Fame and Revenge - Xenia Weigel - E-Book

Fame and Revenge E-Book

Xenia Weigel

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Beschreibung

Nach Elenors Eintritt in die Arbeitswelt am ersten Herbsttag des Jahres beginnt für sie ein völlig neues Leben. Neben den täglichen Herausforderungen ihrer Ausbildung zur Verteidigungskämpferin im Königreich Vilgot muss sie sich auch mit ihrem neuen, mysteriösen Mentor auseinandersetzen, der sich mit ihr einfach nicht anfreunden will. Fynns respektlose Umgangsweise treibt Elenor zur Weißglut. Und doch fühlt sie sich machtlos zu ihm hingezogen. Warum ihre magische Fähigkeit bei ihm nicht zu funktionieren scheint, ist nur eines der vielen Geheimnisse, die er tief in sich verriegelt hält. Bald findet Elenor heraus, dass Fynn im Königreich nicht der Einzige mit Geheimnissen ist und dass ihr Königreich von gefährlichen Gegnern bedroht wird. Schon sehr bald findet sie sich mit ihren Kameraden auf schrecklichen Schlachtfeldern wieder, in gnadenlosen Kämpfen gegen den Wahnsinn.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


1. Der erste Herbsttag
2. Die Zeremonie
3. Das Festmahl
4. Knallhartes Erwachen
5. Drill und Lektionen
6. Der Mentor
7. Geheimnisse
8. Auf eigene Faust
10. Erinnerungen
11. Das Massaker
12. Das Geisterdorf
13. Fluch und Segen Der Kristallkugel
14. Das Bündnis
15. Die Prüfung
16. Alarm
17. Die Schlacht an der Mauer
18. Vanya
19. Lagerfeuer-gespräche
20. Gefühlschaos
21. Beschützerinstinkt
22. Die geheime Missionsabteilung
23. Der königliche Rat
24. Kameraden
25. Brüder
26. Selbstbeherrschung
27. Das verlassene Dorf
28. Hoffnung
29. Die Ruhe vor dem Sturm
30. Vereinigung
31. Aufbruch
32. Yva
33. Fehde
34. Die Botschaft des Rabens
35. Rettende Nachricht
36. Heroik und Blut
37. Gegen den Wahnsinn
38. Die zwei Rachsüchtigen
Epilog
Danksagung

Xenia Weigel

 

FAME AND REVENGE

FAME AND REVENGE

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

Lektorat: Lara Gathmann

Korrektorat: Patricia Buchwald und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Diana Gus

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Diese Geschichte widme ich meiner Schwester, meinen Freunden und jedem da draußen, der einen Traum hat. Etwas, wofür er brennt. So wie Elenor sich während der gesamten Geschichte von nichts und niemandem abbringen lassen hat und ihren Weg mit ganzem Herzen gegangen ist, so ermutige ich jeden Einzelnen da draußen, die Visionen, die er hat, zu verwirklichen. Lasst die Fehler passieren, lasst den Gegenwind kommen, fühlt euch frei, euren Weg vielleicht auch erst mal allein zu gehen. Solange in euren Herzen eine leidenschaftliche Flamme für etwas lodert, geht dem mit ganzer Freude und Abenteuerlust nach.

1. Der erste Herbsttag

 

 

Elenor war sofort wach, als die Sonne an diesem frischen Morgen vorsichtig über den Horizont kroch. Mit ihren Fingern fuhr sie sich durch ihre honigblonden Wellen und strich sich das dichte Haar aus dem Gesicht. Noch leicht verschlafen blinzelte sie in das warme Licht, das durch das kleine Fenster sanft zu ihr hereinfiel.

Für alle anderen Bewohner des Königreiches Vilgot war es ein ganz normaler Herbstmorgen. Die ersten Sonnenstrahlen breiteten sich über dem Land aus und tauchten die grasbewachsene, hügelige Landschaft außerhalb der hohen Mauern in ein sanftes Gold. In der Ferne wiegten sich die dunklen Nadelwälder leicht mit der kühlen Brise mit und aus den nahen Laubbäumen leuchteten einige bunte Blätter hervor. Auf den erntereifen Feldern waren bereits die ersten Menschen emsig bei der Arbeit. Alles schien friedlich und wie gewohnt.

Doch für Elenor war dieser Tag ein ganz besonderer. Wie jedes Jahr fand am ersten Herbsttag des Jahres, bei Sonnenuntergang, die Zeremonie statt, in der die Mädchen und Jungen in die Arbeitswelt eingeführt wurden. Elenor wurde mit den anderen Kindern im Alter von sechs Jahren für ihre allgemeine Grundlehre in die Volksschule aufgenommen. Zehn Jahre dauerte die Schulausbildung und diesen Sommer hatte sie diese abgeschlossen. Vor wenigen Wochen war Elenor frische sechzehn Jahre alt geworden und war damit alt genug, um an der Zeremonie teilzunehmen. Auf diesen Moment hatte sie sich ihr ganzes Abschlussjahr über gefreut. Und gleichzeitig beschäftigte sie bereits seit vielen Monaten die Frage, in welche der sechs Arbeitsbereiche sie eintreten wollte.

In der Heilkunstsektion versorgte man die Kranken und Verletzten, kümmerte sich um die Alten und Schwachen und begleitete Geburten. In der Nahrungssektion baute man Getreide und Weizen an, erntete Gemüse und Obst, fütterte die Nutztiere und tat, was sonst noch der Versorgung des Volkes diente. Wer in der Kindererziehung oder als Lehrmeister an der Volksschule arbeiten wollte, war in der Lehrsektion gut aufgehoben und wem organisatorische Aufgaben und Verwaltungsarbeiten lagen, ging in die Amtssektion. Torell, Elenors Vater, trat vor vielen Jahren der Handwerkersektion bei. Er war ein fröhlicher Mann mit etwas lichter gewordenem Haar, einem runden Bäuchlein und äußerst geschickten Händen. Mit seinen Kollegen zusammen stellte er unter anderem Holzwagen und Werkzeuge her und baute Häuser und Straßen.

Elenor gefiel die Handwerkersektion. Sie mochte den Gedanken, etwas mit eigenen Händen zu erschaffen. Deshalb beschloss sie, sich diesen Arbeitsbereich näher anzusehen und ihren Vater, für ein paar Wochen, in seiner Werkstatt zu unterstützen. Elenor war nur leider ziemlich tollpatschig und machte oft mehr Sachen kaputt, als dass sie sie herstellte. Einmal warf sie beim Vorbeigehen aus Versehen einen kleinen, frisch hergestellten Holzstuhl um und die liebevoll verzierte Lehne brach ab. Mit hochrotem Kopf starrte sie zu Boden, als der erzürnte Handwerker ihr einen Vortrag darüber hielt, wie lange er daran gearbeitet hatte, wie viel Liebe er in das Detail gesteckt hatte und wie wütend sein Auftraggeber jetzt sein würde, wenn der Stuhl später als geplant geliefert wird. Einmal drehte sie sich etwas zu stürmisch um und traf mit dem Holzhammer in ihrer Hand einen fleißigen, arglos vor sich hin summenden Handwerker am Kopf. Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie sich minutenlang entschuldigte und dem armen Mann vom Boden aufhalf. Ihr Vater versuchte sie am selben Abend zu trösten und versicherte ihr, dass jeder seine Stärken und Schwächen hätte und dass sie in den letzten Tagen doch genug Erfahrungen gesammelt hatte und nun vielleicht mal eine andere Sektion erkunden sollte. Er sei sich sicher, dass sie ganz bestimmt eine Arbeit finden würde, die sie so gut kann, wie kein anderer. Elenor nahm den Ratschlag ihres Vaters an und entschied sich, in die Sektion ihrer Mutter, Ida, hineinzuschnuppern. Die große, schlanke Frau arbeitete in der Heilkunstsektion. In einem Krankenlager nahe der Mauer kümmerte Ida sich um die verwundeten Verteidigungskämpfer, die von ihren Reisen außerhalb des Königreiches heimkehrten. In der sechsten Sektion, der Verteidigungssektion, ausgebildet, gehörten sie zu den unerschrockensten Kämpfern des Landes, sie waren beinahe unbesiegbar. Und doch trabten sie bei ihrer Rückkehr jedes Mal müde unter dem Tor der großen Mauer hindurch, hielten bei den Zelten der Heiler und verschwanden entkräftet in den, leicht im Wind flatternden Leinenstoffen. Mit denselben mandelförmigen Augen, wie die ihrer Tochter, schaute Ida Elenor liebevoll über die Schulter, während diese Verbände wechselte und die Wunden auswusch. Zwar stellte sich Elenor dort nicht viel weniger tollpatschig an, sie hatte aber ein sehr sensibles Gespür für die Bedürfnisse der Menschen. Sie sprach viel mit den Kämpfern, während sie sie verarztete und irgendwie wusste Elenor stets genau, worüber sie mit ihnen sprechen musste, um sie von der dunklen Schwere, die sie erfüllte, abzulenken. Und es dauerte nicht lange, bis die Schwere der Kämpfer, einer wunderbar leichten Heiterkeit wich. Doch obwohl sie so vielen Menschen helfen konnte, breitete sich zunehmend Bedrückung in Elenor aus, je mehr der Verletzungen sie sich ansah.

 

 

Eines Abends fragte Elenor ihre Eltern, was denn mit den Verteidigungskämpfern passiert sei. Ihre Eltern reagierten so seltsam, wie jedes Mal, wenn Elenor nach etwas Gefährlichem fragte. Sie tauschten einen kurzen Blick aus, senkten den Kopf und räusperten sich kurz.

»Es gibt eben ein paar Kämpfe da draußen«, antwortete Torell schwammig und schöpfte sich noch eine Portion Kartoffeln auf seinen ohnehin schon vollen Teller.

»Aber wieso?«, fragte Elenor verwirrt. »Ich dachte, wir leben in Frieden mit den benachbarten Königreichen. Wogegen kämpfen sie?«

Wieder folgte ein kurzer, stummer Blickwechsel zwischen ihren Eltern. Sie schienen irgendetwas zu verheimlichen. Ida legte Elenor noch eine Scheibe Brot auf den Teller.

»Hast du dich schon entschieden, in welche Sektion du willst?«, fragte sie ein wenig zu munter.

Elenor gab es auf. Wenn ihre Mutter so entschieden vom Thema ablenkte, dann bekam sie vorerst nichts mehr aus ihnen heraus.

»Noch nicht«, seufzte Elenor. »Für die Handwerkersektion bin ich eindeutig zu unbegabt.« Ein wenig geknickt, stocherte sie mit der Gabel in ihren Kartoffeln herum.

»Na ja, also so schlecht hast du dich doch gar nicht angestellt«, versuchte Torell sie aufzumuntern.

Elenor hörte ihn gar nicht. Sie hatte etwas anderes im Kopf. »In der Grundlehre haben wir uns heute über die Verteidigungssektion unterhalten«, sagte sie nachdenklich. »Das klang auch interessant«.

Torell verschluckte sich an seinem Gemüse und hustete eine Weile lang. Ida klopfte ihm besorgt auf den Rücken, dann beruhigte er sich wieder.

»Bist du sicher?«, fragte er mit rotem Gesicht. »Verteidigungskämpferin, ich weiß nicht, ... Schau mal, wie wäre es denn mit der Lehrsektion, hm?«

»Ja, genau«, unterstützte Ida ihn. »Du kannst doch so gut mit Menschen umgehen.«

Elenor ignorierte sie. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Eltern ihr einen Wunsch ausreden wollten, der ihnen zu gefährlich war.

»Ich kann ja erst mal die Ausbildung dort machen«, überlegte sie weiter. »Dann habe ich drei ganze Jahre Zeit, mich für eine der drei Fraktionen zu entscheiden, in die ich gehen könnte. Ich könnte vielleicht in die Mauer-Fraktion gehen. Da passe ich die meiste Zeit nur an der Mauer auf. Ob Gefahren von außen kommen und so.«

Mit offenem Mund starrten ihre Eltern sie ungläubig an. Torell fasste sich als Erster wieder.

»Und was ist, wenn jemand mit einem Pfeil auf dich schießt?«, fragte er und bemühte sich, sachlich zu bleiben. »Es ist sehr gefährlich dort, auch wenn es in der Grundlehre bei euch nicht so klingt. Ich habe einen Kollegen, der regelmäßig Rüstungen und Waffen an die Mauer liefert und was er mir da so erzählt ... da läuft es mir kalt den Rücken herunter.«

Ida nickte ihm mit düsterer Miene bestätigend zu.

»Ok, schon gut«, gab Elenor nach. »Und was ist mit der Inneren Fraktion? Da kümmere ich mich um den Schutz innerhalb des Königreiches und habe es nur mit kleineren Verbrechen zu tun.«

Torell plusterte sich entrüstet auf. »Und was ist, wenn einer dieser Ganoven dich zusammenschlägt? Diese Verbrecher sind verdammt gefährlich!«

Langsam wurde Elenor wütend. Ihr Leben lang hatten ihre Eltern sie behütet und ihr alles ausgeredet, was sie machen wollte, denn es könnte ja gefährlich sein. Sie war genervt davon, immer wie ein rohes Ei behandelt zu werden.

»Ich vermute mal, die Elite-Fraktion gefällt euch auch nicht?«, fragte sie gereizt. »Bei den Missionen, die die Elite-Kämpfer quer durchs Land unternehmen, könnte ich ja umgebracht werden, richtig?«

Elenor spürte sofort, dass sie zu weit gegangen war. Betroffenes Schweigen breitete sich aus, während ihre Eltern traurig auf ihre Teller blickten. Elenor räusperte sich. »Entschuldigung«, fügte sie betreten hinzu. »Das war nicht so gemeint. Vielleicht schaue ich mir die Heilkunstsektion noch eine Weile an. Als Heilerin zu arbeiten, gefiel mir bisher ja auch sehr gut.«

Erleichtert blickten ihre Eltern auf und lächelten sie breit an.

 

 

 

Die Wochen vergingen und die Bedrückung in Elenor verdichtete sich, je mehr verletzte Kämpfer sie verarztete. Nebenbei grübelte sie außerdem ständig darüber nach, welchen Lebensweg sie einschlagen wollte. Und dann stand die Entscheidung eines Tages plötzlich fest. Vielleicht war es der Drang, etwas für ihr Königreich zu tun oder einfach nur ihr eigener Dickkopf. Sie wollte sich einmal in ihrem Leben durchsetzen und das tun, was sie wollte. Sie war es leid, nach den Wünschen ihrer Eltern zu leben. Und sie wollte etwas Großes bewirken, etwas Grundlegendes verändern. Sie wollte in die Verteidigungssektion.

 

 

 

 

2. Die Zeremonie

 

 

Noch immer in die morgendlichen Sonnenstrahlen dieses ersten und wichtigen Herbstmorgen blinzelnd, sog Elenor tief die frische Luft ein, die durch das kleine, leicht geöffnete Fenster zu ihr herein schwebte. Nun konnte sie nicht mehr länger liegen bleiben. Schwungvoll warf sie ihre Decke zurück und sprang aus ihrem gemütlichen Holzbett. Ihr Blick fiel sofort auf das festliche Kleid, welches sie schon am Abend vorher glatt gestrichen und auf einen Stuhl gehängt hatte. Wie kleine Feuerwerke explodierte die Vorfreude in ihr, als sie vergnügt auf das weiße Kleidungsstück zuging. Hastig stülpte sie es sich über und drehte sich einige Male ausgelassen im Kreis. Als würde das Kleid mit ihr tanzen, flatterte es umher und umspielte frech ihre Beine. Vor Aufregung, leicht außer Atem, wandte Elenor sich ihrem schmalen Spiegel zu. Ihr leicht gebräunter Hautton erschien unter dem langen Leinenkleid noch ein wenig dunkler.

Es war mittlerweile ein halbes Jahr vergangen, seit sie sich entschieden hatte, der Verteidigungssektion beizutreten und sie war sich dessen immer noch absolut sicher. Ihre Eltern hatten zuerst, wie erwartet, erschrocken und ängstlich reagiert.

»Bitte überleg es dir noch mal«, flehten sie ihre Tochter an. Doch sie gaben schnell auf, denn Elenor war von ihrem Entschluss nicht mehr abzubringen. Und je mehr sie es versuchten, desto trotziger wurde Elenor und ihre Eltern hielten einen Streit mit ihrer Tochter nie lange aus. Sosehr Elenor in ihrer Sturheit nach ihrem Vater kam – am Ende gewann sie immer. Doch sie musste ihnen hoch und heilig versprechen, dass sie auf sich aufpassen würde. Und mittlerweile bemühten Torell und Ida sich stetig darum, sich ihre Sorgen wenig anmerken zu lassen und zeigten sich ihr besonders in der letzten Zeit stolz auf ihr großes Mädchen und ihren Mut.

Zügig band Elenor sich ihre dichten Haare zusammen und warf einen abschließenden Blick auf ihr Spiegelbild, welches ihr, mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen, entgegen strahlte.

Der köstliche Geruch von warmem Hefeteig schwebte Elenor begrüßend entgegen, als sie die knarzende Treppe herabstieg.

»Guten Morgen, Liebling«, begrüßte Ida sie sanft, während sie eine große Schüssel mit Hefeklößen auf den Tisch stellte.

»Guten Morgen«, antwortete Elenor und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie nahm ihr einen kleinen Krug mit Honig ab und wollte sich gerade an den Tisch setzten als eine kräftige Stimme den Raum erfüllte.

»Da ist ja unsere zukünftige Verteidigungskämpferin!«

In sein bestes Hemd gekleidet, betrat Torell den Raum und strahlte seiner Tochter breit entgegen. Mit ausgestreckten Armen zog er sie an sich und drückte sie herzlich. Trotz seines Alters versprühte er noch immer eine enorme Energie und zumindest an diesem Morgen schienen seine Bedenken gegenüber Elenors neuem Arbeitsfeld vorerst verschwunden zu sein. Glaubte Elenor zumindest. »Bald sitzt du dann wohl neben den ganzen berühmten Elite-Kämpfern auf deinem eigenen Pferd«, sagte er und sein feierlicher Ton schwand ein wenig. Sie lösten sich aus ihrer Umarmung und er betrachtete sie leicht wehmütig. Elenor unterdrückte den Impuls, die Augen zu rollen. Heute wollte sie auf gar keinen Fall ernste Diskussionen führen, also knuffte sie ihm sanft in seinen Bauch und grinste verschmitzt.

»Dann werd ich dich ihnen vorstellen«, lockte sie ihren Vater und es klappte. Sofort wurden seine Augen größer.

»Wirklich?«, fragte er leicht aufgeregt. Torell war ein großer Fan von den Elite-Kämpfern, wie viele aus dem Königreich. Nicht selten erzählte er ihr am Abend Geschichten von Mitgliedern aus der Elite-Fraktion und deren legendären Kampftechniken, wobei sich Ida und Elenor sicher waren, dass nicht alles der Wahrheit entsprach.

»Aber zuerst wird gefrühstückt, damit unsere neue Verteidigungskämpferin nachher genug Kraft für die Zeremonie und die Feier hat«, entschied Ida bestimmt und zwinkerte Elenor verschmitzt zu. Torell verzog das Gesicht, als er sich setzte. Ida wandte sich ihm sofort zu.

»Hast du dich in der Werkstatt wieder verletzt?«, fragte sie und trat zu ihm.

»Ach na ja, nur ein bisschen am Bein gestoßen«, antwortete Torell abwinkend. »Es ist nichts.«

»Ich würde es mir gern mal anschauen«, sagte sie und begann bereits damit, sein Bein abzutasten.

»Mach dir keine Sorgen, so schnell setzt mir nichts zu«, antwortete er. Unbeirrt tat er sich drei der großen Hefeklöße auf und biss herzhaft hinein.

»Komm schon, Liebling, halte still«, forderte Ida mit Nachdruck. Elenor schmunzelte. Wie oft hatte sie so eine Situation schon mit erlebt …

»Wenn du drauf bestehst«, gab Torell schließlich nach und hielt seiner Frau sein Bein hin. Sie legte ihre Hand auf die schmerzende Stelle. Dann hob sie sie leicht und im selben Moment schien ein kleines, warmes Licht aus ihrer Handinnenfläche heraus. Ein wenig später senkte Torell sein Bein wieder.

»Ah, vielen Dank, Liebes«, sagte er dankbar. Ida besaß die magische Fähigkeit, zu heilen, und damit war sie nicht die Einzige. Die meisten Menschen besaßen magische Fähigkeiten, die meist im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren zum ersten Mal in Erscheinung traten.

Elenor hatte die Gabe, die Auren und deren Emotionen anderer Menschen zu spüren und konnte negative Gefühle in positive umwandeln. Ihre Fähigkeit hatte sie zum ersten Mal im Alter von acht Jahren unbewusst eingesetzt. Sie wollte eine weinende Mitschülerin auf dem Schulhof trösten und redete beruhigend auf sie ein. Und plötzlich fing das Mädchen an zu lachen, sprang auf und hüpfte euphorisch herum. Zuerst dachten alle, es wäre die magische Fähigkeit des Mädchens gewesen, die sich entfaltet hatte. Doch nachdem wenige Tage später Elenors gesamte Klasse urplötzlich in das gleiche Verhalten verfiel und alle, bis auf Elenor lachend und sich umarmend durch den Raum sprangen, war klar, dass sie dieses Verhalten auslöste. Elenors magische Fähigkeit war nicht häufig vertreten.

Doch trotzdem wurde sie, wie alle anderen Schüler auch, während ihrer allgemeinen Grundlehre mit ihrer Fähigkeit vertraut gemacht und lernte sie mithilfe der Lehrmeister zu verstehen und sinnvoll einzusetzen. Dabei gab es strenge Regeln, deren Verstoß unverzüglich mit Strafen geahndet wurde. Unter anderem war es verboten, seine magische Fähigkeit gegen einen Mitschüler, Lehrmeister oder sonstigen Menschen innerhalb des Königreiches zu richten. Einsetzen durfte man sie nur, unter bestimmten Voraussetzungen und bei ausdrücklicher Erlaubnis durch zuständige Autoritätspersonen, wenn sie zum Beispiel in der Schule im Unterricht oder für die Arbeit in den Sektionen benötigt wurde, zur Selbstverteidigung oder beim Kampf in der Verteidigungssektion.

Es gab auch Menschen ohne magische Fähigkeiten, wie Torell. Doch er machte sich nichts draus.

»Ich bin ganz froh, solche Fähigkeiten nicht zu haben. Bei meinem Glück verletze ich mich bloß aus Versehen selbst damit«, sagte er immer lachend. Elenor stimmte stets mit in sein Lachen ein. Für sie war die lustige, lebensfrohe Art ihres Vaters, mit der er sie immer inspirierte, magisch genug.

 

 

 

Sie kamen gerade noch pünktlich auf dem Burghof an. Die späte Sommersonne neigte sich langsam dem Horizont zu und ließ die kleinen Wolken rosa aufleuchten. Angenehm strich die kühle Abendbrise durch Elenors Haare, während sie ihren Blick suchend über den Hof schweifen ließ. Eine dichte Menschenmasse hatte sich auf der großen, steinernen Fläche in einem Halbkreis um den Burgeingang versammelt. Majestätisch ergoss sich ein prächtiger, rubinroter Teppich von der massiven Eichenholztür der Burg, über die breiten Treppenstufen herab bis in den Burghof hinein und endete vor einem langen, rechteckigen Holzpodest. Mittig darauf stand ein massiver dunkler Thron mit dezenten, goldenen Verzierungen. Innerhalb des Halbkreises stand aufgeregt schnatternd eine Gruppe von Mädchen und Jungen, die gelegentlich nervös zum Podest emporblickten. Elenor brauchte nicht lange, um die Gesichter ihrer Schulkameraden in der Gruppe ausfindig zu machen. Eilig verabschiedete sie sich von ihren Eltern und schlängelte sich zu ihnen hindurch.

»Da bist du ja endlich«, rief ihre beste Freundin Emelie. »Wo warst du denn so lange? Du wärst fast zu spät gekommen!« Sie blickte Elenor mit strengen Augen an. Fragend hob sie eine Augenbraue und ignorierte den Wind, der ihr ihre wilden Locken ins Gesicht blies. Trotz ihrer sehr direkten, groben und manchmal etwas herrischen Art war Emelie eine gutmütige und vertrauensvolle Person. Sie und Elenor waren seit Beginn der Grundlehre beste Freundinnen.

Als Elenor nicht direkt antwortete, stemmte Emelie ungeduldig die Hände in ihre kurvigen Hüften.

»Ah, verstehe, ihr habt also wieder zu lange getrödelt«, tadelte sie schließlich, gerade als Elenor antworten wollte.

»Lass das«, sagte Elenor ertappt. »Wir hatten doch ausgemacht, dass du erst fragst, bevor du in meinen Kopf hinein schaust.« In solchen Momenten war Emelies magische Fähigkeit des Gedankenlesens ziemlich unangenehm. Emelie öffnete gerade ihren Mund, um etwas Belehrendes zu sagen, als eine Stimme hinter ihnen fragte: »Wie, in den Kopf reinschauen? Kannst du etwa Gedanken lesen?« Ein schmaler, sommersprossiger Junge mit kurzen, braunen Haaren schaute die beiden Mädchen neugierig an.

»Sag mal, belauschst du uns etwa?«, fragte Emelie forsch.

»Nein, ich hab nur –«, antwortete der Junge.

»Natürlich, du stehst schon die ganze Zeit hinter uns und hast uns beobachtet!«, unterbrach ihn Emelie aufgebracht, ihren Blick mit zusammengekniffenen Augen unverwandt auf ihn geheftet.

»Woher weißt du das?«, fragte der Junge verwirrt. »Du standest doch die ganze Zeit mit dem Rücken zu mir.«

»Deine Gedanken zu lesen, ist nicht grade schwer. Du bist wie ein offenes Buch«, antwortete Emelie harsch. »Besonders charakterstark bist du wohl nicht.«

»Was…äh…ähm…«, stotterte der Junge und wurde rot.

»Verzeih meiner Freundin, sie ist fremden Personen immer erst mal etwas misstrauisch gegenüber«, schritt Elenor hastig ein, bevor Emelie den armen Jungen noch mehr einschüchtern konnte.

»Ich bin Elenor und das ist Emelie.« Sie deutete auf Emelie, die den Jungen mit verschränkten Armen skeptisch musterte. »Und wer bist du?«, fragte Elenor. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn in der allgemeinen Grundlehre gesehen zu haben.

»Henrik«, antwortete er unbehaglich, ganz offensichtlich entmutigt von Emelies Konfrontation. Eine kurze Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dann übernahm Elenor das Wort.

»Du scheinst dich sehr für die magischen Fähigkeiten zu interessieren.« Sie war ehrlich neugierig. Immer noch etwas eingeschüchtert nickte Henrik. Emelie grummelte etwas wie »Oder für Mädchen«, doch Henrik schien sie nicht zu hören.

»Ich habe während der Grundlehre sehr viel in der Volksbibliothek darüber gelesen«, antwortete er und ein Schwall an Einträgen und Aufzeichnungen aus den Büchern schien aus ihm heraus zu wollen. Elenor hätte sich den Schwall gern angehört, doch bevor er den Mund öffnen konnte, ging ein Raunen durch die Menge. Alle Köpfe wandten sich der großen Burgeingangstür zu, die sich langsam öffnete.

»Pscht, es geht los«, zischte Emelie und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

Elenors Sicht wurde durch ein paar Jungen vor ihr blockiert und so schob sie sich vorsichtig durch die Gruppe, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Dabei stolperte sie über einen Pflasterstein, der etwas zu weit aus dem Boden ragte, und fiel einem Mädchen vor ihr in den Rücken.

»Pass doch auf«, rief diese verärgert und drehte sich zu Elenor um. Elenor lief ein Schauer durch den Körper, als die stechend hellen Augen des Mädchens sie giftig musterten.

»Tut mir leid, ich wollte nicht – «, versuchte Elenor sich flüsternd zu entschuldigen. Genervt schnaubend drehte sich das Mädchen wieder nach vorn und ihre seiden glatten, kupferroten Haare peitschten in Elenors Gesicht.

»Die kann ja nicht mal stehen, welche Sektion nimmt die denn bitte auf?«, murmelte sie zu ihrer Freundin, einem grauäugigen Mädchen mit kühlen, blonden Locken. Sie kicherten.

 

 

 

Ein alter, kleiner Mann trat aus der Burg. Seinen finsteren Blick starr auf den Teppich gerichtet, nahm er keinerlei Notiz von seinem Volk. Die Menge wich sofort auseinander, während der König schwerfällig auf das Podest zuschritt, seine lange Robe schlaff hinter sich herziehend. Selbst der Wind traute sich nicht, die dünnen, weißen Haare des Königs anzurühren.

»Das ist der König?«, tuschelte Henrik hinter Elenors Rücken. »Müsste er nicht eigentlich viel jünger sein? Es gibt in der Volksbibliothek ein Buch über ihn und die Könige vor ihm und laut seines Geburtsdatums müsste er jetzt um die dreißig –«

»Pscht!«, unterbrach Emelie ihn.

Wesentlich vergnügter als der König liefen ihm drei Frauen und drei Männer hinterher. Ihre vor Stolz geschwellte Brust erhob sich unter den festlichen Uniformen, die jeweils, in den Farben der einzelnen Sektionen, in der Abendsonne aufleuchteten.

»Das sind die obersten Leiter der Sektionen«, flüsterte Henrik aufgeregt.

»Pssscht«, kam es diesmal noch nachdrücklicher von Emelie zurück.

König Noah setzte sich mühsam auf den Thron. Düster schweiften seine schattigen Augen über die erwartungsvolle Menschenmenge. Es schien niemanden zu wundern, dass der König augenscheinlich viel älter war, als Henrik gelesen hatte. Neugierig reckten die Menschen ihre Köpfe. Das Volk bekam ihren König nur sehr selten zu Gesicht. Die meiste Zeit verbarg er sich hinter seinen hohen Burgmauern und führte Versammlungen mit dem königlichen Rat durch. Es hieß oft, der König sei vor zehn Jahren so stark erkrankt, dass er seitdem zu schwach war, um durch das Königreich zu fahren und während Elenor den alten Mann so betrachtete, konnte sie sich sehr gut vorstellen, dass dies stimmte.

»Willkommen«, begann König Noah. Seine raue Stimme hallte lieblos und verbittert durch den Burghof. Ein unangenehm dumpfes Gefühl breitete sich in Elenor aus und sie spürte, dass der König sich gerade viel lieber wieder allein in seine Burg zurückziehen würde.

»Ein weiteres Jahr ist vergangen und erneut werden die jungen Menschen unseres Königreiches in die sechs Sektionen aufgenommen, die sie sich bis zu ihrem Abschluss aussuchen konnten.« Mit einem finsteren Blick starrte er auf Elenor und ihre Gruppe. Die feinen Härchen an Elenors Armen stellten sich auf. Sie glaubte, einen winzigen Hauch von Neid in ihm zu spüren. Er nahm einen tiefen Atemzug, als würden ihm die nächsten Worte eine Menge Kraft kosten. »Aus jeder Sektion wird der oberste Leiter hervortreten, die Namen derjenigen nennen, die ab morgen ihre Ausbildung dort beginnen und euch willkommen heißen.« Er zeigte müde auf die sechs uniformierten, stolz lächelnden Erwachsenen neben sich. »Ihr werdet den Leitern danach folgen«, fuhr der König rau fort. »Sie werden euch zu dem jeweiligen Hauptgebäude eurer Ausbildung führen, wo ein Festmahl auf euch wartet.« Die Menschenmenge schwieg gespannt. »Also gut«, seufzte König Noah. »Beginnen wir mit der ersten Sektion. Die Nahrungssektion ... die meiner Meinung nach wichtigste Sektion in Vilgot. Ohne unsere Bauern gäbe es kein Essen, ohne sie gäbe es heute kein Festmahl. Jeden Tag stehen sie auf ihren Feldern und arbeiten unermüdlich, bei jedem Wetter…« Ein sehnsüchtiger Klang schwang in seinen Worten mit. Das dumpfe Gefühl in Elenor verstärkte sich und kroch ihren Hals empor. Auch den anderen Menschen blieb diese seltsame Melancholie nicht unbemerkt. Unsicherheit trat in ihre eben noch leuchtenden Augen. König Noah fasste sich wieder und fuhr genauso rau wie zu Beginn fort. »Ich übergebe das Wort an Stefan Jones.«

Ein sonnengebräunter, hoher Mann trat beschwingt aus der Reihe der Erwachsenen hervor. Kleine Lichtpunkte der rot goldenen Abendsonne tanzten auf den goldenen Stickereien seiner beigfarbenen Uniform. Bedeutungsvoll entrollte er ein langes Blatt Pergament und begann feierlich die darauf stehenden Namen der Reihe nach vorzulesen. Einzeln stiegen die Mädchen und Jungen aufgeregt auf das Podest und nahmen einen kleinen Blumenstrauß entgegen. Danach stiegen sie wieder herunter und stellten sich mit einem breiten Grinsen und vor Stolz geröteten Wangen daneben. Nachdem jeder Neuling offiziell in die Nahrungssektion aufgenommen worden war, ging es weiter mit den nächsten Sektionen. König Noah kündigte die weiteren Sektionen nur noch sehr knapp an und sah dann schweigend und mit finsterer Miene zu, wie ein Neuling nach dem anderen das Podest betrat. Kräftiger Stolz durchströmte Elenor, als sie dabei zusah, wie eine kleine, stämmige Frau in der blau-weißen Uniform der Amtssektion Emelie einen breiten Rosenstrauß übergab.

»Und nun zur letzten Sektion«, sagte König Noah und richtete sich ein wenig auf. Nun wirkte er um einiges wacher als zuvor. »Dieser Arbeitsbereich ist der gefährlichste von allen. Es werden schwierige Situationen und Gefahren auf euch zukommen.« Seine dunklen, weit in den Höhlen liegenden Augen schimmerten, während er die kleine, übrig gebliebene Gruppe aufmerksam beobachtete. »Ihr tragt eine große Verantwortung. Ihr dient der Sicherheit von Vilgot und die wenigen von euch, die es vielleicht in die Elite-Fraktion schaffen werden, dienen sogar der Sicherheit des ganzen Landes.« Er musterte jeden Einzelnen der letzten, noch nicht zugeteilten Mädchen und Jungen. Dann lehnte er sich wieder in seinem Thron zurück und fuhr fort. »Der Leiter der Verteidigungssektion kann heute Abend nicht hier sein. Deswegen übernimmt der Leiter der Elite-Fraktion, Eaven Lewis, seine Aufgabe. Zusätzlich kommen auch noch weitere Kämpfer aus der Mauer-Fraktion und der Inneren Fraktion auf das Podest. Diese Kämpfer werden für die nächsten drei Jahre eure Mentoren sein. Jedem Mentor wird ein Auszubildender zugeordnet, dem er, neben dem generellen Training, Einzelunterricht gibt.« Henrik konnte sich nicht mehr zurückhalten.

»Mentoren? Das gab es, soweit ich weiß, in den letzten Jahren nicht«, flüsterte er Elenor aufgeregt zu. »Dieses Jahr scheint es ihnen wirklich ernst zu sein mit uns.«

Elenor war ein wenig überrascht, dass er noch neben ihr stand. Bei all der Aufregung hatte sie ihn ganz vergessen. Ein kräftiger Applaus erfüllte den Burghof, als Eaven Lewis in die Mitte des Podestes trat. Er war noch recht jung, vielleicht Ende zwanzig, doch die starke, kühle Aura und die Ruhe, die er ausstrahlte, waren enorm. Er trug eine schwarze Hose, ein dunkles, schlichtes Hemd und den typischen dunkelgrünen Mantel der Elite-Kämpfer. Seine schwarzen Haare bewegten sich keinen Millimeter und auch in seinem ernsten Gesicht regte sich keine Miene. Nun begann auch das rothaarige Mädchen vor Elenor zu tuscheln.

»Eaven ist der beste Kämpfer in der Sektion«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Neidköpfe sagen, er habe sich noch nie vernünftig ausgelebt, wohnt angeblich auf dem Gras seines Trainingsplatzes und weiß scheinbar nicht, was Spaß ist. Ich nenne das Disziplin. Er hatte seine Prioritäten eben sein Leben lang woanders und hat hart gearbeitet und nun ist er ganz oben. So sauber beherrscht niemand die ganzen Kampftechniken wie er!«

Eaven stand so lange reglos vor der Menge, bis sie völlig still war. Kurz und knapp stellte er die Mentoren vor, die nacheinander auf das Podest traten. Als der Name Fynn Evans fiel, quiekte das rothaarige Mädchen auf.

»Oh mein Gott, Fynn ist einer der Mentoren?«, flüsterte sie aufgeregt. »Fynn ist einer der talentier- ach was, er ist der talentierteste Verteidigungskämpfer in der ganzen Sektion. Nicht einmal Eaven lernt so schnell wie er, auch wenn Fynn in der Ausführung längst nicht so genau und präzise ist, aber Fynn übt wohl auch nicht wirklich. Aber angeblich wird Fynn wohl bald in die Elite-Fraktion aufgenommen und das ist ja irgendwie die gefährlichste Fraktion mit dem größten Verletzungsrisiko. Aber wenn die Elite-Fraktion von jemandem profitiert, dann von ihm. Und bald auch von mir. Ich hoffe so sehr, dass er mein Mentor wird! So ein großes Talent braucht einen ebenso talentierten Lehrling.«

 

 

 

Die Stimme des rothaarigen Mädchens wurde immer dumpfer, als befände Elenor sich unter Wasser. Ihr Atem wich ihr aus den Lungen, während sie Fynn wie gebannt anstarrte. Elenors Blick verfing sich in den dunklen Haaren, wanderte über sein attraktives, schmales Gesicht und blieb schließlich an seinen Augen hängen. In dem kühlen Blau schimmerte etwas Zerbrochenes.

»Elisabet White.« Eavens Stimme durchschnitt ihren Bann. Die Freundin des rothaarigen Mädchens schwebte auf das Podest, mit vor Aufregung geröteten Wangen. Sie nahm den Blumenstrauß an, den ihr neuer Mentor ihr entgegenhielt und strahlte ihn so breit an, dass er leicht peinlich berührt zu Boden sah. Etwas unbeholfen führte er sie vom Podest und stellte sich neben sie. Ein wenig verstohlen sah Elenor immer wieder zu Fynn herüber. Er war anders als die anderen Mentoren. Er schien irgendwie dazuzugehören und war doch eindeutig keiner von ihnen. Das dumpfe Gefühl in Elenor wich einem nervösen Flattern. Henrik stieg auf das Podest und bekam einen großen, breiten Mentor zugeteilt, der ihn so väterlich anlächelte, als stünde sein eigener Sohn vor ihm. Und schlussendlich blieben nur noch Elenor und das rothaarige Mädchen übrig. Und mit ihnen nur noch Plätze bei zwei der Mentoren. Fynn Evans und ein kleiner, blonder Mann mit einem freundlichen Gesicht. Während Elenor beinahe übel wurde, breitete sich auf dem Gesicht des rothaarigen Mädchens ein triumphierendes Grinsen aus. Sie sah ihren Wunsch von Fynn als Mentor ganz offensichtlich bereits erfüllt.

»Josefin Clarke.« Das rothaarige Mädchen stolzierte selbstbewusst auf das Podest und blieb, wie selbstverständlich, vor Fynn stehen. Kein Millimeter bewegte sich in seinem ausdruckslosen Gesicht.

»Dein Mentor ist Tom Davies.« Der kleine, blonde Mann trat zu ihr und strahlte sie fröhlich an. Schlagartig verzog sich ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Sie riss ihm den Strauß aus der Hand und verließ mit wehenden Haaren das Podest.

»Elenor Watson.« Jetzt war sie dran. Ihre Beine zitterten vor Aufregung. Ganz langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, die Blicke der Menschen fuhren ihr über den Rücken, wie Käfer, die auf ihr herumkrabbelten. Das Blut rauschte ihr so stark in den Ohren, dass sich ihre Sicht leicht verzerrte. Plötzlich stolperte sie über den Rand des Podestes und landete mit den Knien auf dem Holz. Die Menge atmete erschrocken ein. Das Blut rauschte ihr nun vollständig in den Kopf. Mit pochendem Trommelfell starrte sie auf die schmalen Lücken zwischen den Brettern. So sehr hatte sie sich noch nie blamiert. Warum musste sie ausgerechnet heute, ausgerechnet vor dem König und den vor ihr stehenden Verteidigungskämpfern so tollpatschig sein? Josefins Kichern schnellte zu ihr herüber und riss sie aus ihrer Trance. Hastig stand Elenor auf, strich ihr Kleid glatt und starrte auf den Boden.

Sie hörte die Stimme von Eaven sagen: »Dein Mentor ist Fynn Evans. Herzlichen Glückwunsch.«

Schüchtern hob sie den Kopf und lächelte ihren neuen Mentor an, der ihr bereits gegenübergetreten war. Er musterte sie abfällig, offensichtlich amüsiert über ihren Sturz. Scheu wich sie seinem Blick aus und nahm den Blumenstrauß an, den er ihr lustlos vor die Nase hielt. Für einen kurzen Moment stand sie hilflos da. Sie wartete darauf, dass Fynn sie ebenso zu den anderen führte, doch er ließ sie einfach wortlos stehen und stieg allein vom Podest. Verdutzt starrte Elenor ihm hinterher, dann folgte sie ihm hastig. Im Augenwinkel bemerkte sie den neidischen Blick von Josefin. Henrik lächelte ihr aufmunternd entgegen.

»Gut gemacht«, flüsterte er ihr leise zu, als sie sich neben ihn stellte und für einen kurzen Moment fühlte sie sich etwas getröstet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Das Festmahl

 

 

König Noah erhob noch einmal die Stimme, um ein paar Abschlussworte zu sagen, wobei er nicht fröhlicher klang als zu Beginn. Finster wünschte er den Neulingen noch einen schönen Abend und viel Erfolg für ihre Zukunft, dann stand er ächzend auf und verschwand schwerfällig wieder in seiner Burg.

Auf dem Hof breitete sich ein aufgeregtes Gewusel aus. Eltern winkten ihren frisch zugeteilten Neulingen stolz zu, während die Gruppen nacheinander mit ihren Leitern den Burghof verließen. Elenor sah noch, wie Emelies Kopf in der Nähe des mächtigen Falltores aus der Menge ragte. Sie winkte ihr fröhlich zu und formte mit ihren Lippen die Worte »Bis morgen!«, dann war sie ebenfalls vom Burghof verschwunden. Elenors Freude vom Morgen war jedoch getrübt. Die Scham über ihren Sturz, vor gefühlt dem halben Königreich, trieb ihr immer noch die Hitze ins Gesicht und die Begegnung mit ihrem neuen Mentor bereitete ihr ein ungutes Gefühl. Es war nicht nur die Abneigung, die er ihr völlig unverschleiert entgegengebracht hatte. Irgendetwas an ihm war anders als an allen anderen Menschen, denen Elenor bisher in ihrem Leben begegnet war.

»Ist alles gut?«, fragte Henrik und holte Elenor aus ihren Gedanken. Elenor nickte schnell, dann trat Eaven vor seine neuen Schützlinge.

»Sind wir alle vollständig?«, fragte er mit einem prüfenden Blick in die Runde. Bevor jemand antworten konnte, fuhr er schon wieder fort. »In Ordnung, dann gehen wir jetzt los. Nutzt den Abend, um euch mit euren Mentoren vertraut zu machen. Stellt Fragen, wenn ihr welche habt. Gern auch an mich. Morgen früh trefft ihr euch um sieben Uhr in dem Hauptausbildungsgebäude, zu dem wir jetzt gehen. Euer Lehrmeister wird euch dann alles Weitere erklären und dann beginnt auch schon euer Training. Ist so weit alles klar?« Die Gruppe nickte stumm und starrte ihn mit großen Augen an. Eaven sprach nicht mehr als nötig. Jedes Wort, das er aussprach, diente der reinen Informationsübertragung. Innerhalb weniger Sekunden hatte seine Aura die gesamte Gruppe erfasst und der kollektive Wille, ihm zu folgen, breitete sich unter ihnen aus. Eaven schien sich seiner Wirkung auf die Menschen wohl bewusst. Er nickte zufrieden, dann drehte er sich um und führte seine Gruppe als letzter vom Hof.

 

 

 

Das Hauptausbildungsgebäude der Verteidigungssektion stand nicht weit von der Burg entfernt. Schweigend lief Elenor hinter Fynn her, der keine Anstalten machte, eine Konversation mit ihr zu beginnen. Fieberhaft überlegte Elenor, wie sie ihn ansprechen könnte, doch die donnernde Stimme von Henriks Mentor unterbrach sie permanent. Unaufhörlich sprach Igram auf seinen neuen Schützling ein und erzählte ihm Geschichten aus seiner eigenen Grundausbildungszeit.

»Junge, als ich damals so alt war wie du, da war ich auch unsicher und konnte noch nichts. Aber ich hab durchgehalten und immer mein Bestes gegeben und jetzt bin ich stolzes Mitglied der Mauer-Fraktion. Die Techniken sind das Entscheidende, das werde ich dir alles noch beibringen. Im Einzelunterricht kämpfen wir, was das Zeug hält. Aber keine Sorge, Junge, ich werde vorsichtig mit dir sein«, sagte er, mit einem herzhaften Lachen, auf Henriks erschrockenen Blick hin und gab ihm einen väterlichen Klapps auf den Rücken. Elisabet schwebte, mit einem verträumten Blick, lächelnd neben ihrem Mentor Erik her. Schüchtern sah er sie von der Seite an. Mehrmals räusperte er sich, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann doch anders und schloss ihn wieder. Beim fünften Mal fragte sie ihn besorgt, ob er eine Erkältung bekomme.

»Ich kann dir gern morgen früh einen Tee vorbeibringen, wir bauen bei uns im Garten jede Menge Kräuter an.«

»Was? N…nein, mir geht es gut, aber vielen Dank«, antwortete er hastig und kratzte sich verlegen am Kopf. Elisabet wollte gerade etwas antworten, als sie von Josefins verächtlichem Schnauben unterbrochen wurde.

»Was für eine Frage, meine Eltern solltest du eigentlich kennen«, sagte sie kühl zu ihrem Mentor Tom. »Mein Vater Askil ist der Leiter der Verteidigungssektion und meine Mutter Nyssa arbeitet in der geheimen Missionsabteilung der Amtssektion.« Tom schien ihre Arroganz und Ablehnung ihm gegenüber nicht zu bemerken und hing wie gebannt an ihren Lippen.

»Das ist ja der Wahnsinn, dann steckt sicher eine Menge Talent in dir. Von dir kann man bestimmt Großes erwarten.«

»Mit dem richtigen Mentor an meiner Seite definitiv«, erwiderte sie schnippisch und schielte sehnsüchtig zu Fynn herüber. Tom, der sich offensichtlich angesprochen fühlte, lächelte geschmeichelt und ging beschwingten Schrittes voran.

Elenor dachte über Josefins Worte nach. »Ich dachte, Eaven ist der Leiter von der -. Wer ist noch mal der Leiter wovon?«, fragte sie, mehr zu sich selbst. Igram, der Henrik grade von der korrekten Schwertführung und der richtigen Beinstellung im Angriffsmodus erzählte, unterbrach prompt seinen Redefluss.

»Das ist richtig, Kleine«, antwortete er, offensichtlich begeistert darüber, noch einen unwissenden Neuling gefunden zu haben, den er unter seine Fittiche nehmen konnte. »Eaven ist der Leiter der Elite-Fraktion. Er entscheidet, was in der Fraktion passiert und wer hinzukommen darf. Außerdem führt er die Missionen an und zieht mit seinen Kämpfern durchs Land. Die Mauer-Fraktion wird von Gunar geleitet und die Innere Fraktion von der wunderbaren Solveig. Doch die drei Fraktionen der Verteidigungssektion brauchen auch jemanden, der sich um die organisatorischen Dinge kümmert und in Kommunikation mit unserem König steht. Das übernimmt Askil Clarke. Er ist also der Leiter der gesamten Verteidigungssektion und nicht einer der einzelnen Unterfraktionen, obwohl Eaven aber eigentlich auch immer mit im Rat sitzt und für seine Elite-Fraktion spricht. Ich hab gehört, dass Askil davon eher nicht so begeistert ist, aber was soll’s. Eavens Vater saß auch schon immer mit im Rat und jetzt, wo Eaven an seiner Stelle die Elite-Fraktion übernommen hat, hat er dort natürlich auch seinen Stammplatz, da kann der alte Askil nichts gegen sagen. Wo wir schon dabei sind, dort drüben steht das Hauptlager der Elite-Fraktion.« Igram zeigte feierlich nach links, zu einem alten, großen Landhaus mit einem riesigen Trainingsgelände. »Früher hat dort mal eine Adelsfamilie gewohnt, deswegen sieht es etwas protzig aus. Bevor sie verstorben sind, haben sie der Elite-Fraktion ihr Anwesen als Trainingsort überlassen.«

»Woran sind sie gestorben?«, fragte Henrik kleinlaut. Ganz offensichtlich schüchterte Igrams überschwänglicher Tatendrang ihn ein.

»Sehr gut Junge, du stellst Fragen, immer weiter damit«, rief Igram stolz aus und gab Henrik einen weiteren kräftigen Klapps auf die Schulter. »So ist das mit dem Leben. Wenn du alt wirst, dann stirbst du irgendwann«, fuhr er belehrend fort, als wäre dies gerade schon die erste Unterrichtsstunde und er würde ihnen ganz neues Wissen eröffnen. Ihr Bauchgefühl sagte Elenor, dass dies nicht der Grund für den Tod der Adelsfamilie war. Doch sie beschloss, nicht weiter nachzubohren und ließ Igram mit seinen Geschichten und Weisheiten von seiner Arbeit als Mauer-Kämpfer fortfahren.

Eine gefühlte Ewigkeit lief sie hinter dem, nach wie vor, schweigenden Fynn her, während sie immer angestrengter nach einem Gesprächsbeginn suchte. Und dann kamen sie endlich vor einem imposanten, länglichen Gebäude aus dunklem Stein, an. Eaven drehte sich zur Gruppe um und überflog sie mit seinen dunklen Augen, um zu überprüfen, ob noch alle dabei waren.

»So, da sind wir«, richtete er das Wort an die Neulinge. Sofort verstummten die Gespräche. »Hier findet ab morgen, für die nächsten drei Jahre eure Grundausbildung statt. Das Essen steht in der Eingangshalle. Unterhaltet euch, stellt Fragen und knüpft Kontakte. Viel Erfolg für die Ausbildung und gebt alles. Vilgot braucht euch. Vielleicht sehe ich den einen oder anderen in ein paar Jahren bei mir in der Elite-Fraktion wieder.« Dann wandte er sich um und öffnete die große Eingangstür aus dunklem Holz.

 

 

 

Ein riesiger, langer Tisch aus massivem Holz stand in der Mitte der großen Eingangshalle und war von den verschiedensten Speisen bedeckt. Gegrilltes Fleisch lag in großen Töpfen und verbreitete einen köstlichen Duft. Geflochtene Körbe mit Brot, silberne Platten mit Obst und Gemüse, dunkle Porzellantöpfe mit herbstlichen Suppen, Schüsseln mit Kartoffeln, Teller mit Käse, runde Platten mit Kuchen und anderen süßen Naschereien und große Krüge mit Wasser, Wein und Bier, ließen den Tisch nahezu überquellen.

»Herzlich willkommen, neue Verteidigungskämpfer«, riefen die Lehrmeister und Kämpfer aus den verschiedenen Fraktionen, als die Neulinge hinter Eaven in die Halle traten. Elenors Körper durchzog ein angenehmes Prickeln, während sie in die herzlich grinsenden Gesichter sah, die ihnen feierlich applaudierten. Igram eröffnete das Essen, indem er als Erster anfing, sich seinen Teller voll zuschaufeln. Der Rest folgte seinem Beispiel und nach und nach füllten sich die Stühle. Mit Bedacht schmuggelte Henrik sich einige Meter von seinem Mentor weg und setzte sich neben Elenor. Er atmete erst auf, als er sah, wie Igram sich mit Eaven zu seinen Kollegen setzte und scheinbar fürs Erste von seinem Schützling abließ.

»Weißt du, er ist ja echt nett, aber mir raucht langsam der Kopf von seinen vielen Geschichten und Ratschlägen«, sagte er zu Elenor, die verständnisvoll nickte.

Fynn suchte sich einen Platz am Ende des Tisches, abseits der Menge. Er hoffte wohl, unentdeckt zu bleiben, doch Josefin spähte bereits suchend, mit ihren Adleraugen, durch den Raum. Als sie ihn sichtete, bahnte sie sich entschlossen einen Weg durch das Gewusel, wie ein Raubtier auf Beutefang. Kurz bevor sie bei Fynn ankam, setzte sich jedoch ein anderer Verteidigungskämpfer neben ihn und Josefin musste sich widerwillig auf den letzten freien Platz gegenüber von Elenor und Henrik setzen.

 

 

 

Wie das angenehme Summen eines großen Bienenschwarms erfüllten die vielen Gespräche den Raum, während die Teller klirrend vollgeladen und gegessen wurde.

»Das war eine seltsame Zeremonie, findest du nicht?«, brachte Henrik kauend hervor. Elenor nickte. Ihre Stirn runzelte sich nachdenklich bei dem Gedanken an das merkwürdige Verhalten des Königs.

»Was meinte König Noah wohl damit, dass man der Sicherheit des ganzen Landes dient, wenn man Mitglied der Elite-Fraktion ist?«, fragte sie und tat sich einen Löffel Erbsen auf ihren Teller. Henrik hörte auf zu kauen und überlegte kurz, dann zuckte er ratlos mit den Schultern.

»Vielleicht war das eine Art Prüfung«, antwortete er und schlürfte seine Kürbissuppe weiter. »Um zu sehen, ob unsere Nerven stark genug für die Verteidigungssektion sind.« Elenor wusste nicht ganz, ob sie das glauben sollte. Sie würde König Noah durchaus zutrauen, Prüfungen solcher Art durchzuführen, doch sie spürte, dass dies vorhin kein bloßer Test war. Inmitten der tief verborgenen, düsteren Augen hatte Elenor eine schwere Last gesehen. Etwas, dass der König schon sehr lange mit sich herumtrug.

»Was ist eigentlich deine magische Fähigkeit, Elenor?«, fragte Henrik neugierig. Elenor schob ihre Gedanken beiseite.

»Ich kann die Gefühle der Menschen spüren und die negativen Emotionen in Positive umwandeln«, antwortete sie. »Und eigentlich nicht nur die Gefühle der Menschen, sondern auch die Auren drumherum.« Josefin schnaubte verächtlich. Erschrocken über diese heftige Gefühlsentladung fuhr Elenor zusammen.

»Manipulativ bist du also auch noch. Das erklärt, warum du Fynn als Mentor bekommen hast«, gab sie kalt wieder. »Du hast die Leute auf dem Podest verhext.«

Für einen kurzen Moment raubte Josefins scharfe Zunge Elenor die Worte.

»Nein«, antwortete sie schließlich. »Erstens ist meine Magie keine Hexerei. Und zweitens setze ich sie nie einfach so gegen jemanden ein. Und schon gar nicht direkt vor dem König.«

»Wie auch immer«, fuhr Josefin unbeirrt fort. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie deine Fähigkeit der Verteidigungssektion nützen soll. Willst du die Feinde im Kampf etwa zum Lachen und Tanzen bringen?«

»Ich bin mir sicher, dass es für Elenors Fähigkeit eine sinnvolle Verwendung geben wird«, ging Henrik beschwichtigend dazwischen. Josefins stechende Augen fuhren wütend zu ihm herüber und er senkte sofort errötend den Kopf. »Was ist denn deine Fähigkeit?«, fragte er kleinlaut.

»Ich besitze die Magie, Eis zu erzeugen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Ich kann alles und jeden um mich herum einfrieren lassen, aufspießen oder wozu man Eis noch so nutzen kann.« Henrik schluckte. Die Dominanz ihrer Aura breitete sich genüsslich aus und drückte Henrik immer tiefer in seinen Stuhl.

»Natürlich ist es wichtig, dass man eine nützliche Fähigkeit hat, die man im Kampf einsetzen kann«, fuhr sie fort. »Vor allem, wenn man in die Elite-Fraktion möchte. Alle Elite-Kämpfer besitzen wichtige Fähigkeiten. Eaven zum Beispiel hat eine unglaublich hohe Resistenz. Physische oder magische Angriffe können ihm fast nichts anhaben. Deswegen kommt er von den Missionen außerhalb des Königreiches auch fast immer unverletzt zurück.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Elenor erstaunt.

»Ich will in die Elite-Fraktion, seit ich klein bin. Mein Vater hat schon früh angefangen, mich dafür zu trainieren und angesichts meines Talents besteht kein Zweifel daran, dass ich nach der Grundausbildung dort hineinkomme. Dennoch überlasse ich nichts dem Zufall und nutze alles, was mir einen Vorteil verschaffen könnte. Deswegen habe ich mich erkundigt, um so viel wie möglich über jeden einzelnen Verteidigungskämpfer aus den Fraktionen zu erfahren.«

Verblüfft starrte Henrik sie an. Dann lehnte er sich ein wenig gegen Josefins Dominanz auf und räusperte sich.

»Du hast vorhin bei der Zeremonie gesagt, dass Fynn der talentierteste Verteidigungskämpfer in der Sektion sei und kurz davor stehe, in die Elite-Fraktion aufgenommen zu werden. Warum?«, fragte er. Sichtlich in der Aufmerksamkeit badend, fuhr sie fort.

»Fynn ist nicht nur kämpferisch überaus talentiert, sondern meiner Meinung nach der Verteidigungskämpfer mit der stärksten magischen Fähigkeit überhaupt. Er besitzt telekinetische Kräfte.«

»Heißt das etwa –«, begann Henrik.

»Ja, er kann Objekte bewegen«, unterbrach sie ihn ungehalten, genervt davon in ihren Ausführungen unterbrochen worden zu sein. »Diese Fähigkeit ist so selten, dass sie nicht richtig erforscht werden konnte. Niemand weiß –«

»Wie, nicht richtig erforscht?«, unterbrach Henrik sie erneut.

»Hast du in der allgemeinen Grundlehre nicht aufgepasst?«, fuhr Josefin ihn gereizt an. Ihre Wut begann ihn erneut tiefer in seinen Stuhl zu drücken. »Die magischen Fähigkeiten der Menschen wurden lange Zeit von Wissenschaftlern beobachtet und erforscht. Ihre Erkenntnisse wurden in Büchern festgehalten. Aus denen entnehmen unsere Lehrmeister aus der allgemeinen Grundlehre ihr Wissen über unsere Fähigkeiten und können uns dementsprechend unterrichten. Manche Fähigkeiten, wie das Gedankenlesen, treten häufig auf, andere Fähigkeiten eher selten.«

»Bedeutet das, dass die Lehrmeister Fynn den Umgang mit seiner Fähigkeit gar nicht richtig beibringen konnten?«, fragte Elenor. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es für sie wäre, wenn man ihr nie geholfen hätte, ihre eigene magische Fähigkeit zu verstehen. All die Emotionen und Energien der Menschen würden permanent ungehindert auf sie einprasseln.

»Keine Ahnung, vielleicht nicht«, antwortete Josefin. »Aber zumindest beherrscht er seine Fähigkeit gut genug, sonst wäre er jetzt gerade nicht hier, sondern noch im Unterricht. Jemanden, der seine Fähigkeit nicht im Griff hat oder sie gegen die Regeln einsetzt, lässt der König nicht unbeaufsichtigt herumspazieren. Ich würde zu gerne einmal sehen, wie er seine Fähigkeit im Kampf einsetzt…« Schwärmend sah sie zu Fynn, am Ende des Tisches, herüber. Als sie realisierte, dass der Platz neben ihm wieder frei war, sprang sie auf und eilte zu ihm, bevor sich ein anderer den Platz nehmen konnte. Er zuckte erschrocken zusammen, als sie sich neben ihn auf die Bank warf. Noch bevor er verstehen konnte, wer sie war und was sie von ihm wollte, begann sie, wie ein Wasserfall, auf ihn einzureden. Beim Anblick ihrer Aura, die sich nun aufdringlich um Fynn legte, wandte Elenor sich mit verzogenem Gesicht ab. Alles in ihr drin, lehnte dieses Mädchen ab und doch sprach eine leise, ehrliche Stimme in ihrem Hinterkopf von einer starken Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Elenor schüttelte sich, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Dankend nahm sie ein paar der kleinen Zitronenkuchen an, die Henrik eben geholt hatte. Erfrischend süß breitete sich der Geschmack in ihrem Mund aus, als Elenor in den fluffigen Teig biss.

 

 

 

Die lebhaft summende Atmosphäre im Raum wurde langsam wunderbar warm und friedlich. Elenor und Henrik tranken einige Krüge Bier und unterhielten sich angeschwipst lachend über die jüngsten Erlebnisse aus ihrem Abschlussjahr. Irgendwann wurden sie von Josefin unterbrochen. Herrisch fragte sie die beiden, ob sie Fynn gesehen hätten. Er sei wohl mittendrin aufgestanden, als sie ihm grade von ihrem morgendlichen Training erzählte, welches sie seit dem fünften Lebensjahr durchführte. Anscheinend wollte er nur kurz an die frische Luft, aber er war seitdem nicht mehr wiedergekommen. Elenor und Henrik sahen sich an und prusteten los. Sie hatten den gleichen Gedanken: Fynn hatte wohl genug von Josefins Biografie gehabt und beschlossen, die Flucht zu ergreifen.

4. Knallhartes Erwachen

 

 

Es war schon nach Mitternacht, als Elenor endlich von dem Festmahl nach Hause kam. Mit vor Müdigkeit, trägen Beinen und einem völlig überfüllten Bauch öffnete sie leise die Haustür, um ihre Eltern nicht zu wecken. Doch Ida und Torell waren noch wach und weckten auch beinahe die gesamte Nachbarschaft, als sie ihre Tochter lautstark begrüßten. Überschwänglich umarmten sie Elenor, hin- und hergerissen zwischen einer leichten Aufgebrachtheit darüber, dass Elenor so ungewöhnlich lange aus war und dem elterlichen Stolz, dass Elenor nun als erwachsene, junge Frau einem der Arbeitsbereiche beigetreten war.

»Ich hab gehört, dass ihr Mentoren bekommen habt«, platzte es neugierig aus Torell heraus. »Wen hast du bekommen? Freya vielleicht?«

Freya war neben Eaven Torells liebste Elite-Kämpferin. Im Volk hatte man sich bereits zahlreiche Geschichten über ihre mörderische Stärke und ihre barbarisch und wild geführten Schlachten erzählt. Und auch wenn diese Geschichten Elenor manchmal einen ordentlichen Schauer über den Rücken jagten, spielte sie kurz mit dem Wunsch Freya als Mentorin anstatt Fynn bekommen zu haben. Ida deutete Elenors Schweigen als ein Anzeichen der Müdigkeit und übernahm das Wort.

»Liebling, nun lass sie die Ereignisse von heute erst mal verarbeiten. Elenor wird uns bestimmt früh genug von ihrem neuen Mentor oder ihrer neuen Mentorin erzählen.« Ihr warmes Lächeln schwebte sanft zu ihrer Tochter herüber und löste Elenors Schwere im Magen ein wenig auf. Torell verstand und drückte seine Tochter noch einmal liebevoll an sich.

»Wer auch immer es ist, ich bin mir sicher, dass ihr beide ein gutes Team werdet.« Mit diesen Worten löste er sich von Elenor.

Elenor brachte ein gezwungenes Lächeln hervor, verabschiedete sich von ihren Eltern und ging ins Bett. Sie hoffte inständig, dass sie und Fynn zumindest noch irgendwie miteinander warm werden würden, ansonsten würden sich die nächsten drei Jahre sehr, sehr lang anfühlen.

 

 

 

Trotz der wenigen Stunden Schlaf war Elenor sofort hellwach, als sie am Morgen von dem Klingeln ihres kleinen, zusammengeschusterten Holzweckers geweckt wurde, den Torell ihr in seiner Werkstatt gebastelt hatte. Zügig zog sie sich an, warf sich über der Waschschüssel hastig ein paar Hände voll kalten Wassers ins Gesicht und band sich die Haare wie gewohnt zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Ihr Bauch kribbelte vor Aufregung und Vorfreude, während sie die knarzende Holztreppe herunterflog. Trotz der schläfrigen Schwere, die sich gestern Abend über sie gelegt und ihr die Augenlider hatte zufallen lassen, hatte ihr Gehirn vor dem Einschlafen munter noch einige bildliche Szenarien produziert, die sich am heutigen Tag abspielen könnten. Eines der weniger positiven Szenarien war ein peinliches Zuspätkommen. Also schlang sie nur schnell einige Löffel Haferbrei herunter und griff nach einer dünnen Jacke. Ein kleines Stück Pergament, das an der Haustür hing, hielt Elenor für einen kurzen Augenblick auf. »Viel Spaß heute!« stand dort in Idas filigraner Handschrift. Wohlige Wärme strömte durch Elenors Körper, dann eilte sie aus dem Haus.

Die Morgensonne war bereits aufgegangen, als Elenor zügig durch die schmalen Gassen zwischen den Häusern schritt. Die noch schwachen Strahlen bahnten sich vorsichtig ihren Weg durch die angenehm kühle Luft auf Elenors Haut. Der angeregte Gesang einiger munterer Vögel weckte die schläfrige Umgebung allmählich auf. Doch Elenor nahm von all dem kaum etwas wahr. Angestrengt versuchte sie, sich an den Weg zu erinnern, den sie gestern Abend angetrunken vom Festmahl zu sich nach Hause gewankt war. Weit schien er ihr nicht gewesen zu sein, doch sie war oft in irgendwelche Seitengassen abgebogen und davon gab es im Königreich unzählige. Nachdem sie drei Mal in die falsche Gasse gegangen und zwei Mal auf versteckten, düsteren Hinterhöfen herausgekommen war, begann sich Nervosität in ihr breit zu machen. Sie stieß einen verzweifelten Luftstrom aus, fuhr herum und hastete aus dem Hinterhof heraus in die Gasse zurück. Dabei stieß sie plötzlich mit jemandem zusammen. Elenor sah erschrocken in Emelies erhitztes, mit Schweißperlen übersätes Gesicht.

»Was machst du denn –«, begann sie verwundert, winkte dann aber sofort wieder ab. »Ich muss weiter, sonst komme ich noch zu spät.« Sie eilte an Elenor vorbei. »Lass uns später an dem Brunnen dort drüben treffen, ich hab dir noch eine Menge zu erzählen, zu viel Wein gestern –« Mit einem mürrischen »Wenn ich dieses blöde Amtshaus endlich mal finden würde«, stürmte sie los und verschwand in der nächsten verwinkelten Gasse.

Die Nervosität glühte erneut in Elenors Körper auf und sie hetzte ebenfalls weiter. Nach wenigen Metern entdeckte sie den Brunnen, von dem Emelie eben gesprochen hatte und direkt daneben endlich das Hauptausbildungsgebäude. Elenor sprintete auf die hohen Holzflügel zu, riss sie schwungvoll auf und huschte in die Eingangshalle.

 

 

 

Ihr hastiger Blick fiel auf die Neulinge, die in kleinen Grüppchen beieinander standen und sich unbekümmert unterhielten. Elenors Körper sackte ein wenig zusammen, als die Nervosität erlosch und Erleichterung ihr durch die Glieder strömte. Sich den kühlen Schweiß von der Stirn wischend, ließ sie ihren Blick durch die breite Halle schweifen. Der einladend lange Holztisch vom Vorabend war davon getragen worden, wodurch die Halle nun ernüchternd leer wirkte.

»Ah, hallo Elenor«, rief Henrik ihr von der Seite zu und bahnte sich seinen Weg zu ihr hindurch. Elenors Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie in sein erfreutes, sommersprossiges Gesicht blickte. Bevor Elenor Henrik begrüßen konnte, sorgte ein lauter Knall von der anderen Seite der Halle schlagartig für Ruhe. Von der noch immer leicht zitternden Seitentür trat ein älterer Mann in die Halle. Elenor stockte der Atem, als ihre Augen über die breite Masse zu lang trainierten Muskeln glitt. Mit einer unzerstörbar dichten Präsenz stampfte er geradewegs in die Mitte des Raumes und wandte sein furchenübersätes Gesicht den Lehrlingen zu. Sein fast kahl geschorener Kopf schimmerte leicht im Licht der Morgensonne, während er die Jungen und Mädchen grimmig anstarrte. Auch die Reste des eben noch vergnügten Geplappers wichen sofort einer angespannten Stille.

»Wir werden hier nicht lange rum tratschen und gehen gleich aufs Trainingsgelände«, sagte er mit kräftiger Stimme. »Vorab nur ein paar Worte. Wer denkt, dass er sich hier entspannt an einen Tisch setzen und sich berieseln lassen kann, während jemand anderes vor euch steht und euch in den Schlaf quasselt, der hat sich geirrt. Ihr seid hier in der Verteidigungssektion und ab heute heißt das für euch trainieren, trainieren und noch mal trainieren. Habt ihr mich verstanden?« Ein bejahendes Murmeln ging durch die Gruppe. »Ab sofort will ich auf solche Fragen ein Jawohl hören. Habt ihr mich verstanden?«, fragte der Lehrmeister erneut, diesmal um einiges lauter.

»Jawohl«, kam es unsicher von der Gruppe zurück.

Er nickte zufrieden. »Ich bin euer Lehrmeister für die nächsten drei Jahre und ihr sprecht mich mit Meister Thore an. Ist das klar?«

»Jawohl.«

»Euer Training findet fast immer in Gruppen statt. Ich werde euch paarweise und gruppenweise zusammenarbeiten lassen, damit ihr euch kennenlernt und zusammenwachst. Als Verteidigungskämpfer ist es wichtig, ganz genau auf seine Mitkämpfer zu achten. Ihr müsst ein äußerst feines Gespür füreinander entwickeln, damit ihr ein Team werdet, das sich bis ins kleinste Detail ergänzt. Einzelkämpfer sind da draußen schneller tot, als ihr blinzeln könnt. Eine Gruppe, die zusammenarbeitet, kann jeden noch so starken Feind besiegen. Ist in dieser Gruppe jedoch nur ein einzelner egoistischer Schweinehund dabei, der meint, es besser zu können, als die anderen, dann bröckelt die Gruppe und der Feind hat eine Menge Angriffsmöglichkeiten und genügend Chancen, euch alle umzubringen.« Blinzelnd sah er in die Runde, als wolle er sehen, ob seine Worte bei den Neulingen angekommen waren. Scheinbar überzeugt davon, dass sie ihn verstanden hatten, fuhr er fort. »Gleichzeitig erlernt ihr bei mir Präzision, Fokus und Geschwindigkeit. Ihr müsst die Umgebung mit all euren Sinnen wahrnehmen und eure Augen überall haben, um einen Angriff in Sekundenschnelle zu erkennen und ihn rechtzeitig abzublocken. Ihr müsst eure magischen Fähigkeiten genauestens beherrschen und sie nicht nur blitzschnell, sondern auch präzise einsetzen können, um euch und eure Mitkämpfer zu verteidigen. Es ist wichtig, dass – wer hat da gequiekt?« Er schaute mit einem gefährlichen Blick in die Runde, offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Ein pummeliges Mädchen mit schwarzen Zöpfen hob ängstlich die Hand. »Was ist?«, fuhr er sie an.

»Meister Thore«, begann sie, mit vor Angst schriller Stimme. »Das klingt alles sehr gefährlich, so nach Krieg. Ich… ich dachte, es herrscht Frieden in Vilgot, und… und wenn wir nach der Ausbildung in die Fraktionen gehen, brauchen wir das Training wirklich so intensiv? Also in der Inneren Fraktion zum Beispiel wird man doch nie so ernsthaft kämpfen, also zumindest nicht so auf Leben und –« Ihre Stimme wurde immer höher, je gefährlicher das Feuer in Meister Thores Augen zu lodern begann.

»So, so«, unterbrach er sie. Die Furchen in seinem Gesicht schienen zu glühen, als wolle die Wut aus ihnen heraus explodieren. »Du denkst also, dass wir in Frieden leben und deswegen keine Verteidigungssektion brauchen? Du dachtest, du kannst hierherkommen, ein bisschen Spaß haben mit deinen Freunden, dir deinen Bauch in Ruhe vollstopfen und dann ganz unbekümmert in die Innere Fraktion schlendern und da weiter entspannen?«

»N...nein, ich –«, stotterte sie, ihr Gesicht ebenso rot wie das seine.

»Ich erzähl’ dir mal was«, unterbrach er sie mit anschwellender Stimme. »Die Verteidigungssektion wurde gegründet, um unser Königreich gegen gefährliche Feinde zu schützen. Es gibt Menschen da draußen, die ihre magischen Fähigkeiten nutzen, um Dörfer zu plündern oder Königreiche zu stürzen. Einer von denen hat völlig den Verstand verloren und ganze Städte niedergemetzelt. Warum? Einfach so, weil er böse ist! Denkst du, er wird da draußen warten, bis du Lust dazu gefunden hast, vernünftig kämpfen zu lernen? Er wird dich überrennen und wenn du bis dahin nicht gelernt hast, dich zu verteidigen, dann bist du schneller tot als du deinen morgendlichen Kuchen runterschlucken kannst!« Das Mädchen begann zu zittern. Tränen füllten ihre Augen, während sie ihren glühenden Kopf zu Boden senkte. Doch Meister Thore ließ nicht nach. »Den Namen des Wahnsinnigen könnt ihr euch schon mal merken!«, fuhr er erbarmungslos fort. »Hakon. Er hält sich jetzt schon seit zehn Jahren irgendwo da draußen versteckt. Die Ruhe, die seitdem eingekehrt ist, ist nur ein Schein. Er wird wiederkommen, stärker denn je. Solche Leute verschwinden nicht einfach. Die bringen zu Ende, was sie angefangen haben. Und wenn er zurückkommt, wird die Elite-Fraktion nicht ausreichen, um ihn aufzuhalten.« Grimmig wandte er sich dem Mädchen zu, das mit jeder Faser ihres Körpers darum kämpfte, tapfer stehenzubleiben. »Dann müssen die Verteidigungskämpfer aus der Mauer-Fraktion und der Inneren Fraktion ebenfalls kämpfen. Es ist also egal, welche der drei Fraktionen du dir am Ende dieser Ausbildung aussuchst. Die einen tun ihre Arbeit innerhalb des Königreiches, die anderen an der Mauer und die dritten außerhalb des Königreiches. Aber kämpfen wird früher oder später jeder von euch und wenn du dafür zu feige oder zu faul bist, dann geh, bevor du den Kämpfern nur ein Klotz am Bein bist.«

Ohne zu zögern, nahm das Mädchen sofort ihre Sachen und stolperte schluchzend aus der Halle.

»Will noch jemand gehen?«, fragte Meister Thore barsch in die Runde. Geschockt von dem, was sich gerade abgespielt hatte, schüttelte die Gruppe mechanisch den Kopf. »Immerhin, die erste Prüfung habt ihr schon bestanden«, sagte er trocken und holte einen Stapel Pergamente aus seinem großen Lederbeutel. »Hier habt ihr eure Pläne mit den wöchentlichen Trainingseinheiten. Jeder, der zu spät kommt, muss zehn Runden um das Trainingsgelände sprinten.«

Neugierig überflog Elenor ihren Plan, kaum dass sie ihn in der Hand hielt und stellte mit einem unguten Gefühl fest, dass sie schon heute Nachmittag ihre erste Einzeltrainingsstunde mit Fynn hatte.

»Dort drüben im Schrank liegen eure Trainingssachen. Zieht euch um und kommt nach draußen auf das Trainingsgelände.«