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Eva Häggkvist beschließt nach einem tragischen Unglücksfall, der sich auf ihrem Grundstück ereignet hat, mit ihrer Familie ins weit entfernte Dorotea zu ziehen, um fernab böser Anschuldigungen einen Neuanfang zu wagen. Trotz aller guten Vorsätze und Bemühungen wendet sich auch an diesem Ort das Blatt und Eva sieht sich erneut unüberwindbaren Hindernissen gegenüber. Tochter Lena verändert sich besorgniserregend und es geschehen seltsame Dinge, die Eva in Angst und Aufruhr versetzen. Nach einem Anschlag, der auf sie verübt wird, wendete sie sich hilfesuchend an Sven Janssen. Wird es dem ermittelnden Kommissar gelingen, diesen ungewöhnlichen Fall aufzuklären?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Eva Häggkvist stellte das Tablett mit den Cupcakes auf den Tisch.
„Bitte, bedient euch“, rief sie der Rasselbande zu, die wild durch den Garten tobte, und wischte sich mit den Handrücken den Schweiß von der Stirn. Aber sie wollte sich nicht beschweren, Regenwetter wäre bedeutend schlimmer gewesen. Kaum auszudenken, wenn zehn lebhafte Kinder das Haus in Beschlag genommen hätten.
Jemand zupfte sie am Ärmel ihres Shirts.
„Ich muss mal dringend aufs Klo“, sagte Markus.
„Komm mit, ich zeige es dir“, sagte sie, nahm Markus an die Hand und ging mit ihm ins Haus. „Die zweite Tür links“.
Markus ließ ihre Hand los und verschwand sofort im Badezimmer.
Während Ehemann Jörn und ihre Schwester Luisa die Meute beaufsichtigten, hatte sich Eva in der Küche zu schaffen gemacht, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Die Teller mit dem Gebäck leerten sich wie durch Zauberhand in Sekundenschnelle und sie musste beinahe ununterbrochen für Nachschub sorgen. Kindergeburtstage waren eine Herausforderung in der heutigen Zeit.
Ihre Tochter Lena war zehn geworden und hatte auf einer richtigen Feier bestanden. Aber das war auch kein Problem. Der Garten war groß, der Pool eingezäunt, was konnte da schon passieren. Die bekleckerten Shirts würden die anderen Mütter waschen müssen. Ein Lächeln stahl sich auf Evas Gesicht, als sie eine weitere Ladung Gebäck aus dem Backofen nahm. Sie hatte sich gründlich verschätzt und viel zu wenig vorbereitet. Noch einmal würde ihr das allerdings nicht passieren.
Sie warf gerade einen prüfenden Blick aus dem Fenster, als Jörn die Küche betrat.
„Meine Güte, ich habe total vergessen, wie anstrengend ein Kindergeburtstag sein kann“, seufzte er und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Du sagst es“, antwortete sie. „Aber es sind nur noch drei Stunden, die wir durchhalten müssen. Dann wird die Meute wieder von ihren Müttern abgeholt.“
„Meute ist gut“, lachte er.
„So, und jetzt ab nach draußen, bevor sich einer von ihnen ein Bein bricht“, scherzte sie.
Noch bevor Jörn die Tür erreicht hatte, brach im Garten plötzlich die Hölle los. Ein tumultartiges Inferno entfachte sich und die Kinder schrien wild durcheinander. Eva ließ die Rührschüssel fallen und rannte nach draußen. Das blanke Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern der Halbwüchsigen wider, die verstört auf den Pool deuteten.
Eva schaute in die Richtung und presste die Hände auf den Mund, um den Schrei zu unterdrücken. Der grausige Anblick, der sich ihr bot, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren.
„Bringt die Kinder sofort ins Haus, ich kümmere mich um den Jungen“, rief Luisa, Evas Schwester, geistesgegenwärtig.
„Was haben wir nur getan, was haben wir nur getan …“, schluchzte Eva in ihrer Verzweiflung und verharrte bewegungsunfähig auf der Stelle, während Jörn die Kinderschar ins Haus trieb.
Nur Luisa schien Herr der Lage zu sein. Sie hob den Kopf des Jungen an und redete beruhigend auf ihn ein.
„Jetzt mach schon, Eva, ruf einen Krankenwagen“, schrie sie ihr zu.
Mit zitternden Händen zog Eva das Smartphone aus der Hosentasche und tippte die Notrufnummer ein. Sie war kaum in der Lage, sich vernünftig zu artikulieren und stammelte wirres Zeug. Kostbare Sekunden gingen dadurch verloren.
„Eva, du musst mir helfen, Jonas hochzuhalten“, rief Luisa und wie in Trance kam sie der Aufforderung nach.
„Jetzt mach schon, du musst den Oberkörper stützen, damit der Eisenpfahl nicht noch tiefer eindringen kann“, drängte Luisa.
Eva spürte das warme Blut an ihren Händen, das sich klebrig anfühlte, und unterdrückte ein Würgen. Soeben war der Himmel eingestürzt und die Sonne würde nie wieder scheinen, egal wie kraftvoll sie auch in diesem Moment vom Himmel strahlte. Das Grün des Rasens verblasste zu einem Grau, genauso wie die liebevoll angelegten Blumenrabatten. Und der blaue Himmel schrumpfte zu einem Schwarzen Loch, das alles verschlang.
„Eva, du musst dich mehr anstrengen“, sagte Luisa. „Noch atmet er.“
Eva drückte den Jungen nach oben und spürte, wie das Blut von ihren Handgelenken auf den Boden tropfte. Es war einfach nur grauenvoll. Die Zeit schien stillzustehen, bis in der Ferne endlich das Martinshorn erklang.
Eva war nicht dazu in der Lage, die Fragen des Notarztes zu beantworten, und Luisa musste erneut übernehmen. Die Sanitäter stützten den Körper des Jungen und es gelang ihnen tatsächlich, diesen von der eisernen Zaunspitze zu befreien.
„Wird er es schaffen?“, hörte sie Luisa besorgt fragen.
„Der Junge hatte verdammt großes Glück, dass keine lebenswichtigen Organe getroffen wurden. Sind seine Eltern schon verständigt?“
„Das werden wir sofort erledigen“, antwortete Luisa beflissen.
„Sie müssen auch die Polizei verständigen“, sagte der Notarzt.
„Die Polizei?“
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, sollte jetzt auch noch die Polizei ermitteln? Warum?
„Selbstverständlich. Von allein wird der Junge schließlich nicht auf die Zaunspitzen gefallen sein.“
Eva biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
„Wird er es schaffen?“, presste sie mühsam hervor.
„Er wird sicher für sein Leben gezeichnet sein. Aber ich bin zuversichtlich, dass er überlebt.“
Eva schloss dankbar die Augen. Jonas durfte nicht sterben, auf gar keinen Fall. Mit dieser Schuld würde sie nicht weiterleben können.
Die Türen des Krankenwagens schlossen sich und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Eva spürte einen starken Druck auf ihrer Brust und sank zu Boden. Luisa war sofort zur Stelle, um sie aufzufangen und zu stützen.
„Komm, wir gehen ins Haus“, sagte sie.
Sie hatten gerade den Eingangsbereich erreicht, als ein Streifenwagen vorfuhr.
„Wir sind erledigt“, murmelte Eva und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Die zwei Beamten kamen direkt auf sie zu.
„Dürften wir einen Blick auf die Unfallstelle werfen?“
„Ja, sich …“, mehr brachte Eva nicht zustande.
„Wer hat die Leiter überhaupt in direkter Nähe des Zaunes aufgestellt?“, fragte der Polizist, der sich als Stefan Gunnarsson vorgestellt hatte.
„Ich weiß es nicht“, hauchte Eva.
„Lena hat sie aus dem Schuppen geholt“, teilte Luisa mit.
Eva erblasste. „Warum seid ihr nicht eingeschritten? Ihr solltet doch auf die Kinder aufpassen?“
„Wer konnte denn ahnen, dass so etwas geschehen könnte“, erwiderte Luisa.
„Was hat Jonas überhaupt auf der Leiter gewollt?“, fragte Eva.
„Ich vermute einmal, dass er über den Zaun in den Pool springen wollte.“
„Das kann doch alles nicht wahr sein.“ Eva war fassungslos. „Warum habt ihr nicht besser aufgepasst? Wo war Jörn zu dieser Zeit?“
„Er hat den Tisch abgeräumt.“
„Oh nein …“ Eva musste sich abstützen. Wann würde sie endlich aus diesem Albtraum erwachen?
„Wurden die Eltern bereits verständigt?“, wollte Gunnarsson wissen.
„Ich weiß es nicht …“, stammelte Eva.
„Moment, ich werde Jörn fragen“, sprang Luisa wieder ein und ließ Eva einfach stehen, um zum Haus zu eilen. Kurz darauf öffnete sie das Fenster. „Jörn hat die Eltern angerufen“, rief sie ihnen zu.
„Gut, aber auch die anderen Eltern müssen informiert werden. Wir können die Kinder nicht ohne deren Einwilligung befragen“, sagte Gunnarsson.
„Wie bitte?“
Eva war nicht dazu in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Jonas war schwerverletzt ins Krankenhaus gefahren worden und kämpfte um sein Leben, weil sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatten. Daran gab es nichts schönzureden. Der bittere Stempel der Schuld war ihnen vom Schicksal aufgedrückt worden.
Gunnarsson wiederholte seinen Satz.
„Ja, natürlich, die Eltern.“
Als die ersten Fahrzeuge vorfuhren, wünschte sich Eva, im Erdboden zu versinken. Diese Blicke würde sie nie vergessen – Verachtung, Zorn, Ungläubigkeit. Weitere Polizisten trafen ein, um die Kinder zu verhören und Eva fühlte sich wie eine gebrandmarkte Schwerstkriminelle. Dabei hatte sie doch nur in der Küche Cupcakes gebacken. Es dauerte Stunden, bis der ganze Spuk vorbei war und sie sich unter Tränen in den Sessel fallen ließ.
„Wo steckt Lena?“, fragte sie Luisa.
„In ihrem Zimmer.“
„Sie soll zu mir kommen“, bat Eva kraftlos.
Tim, ihr Ältester stand mit traurigem Blick in der Tür.
„Alles wird wieder gut, Mama.“
Eva erhob sich, um ihren Sohn in den Arm zu nehmen. Der schlaksige Vierzehnjährige befand sich mitten in der Pubertät, war aber dennoch ein ruhiger und besonnener Junge und das ganze Gegenteil von Lena. Ihre Tochter war ein Wirbelwind und fegte durchs Haus im wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte sehr aufbrausend werden, wenn sich das Universum nicht um sie drehte.
„Wir kriegen das wieder hin, ganz bestimmt“, murmelte Eva und strich ihrem Sohn liebevoll durchs Haar.
„Ich wollte gerade dazwischengehen, als Jonas auch schon zum Sprung angesetzt hatte.“
Seine Schultern bebten und Eva drückte Tim ein wenig fester an sich.
„Dich trifft keine Schuld, du bist doch selbst noch ein Kind.“
Früher hätte Tim aufs Heftigste widersprochen, aber nun blieb er stumm. Eva zerriss es das Herz, dass er alles hatte mit ansehen müssen.
„Kann ich in mein Zimmer gehen?“
„Natürlich. Ich werde dir nachher einen Beruhigungstee kochen, sobald ich mit Lena gesprochen habe.“
Mit hängenden Schultern stieg Tim die Stufen nach oben. Kurz darauf erschien Lena im Wohnzimmer.
„Warum hast du die Leiter aus dem Schuppen geholt?“, fragte Eva mit vorwurfsvoller Stimme.
„Weil Jonas das so wollte“, antwortete Lena schulterzuckend.
„Aber ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass du dich an die Anweisungen von Papa und Luisa halten sollst.“
„Aber Jonas wollte im Pool schwimmen und die Tür war abgeschlossen“, erwiderte Lena trotzig.
„Warum hast du deinen Vater nicht um Erlaubnis gefragt?“
Eva forschte im Gesicht ihrer Tochter. Sie wirkte kühl und distanziert, so als ginge sie das alles nichts an. Manchmal war dieser Umstand sehr beängstigend und ein wenig mehr Betroffenheit oder Schuldgefühle wären in dieser vertrackten Situation angebracht gewesen.
„Lena?“
„Ja?“
„Ich habe dir eine Frage gestellt?“
„Mama, ich habe mir nichts dabei gedacht.“
„Aber du hast doch gesehen, was geschehen ist? Jonas wäre beinahe gestorben, er wird sein Leben lang gezeichnet sein.“
„Wie gezeichnet?“, fragte Lena irritiert.
„Es werden Narben von den Verletzungen zurückbleiben, die ihn ein Leben lang an dieses Unglück erinnern.“
Täuschte sie sich oder hatte sie tatsächlich ein Funkeln in Lenas Augen gesehen? Was war nur mit ihrer Tochter los? Ständig setzte sie sich über die Anweisungen ihrer Eltern hinweg und reagierte starrköpfig. Lena muss doch gewusst haben, was passieren könnte, sie war schließlich kein kleines Kind mehr.
„Wie werden die Narben aussehen?“, fragte sie und Eva schluckte. Das war mehr, als sie verkraften konnte.
„Warum interessiert dich das?“
„Nur so.“
Wieder ein Schulterzucken.
„Lena, so kann das auf gar keinen Fall weitergehen. Papa und ich werden uns eine angemessene Strafe für dich überlegen, aber vorher wirst du auf ein Blatt Papier schreiben, warum du die Leiter ohne Erlaubnis aus dem Schuppen geholt hast.“ Eva atmete tief durch, um ihre Wut zu zähmen. „Und jetzt geh bitte auf dein Zimmer.“
„Okay.“
Lena machte auf dem Absatz kehrt, sauste nach oben, und Eva schlug in ihrer Verzweiflung die Hände vors Gesicht. Wie sollte es nur weitergehen? Sie konnten auf keinen Fall in Uppsala bleiben und schon gar nicht in dieser Nachbarschaft. Dabei hatten sie sich das Haus erst vor fünf Jahren gekauft, liebevoll renoviert und hergerichtet. Der Traum war geplatzt.
Damals hatten Jörn und sie sich für dieses Haus entschieden, weil es einen ländlichen Charme versprühte und trotzdem etwas Stilvolles an sich hatte. Der große Pool, der mit einem eleganten schmiedeeisernen Zaun gesichert war, hatte sie schließlich überzeugt. Nie im Traum hätte Eva daran gedacht, dass die Spitzen der Eisenpfosten zur tödlichen Falle hätten werden können.
Jörn betrat mit hängenden Schultern das Wohnzimmer und setzte sich neben sie.
„Nur eine kurze Pause, mit schwirrt der Kopf“, sagte er.
„Ich bin auch fix und fertig“, antwortete Eva. „Aber das dürfen wir Lena nicht durchgehen lassen“, beschwor sie ihn.
„Bitte nicht jetzt, ich bin kaum noch aufnahmefähig.“
„Wann sollen wir sonst darüber reden?“
Eva warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. Sie wollte reden, nein, sie musste darüber reden, weil sie das Gefühl hatte, daran zu ersticken.
Jörn stand auf.
„Ich bin draußen, aufräumen“, sagte er und lief zur Tür.
Eva blieb wie betäubt zurück. Luisa setzte sich neben sie.
„Was für ein irrer Tag“, sagte Luisa.
„Ich weiß einfach nicht mehr, wie es weitergehen soll“, flüsterte Eva. „Wir können uns in der Nachbarschaft nicht mehr blicken lassen, unser bisheriges Leben ist mit diesem verhängnisvollen Unfall unwiederbringlich zerstört worden.“
Luisa legte ihre Hand auf Evas Schulter.
„Sag doch so etwas nicht. Auf der ganzen Welt passieren Unfälle und Wegziehen ist auch keine Lösung.“
„Die Leute werden sich über uns das Maul zerreißen und mit Lena ist es schon schwierig genug.“
„Weil sie eine Einzelgängerin ist?“
„Ja, du kennst doch das Problem.“
„Vielleicht interpretierst du auch viel zu viel hinein. Ich komme mit Lena bestens klar.“
Eva schloss einen Moment lang die Augen, der Seitenhieb ihrer Schwester hatte gesessen. Es störte sie sehr, dass sich Luisa manchmal aufführte, als wäre sie die bessere Ehefrau und Mutter, dabei hatte sie weder Kinder noch einen Mann. Aufgrund der angespannten Situation konnte Eva gar nicht anders, als zum Rundumschlag auszuholen.
„Warte nur ab, bis es bei dir endlich so weit ist. Dann werde ich mit deinen Kindern auch besser auskommen.“
Luisa sagte nichts und presste die Lippen zusammen.
„Ich werde jetzt einen Tee für Tim kochen, ihn hat das alles sehr mitgenommen.“
„Und Lena?“, fragte Luisa.
Eva ignorierte die Frage, drehte sich wortlos um und ging in die Küche. Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, entdeckte sie Jörn im Garten. Er hatte damit begonnen, das Blut mit Hilfe des Dampfstrahlers wegzuspülen, und das Wasser des Pools verfärbte sich dunkel. Warum nur hatte ihnen das Schicksal so übel mitgespielt?
Eva trug den Karton zum Wagen, verstaute ihn im Kofferraum und warf einen traurigen Blick zurück. Der letzte Rundgang durch das Haus hatte sie zu Tränen gerührt, denn sie hatte es geliebt, in dieser netten Nachbarschaft zu wohnen. Doch nun war dieser Traum geplatzt.
Nach endlosen Diskussionen hatten Jörn und sie beschlossen, Uppsala den Rücken zukehren, um sich irgendwo im Norden eine neue Zukunft aufzubauen. Besonders Tim hatte unter den widrigen Umständen zu leiden und vermisste schon jetzt seine Freunde. Ihr einst so stiller Sohn brachte seine Wut auf seine Schwester immer deutlicher zum Ausdruck und Eva befürchtete, dass dieser Streit irgendwann eskalieren könnte.
Jörn trat von hinten an sie heran und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„So ein wunderschönes Haus“, seufzte er. „Ich kann bis heute nicht verstehen, warum ausgerechnet uns das passieren musste.“
„Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder“, erwiderte Eva und lehnte sich an ihren Mann. „Insgeheim hatte ich gehofft, dass sich die Leute wieder beruhigen würden. Du weißt schon, die Zeit heilt alle Wunden. Aber die Nachbarn feinden uns an und Lena wird von allen gemieden.“
„Auch bin ich davon ausgegangen, dass nach einer gewissen Zeit wieder Ruhe einkehren wird. Aber da haben wir uns wohl gewaltig getäuscht.“
Ein ganzes Jahr hatten sie durchgehalten und wirklich alles versucht. Vergebens. Der tiefe Riss, den dieser unselige Vorfall hinterlassen hatte, war nicht zu kitten gewesen. Keiner von ihnen hätte die Anfeindungen auch nur einen Tag länger ausgehalten.
Und nun waren sie auf dem Weg nach Dorotea, einem Ort in der schwedischen Provinz Västerbottens. Das idyllische Städtchen lag direkt am Dabbsjön und war von dichten Wäldern umgeben. Ihr neues Zuhause würde ein schlichtes Holzhäuschen außerhalb sein, das nichts mehr mit dem Glanz ihres ehemaligen Stadthauses gemein hatte. Einen Pool oder andere Annehmlichkeiten gab es nicht, genau richtig, um noch einmal von vorn zu beginnen.
Jörn und Eva stiegen in den Wagen. Er startete den Motor und bog auf die Hauptstraße ab. Ein letztes Mal durchquerten sie Uppsala und Eva wischte sich verstohlen die Tränen. Ein Blick in den Seitenspiegel verriet ihr, dass es Tim ähnlich erging. Auch er hatte mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Nur Lena hatte die Unterlippe vorgeschoben, was ihrem Gesicht einen trotzigen Ausdruck verlieh. Keines ihrer Kinder war mit dem Umzug einverstanden gewesen.
Dabei war es gar nicht so leicht gewesen, im Norden Schwedens eine gut bezahlte Stelle für Jörn zu finden. Aber dann hatte es schließlich geklappt und auch der Makler hatte gute Arbeit geleistet. Keine Nachbarn weit und breit, die sich an ihnen stören würden, und Eva schaute hoffnungsvoll in die Zukunft. Der Dabbsjön war ein Paradies für Angler und Eva hoffte, dass Tim mit seinem Vater am See viel Zeit verbringen würde. Aber das Verrückteste überhaupt war, dass auch Luisa ihre Zelte in Uppsala abgebrochen hatte, um Eva zu unterstützen.
Lena schien sich immer mehr zu verändern, und das nicht gerade zum Positiven. Dass ihr kleines Mädchen schon immer anders gewesen war, konnte Eva nicht leugnen. In Situationen, in denen ihr Sohn als Kleinkind lauthals gelacht hatte, war Lena stumm geblieben. Während Tim bei den abendlichen Gute-Nacht-Geschichten regelrecht mitgefiebert hatte, hatte sie Lena kaum eine Reaktion abringen können. Manchmal war ihre Tochter auch aus Desinteresse eingeschlafen.
Eva stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jörn.
„Ja, ja“, antwortete sie abwesend.
Dunkle schattige Wälder und silbern schimmernde Seen zogen an Eva vorüber, ohne dass sie Notiz davon genommen hätte. Es schmerzte, die Heimatstadt verlassen zu müssen, egal wie grandios die Natur im Norden auch war. Immer wieder stellte sie sich die Frage, was sie in der Erziehung ihrer Kinder falsch gemacht haben könnte. Tim, ihr sanfter Engel, und Lena … sie fand ja nicht einmal die passenden Worte, um den Charakter ihrer Tochter angemessen beschreiben zu können.
Kühl, distanziert, mit mangelnder Empathie traf es wohl am ehesten. Aber egal wie sehr sie auch alles auseinanderpflückte, sie konnte keine allzu großen Unterschiede in der Erziehung beider Kinder feststellen. Natürlich war sie nicht die perfekte Mutter. Aber dass sie so mit den Launen ihrer Jüngsten zu kämpfen hatte, schmerzte.
„Du sollst nicht so viel Grübeln“, raunte Jörn ihr zu.
„Entschuldige, aber ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen“, erwiderte sie.
„Wir haben die Chance, noch einmal von vorn anzufangen, in einer wunderschönen Gegend, wo uns niemand kennt. Die Menschen werden uns vorurteilsfrei und auf Augenhöhe begegnen, das wird unserem Ego guttun.“
„Du glaubst nicht, wie sehr ich mir das wünschen würde. Wir haben genug leiden müssen und für diesen Fehler teuer bezahlt.“
Eva vertraute darauf, dass sich auch ihre Eheprobleme lösen würden. Jörn hatte sich nach dieser Tragödie von ihr zurückgezogen – geistig, emotional und auch körperlich. Darunter hatte sie sehr gelitten, weil es nun niemanden gab, bei dem sie Trost finden konnte. Das war besonders bitter.
Jörn setzte den Blinker und fuhr auf einen Parkplatz, um Rast zu machen.
„Zwei Drittel der Strecke haben wir bereits hinter uns“, sagte er, streckte Arme und Beine und stieß dabei ein wohliges Seufzen aus. „Der Norden ist landschaftsmäßig nicht zu schlagen.“
„Stimmt“, erwiderte Eva knapp.
Sie hoffte, dass ihrer Tochter das Leben in der Natur zugutekommen und sie positiv formen würde. Außerdem gab es keine Kinder in der Nachbarschaft, die Lena drangsalieren konnte. Ein weiterer Pluspunkt. Ja, vielleicht wäre es sogar möglich, wenn ihre Kinder erwachsen geworden waren, nach Uppsala zurückzukehren.
„Mama, ich muss mal.“
Lena zupfte Eva am Ärmel und trat nervös von einem Bein aufs andere.
„Geh dort hinten in die Büsche, aber lauf nicht so weit weg.“
„Ja.“
Lena machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.
„Möchtest du auch einen Kaffee?“, fragte Jörn, der die Thermoskanne aus dem Korb geholt hatte.
„Da sage ich nicht Nein“, erwiderte Eva und reichte Jörn eines der Sandwiches, die sie für die Fahrt zubereitet hatte.
„Hoffentlich haben wir die richtige Entscheidung getroffen“, murmelte er zwischen zwei Bissen.
„Hast du mir nicht eben noch versichert, dass sich alles zum Guten wenden wird?“ Eva forschte in seinem Gesicht.
„Erwischt.“ Er trank einen Schluck aus dem Becher. „Ich will nur das Beste für Tim und Lena, und besonders unser Großer leidet unter dieser Entscheidung. Er trauert und ist wütend auf uns und ich kann ihm das nicht einmal verübeln.“
Auch Eva hatte Tims unterschwelligen Zorn hin und wieder zu spüren bekommen und sie würde lügen müssen, wenn ihr dieser Umstand nicht das Herz zerrissen hätte. Alles drehte sich um Lena und ihren schwierigen Charakter, was unweigerlich bedeutete, dass Tim stets zugunsten seiner Schwester zurückstecken musste. Das war ihm gegenüber alles andere als fair.
Auch in diesem Moment saß er abseits auf einer Bank, gab kein Wort von sich und biss mit einem frustrierten Gesichtsausdruck in sein Sandwich.
„Viel wichtiger ist für mich die Frage, ob es uns gelingt, das alles wieder hinzubiegen?“, raunte Eva Jörn zu.
„Ich kann es nur hoffen“, erwiderte er wenig zuversichtlich, was Eva zu denken gab. Würde sich Jörn noch weiter von ihr distanzieren, würde das unweigerlich das Ende ihrer Ehe bedeuten.
„Mama, Papa, ihr werdet nicht glauben, was ich gerade gesehen habe“, rief Lena verzückt.
„Was denn?“, fragte Eva neugierig.
„Ein Reh mit seinem kleinen Kitz.“
„Wow, das muss ein wunderschönes Bild gewesen sein.“
Eva beneidete ihre Jüngste um diesen Anblick. So ein kleines bisschen Glück und Hoffnung wäre nicht schlecht gewesen.
„Ja“, bekräftigte Lena. „Können wir im neuen Zuhause auch auf die Jagd gehen?“
Eva erblasste. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie irritiert.
„Es muss ein tolles Gefühl sein, wenn man so ein großes Tier erlegt“, lautete die nüchterne Antwort ihrer Tochter.
Eva wechselte mit Jörn einen fragenden Blick.
„Möchtest du das Reh erschießen?“, hakte sie nach.
„Ja klar, das machen Jäger doch so“, erklärte Lena großspurig.
„Du hast echt einen Knall“, sagte Tim kopfschüttelnd.
Evas Innerstes zog sich schmerzhaft zusammen. Die Feindseligkeit unter den Geschwistern war deutlich spürbar und nahm tagtäglich zu. Das hatte sie so nie gewollt und es machte sie traurig.
„Das ist doch ganz normal, dass man im Wald jagen geht“, sagte Lena.
„Für einen erwachsenen Mann schon, aber nicht für eine Elfjährige“, antwortete Tim.
Eva konnte nicht anders, als ihm tröstend über den Arm zu streichen, als Lena einen Augenblick nicht in ihre Richtung schaute. Sie wollte schließlich keines der Kinder bevorzugen. Tim war sehr naturverbunden und er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, was das sinnlose Töten von Lebewesen anging.
„Hört auf zu streiten und steigt ein. Wir fahren weiter“, ging Jörn dazwischen.
Sein rüder Ton ging Eva gehörig gegen den Strich. Die Familie zerbrach vor ihren Augen und sie konnte nichts dagegen tun.
„Ich werde Lena die Flausen austreiben“, raunte sie Tim zu, dann nahm sie wieder auf dem Beifahrersitz Platz.
Die Fahrt ging weiter und mit jedem Kilometer, den sie sich von Uppsala entfernten, flammte Evas Heimweh auf. Luisa hatten sie unterwegs verloren, als sie einmal falsch abgebogen war. Aber das Navigationsgerät würde ihr schon die Richtung weisen. Im Haus, das sie gekauft hatten, gab es eine Einliegerwohnung, wo ihre Schwester wohnen würde. Sie hatte sogar einen Halbtagsjob in einer kleinen Firma gefunden, wo sie sich um die Buchhaltung kümmern würde. Die Zeichen der Zukunft standen auf Grün.
„Noch einhundert Kilometer“, verkündete Jörn. „Wenn wir das Tempo beibehalten, sind wir in ungefähr eineinhalb Stunden da.“
„Es wird aber auch Zeit“, seufzte Eva.
Die restliche Strecke döste sie immer wieder ein, erschöpft von den Strapazen, die ein Umzug mit sich brachte. Irgendwann drosselte Jörn die Geschwindigkeit und Eva schlug die Augen auf.
„Wir sind da“, sagte Jörn.
Lena riss die Autotür auf und hüpfte ins Freie.
„Wow, ist das cool hier“, rief sie voller Begeisterung, während Tim mit gerunzelter Stirn die Umgebung musterte. Eva glaubte, so etwas wie „am Arsch der Welt“ zu hören.
Die Kinder kannten das Haus nur von den Fotos und Lena konnte es kaum erwarten, sich im Inneren umzuschauen.
„Wo ist mein Zimmer?“, bedrängte sie ihren Vater.
„Im Dachgeschoss.“
Jörn deutete auf die Treppe und Lena flitzte nach oben. Kurz darauf war ein enttäuschter Laut zu hören.
„Warum hat Tim das größere und schönere Zimmer bekommen?“
„Weil wir wegen dir umziehen mussten“, antwortete Tim.
Lena stieg die Treppe wieder herunter und verschränkte demonstrativ die Arme.
„Das ist nicht fair“, beschwerte sie sich.
„Sehe ich auch so“, erwiderte Tim. „Ich musste wegen dir meine Freunde und mein Zuhause aufgeben.“ Mit grimmiger Miene blickte er auf seine Schwester hinab.
„Schluss jetzt!“, donnerte Jörn und unterbrach den Streit. „Helft mir lieber, den Kofferraum auszuladen, anstatt eure Kräfte in sinnlosen Diskussionen zu vergeuden.“
Eva hörte ein sich näherndes Motorengeräusch und lief zum Fenster. Auch Luisa hatte endlich das Ziel erreicht. Mit einem freudigen Lächeln auf dem Gesicht stieg sie aus. Für Lena und Luisa schien das alles ein großes Abenteuer zu sein, aber Eva konnte den Enthusiasmus der beiden nicht teilen. Auch Jörn war alles andere als glücklich, zumal er sich mit weniger Gehalt als in Uppsala zufriedengeben musste. Das nagte an seinem Ego.
Jörn ging mit den Kindern nach draußen, um den Wagen auszuräumen, und Luisa betrat das Haus.
„Das Haus ist noch genauso schön, wie ich es in Erinnerung hatte“, schwärmte sie.
„Fein, dass es dir so gefällt“, antwortete Eva spitz.
„Was hast du? Idyllischer kann man kaum wohnen“, erwiderte Luisa.
„Wir wären niemals umgezogen, wenn uns das Unglück am Pool nicht dazu gezwungen hätte.“
„Willst du mir etwa die Schuld dafür geben?“ Luisa musterte sie mit zusammengezogenen Brauen.
Eva biss sich auf die Unterlippe. Sag jetzt nichts Falsches, ermahnte sie sich.
„Nein, natürlich nicht“, entgegnete sie stattdessen.
„Klingt wenig überzeugend“, merkte Luisa an.
„Ich will nicht streiten“, sagte Eva leise.
„Ich auch nicht“, erwiderte Luisa und die Schwestern fielen sich wortlos in die Arme.
„Nimm diesen Umzug als eine Herausforderung an und mach das Beste daraus“, riet Luisa, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
„Das ist leichter gesagt als getan. Ich war glücklich in Uppsala, als meine Familie noch eine Familie war.“
„Wie meinst du das?“ Luisa forschte ein Evas Gesicht.
„Spürst du denn nicht, wie alles auseinanderbricht? Tim ist genauso unglücklich wie ich und Jörn distanziert sich mehr und mehr von mir.“
Luisa umfasste Evas Schultern.
„Jetzt komm mal wieder runter, Schwesterherz. Alles wird sich wieder einrenken, dieser Ort ist wie geschaffen dafür. Wenn du die Trauer über den vermeintlichen Verlust erst einmal überwunden hast, werdet ihr euch wieder annähern. Vertraue darauf.“
„Nichts lieber als das“, antwortete Eva.
„Na siehst du, so gefällst du mir schon viel besser. Also los, packen wir’s an.“
Genau ein Monat war seit dem Umzug vergangen und so etwas wie ein Alltag hatte sich eingestellt. Während Tim sich in den Ferien zu Tode langweilte, pirschte Lena durch den angrenzenden Wald. Sehr zum Ärgernis von Eva, die sich ständig Sorgen um ihre Tochter machte. Ständig kam das Mädchen mit zerrissenen Shirts und Blättern im Haar ins Haus gefegt und berichtete aufgeregt von ihren Abenteuern. Nur Tim wurde stiller und stiller.
„Wollen wir heute in den Ort fahren und einen kleinen Einkaufsbummel machen? Das Elektronikfachgeschäft soll einen neuen Gamer-PC im Sortiment haben“, versuchte Eva, die Stimmung aufzulockern.
„Lass mal, Mama. Der alte Rechner tut’s noch“, antwortete Tim mit wenig Begeisterung.
„Und wenn wir stattdessen Eis essen fahren, nur du und ich?“, wagte Eva einen weiteren Vorstoß.
„Ist schon okay, du musst dich nicht bemühen“, brummte er und zog sich wieder in sein Zimmer zurück.
„Lass ihn“, sagte Luisa. „Gib ihm noch etwas Zeit, bis er sich eingelebt hat.“
„Tim leidet unter depressiven Verstimmungen und ich mache mir mittlerweile große Sorgen.“
„Eva, er ist ein Teenager und muss sich abnabeln. Das ist bei uns doch nicht anders gewesen, du erinnerst dich sicher?“
Luisa kicherte albern und Eva musste aufpassen, dass ihr kein böses Wort über die Lippen rutschte. Luisa konnte manchmal so naiv und unbedarft sein.
„Entschuldige bitte, aber ich will noch Jörns Arbeitszimmer einrichten“, sagte sie und schob sich an ihrer Schwester vorbei in den Flur.
Im Arbeitszimmer schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken an das weiß lackierte Holz. Sie fühlte sich wie Tim, als hätte man einen Teil von ihr abgeschnitten und in Uppsala zurückgelassen. Trauer, Wut, Schmerz – all diese Gefühle tobten in ihrem Inneren und raubten den Platz für Liebe, Zuneigung und Hoffnung.
Das war doch nicht mehr normal, dass sie so empfand? Oder etwa doch? Sie hatte schließlich nur das Beste für ihre Kinder gewollt und trotzdem fühlte sich dieser Umzug wie ein riesengroßer Fehler an. Seufzend öffnete sie einen Karton und sortierte die Aktenordner und Bücher von Jörn ins Regal. Als sie fertig war, warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah gerade noch, wie das rote Shirt von Lena zwischen den Bäumen verschwand. Was machte ihre Tochter nur ständig im Wald?
Eva kehrte in den Flur zurück, zog sich die Turnschuhe über und eilte zur Tür hinaus. Jörn hatte Lena gegenüber ein Verbot ausgesprochen, sich im Wald herumzutreiben. Aber das Mädchen hatte ihren eigenen Kopf. Mit schnellen Schritten durchquerte Eva den Garten und schlüpfte zur Hinterpforte hinaus, um Lena zu folgen.
Das Mädchen stromerte mal hier und mal dort durchs Dickicht und nur wenige Minuten später hatte Eva das rote Shirt aus den Augen verloren. Sie war weniger wendig als ihre Tochter und stolperte eher durch diese Wildnis. Eva reckte den Hals, um nach Lena Ausschau zu halten, doch das Mädchen blieb verschwunden.
„Mist“, fluchte sie leise und bahnte sich einen Weg durchs dichte Unterholz.
Sie bog nach links und ließ sich einfach vom Zufall treiben. Irgendwann fiel ihr jedoch auf, dass sie die Lichtung, auf der das Haus stand, aus den Augen verloren hatte.
„Lena?“, rief sie, aber statt einer Antwort war nur das leise Rauschen der hohen Fichten hören.
Tja, was nun? Der Wald erschien Eva nicht so riesig, um keinen Weg aus dem Dickicht zu finden. Und wenn sie ehrlich war, dann genoss sie die friedliche Stille, die nur vom monotonen Stakkato eines Spechtes unterbrochen wurde.
Nach nur wenigen Metern stieß sie auf einen Bach, dessen klares Wasser sich leise murmelnd zwischen bunten Kieseln dahinschlängelte. Vielleicht konnte sie doch mit ihrem Schicksal Frieden schließen und dem neuen Zuhause in Dorotea eine Chance geben. Tim würde sicher mit dem Schulbeginn neue Freunde finden, ohne dass das Stigma weiter auf ihm lastete. Ja, Menschen konnten grausam sein und seit dem Unfall am Pool war ihr Sohn nicht nur einmal in seiner ehemaligen Schule gemobbt worden. Dennoch hatte er bleiben wollen.
Eva zog ihre Turnschuhe aus und tauchte den großen Zeh in das Wasser. Kalt, aber nicht unangenehm. Mit ihren nackten Füßen watete sie durch den Bach und fühlte sich in ihre Jugendzeit zurückversetzt. Wie dumm und naiv sie damals doch noch gewesen war, mit all ihren Träumen, von denen sie viele hatte begraben müssen. Aber sie wollte nicht klagen. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, ein gutes Einkommen und der Rest würde sich finden. Mit Sicherheit.
Sie folgte eine Weile dem Bachlauf, bis sie das Gefühl hatte, sich immer weiter von ihrem neuen Zuhause zu entfernen, und kehrte um. Voller Zuversicht lief sie in die entgegengesetzte Richtung und stieß auf eine verlassene Hütte. Die Holzschindeln auf dem Dach waren von der Witterung gezeichnet und mit einer dicken Moosschicht bedeckt. Das Glas fehlte in den Fenstern. Die Spinnweben über der Tür bewegten sich mit jedem Windhauch und die Hütte wirkte alles andere als einladend. Nur die Fußspuren auf dem Holz der Veranda verrieten, dass erst vor Kurzem jemand hier gewesen sein musste.
Zögerlich näherte sich Eva der Hütte. Der unangenehme Geruch, der aus dem Inneren strömte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Nimm die Beine in die Hand und lauf weg, riet ihr die innere Stimme, doch Eva schien paralysiert. Wie fremd gesteuert betrat sie die Veranda. Waren das etwa die Abdrücke von Kinderschuhen?
Schon jetzt machte ihr der Gedanke Angst, dass Lena an diesem unheimlichen Ort gewesen sein könnte, und sie rieb sich fröstelnd über die Arme. Mit einem Mal war alles um sie herum gespenstisch still. Nicht einmal die Vögel zwitscherten mehr und selbst der Specht hatte sein Hämmern eingestellt. Die Holzdielen knarrten unter Evas Sohlen, als sie die angelehnte Tür aufstieß.
„Oh Gott …“
Sie hielt sich die Hand vor Mund und Nase und wandte sich angeekelt ab. Der Geruch im Inneren der Hütte war bestialisch. Eva hätte am liebsten kehrtgemacht, aber falls ein Mensch dort drinnen …
Nein, daran wollte sie gar nicht erst denken. Dennoch konnte sie nicht so ohne Weiteres verschwinden, sie musste sich erst Gewissheit verschaffen. Zum Glück hatte sie ein sauberes Taschentuch dabei, das sie sich vor die Nase halten konnte. Dann näherte sie sich zögerlich dem Tisch. Etliche Kadaver von Kaninchen, Vögeln und Eichhörnchen waren dort aufgetürmt.
„Mami, ich möchte auf die Jagd gehen“, hallten Lenas Worte in ihren Ohren.
Bitte Galle schoss in Evas Rachen und sie stolperte in letzter Sekunde nach draußen, um sich in den Büschen zu übergeben. Keuchend rang sie nach Luft und tupfte sich anschließend mit dem Taschentuch über die Lippen.
Bitte nicht, bitte, bitte nicht, flehte sie im Stillen. Nein, das konnte und durfte nicht Lenas Werk sein.
Verzweifelt sank sie zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken an den rauen Stamm einer Birke. Wer war für diese groteske Kadaversammlung in der Hütte verantwortlich? Wenn sie das herausfinden wollte, musste sie wieder hinein zum Tisch des Grauens.
Widerwillig erhob sie sich und näherte sich abermals der Hütte. Der Verwesungsgeruch raubte ihr den Atem. Während die Sonne draußen helle Kringel auf den moosbewachsenen Waldboden malte und das satte Grün Entspannung pur versprach, wurden im Inneren der menschlichen Behausung tiefste Abgründe ausgelebt.
Erneut trat Eva durch die Tür und presste den Zipfel ihres Shirts vor Nase und Mund. Buntschillernde Fliegen schwirrten durch die Luft, deren Nachkommen sich wabernd an den Kadavern labten. Es war einfach nur widerwärtig.
Einige der Tiere waren bereits so zersetzt, dass eine Todesursache nicht mehr feststellbar war. Zwei Kaninchen hatten Verletzungen an den Pfoten, die von Drahtschlingen stammen konnten, bei den gefiederten Opfern war teilweise der Brustkorb durchbohrt. Wer immer das getan hatte, lebte seine Freude am Töten aus. Eva verabscheute den sinnlosen Tod, den keines der Tiere verdient hatte, und alles in ihr sträubte sich, daran zu glauben, dass Lena für diesen grausigen Fund verantwortlich sein sollte.
Doch unwillkürlich schoss ihr eine Erinnerung durch den Kopf. Die Ricke mit ihrem Kitz und Lenas Wunsch, in den Wäldern jagen zu gehen.
Nein, bitte nicht, flehte Eva im Stillen und zuckte erschrocken zusammen, als ganz in der Nähe ein vertrockneter Ast knackte. Mit einem Mal war da diese unbändige Furcht, die ihr den Rücken hinaufkroch und sie in Panik versetzte. Nichts wie weg von hier. Eva stürzte mit klopfendem Herzen aus der Hütte hinaus und rannte quer durch den Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht und kurze Zeit später hatte sie völlig die Orientierung verloren. Der Neuanfang war in ihren Augen gescheitert.
Schon seit einer halben Ewigkeit irrte Eva ziellos durch den Wald. Sie hatte Hunger und Durst und fragte sich, ob die anderen Familienmitglieder schon nach ihr suchen würden. Auf der Karte hatte das Waldgebiet nur halb so riesig ausgesehen. Oder lief sie immerzu im Kreis?
Sie kämpfte sich durchs dichte Unterholz, kletterte über umgestürzte Bäume und jammerte hin und wieder, weil sie sich ihre Fersen wund gescheuert hatte. Den Bachlauf, der ihren quälenden Durst gestillt hätte, hatte sie auch nicht wiedergefunden. Es war ein dummer Fehler gewesen, ohne Smartphone aus dem Haus gestürmt zu sein. Aber hinterher war man bekanntlich immer schlauer.
Mittlerweile humpelte sie und der Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Wenn das hier keine Lehre gewesen war, was dann? Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Hatte sie gerade das Motorengeräusch eines Fahrzeugs vernommen? Dann musste die Straße ganz in der Nähe sein. Das gab ihr neuen Auftrieb und sie erhöhte das Tempo. Und tatsächlich, schon nach wenigen Metern lichtete sich der Wald und sie konnte den dunklen Asphalt der Straße ausmachen.
Als sich ein weiteres Fahrzeug näherte, streckte sie den Daumen nach oben. Sie hatte großes Glück, der Wagen drosselte die Geschwindigkeit und hielt neben ihr an.
„Wo soll es denn hingehen?“, fragte ein älterer Herr.
Eva nannte ihm die Adresse.
„Ich habe mich dummerweise verlaufen. Das passiert halt, wenn man als Städter in die Wildnis zieht“, scherzte sie, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zumute war.
„Dann haben Sie also das Haus im Wald gekauft?“ Er musterte sie neugierig. „Übrigens, ich bin der alte Janssen.“
„Hej, ich bin Eva.“
„Schön. Dann werde ich Sie jetzt nach Hause bringen und vor der Haustür absetzen.“
„Das wäre sehr nett. Meine Fersen sind wundgescheuert und die Familie wartet sicher schon“, erwiderte Eva.
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung und nach einer knappen halben Stunde bog der alte Janssen auf den Weg, der zum Haus führte. Eva musste sich sehr weit vom Haus entfernt haben, aber sie war schließlich auch den ganzen Tag unterwegs gewesen. Luisa eilte sofort aus dem Haus.
„Eva, wo hast du nur so lange gesteckt? Wir haben uns alle Sorgen gemacht“, rief ihre Schwester vorwurfsvoll.
„Tut mir leid, ich habe mich verlaufen“, antwortete Eva.
„Ich bin dann mal wieder weg“, sagte Janssen.
„Vielen Dank, dass Sie mich nach Hause gefahren haben“, erwiderte Eva.
„Kein Problem, das habe ich gern gemacht.“
Janssen hob zum Abschied kurz die Hand und fuhr vom Grundstück.
„Jörn ist noch im Wald, um dich zu suchen. Ich werde ihn gleich anrufen.“
Luisa lief zurück ins Haus und Eva folgte ihr. Kurz nach ihnen betrat Tim den Flur.
„Warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?“, fragte er.
„Ich wollte nur kurz in den Wald und habe mich doch glatt verlaufen“, antwortete sie mit einem gequälten Lächeln.
„Was hast du im Wald gewollt?“
Darauf fiel Eva keine passende Antwort ein, sie war noch viel zu aufgewühlt.
„Ich weiß auch nicht“, murmelte sie. „Ist Lena da?“
„Nein. Sie ist mit Jörn unterwegs, weil sie sich ganz gut auskennt“, erklärte Luisa.
Genau diese Worte hatte Eva nicht hören wollen.
„Wisst ihr vielleicht, was Lena im Wald so treibt?“
„Ach, darum geht es also“, sagte Luisa. „Bist du Lena etwa gefolgt?“
Eva schluckte.
„Bevor ich euch weiter Rede und Antwort stehe, möchte ich erst einen Schluck trinken und mich setzen.“
Sie humpelte in die Küche, schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und ließ sich mit einem leisen Stöhnen auf den Stuhl fallen. Dann leerte sie Zug um Zug das Glas und lehnte sich erschöpft zurück.
„Irgendwie kann ich mich mit dieser Wildnis nicht anfreunden“, sagte sie.
„Dann frag mal, wer noch“, erwiderte Tim. „Hast du wirklich gedacht, dass wir hier glücklich werden?“
„Jetzt mach mal halblang“, ermahnte Luisa ihren Neffen. „Gib deinen Eltern und diesem wunderschönen Haus in dieser Bilderbuchlandschaft eine Chance.“
Tim warf Luisa einen vernichtenden Blick zu. Es kriselte schon seit Längerem zwischen den beiden und Eva konnte sich nicht erklären, warum das so war.
„Tim, ich kann nachempfinden, wie schwer das für dich ist“, sagte Eva.
„Ach ja? Warum sind wir dann in diese Einöde gezogen? Das Internet funktioniert je nach Wetterlage und man muss meilenweit fahren, um einem Nachbarn zu begegnen. Schöne Scheiße.“
„Tim, bitte nicht in dieser Ausdrucksweise.“
Eva fuhr sich müde übers Gesicht. Allein wenn sie an die Hütte dachte, musste sie ihrem Sohn recht geben, und sie überlegte, wem sie sich anvertrauen könnte. Jörn oder Luisa? Oder lieber schweigen, um die sowieso schon angespannte Situation nicht noch zu verschlimmern?
Die Haustür schwang auf und Jörn und Lena traten ein.
„Mensch Eva, bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Jörn verschränkte die Arme vor seiner Brust und seine Augen funkelten zornig.
„Vielen Dank auch. Vorwürfe sind genau das, was ich jetzt gebrauchen kann“, erwiderte sie aufgebracht.
„Na klasse, schon wieder ein Streit. Ich bin dann mal in meinem Zimmer.“
Tim wandte sich wütend ab und stapfte die Treppe hinauf. Seine Zimmertür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Eva war den Tränen nahe.
„Wir haben ein Problem, und ich wollte diesem auf den Grund gehen.“
„Im Prinzip haben wir nicht nur eines“, erwiderte Jörn kühl.
„Nur zu, ich bin seelisch so was von stabil“, fauchte sie.
„Es reicht“, fuhr Luisa dazwischen. „Ich werde mich jetzt um das Abendessen kümmern und ihr könnte euch zum Reden ins Wohnzimmer zurückziehen. Einverstanden?“ Ihr Blick pendelte fragend zwischen Jörn und Eva hin und her.
„Danke, Schwesterherz.“
Eva stand auf und kickte im Flur die Turnschuhe von den Füßen. Als Jörn ihre malträtierten Füße sah, entschuldigte er sich umgehend.
„Sorry, aber ich habe mir große Sorgen gemacht. Du bist noch nie für so lange Zeit fort gewesen.“
„In Uppsala war das auch schlecht möglich. Da hatte fast jeder Passant, den ich um Hilfe hätte bitten können, ein Smartphone bei sich.“
Jörn nahm sie tröstend in den Arm.
„In ein paar Monaten erinnern wir uns lachend an die Startschwierigkeiten“, raunte er ihr ins Ohr.
„Das wäre schön“, stimmte sie ihm zu. „Aber ich habe trotzdem die Befürchtung, dass der Umzug eine Fehlentscheidung war.“
Jörn umfasste ihre Schultern und forschte in ihrem Gesicht.
„Jetzt rede bitte Klartext mit mir. Was ist los?“
„Im Wohnzimmer, hinter verschlossener Tür“, wisperte sie.