein, manchmal eine große, manchmal eine kleine; aber früher oder später kommt sie, und beide Beteiligte müssen damit fertigwerden, wenn sie den Rest ihres Lebens mit dem Strom schwimmen wollen.
Bei den Cusack-Bremmils stellte sich diese Reaktion erst im dritten Jahr nach der Hochzeit ein. Bremmil war im besten Fall schwer zu zügeln; aber er war ein wunderbarer Ehemann, bis das Baby starb und Mrs. Bremmil Schwarz trug, abmagerte und trauerte, als wäre dem Universum der Boden ausgefallen. Vielleicht hätte Bremmil sie trösten sollen. Er versuchte es, aber je mehr er tröstete, um so mehr grämte sich Mrs. Bremmil, und um so unbehaglicher fühlte sich folglich Bremmil. Eigentlich brauchten beide ein Tonikum. Und sie bekamen es. Jetzt kann Mrs. Bremmil darüber lachen, aber damals war ihr gar nicht lustig zumute.
Mrs. Hauksbee erschien am Horizont, und wo sie war, durfte man getrost mit Ärger rechnen. In Simla hieß sie auch »Sturmschwalbe«. Genau weiß ich von fünf Fällen, in denen sie diesen Titel errungen hatte. Sie war eine kleine braune, dünne, fast magere Frau, mit großen veilchenblauen Kulleraugen und den reizendsten Manieren auf der Welt. Beim Nachmittagstee brauchte man nur ihren Namen zu nennen, damit jede Frau im Raum sich aufrichtete und sie unheilig sprach. Mehr als die meisten ihrer Art war sie klug, witzig, geistreich und sprühend, aber von vielen boshaften Unfugteufeln besessen. Dabei konnte sie nett sein, sogar zum eigenen Geschlecht. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nach dem Tode des Babys und dem darauf folgenden allgemeinen Unbehagen riß Bremmil aus, und Mrs. Hauksbee annektierte ihn. Sie hatte keine Lust, ihre Gefangenen zu verbergen. Sie annektierte ihn öffentlich und sorgte dafür, daß die Öffentlichkeit es sah. Er ritt mit ihr und spazierte mit ihr und plauderte mit ihr und picknickte mit ihr und aß mit ihr bei Peliti, bis die Leute die Brauen hoben und »schockierend!« sagten. Mrs. Bremmil blieb zu Hause, kramte in den Kleidern des toten Kindes und weinte in die leere Wiege. Sie wollte nichts anderes tun. Aber an die acht liebe, treue Freundinnen legten ihr die Situation ausführlich dar, damit sie nicht das Beste verpaßte. Mrs. Bremmil hörte still zu und dankte ihnen für die guten Dienste. Sie war nicht so klug wie Mrs. Hauksbee, aber sie war keine Närrin. Sie behielt alles für sich und redete mit Bremmil nicht über das, was sie gehört hatte. Das ist bemerkenswert. Mit einem Ehemann sprechen oder seinetwegen weinen hat noch nie genützt.
Wenn Bremmil zu Hause war – nicht oft –, war er zärtlicher als gewöhnlich; und damit verriet er sich. Teils zwang er sich zu dieser Zärtlichkeit, um sein Gewissen zu beruhigen, und teils, um seine Frau zu trösten. Beides gelang ihm nicht.
Dann wurde »der diensthabende Adjutant von Ihren Exzellenzen, Lord und Lady Lytton, angewiesen, Mr. und Mrs. Cusack-Bremmil für den 26. Juli 21:30 Uhr nach Peterhoff einzuladen«. Unten in der linken Ecke stand »Tanz«.
»Ich kann nicht hingehen«, sagte Mrs. Bremmil, »es ist zu kurz, nachdem die arme kleine Florrie … aber das braucht dich nicht abzuhalten, Tom.«
Sie meinte, was sie da sagte, und Bremmil sagte, er würde hingehen, nur um sich sehen zu lassen. Er sprach die Unwahrheit, und Mrs. Bremmil wußte es. Sie ahnte – die Ahnung einer Frau ist viel sicherer als die Gewißheit eines Mannes –, daß er von Anfang an hatte hingehen wollen, und zwar mit Mrs. Hauksbee. Sie setzte sich hin und dachte nach, und das Ergebnis ihrer Gedanken war die Erkenntnis, daß die Erinnerung an ein totes Kind erheblich weniger wert sei als die Zuneigung eines lebenden Mannes. Sie heckte einen Plan aus und setzte alles darauf. In dieser Stunde entdeckte sie, daß sie Tom Bremmil durch und durch kannte, und auf Grund dieser Kenntnis handelte sie.
»Tom«, sagte sie, »ich esse am 26. auswärts zu Abend, bei den Longmores. Du ißt wohl besser etwas im Club.«
Das ersparte Bremmil die Suche nach einer Ausrede, um wegzukommen und mit Mrs. Hauksbee zu essen, also war er dankbar und kam sich gleichzeitig klein und schäbig vor – was gut für ihn war. Bremmil verließ das Haus um fünf, um auszureiten. Gegen halb sechs wurde ein großer lederbedeckter Korb von Phelps für Mrs. Bremmil geliefert. Sie war eine Frau, die sich anzuziehen verstand; und sie hatte nicht umsonst eine Woche damit zugebracht, dieses Kleid zu entwerfen und es mit Zwickeln und Säumen und Grätenstichen und Falten und Rüschen versehen zu lassen (oder wie das sonst heißen mag). Es war ein hinreißendes Gewand – gedämpfte Trauer. Beschreiben kann ich es nicht, aber es war, was The Queen eine »Kreation« nennt – es traf einen mitten zwischen die Augen und ließ einen nach Luft schnappen. Sie fühlte sich nicht allzu wohl bei ihrem Unterfangen; aber als sie in den langen Spiegel blickte, sah sie mit Befriedigung, daß sie nie in ihrem Leben so gut ausgesehen hatte. Sie war groß und blond, und wenn sie wollte, war ihre Haltung prachtvoll.
Nach dem Essen bei den Longmores ging sie weiter zum Ball – ein bißchen spät – und begegnete Bremmil mit Mrs. Hauksbee am Arm. Das ließ sie erröten, und als die Männer sich um sie drängten, um sich Tänze zu sichern, sah sie großartig aus. Sie füllte alle Tänze aus bis auf drei, die sie offen ließ. Mrs. Hauksbee fing einmal einen Blick von ihr auf und wußte, es herrschte Krieg – richtiger Krieg – zwischen ihnen.
Sie ging mit einem Handicap in den Kampf, denn sie hatte Bremmil ein ganz klein bißchen zu sehr herumkommandiert, und es begann ihm zu mißfallen. Außerdem hatte er seine Frau noch nie so schön gesehen. Unter Türbögen staunte und aus Korridoren starrte er sie an, wie sie sich mit ihren Partnern bewegte; und je mehr er starrte, desto hingerissener war er. Er konnte kaum glauben, daß dies die Frau mit den roten Augen und dem schwarzen Wollkleid war, die beim Frühstück immer über den Eiern weinte.
Mrs. Hauksbee tat ihr Bestes, um ihn in Atem zu halten, aber nach zwei Tänzen ging er zu seiner Frau hinüber und bat um einen Tanz.
»Ich fürchte, Sie kommen zu spät, Mister Bremmil«, sagte sie, und ihre Augen funkelten.
Da bat er sie flehentlich, ihm einen Tanz zu gewähren, und als besondere Gunst versprach sie ihm den fünften Walzer. Zum Glück war Nr. 5 auf seiner Karte noch frei. Sie tanzten ihn zusammen, und im Saal gab es ein leises Raunen. Bremmil hatte irgendwie geahnt, daß seine Frau tanzen konnte, hatte aber nicht gewußt, daß sie so göttlich tanzte. Am Ende dieses Walzers bat er um einen weiteren – als Gunst, nicht als Recht, und Mrs. Bremmil sagte: »Zeig mir mal deine Karte, Liebster.« Er gab sie ihr, wie ein Schuljunge seinem Lehrer verbotene Süßigkeiten aushändigt. Es standen etliche »H« darauf, außerdem »H« beim Abendessen. Mrs. Bremmil sagte nichts, sondern lächelte verächtlich, strich mit ihrem Bleistift die Sieben und die Neun durch – zweimal »H« – und gab ihm die Karte zurück, nachdem sie ihren eigenen Namen darübergeschrieben hatte – einen Kosenamen, den nur sie und ihr Mann verwendeten. Dann drohte sie ihm mit dem Finger und sagte lachend: »Ach du dummer, dummer Junge!«
Mrs. Hauksbee hörte es und spürte – das gab sie zu –, daß sie verloren hatte. Bremmil nahm Sieben und Neun dankbar an. Sie tanzten die Sieben, und bei der Neun saßen sie in einem der kleinen Zelte. Was Bremmil sagte und was Mrs. Bremmil tat, geht keinen etwas an.
Als die Kapelle The Roast Beef of Old England anstimmte, gingen die beiden auf die Veranda hinaus, und Bremmil sah sich nach dem dandy seiner Frau um (das war, bevor es Rikschas gab), während sie in die Garderobe ging. Mrs. Hauksbee kam zu ihm und sagte: »Sie führen mich doch zu Tisch, glaube ich, Mr. Bremmil?«
Bremmil wurde rot und machte ein dummes Gesicht. »Ah – hm! Ich gehe mit meiner Frau nach Hause, Mrs. Hauksbee. Ich glaube, es hat da ein kleines Mißverständnis gegeben.« Da er ein Mann war, redete er so, als wäre Mrs. Hauksbee für alles verantwortlich.
Mrs. Bremmil kam aus der Garderobe in einem Schwandaunen-Mantel, eine weiße »Wolke« um den Kopf. Sie sah strahlend aus; und sie hatte Anspruch darauf.
Das Paar verschwand in der Dunkelheit; Bremmil ritt ganz nah neben dem dandy.
Da sagte Mrs. Hauksbee zu mir (im Lampenlicht wirkte sie ein wenig welk und matt): »Mein Wort darauf – die dümmste Frau kann einen klugen Mann lenken; aber nur eine sehr kluge Frau einen Trottel.«
Dann gingen wir zu Tisch.
And some are sulky, while some will plunge
[So ho! Steady! Stand still, you!]
Some you must gentle, and some you must lunge.
[There! There! Who wants to kill you?]
Some – there are losses in every trade –
Will break their hearts ere bitted and made,
Will fight like fiends as the rope cuts hard,
And die dumb-mad in the breaking-yard.
Toolungala Stockyard Chorus
Einige sind trotzig, andere lassen sich fallen.
(He ho! Ruhig! Bleib stehen, du!)
Einige muß man tätscheln und andere longieren.
(Na! Na! Wer will dich denn umbringen?)
Einige – Schwund gibt’s in jedem Gewerbe –
richten sich zugrunde, ehe sie gezäumt und zahm sind,
kämpfen wie die Teufel, wenn die Leine sie schneidet,
und sterben dumpf und irre im Zureiter-Pferch.
Lied des Toolungala-Corrals
Einen Jungen in der Art aufziehen, die Eltern »behütet« nennen, ist nicht klug, wenn der Junge in die Welt hinaus und sich durchbeißen muß. Wenn er nicht der eine von tausend ist, wird er viele unnötige Schwierigkeiten zu überwinden haben und möglicherweise in ärgstes Unglück geraten, einfach weil er die richtigen Proportionen der Dinge nicht kennt.
Ein junger Hund soll ruhig die Seife im Badezimmer fressen oder an einem frischgewichsten Stiefel kauen. Er kaut und knurrt, bis er allmählich entdeckt, daß ihm von der Schuhwichse und brauner Windsor-Seife ganz schlecht wird; daraus schließt er dann, daß Seife und Stiefel unbekömmlich sind. Jeder alte Hund im Haus wird ihm schnell beibringen, daß es dumm ist, großen Hunden in die Ohren zu beißen. Da er jung ist, merkt er sich das und geht mit sechs Monaten als wohlerzogenes kleines Tier mit geläutertem Appetit in die Welt. Wenn man ihn von Stiefeln, Seife und großen Hunden ferngehalten hätte, bis er ausgewachsen und mit entwickeltem Gebiß auf diese Dreifaltigkeit stieße – man stelle sich vor, wie krank und verdroschen er wäre! Nun wende man diese Vorstellung auf das »wohlbehütete Leben« an und sehe, wie es funktioniert. Es klingt nicht nett, aber es ist das geringere von zwei Übeln.
Es war einmal ein Junge, der nach der Theorie des »behüteten Lebens« erzogen wurde; und diese Theorie brachte ihn um. Er war immer bei seinen Leuten, von der Stunde seiner Geburt bis zu der Stunde, da er fast als Bester auf der Liste nach Sandhurst ging. Man hatte ihn wunderbar in allem unterrichtet, was einem bei einem Privatlehrer Punkte einträgt, und als Extrabürde schleppte er noch mit sich, daß er »seinen Eltern im ganzen Leben noch keine einzige kummervolle Stunde bereitet« hatte. Was er jenseits der üblichen Routine in Sandhurst lernte, hat keine große Bedeutung. Er sah sich um und fand Seife und Schuhwichse sozusagen sehr gut. Er aß ein wenig davon und verließ Sandhurst nicht so weit oben, wie er hineingegangen war. Dann gab es eine Pause und eine Szene mit seinen Leuten, die sehr viel von ihm erwarteten. Als nächstes ein Jahr, von der Welt unbefleckt, in einem drittklassigen Ersatzbataillon, wo alle niedrigen Offiziere Kinder waren und alle höheren alte Weiber; und schließlich kam er nach Indien, wo er von der Unterstützung durch seine Eltern abgeschnitten war und sich in Zeiten der Not an niemanden wenden konnte als an sich selbst.
Nun ist Indien mehr als alle anderen ein Land, wo man die Dinge nicht zu ernst nehmen darf – die Mittagssonne immer ausgenommen. Zuviel Arbeit und zuviel Energie bringen einen genauso gründlich um wie zu viele assortierte Laster oder zuviel Alkohol. Flirten hat keine Bedeutung, weil jeder dauernd versetzt wird, so daß entweder du oder sie die Station ohne Wiederkehr verläßt. Gute Arbeit hat keine Bedeutung, weil einer nach den schwächsten Leistungen beurteilt wird und die besten in der Regel einem anderen gutgeschrieben werden. Schlechte Arbeit hat keine Bedeutung, weil andere es noch schlechter machen und die Unfähigen sich in Indien noch länger halten als woanders. Vergnügungen haben keine Bedeutung, weil man sie wiederholen muß, sobald man mit ihnen fertig ist, und die meisten nur darauf hinauslaufen, einem anderen Geld abzugewinnen. Krankheit hat keine Bedeutung, weil sie zum Tagewerk gehört, und wenn du stirbst, nimmt ein anderer in den acht Stunden zwischen Tod und Begräbnis deinen Platz und dein Amt ein. Nichts hat eine Bedeutung außer Heimaturlaub und Zulagen, und diese auch nur, weil sie rar sind. Es ist ein flaues Land, wo alle mit unvollkommenem Werkzeug arbeiten; und am besten flieht man so bald wie möglich irgendwohin, wo Vergnügen Vergnügen ist und ein guter Ruf der Mühe wert.
Aber dieser Junge – die Geschichte ist so alt wie die Berge – kam nach Indien und nahm alles ernst. Er war hübsch und wurde verwöhnt. Er nahm das Verwöhnen ernst und grämte sich wegen Frauen, die es nicht wert waren, daß man ein Pferd sattelte, um sie zu besuchen. Er fand das neue freie Leben in Indien sehr gut. Anfangs wirkt es ganz attraktiv, vom Standpunkt eines Leutnants aus – lauter Pferde, Partner, Bälle und so weiter. Er kostete es wie der junge Hund die Seife. Bloß kam er sehr spät dazu, mit fertigem Gebiß. Er konnte nicht abwägen – ganz wie der junge Hund – und begriff nicht, warum man ihn nicht so rücksichtsvoll behandelte wie in seines Vaters Haus. Das verletzte ihn.
Er zankte sich mit anderen Jungen, und weil er empfindlich war bis ins Mark, vergaß er diesen Zank nicht und regte sich lange darüber auf. Whist und Gymkhanas und derlei Dinge (die doch nur dazu da sind, daß man sich nach dem Dienst damit amüsiert) fand er gut; aber auch sie nahm er ernst, ebenso wie den Kater nach dem Rausch. Bei Whist und Gymkhanas verlor er sein Geld, weil ihm alles neu war.
Er nahm die Verluste ernst und verschwendete soviel Energie und Interesse an ein Zwei-Goldmohur-Rennen von unerprobten ekka-Ponys mit gestutzten Mähnen, als ob es das Derby wäre. Zur Hälfte lag das an mangelnder Erfahrung – so wie der junge Hund sich mit der Ecke des Kaminvorlegers balgt – und zur anderen Hälfte am Schwindel, der ihn ergriff, als er aus seinem ruhigen Leben plötzlich in den grellen Aufruhr eines lebhafteren hinaustrat. Niemand warnte ihn vor Seife und Schuhwichse, weil ein normaler Mensch es für selbstverständlich hält, daß ein normaler Mensch ihnen gegenüber normal vorsichtig ist. Es war ein Jammer zu sehen, wie der Junge sich aufrieb, so wie ein zu sehr an die Hand des Pferdeburschen gewöhntes Fohlen stürzt und sich verletzt, wenn es loskommt.
Dieser zügellose Genuß von Vergnügungen, die es nicht wert sind, daß man dafür aus der Reihe tänzelt, geschweige denn herumtobt und auskeilt, dauerte sechs Monate – die kühle Jahreszeit hindurch –, und dann glaubten wir, die Hitze und das Wissen, daß er sein Geld und die Gesundheit verloren und seine Pferde lahmgeritten hatte, würden den Jungen zur Vernunft bringen, und nun würde er sich behaupten. In neunundneunzig von hundert Fällen wäre es so gekommen. Auf jeder indischen Station kann man das Prinzip funktionieren sehen. Aber in diesem besonderen Fall versagte es, weil der Junge empfindlich war und alles ernst nahm – wie ich wohl schon siebenmal gesagt habe. Wir wußten natürlich nicht, wie seine Exzesse ihm persönlich vorkamen. Sie waren weder besonders erschütternd noch über dem Durchschnitt. Vielleicht war er finanziell bis ans Lebensende ruiniert und brauchte ein wenig Trost. Aber die Erinnerung an seine Taten würde in einer einzigen heißen Zeit verblassen, und die Bankiers würden ihm über seine Geldprobleme hinweghelfen. Nur muß er wohl alles ganz anders betrachtet und sich für unrettbar ruiniert gehalten haben. Am Ende der kühlen Jahreszeit sprach sein Oberst sehr ernst mit ihm. Das machte ihn noch unglücklicher; dabei war es nur ein gewöhnlicher »Rüffel«!
Was folgt, ist ein seltsames Beispiel dafür, wie wir alle zusammenhängen und füreinander verantwortlich sind. Was schließlich im Geist des Jungen den Tragbalken wegtrat, war die Bemerkung, die eine Frau machte, als er sich mit ihr unterhielt. Sie braucht hier nicht wiederholt zu werden, denn es war nur ein kleiner grausamer, gedankenlos geäußerter Satz, der ihn bis an die Haarwurzeln erröten ließ. Er blieb drei Tage lang für sich, dann reichte er für zwei Tage Urlaub ein, um in der Nähe eines Rasthauses für Kanalingenieure – etwa dreißig Meilen entfernt – zu jagen. Er bekam den Urlaub, und an dem Abend war er im Kasino lauter und ausfallender denn je. Er sagte, er wolle »Großwild schießen«, und brach um halb elf in einer ekka auf. Rebhühner – das einzige, was man bei dem Rasthaus erlegen konnte – sind kein Großwild, deshalb lachten alle.
Am nächsten Morgen kam einer der Majore von einem Kurzurlaub zurück und hörte, daß er fort war, um »Großwild« zu schießen. Dem Major lag etwas an dem Jungen, und mehr als einmal hatte er ihn zu bremsen versucht. Er hob die Brauen, als er von der Expedition hörte, und ging zur Wohnung des Jungen, wo er herumwühlte.
Bald kam er wieder heraus und begegnete mir, als ich gerade Karten im Kasino abgab. Außer uns war niemand im Vorraum. Er sagte: »Der Junge ist schießen gegangen. Jagt man wirklich titar mit Revolver und Schreibmappe?«
Ich sagte: »Unsinn, Major!«, denn ich begriff, was er sich dachte.
Er sagte: »Unsinn oder nicht, ich fahre jetzt zum Kanal – sofort. Mir gefällt das nicht.«
Dann überlegte er einen Moment und sagte: »Können Sie lügen?«
»Wissen Sie doch«, antwortete ich. »Das ist mein Beruf.«
»Sehr gut«, sagte der Major. »Sie fahren jetzt mit mir aus – sofort – in einer ekka zum Kanal, Schwarzhirsche jagen. Gehen Sie, ziehen Sie shikar-Zeug an – schnell – und bringen Sie ein Gewehr mit.«
Der Major war ein energischer Kerl, und ich wußte, daß er nicht umsonst Befehle erteilen würde. Deshalb gehorchte ich, und als ich zurückkam, fand ich den Major in einer ekka verstaut – Gewehrkasten und Proviant darunter festgemacht –, bereit zu einem Jagdausflug.
Er entließ den Fahrer und lenkte selbst. Solange wir in der Station waren, trabten wir gemütlich dahin; aber sobald wir die staubige Straße über die Ebene erreichten, ließ er das Pferd fliegen. Ein einheimisches Tier kann notfalls alles. Wir brachten die dreißig Meilen in knapp drei Stunden hinter uns, aber das arme Vieh war fast tot.
Einmal sagte ich: »Wozu die verflixte Eile, Major?«
Er sagte ruhig: »Der Junge ist jetzt seit – ein, zwei, fünf – vierzehn Stunden ganz allein! Ich sag Ihnen, es gefällt mir nicht.«
Sein Mißfallen übertrug sich auf mich, und ich half, das Pferd zu schlagen.
Als wir das Rasthaus der Kanalingenieure erreichten, rief der Major nach dem Diener des Jungen; aber es gab keine Antwort. Dann gingen wir hinauf zum Haus und riefen den Jungen beim Namen; aber es gab keine Antwort.
»Ach, er wird schießen sein«, sagte ich.
Dann sah ich durch eines der Fenster, daß eine kleine Sturmlaterne brannte. Das war nachmittags um vier. Wir blieben beide wie erstarrt auf der Veranda stehen und hielten die Luft an, um auch den leisesten Laut zu hören; und wir hörten aus dem Innenraum das »brr – brr – brr« einer Menge Fliegen. Der Major sagte nichts, aber er nahm den Helm ab, und wir gingen leise hinein.
Der Junge lag tot auf dem Bett mitten im kahlen weißgetünchten Zimmer. Mit dem Revolver hatte er sich den Kopf beinahe in Stücke geschossen. Die Gewehrkästen waren noch verschnürt, ebenso das Bettzeug, und auf dem Tisch lag die Schreibmappe des Jungen mit Fotos. Er hatte sich verzogen, um wie eine vergiftete Ratte zu sterben!
Der Major sagte leise wie zu sich: »Armer Junge! Armer, armer Teufel!« Dann wandte er sich vom Bett ab und sagte: »Ich brauche Ihre Hilfe bei dieser Geschichte.«
Da ich sah, daß der Junge von eigener Hand gestorben war, wußte ich genau, was das für eine Hilfe sein würde; deshalb ging ich zum Tisch, nahm einen Stuhl, zündete mir eine Zigarre an und begann, die Schreibmappe zu untersuchen; der Major sah mir über die Schulter und wiederholte halblaut: »Wir sind zu spät gekommen! – Wie eine Ratte in einem Loch! – Armer, armer Teufel!«
Der Junge mußte die halbe Nacht damit verbracht haben, an seine Familie zu schreiben, an seinen Obersten und an ein Mädchen daheim; und sobald er damit fertig war, muß er sich erschossen haben, denn als wir hereinkamen, war er schon lange tot gewesen.
Ich las alles, was er geschrieben hatte, und gab dem Major jedes Blatt weiter, wenn ich fertig war.
Aus seinen Berichten sahen wir, wie furchtbar ernst er alles genommen hatte. Er schrieb über »Schande«, die er nicht ertragen könne – »unauslöschliche Scham« – »verbrecherische Torheit« – »vergeudetes Leben« und so weiter; außerdem viele persönliche Dinge an seinen Vater und seine Mutter, viel zu heilig, als daß man sie drucken dürfte. Am rührendsten war der Brief an das Mädchen daheim; beim Lesen erstickte ich beinahe. Der Major versuchte nicht, seine Tränen zu unterdrücken. Ich achtete ihn dafür. Er las und wiegte sich vor und zurück und weinte einfach wie eine Frau, ohne es verbergen zu wollen. Die Briefe waren so traurig, hoffnungslos und anrührend. Wir vergaßen ganz die Torheiten des Jungen und dachten nur an das arme Ding auf dem Bett und die vollgekritzelten Blätter in unseren Händen. Es war vollkommen unmöglich, die Briefe in die Heimat gelangen zu lassen. Sie hätten dem Vater das Herz gebrochen und die Mutter umgebracht, nachdem sie zuerst ihren Glauben an den Sohn zerstört hätten.
Schließlich trocknete sich der Major unverhohlen die Augen und sagte: »Nette Sache, eine englische Familie damit zu überfallen! Was sollen wir tun?«
Ich wußte, wozu der Major mich mitgenommen hatte, und sagte: »Der Junge ist an Cholera gestorben. Wir waren bis zum Ende bei ihm. Wir können jetzt keine halben Sachen machen. Kommen Sie.«
Dann begann eine der grimmigsten komischen Szenen, an denen ich je beteiligt war – das Aushecken einer großen schriftlichen Lüge, angereichert mit Beweismaterial, um die Leute des Jungen daheim zu trösten. Ich begann mit dem ersten Entwurf des Briefs; der Major streute hier und da Hinweise ein, während er alles, was der Junge geschrieben hatte, zusammentrug und im Kamin verbrannte. Es war ein heißer, stiller Abend, als wir anfingen, und die Lampe brannte ganz schlecht. Nach und nach gedieh der Entwurf zu meiner Zufriedenheit; ich legte dar, der Junge sei ein Musterbeispiel aller Tugenden gewesen, beliebt bei seinem Regiment, mit allen Aussichten auf eine großartige Karriere, und so weiter; wie wir ihm in seiner Krankheit beigestanden hätten – es war nicht die Zeit für kleine Lügen, wie man wohl verstehen wird –, und daß er ohne Schmerzen gestorben sei. Ich würgte und erstickte fast, als ich all das niederschrieb und an die armen Menschen dachte, die es lesen würden. Dann lachte ich, weil alles so grotesk war, und das Gelächter vermischte sich mit den Tränen – und der Major sagte, wir brauchten beide dringend etwas zu trinken.
Ich mag nicht sagen, wieviel Whisky wir tranken, bis der Brief endlich fertig war. Der Schnaps hatte keinerlei Wirkung auf uns. Dann nahmen wir Uhr, Medaillon und Ringe des Jungen.
Am Schluß sagte der Major: »Wir müssen ihnen auch eine Locke schicken. Frauen legen Wert auf so was.«
Es gab jedoch Gründe dafür, daß wir keine Locke fanden, die man hätte schicken können. Der Junge hatte schwarzes Haar, der Major zum Glück auch. Mit einem Messer schnitt ich ihm eine Strähne über der Schläfe ab und steckte sie in das Päckchen, das wir vorbereiteten. Der Lach- und Schluchzkrampf packte mich wieder, und ich mußte aufhören. Dem Major ging es ähnlich schlecht; und beide wußten wir, daß der schlimmste Teil der Arbeit noch vor uns lag.
Das Päckchen mit Fotos, Medaillon, Papieren, Ringen, Brief und Locke versiegelten wir mit dem Wachs und Petschaft des Jungen.
Dann sagte der Major: »Um Gottes willen – raus hier – weg von dem Zimmer – wir müssen nachdenken!«
Wir gingen hinaus, wanderten eine Stunde am Ufer des Kanals entlang und aßen und tranken, was wir mitgebracht hatten, bis der Mond aufging. Ich weiß jetzt genau, wie Mörder sich fühlen. Schließlich zwangen wir uns, wieder in diesen Raum zu gehen, mit der Lampe darin und dem anderen Ding, und begannen mit dem nächsten Teil unseres Werks. Darüber werde ich nicht schreiben. Es war zu entsetzlich. Wir verbrannten das Bett und schütteten die Asche in den Kanal; wir nahmen die Matten aus dem Raum und machten das gleiche mit ihnen. Ich ging zu einem Dorf und borgte mir zwei große Hacken – ich wollte nicht, daß die Dorfleute uns halfen –, während der Major … den Rest erledigte. Es kostete uns vier Stunden harter Arbeit, das Grab auszuheben. Bei der Arbeit stritten wir darüber, ob es angebracht wäre, das, was wir von der Totenmesse im Kopf hatten, aufzusagen. Wir einigten uns auf den Kompromiß, das Vaterunser und ein persönliches, inoffizielles Gebet für den Seelenfrieden des Jungen zu sprechen. Dann füllten wir das Grab auf und gingen zur Veranda – nicht ins Haus –, um zu schlafen. Wir waren todmüde.
Als wir erwachten, sagte der Major erschöpft: »Wir können erst morgen zurückfahren. Wir müssen ihm anständig Zeit zum Sterben geben. Vergessen Sie nicht, er ist heute früh gestorben. Das wirkt natürlicher.« Der Major mußte also die ganze Zeit wachgelegen und gegrübelt haben.
Ich sagte: »Warum haben wir denn dann die Leiche nicht zur Garnison zurückgebracht?«
Der Major überlegte einen Moment. »Weil die Leute weggelaufen sind, als sie das mit der Cholera gehört haben. Und die ekka ist weg!«
Das stimmte sogar. Wir hatten nicht mehr an das ekka-Pony gedacht, und es war nach Hause gegangen.
So blieben wir den ganzen stickigen Tag allein im Rasthaus am Kanal; wieder und wieder prüften wir unsere Geschichte vom Tod des Jungen, um zu sehen, ob es irgendwelche Schwachpunkte gab. Nachmittags kam ein Eingeborener vorbei, aber wir sagten, ein Sahib sei an Cholera gestorben, und er lief davon. Als die Abenddämmerung kam, erzählte mir der Major all seine Befürchtungen hinsichtlich des Jungen und furchtbare Geschichten über Selbstmorde oder Beinahe-Selbstmorde – Geschichten, die einem die Haare kräuselten. Er sagte, er sei selbst einmal ins gleiche Tal der Schatten gegangen wie der Junge, als er jung war und neu im Land; deshalb verstehe er, wie die Dinge im armen wirren Kopf des Jungen miteinander gerungen hätten. Er sagte auch, daß junge Leute in Momenten der Reue ihre Sünden für viel ernster und untilgbarer halten, als sie wirklich sind. Den ganzen Abend redeten wir miteinander und überprüften die Geschichte vom Tod des Jungen. Sobald der Mond aufgegangen und der Junge – theoretisch – gerade begraben war, machten wir uns querfeldein auf dem Weg zur Station. Wir gingen von acht Uhr abends bis um sechs am Morgen; aber obwohl wir todmüde waren, vergaßen wir nicht, zur Wohnung des Jungen zu gehen und dort seinen Revolver mit der passenden Menge Patronen in der Tasche zu lassen. Und seine Schreibmappe auf den Tisch zu legen. Wir suchten den Obersten und berichteten von dem Tod, wobei wir uns mehr denn je wie Mörder fühlten. Dann gingen wir zu Bett und schliefen einmal um die Uhr; denn wir hatten nichts mehr zuzusetzen.
Man glaubte uns die Geschichte, solange es nötig war, denn vor Ablauf von zwei Wochen hatten alle den Jungen vergessen. Viele nahmen sich aber noch die Zeit zu sagen, der Major habe schändlich gehandelt, als er den Leichnam nicht für eine Regimentsbestattung mitbrachte. Das Traurigste vor allem war der Brief von der Mutter des Jungen an den Major und mich – mit großen Tintenklecksen überall auf dem Blatt. Sie schrieb die reizendsten Dinge über unsere große Freundlichkeit und die Schuld, in der sie uns gegenüber bis an ihr Lebensende stünde.
Genaugenommen stand sie wirklich in einer Schuld; aber nicht so, wie sie meinte.
Wenn Mann und Frau einig sind, was kann da der Kadi machen?
Sprichwort
Manche Leute sagen, in Indien gäbe es keine Romantik. Diese Leute haben unrecht. In unserem Leben gibt es durchaus so viel Romantik, wie gut für uns ist. Manchmal mehr.
Strickland war bei der Polizei, und die Leute verstanden ihn nicht; deshalb sagten sie, er sei ein zweifelhafter Charakter, und wechselten die Straßenseite. Das hatte Strickland sich selbst zuzuschreiben. Er vertrat die absonderliche These, ein Polizist in Indien solle versuchen, so viel über die Einheimischen zu wissen wie diese selbst. Nun gibt es in ganz Oberindien nur einen einzigen Mann, der als Hindu oder Mohammedaner durchgehen kann, Gerber oder Priester, ganz wie es ihm gefällt. Die Eingeborenen fürchten und achten ihn, vom Gor Khatri bis zur Jama Masjid; und man nimmt an, er besitze die Gabe der Unsichtbarkeit und Befehlsgewalt über viele Teufel. In den Augen der indischen Regierung hat ihm das aber nichts genützt.
Strickland war dumm genug, sich diesen Mann zum Vorbild zu nehmen; und seiner absurden These folgend, trieb er sich an scheußlichen Orten herum, die kein anständiger Mensch auch nur im Traum erforschen würde – unter dem einheimischen Pöbel. Sieben Jahre lang bildete er sich auf diese eigenartige Weise, und die Leute konnten das nicht würdigen. Dauernd mischte er sich unter die Eingeborenen, woran natürlich kein vernünftiger Mensch glaubt. Einmal wurde er in Allahabad, als er auf Urlaub war, von den Sat Bhai eingeweiht und aufgenommen; er kannte den Eidechsengesang der Sansis und den Halli-Hakk-Tanz, eine verblüffende Form von religiösem Cancan. Wenn einer weiß, wer den Halli Hakk tanzt und wie, wann und wo, weiß er etwas, worauf er stolz sein kann. Er ist tiefer eingedrungen als bis auf die Haut. Aber Strickland war nicht stolz; dabei hatte er einmal, in Jagadhri, geholfen, den Todesstier zu bemalen, den kein Engländer auch nur ansehen darf; er hatte den Diebsjargon der changars gemeistert, ganz allein bei Attock einen Pferdedieb – einen Yusufzai – festgenommen, und er hatte unter der Schalldecke des minbar einer Moschee an der Grenze gestanden und in der Art eines sunnitischen Mullahs einen Gottesdienst geleitet.
Die Krönung seiner Leistungen war, daß er elf Tage als Fakir oder Priester in den Baba-Atal-Gärten in Amritsar verbracht und die Fäden des großen Nasiban-Mordfalls entwirrt hatte. Aber völlig zu Recht sagten die Leute: »Warum in aller Welt kann Strickland nicht in seinem Büro sitzen, sein Arbeitsjournal führen, neue Leute anwerben und sich ruhig verhalten, statt die Unfähigkeit seiner Vorgesetzten aufzudecken?« Dienstlich nützte ihm der Nasiban-Mordfall also gar nichts; aber nach einem ersten Anflug von Zorn kehrte er zurück zu seiner absonderlichen Gewohnheit, die Nase ins Leben der Eingeborenen zu stecken. Wenn jemand einmal Geschmack an dieser eigenartigen Vergnügung findet, wird sie ihm sein Leben lang bleiben. Es ist die faszinierendste Sache von der Welt; die Liebe nicht ausgeschlossen. Wo andere zehn Tage in die Berge fuhren, nahm Strickland Urlaub für etwas, was er shikar nannte, legte die Verkleidung an, die ihn gerade reizte, tauchte in die braune Menge und ließ sich von ihr für einige Zeit verschlucken. Er war ein stiller, dunkler junger Kerl – drahtig, mit schwarzen Haaren – und interessante Gesellschaft, wenn er nicht gerade an etwas anderes dachte. »Strickland über den Fortschritt der Eingeborenen«, wie er ihn gesehen hatte, war das Zuhören wert. Eingeborene haßten Strickland; aber sie hatten Angst vor ihm. Er wußte zuviel.
Als die Youghals in die Station kamen, verliebte sich Strickland – sehr ernsthaft, wie er alles tat – in Miss Youghal; und nach einiger Zeit verliebte sie sich in ihn, weil sie ihn nicht verstehen konnte. Dann sprach Strickland mit den Eltern; aber Mrs. Youghal sagte, sie werde ihre Tochter nicht an den schlechtestbezahlten Dienst im ganzen Empire wegwerfen, und der alte Youghal sagte ohne Umschweife, er mißtraue Stricklands Werk und Weise und wäre ihm dankbar, wenn er künftig mit seiner Tochter nicht mehr spräche noch ihr schriebe. »Sehr wohl«, sagte Strickland, denn er wollte seiner Liebsten das Leben nicht zur Last machen. Nach einem langen Gespräch mit Miss Youghal ließ er die Angelegenheit ganz auf sich beruhen.
Im April fuhren die Youghals nach Simla.
Im Juli ließ Strickland sich drei Monate Urlaub »wegen dringender Privatangelegenheiten« geben. Er verschloß sein Haus – dabei hätte kein Eingeborener in der ganzen Provinz um alles in der Welt die Sachen von »Estreekin Sahib« angefaßt – und reiste ab, um einen seiner Freunde zu besuchen, einen alten Färber in Tarn Taran.
Hier verlor sich jede Spur von ihm, bis mir ein sais oder Pferdebursche auf der Simla Mall dieses außergewöhnliche Briefchen gab:
»Lieber alter Junge – Bitte geben Sie dem Überbringer eine Kiste Zigarren – vorzugsweise Super Nr. 1. Im Club sind sie besonders frisch. Ich zahle, wenn ich wieder auftauche; aber zur Zeit bin ich außerhalb der Gesellschaft. Ihr E. Strickland.«
Ich beschaffte zwei Kisten und gab sie dem sais mit besten Wünschen. Dieser sais war Strickland, stand im Dienst des alten Youghal und hatte sich um Miss Youghals Araber zu kümmern. Der arme Kerl schmachtete nach einem englischen Schmauch und wußte, ich würde – ganz gleich, was geschah – den Mund halten, bis die Sache vorbei war.
Später begann Mrs. Youghal, die ganz in ihren Dienstboten aufging, in den Häusern, die sie besuchte, von ihrem sais unter allen saises zu reden – von dem Mann, der nie zu beschäftigt war, um morgens aufzustehen und Blumen für den Frühstückstisch zu pflücken, und der die Hufe seines Pferds schwärzte – wirklich schwärzte! – wie ein Londoner Kutscher. Es war ein Wunder und eine Wonne, Miss Youghals Araber zu sehen. Strickland – Dallū, meine ich – wurde durch die netten Worte belohnt, die Miss Youghal zu ihm sagte, wenn sie ausritt. Ihre Eltern freuten sich, daß sie die törichten Neigungen zum jungen Strickland vergessen hatte, und sagten, sie sei ein braves Mädchen.
Strickland schwört, die beiden Monate seines Dienstes seien das Ärgste gewesen, was er an strikter geistiger Selbstdisziplin je mitgemacht habe. Ganz abgesehen von der Kleinigkeit, daß sich die Frau eines anderen sais in ihn verliebte und ihn dann mit Arsen zu vergiften suchte, weil er nichts mit ihr zu tun haben wollte, mußte er sich darin üben, stillzubleiben, wenn Miss Youghal mit einem Mann ausritt, der mit ihr zu flirten versuchte, und er mußte hinterhertraben, die Decke tragen und jedes einzelne Wort hören! Ferner hatte er sich zu beherrschen, wenn er in der Vorhalle des Theaters von einem Polizisten beschimpft wurde – besonders einmal, als ihn ein naik anmaulte, den er selbst im Dorf Isser Jang rekrutiert hatte – oder, noch schlimmer, als ein junger Leutnant ihn ein Schwein nannte, weil er ihm nicht schnell genug auswich.
Aber in diesem Leben gab es Kompensationen. Er gewann tiefen Einblick ins Dasein und die Diebstähle der saises – genug, wie er sagte, um die halbe Bevölkerung des Punjab summarisch abzuurteilen, wenn er denn im Dienst gewesen wäre. Er wurde einer der Besten beim Knöchelspiel, das alle jhampanis und viele saises betreiben, wenn sie abends vor dem Government House oder dem Gaiety Theatre warten; und er lauschte der Weisheit des ergrauten jemadar der Pferdeburschen vom Government House. Dessen Worte wertvoll sind. Er sah vieles, was ihn erheiterte; und er versichert ehrenwörtlich, daß niemand Simla wirklich kennt, solange er es nicht aus dem Blickwinkel eines sais betrachtet hat. Er sagt auch, wenn er alles aufschriebe, was er gesehen hat, würde man ihm verschiedentlich den Schädel einschlagen.
Stricklands Bericht über die Qualen, die er in nassen Nächten gelitten hat, wenn er, den Kopf in einer Pferdedecke, vor dem Benmore hockte und die Musik hörte und Lichter sah und es seine Zehen nach einem Walzer juckte, ist ziemlich amüsant. Eines Tages wird Strickland ein kleines Buch über seine Erlebnisse schreiben. Dieses Buch wird es wert sein, gekauft – und noch mehr, unterdrückt zu werden.
So diente er getreulich, wie Jakob um Rachel diente; und sein Urlaub war beinahe zu Ende, als sich die Explosion ereignete. Er hatte wirklich sein Bestes getan, um beim Anhören der erwähnten Flirtversuche die Beherrschung zu wahren; aber schließlich brach er doch zusammen. Ein alter hochdekorierter General nahm Miss Youghal zu einem Ausritt mit und begann mit der besonders beleidigenden »Sie-sind-ja-noch-ein-junges-Mädchen«-Sorte von Flirt – derlei geschickt abzuwehren ist für eine Frau besonders schwierig, derlei anzuhören macht einen besonders toll. Miss Youghal bebte vor Furcht ob der Dinge, die er in Hörweite ihres sais sagte. Dallū – Strickland – ertrug es, solange er konnte. Dann schnappte er sich die Zügel des Generals und forderte ihn in überaus geläufigem Englisch auf, abzusteigen und sich über die Felskante werfen zu lassen. Im nächsten Moment begann Miss Youghal zu weinen; und Strickland sah, daß er sich hoffnungslos verraten hatte und daß alles aus war.
Der General erlitt beinahe einen Schlaganfall, als Miss Youghal unter Schluchzen die Geschichte von der Verkleidung und der Verlobung erzählte, von der die Eltern nichts wissen wollten. Strickland war ungeheuer wütend auf sich selbst und noch mehr auf den General, der ihn dazu gebracht hatte, alles aufzudecken; deshalb sagte er nichts, sondern hielt das Pferd am Halfter fest und bereitete sich darauf vor, den General zu verdreschen, als Form von Satisfaktion. Aber als der General die ganze Geschichte begriffen hatte und wußte, wer Strickland war, begann er im Sattel zu keuchen und zu prusten und fiel vor Lachen beinahe herunter. Er sagte, Strickland verdiene das Victoria-Kreuz, und sei es nur, weil er die Decke eines sais trage. Dann begann er sich zu beschimpfen und sagte, er habe Prügel verdient, sei aber zu alt, um sie sich von Strickland verabreichen zu lassen. Danach gratulierte er Miss Youghal zu ihrem Liebhaber. Daß etwas an der Sache skandalös war, ging ihm nie auf; er war nämlich ein netter alter Herr mit einer Schwäche fürs Flirten. Dann lachte er wieder und sagte, der alte Youghal sei ein Trottel. Strickland gab den Kopf des Pferdes frei und schlug dem General vor, ihnen zu helfen, wenn er schon dieser Meinung sei. Strickland kannte Youghals Schwäche für Männer mit Titeln, Buchstaben hinter dem Namen und hohen Ämtern. »Das ist ja fast so was wie eine Einakter-Farce«, sagte der General, »aber beim Himmel, ich werde Ihnen helfen, und sei es auch nur, um der fürchterlichen Dresche zu entgehen, die ich verdiene. Gehen Sie nach Haus, mein sais-Polizist, ziehen Sie sich was Anständiges an, und ich werde mich über Mr. Youghal hermachen. Miss Youghal, darf ich Sie bitten, heimzureiten und zu warten?«
Etwa sieben Minuten später gab es einen wüsten Aufruhr im Club. Ein sais mit Decke und Halfter bat alle Männer, die er kannte: »Leihen Sie mir um Himmels willen anständiges Zeug!« Da die Männer ihn nicht erkannten, gab es ein paar merkwürdige Szenen, ehe Strickland in einem Raum ein heißes Bad mit Soda, hier ein Hemd, da einen Kragen, woanders eine Hose bekommen konnte, und so weiter. Mit der halben Clubgarderobe auf dem Rücken und unter sich das Pferd eines völlig Unbekannten galoppierte er los, zum Haus des alten Youghal. Der General, in Purpur und feines Linnen gekleidet, war bereits dort. Was der General gesagt hatte, erfuhr Strickland nie, aber Youghal empfing Strickland mit zurückhaltender Höflichkeit; und Mrs. Youghal, gerührt von der Ergebenheit des verwandelten Dallū, war beinahe freundlich. Der General strahlte und gluckste, und Miss Youghal kam herein, und fast ehe der alte Youghal wußte, wie ihm geschah, war die elterliche Einwilligung entwunden und Strickland mit Miss Youghal zum Telegraphenamt aufgebrochen, um sich seine europäischen Kleider schicken zu lassen. Die letzte Peinlichkeit gab es auf der Mall, als ihn dort ein Fremder überfiel und das gestohlene Pferd verlangte.
Schließlich wurden Strickland und Miss Youghal vermählt, ganz strikt unter der Bedingung, daß Strickland seine alte Lebensweise aufgeben und sich an die Dienstroutine halten würde, die sich bestens auszahlt und nach Simla führt. Strickland war da gerade noch viel zu verliebt in seine Frau, um sein Wort zu brechen, aber es war eine arge Herausforderung für ihn; denn die Straßen und die Basare und die zugehörigen Klänge waren für Strickland voller Bedeutung und lockten ihn, zurückzukehren und seine Wanderungen und Entdeckungen wieder aufzunehmen. Eines Tages werde ich Ihnen erzählen, wie er sein Versprechen gebrochen hat, um einem Freund zu helfen. Aber das ist lange her, und inzwischen ist er für das, was er shikar nennt, fast verdorben. Er ist dabei, den Jargon und den Slang der Bettler und die Male und Zeichen und den Lauf der Unterströmungen zu vergessen, die man, wenn man sie beherrschen will, unaufhörlich lernen muß.
Aber seine amtlichen Vordrucke füllt er wunderbar aus.
Ich schmachte nach dir und du nach einem anderen.
Punjabi-Sprichwort
Als der Leichter in Gravesend vom P.&O.-Dampfer nach Bombay ablegte und zurückfuhr, um den Zug nach London zu erreichen, hatte er viele an Bord, die weinten. Aber besonders heftig und unverhohlen weinte Miss Agnes Laiter. Sie hatte Grund zu weinen, denn der einzige Mann, den sie je geliebt hatte – und je lieben konnte, wie sie sagte – fuhr nach Indien; und wie alle wissen, besteht Indien zu gleichen Teilen aus Dschungel, Tigern, Kobras, Cholera und Sepoys.
Phil Garron, der sich im Regen über die Reling des Dampfers beugte, war auch ganz unglücklich; er weinte aber nicht. Er wurde zum »Tee« geschickt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was »Tee« bedeutete, stellte sich aber vor, er würde auf einem stolzen Roß über Hügel reiten, die von Teesträuchern bedeckt waren, und dafür ein üppiges Gehalt beziehen; und er war seinem Onkel sehr dankbar dafür, daß er ihm diese Stelle verschafft hatte. Er würde ganz bestimmt sein schlappes, zielloses Leben ändern, jedes Jahr einen beträchtlichen Teil seines großartigen Gehalts sparen und nach sehr kurzer Zeit heimkehren, um Agnes Laiter zu heiraten. Phil Garron hatte drei Jahre auf Kosten seiner Freunde verbummelt, und da er nichts zu tun hatte, verliebte er sich natürlich. Er war sehr nett, aber in seinen Ansichten und Meinungen nicht besonders standfest, und wenn er auch nie wirklich in Schwierigkeiten geriet, waren seine Freunde doch dankbar, als er sich verabschiedete und zu seinem geheimnisvollen »Tee«-Geschäft nahe Darjeeling aufbrach. Sie sagten: »Gott segne dich, lieber Junge! Hoffentlich sehen wir dich nie wieder« – jedenfalls war es das, was man Phil zu verstehen gab.
Bei seiner Abreise war er von dem großen Plan erfüllt, sich als hundertmal besser zu erweisen, als alle ihn einschätzten – wie ein Pferd zu arbeiten und Agnes Laiter triumphal zu heiraten. Neben seinem Aussehen hatte er noch viele gute Eigenschaften; sein einziger Fehler war, daß er schwach war, ein ganz klein bißchen schwach. Er hatte von Sparsamkeit soviel Ahnung wie die Morgensonne; aber trotzdem konnte man den Finger auf keinen einzelnen Punkt legen und sagen: »Hierin ist Phil Garron extravagant oder achtlos.« Man konnte auch auf keine besondere Lasterhaftigkeit in seinem Charakter hinweisen; aber er war »nicht zufriedenstellend« und formbar wie Kitt.
Agnes Laiter ging mit roten Augen ihren Pflichten daheim nach – ihre Familie war gegen die Verlobung –, während Phil nach Darjeeling fuhr – irgendein »Hafen am Bengalischen Meer«, wie seine Mutter ihren Freundinnen erzählte. An Bord war er durchaus beliebt, hatte viele Bekanntschaften und eine ziemlich große Getränkerechnung und schickte in jedem Hafen dicke Briefe an Agnes Laiter. Dann machte er sich an die Arbeit auf seiner Plantage, irgendwo zwischen Darjeeling und Kangra; zwar waren das Gehalt und das Pferd und die Arbeit nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hatte, aber er machte sich einigermaßen und lobte sich selbst ganz unnötig für seine Ausdauer.
Im Lauf der Zeit, als er sich an die Sielen gewöhnt hatte und die Arbeit in den Griff bekam, schwand Agnes Laiters Gesicht aus seinem Geist und tauchte nur wieder auf, wenn er Muße hatte, was nicht oft war. Manchmal vergaß er sie zwei Wochen ganz und erinnerte sich mit einem kleinen Schrecken an sie, wie einem Schuljungen einfällt, daß er vergessen hat, eine Lektion zu lernen. Sie vergaß Phil nicht; sie gehörte zu denen, die nie vergessen. Bloß stellte sich ein anderer – ein wirklich wünschenswerter junger Mann – Mrs. Laiter vor; und die Aussicht auf eine Ehe mit Phil war so fern wie nur je; und seine Briefe waren so wenig zufriedenstellend; und auf das Mädchen wurde ein gewisses Maß an häuslichem Druck ausgeübt; und hinsichtlich seines Einkommens kam der junge Mann wirklich in Frage; und das Ende vom Lied war, daß Agnes ihn heiratete und einen wüsten Wirbelwind von Brief an Phil in der Wildnis von Darjeeling schrieb und sagte, sie werde den ganzen Rest ihres Lebens keinen glücklichen Moment mehr haben. Was eine zutreffende Prophezeiung war.