Familienbande - Vom Leben, Lieben und Loslassen - Lenn Kudrjawizki - E-Book
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Familienbande - Vom Leben, Lieben und Loslassen E-Book

Lenn Kudrjawizki

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Beschreibung

Nur wer mit der Vergangenheit Frieden schließt, gibt der Zukunft eine Chance Als Kommissar im Kroatien-Krimi begeistert er ein Millionenpublikum, er spielt mit im oscarprämierten Film  »Die Fälscher«, mit Kevin Costner macht er während der Drehpausen in seinem Wohnwagen Musik. Das Leben von Lenn Kudrjawizki ist aufregend und abwechslungsreich. Doch es ist so viel mehr als eine reine Schauspielerbiografie. Es ist die Geschichte eines Jungen, der mit seinem Vater durch die wilde Landschaft des Kaukasus streift und von den Schicksalen seiner jüdischen Vorfahren erfährt. Eines Teenagers, der in der DDR eine familiäre Achterbahn durchlebt und mit 19 von seinem geliebten Vater Abschied nehmen muss. Eines jungen Mannes, der sich um der Trauer zu entfliehen in die Arbeit stürzt und dabei fast selbst verliert. Lenn Kudrjawizki zeigt, wie schwer es ist, loszulassen und sich mit Menschen und Erlebnissen zu versöhnen. Doch es ist der einzige Weg, der zur Heilung führt.

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Seitenzahl: 303

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Lenn Kudrjawizki

mit Andreas Püschel

Familienbande

Vom Leben, Lieben und Loslassen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die spannendsten Fälle schreibt das Leben

 

Er spielt mit in dem oscarprämierten Film »Die Fälscher«, mit Kevin Costner macht er während der Drehpausen in seinem Wohnwagen Musik, als Kommissar im Kroatien-Krimi begeistert er regelmäßig ein Millionenpublikum. Das Leben von Lenn Kudrjawizki ist aufregend und abwechslungsreich und doch so viel mehr als eine reine Schauspielerbiografie. Schon als Kind hört Lenn von seinem Großvater die Geschichten seiner jüdischen Familie von Krieg, Flucht und Vertreibung. Seine Jugend in der DDR erlebt er wechselvoll und voller Umbrüche. Mit 18 wird er für den Film entdeckt, kurz darauf stirbt der geliebte Vater. Um der Trauer zu entfliehen, stürzt Lenn sich in die Arbeit. Die filmische Karriere nimmt Fahrt auf, doch innerlich geht es mit ihm immer weiter bergab. Nachdem sein Halbbruder ermordet wird, kommt es zum Zusammenbruch. Lenn Kudrjawizki schreibt offen und bewegend über sein Leben, seine beeindruckende europäisch-jüdische Familiengeschichte und die Kunst, zu leben, zu lieben und loszulassen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Zum Dreh für den beliebten ARD Kroatien-Krimi fährt Lenn Kudrjawizki schon mal 1400 Kilometer. Mit dem Fahrrad. Der Schauspieler, Musiker, Regisseur wurde 1975 in Leningrad geboren, ist in Ostberlin aufgewachsen und einer der wenigen deutschen Schauspieler, die es nach Hollywood geschafft haben. In Deutschland wurde er durch die Krimiserie »Abschnitt 40« bekannt. Seitdem spielte er in vielen erfolgreichen Fernseh-, Kino- und Streaming-Produktionen (»Jack Ryan - Shadow Recruit“, »The Transporter Refueled«, »Vikings«, »Unorthodox«, »Babylon Berlin«). Lenn ist ausgebildeter Violinist und spielt mit seiner Frau, der Geigerin Nora Kudrjawizki, in einer Neo-Folk-Band. Das Paar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

»I'm losing myself!«

Stawropoler Abende

Von Zaren und Bolschewiki

Der Anfang von allem

Schwere Zeiten

Die Wende?

Fügung und Schicksal

Vergeigt – was nun?

Flucht ins Spiel

Liebe ist stärker als der Tod

Der Weg der Heilung

Einsam auf dem Gipfel

Auf dem Boden der Tatsachen

Dorthin, wo es weh tut

In die Wüste

Vollkommen bewegungslos

Zurück ins Licht

Unterwegs mit Dämonen

Zeitreise in die Vergangenheit

Abwärtsspirale

Ein großer Schritt

Nach vorne gehen

Bei sich ankommen

Der letzte (Kraft-)Akt

Frieden schließen

Danke sagen

Ich widme dieses Buch meiner Familienbande, die ich liebe und die mir Halt gibt. Den Menschen, die mich inspiriert und gefördert haben. Den Freunden, die mir die Chance gegeben haben, Anteil an ihrem Leben zu nehmen. Ich widme es den Lieben, die nicht mehr unter uns sind, und denen, die ich hoffentlich noch lange begleiten darf.

»I'm losing myself!«

Die Panikattacke traf mich mit voller Wucht.

Ich hatte mich zu einem Workshop des amerikanischen Schauspielers Bjorn Johnson angemeldet, bei dem es um Entspannungsübungen und Techniken ging, die helfen können, nach einer emotional sehr fordernden Rolle wieder zur eigenen inneren Balance zu finden. Wer sich als Schauspieler in die Tiefe einer Figur begibt, muss jedes Mal auch den Rückweg kennen, um nicht dort gefangen zu bleiben. Und da mir eine extrem schwierige Rolle bevorstand, wollte ich gewappnet sein.

Im Workshop bereiteten wir verschiedene Szenen vor, zu zweit oder zu dritt, dann arbeitete Bjorn mit uns. Die Grundvereinbarung war absolute Offenheit von allen Seiten. Ich merkte bald, um wirklich von der Zeit mit ihm profitieren zu können, musste ich ganz unverstellt sein, bereit, in mein Inneres hinabzusteigen, es vor mir und den anderen öffentlich zu machen.

Das versuchte ich, aber genau hier lag auch mein Problem. Im Innersten. Und nun hatten mich die Übungen offenbar komplett aus der Bahn geworfen. Ich erlebte eine Panikattacke, eine psychische Alarmreaktion ohne objektiven äußeren Anlass: Ich stand im wahrsten Sinne des Wortes neben mir, war nicht mehr ich selbst.

Schon Tage zuvor war ich mehr und mehr von einer eigenartigen Unruhe erfasst worden, und es gelang mir nicht, mich zu beruhigen. Weder kannte ich diesen Zustand bisher, noch wusste ich, wohin er mich führen würde. Am dritten Tag des Workshops, in der Pause zwischen den Übungen – ich ging im Flur auf und ab – steigerte sich die Unruhe auf den Höhepunkt. Ich blieb am Fenster stehen, sah in den Hof und versuchte krampfhaft, mich abzulenken. Doch ich konnte noch so angestrengt nach unten blicken, im Grunde nahm ich gar nicht wahr, dass sich dort Leute bewegten, ein Auto einparkte, Arbeiter sich etwas zuriefen. Alles schien wie in Watte gepackt. Und ich empfand meine Umgebung als fremd und unwirklich.

Die Szene, auf die ich mich vorbereitet hatte, war intensiv, die Figur, die ich spielen sollte, böse, eindringlich und einnehmend. Ich bin kein besonders spiritueller Mensch, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, meine Seele zu verlieren. Ich wollte diese schlechte Energie nicht spüren und konnte sie trotzdem nicht von mir fernhalten. Es fühlte sich schrecklich an. Sämtliche Abwehrmechanismen schienen zu versagen. Ich lief zurück in den Übungsraum, damit Bjorn mir hilft:

»Bjorn, I need your help!«

»What’s going on?!«

»I’m losing myself!«

»Oh, that’s good: I help you to come back!«

Bjorn knöpfte mein Hemd auf, nahm meine Hand und forderte mich auf, mich zu berühren. Ich wusste in diesem Moment nicht, was das sollte, tat aber, was er sagte. Und es war wirklich, als kehre ich, als kehre meine Seele zu mir zurück. Die Gefahr war abgewendet. Die Panik überwunden. Zunächst.

 

Wenn es so etwas gibt, wie die maximale emotionale Achterbahnfahrt, dann erlebte ich sie innerhalb von ein paar Monaten in den Jahren 2004 und 2005. Liebe, Leid und Leidenschaft. Tod, Panik, Angst und Flucht. Flucht vor mir, vor all dem, was da in mir ist.

Privat befand ich mich nach fast 15-jähriger Freundschaft plötzlich in einer Liebesbeziehung mit meiner besten Freundin Nora wieder. Bisher hatten wir etwas, was man platonisch nennt, also nicht sinnlich ist, sondern rein seelisch-geistig. Nun also Liebe, Emotion, Nähe, Intimität. Und das mit einem Menschen, den man schon ewig zu kennen glaubte. Der immer da war. Eine völlig neue Lebenssituation überrumpelte mich, ich spürte eine andere Verantwortung und die Sorge, wenn es mit meiner »neuen« Freundin nicht klappt, dann verliere ich auch die »alte«. Nora war mein Herzensmensch aus Kinder- und Jugendtagen. Und nun hatte es uns erwischt. Aus heiterem Himmel. Schnell waren wir im Eifer der überschwänglichen Gefühle zusammengezogen, doch ich war mit der ganzen Sache völlig überfordert. Vielleicht doch erst mal keine gemeinsame Wohnung? Ich zweifelte. Schließlich hatte ich fast zehn Jahre allein gelebt, rastlos, unabhängig, frei. Doch Nora stellte mich vor die Entscheidung: Wenn ich ausziehe, dann ist es auch mit unserer Beziehung vorbei!

Ganz schön verwirrend das alles, und mein Zustand war nicht gerade als stabil zu bezeichnen. Zudem befand ich mich beruflich in einem Hamsterrad, ich arbeitete ohne Ende und kannte keine Pausen: ein Leben auf der Überholspur.

Aus heutiger Sicht also kein Wunder, dass mich plötzlich Panik durchflutete, deren wahren Ursprung ich jedoch erst sehr viel später entdecken sollte.

Bjorn Johnson hatte mir in jenem Moment geholfen und kurzfristig die Symptome gelindert, doch gegen die Wucht der Ereignisse, die mich kurz darauf in der Realität treffen sollten, konnten niemand und nichts mich schützen.

»Es ist was Furchtbares passiert!« Meine jüngere Stiefschwester ist am Telefon kaum zu verstehen, so sehr weint sie. »Lenn, du musst sofort kommen. Bitte!«

Ich versuche herauszubekommen, was passiert ist, doch es scheint unmöglich, von der total aufgelösten jungen Frau etwas zu erfahren. Also setze ich mich ins Auto und rase durch die abendliche Stadt zum Haus meiner Stiefmutter.

Es ist der Abend des 19. Dezember 2005. Berlin gleitet in die bevorstehenden Feiertage, überall leuchtet und blinkt es, überall Weihnachtsmusik, Glühweinduft und gelöste Stimmung. Bis vor wenigen Minuten bin auch ich drauf und dran gewesen, mich davon anstecken zu lassen. Jetzt, in der düsteren Ungewissheit, was passiert sein könnte, ist davon nichts mehr zu spüren.

»Jan ist tot!« Meine Stiefschwester fällt mir in die Arme, als sie die Wohnungstür öffnet. Ihre Mutter sitzt bewegungslos in der Küche und starrt wie in Trance vor sich hin.

Jan, mein gut zehn Jahre jüngerer Halbbruder, ist einem grausamen, brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen.

Seiner Mutter, seiner Schwester, der ganzen Familie standen schreckliche Wochen und Monate bevor, die sich niemand vorstellen kann, der es nicht am eigenen Leib erfahren hat.

Auf Jans Beerdigung spielte ich auf meiner Geige ein jiddisches Liebeslied. Ich sang unter Tränen und flüchtete in mein Spiel. Nur die Musik gab mir in jenem Augenblick die Kraft und die Möglichkeit, meine Gefühle für ihn auszudrücken und meine unendliche Trauer in eine Melodie zu legen. Vielleicht wird deshalb in unserer Familie seit Generationen musiziert, weil es immer wieder Momente gab, in denen das zu Sagende nicht sagbar war.

Der sinnlose gewaltsame Tod meines Bruders war nicht die erste große Katastrophe in meinem Leben, doch er zog mir den Boden unter den Füßen weg. Es war der fulminante Höhepunkt, danach war nichts mehr, wie es einmal war. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich rastlos auf der Flucht gewesen, vor mir, vor meiner Familiengeschichte, meiner Kindheit, meiner Vergangenheit. Nun war es vorbei …

Ich war ausgeknockt und in die Knie gezwungen. Ich hatte meine Seele verloren. Und diesmal reichte es nicht aus, mich selbst zu spüren, wie ich es im Workshop gelernt hatte, um wieder zu mir zurückzufinden. Da war zu viel Verdrängtes, das ans Tageslicht wollte. Ich war dreißig Jahre alt und hatte bereits Erlebnisse hinter mir, die man durchaus als traumatisch bezeichnen konnte. Ich musste auf eine Reise gehen. Zurück an die Orte meiner Kindheit, zu dem kleinen Jungen mit der Geige, zu meinen Eltern, die ihre Zukunft und ihr Glück in der DDR gesucht hatten, zu meinem Großvater in den kaukasischen Bergen.

Stawropoler Abende

Mit meinem Opa, Moses Jakob Kudrjawizki, und meiner Oma, Bronja-Jakovlevna, in Stawaropol Mitte der 1980er-Jahre. Foto: privat

Zurück zu meinen Wurzeln. Zu mir. Zu meiner Familienbande. Doch wo sollte meine Reise beginnen?

Wie von allein schweiften meine Gedanken zurück zu einer ganz realen Reise, an die ich so viele Erinnerungen habe; eine Zeit, in der ich dem Wort Vergangenheitsbewältigung zum ersten Mal begegnet bin. Zu einer Zeit, als ich noch nicht ahnen konnte, dass auch ich mich irgendwann mit meiner Vergangenheit würde auseinandersetzen müssen. Ich würde sie nicht nur bewältigen, sondern annehmen und mich mit ihr versöhnen müssen.

 

In den langen Sommerferien, die mir damals endlos erschienen, weil sie nahezu den gesamten Juli und August andauerten, fuhr ich mit meinem Vater zu den Großeltern in den Kaukasus. Das erste Mal fuhren wir, als ich zehn Jahre alt war, und dann jedes Jahr wieder. Ich fieberte dem Tag unserer Abreise schon Monate zuvor entgegen, denn dieser Urlaub war etwas ganz Besonderes. Mein Vater hatte unsere Reisen immer lange im Voraus geplant, denn er musste bei seinem Arbeitgeber dafür einen außergewöhnlich langen Urlaub beantragen. Bei Entfernungen wie dieser lohnte eine normale Vierzehntagereise einfach nicht. Wir wollten dafür die vollen acht Wochen Schulferien nutzen. Im Auto wären es mehr als 2600 Kilometer gewesen, einmal quer durch Polen und die Ukraine, die damals noch als Unionsrepublik zur Sowjetunion gehörte; also fuhren wir mit der Bahn. Mal eben eine Flugreise zu buchen war in der DDR kompliziert, und wenn, dann bei einer Strecke wie dieser allenfalls zu horrenden Preisen. Billigflüge gab es damals noch nicht, und eine lange Zugreise versprach mehr Abenteuer als ein paar Flugstunden.

Erst einmal ging es von Berlin aus ungefähr zwei Nächte und einen Tag lang bis nach Moskau. Dort mussten wir umsteigen und fuhren, wenn ich mich richtig erinnere, vom Kasaner Bahnhof aus noch einmal zwei Tage bis Stawropol.

Das Abenteuer beginnt schon am Fernbahnsteig im Berliner Ostbahnhof. Hier steigt man nicht einfach in einen gewöhnlichen D- oder Personenzug nach Dresden, Gera oder Rostock, hier gehen Züge ab, die weit über die Grenze fahren – nach Polen, tief in die Sowjetunion oder, wie der schnittige, stromlinienförmige Vindobona über Prag, ins allerfernste, weil für uns unerreichbare Wien; obwohl »Wien« sich hier im Bahnhofslautsprecher so anhört, als läge es gleich nebenan.

Schon ein Zug, der abends losfährt und erst am Morgen darauf irgendwo ankommt, strahlt in einem kleinen Land wie der DDR etwas Exotisches aus. Aber in meine Aufregung und Vorfreude mischt sich zunächst leichtes Unbehagen. Auf die Reise mit der Sowjetischen Staatsbahn werden wir nämlich besonders eingestimmt. In den Eingängen der Abteilwagen stehen streng blickende Frauen, Deschurnajas (Diensthabende), als Bahnbedienstete uniformiert und von einer Entschlossenheit, als gälte es, die Eisenbahnwaggons wie ein Stück heimatlichen Boden gegen jeden Aggressor zu verteidigen. So passen sie zum Beispiel auf, dass keiner am falschen Ende des Zuges oder etwa in den falschen Wagen einsteigt und dann im Inneren durch Suchen und Herumlaufen für Staus und Unordnung sorgt.

Ihre hoheitliche Ausstrahlung demonstriert schon vor Antritt der Reise eindrucksvoll, dass hier in den nächsten Tagen alles seine sowjetisch-bürokratische Ordnung haben wird. Ich fürchte mich ein wenig vor diesen Frauen, aber mein Papa ist – besonders, was die Route Berlin-Moskau anbelangt – natürlich souveräner als ich.

Mit einem Augenzwinkern zeigt er auch gleich auf eine der oberen Pritschen im Vier-Personen-Schlafwagenabteil; ein Privileg, dessen Vorteile ich bald erkennen werde. Denn hier kann ich den ganzen Tag auf dem Bauch liegend aus dem Fenster schauen und die wechselnden Landschaften Polens, Weißrusslands und Russlands an mir vorüberziehen lassen. Wenn wir durch Ortschaften kommen, denke ich mich in das Leben der Menschen hinein, die ich an der Strecke sehe, oder male mir aus, was hinter den erleuchteten Fenstern der Städte oder Dörfer vor sich geht. Ich sehe Birkenwälder, eine einsame Holzhütte, irgendwo lodert ein Feuer, und all das erinnert mich an die Geschichten von Alexander Puschkin, dessen Erzählungen und Romane ich als kleiner Träumer mit einer grenzenlosen Phantasie über alles liebe.

Wir sind nicht allein im Abteil, sondern teilen es uns mit zwei sowjetischen Dienstreisenden, die auf dem Weg zurück in die Heimat sind und mit denen sich mein Vater lange unterhält. Zwischendurch laufe ich immer mal wieder zu dem großen Samowar im Nachbarabteil, um uns mit heißem Tee zu versorgen. In weiter entfernt liegenden Abteilen scheinen noch andere Getränke gereicht zu werden. Dort wird lautstark gefeiert, natürlich nur, bis die zuständige Deschurnaja einschreitet und dem losen Treiben ein Ende bereitet.

Trotz der hohen Geschwindigkeiten, die der Zug streckenweise erreicht, lassen sich die Fenster der Abteile oben noch öffnen. Strecke ich die Hände hinaus, füllt der wilde Fahrtwind sie wie kleine Segel, und sie tanzen und taumeln, ohne dass ich sie bewegen muss. Halte ich dann den Kopf aus dem Fenster, nimmt er mir den Atem, aber ich kann in den Kurven der Strecke die Spitze oder das Ende des Zuges sehen. Mein Vater muss mich ermahnen: Wer auf diese Art zu lange so aus dem Fens-ter sieht, hat am nächsten Tag mit großer Wahrscheinlichkeit eine Bindehautentzündung – und deutlich gedehnte Hamsterbacken!

Was meine launige Stimmung während der Bahnfahrt etwas trübt und noch unbehaglicher in Erinnerung bleibt als die Deschurnajas, ist das Erscheinen der Zoll- und Grenzbeamten am Ende jeder Etappe: Ihr martialisches Auftreten, das auch bei denen, die nichts schmuggeln oder sonst wie Bedenkliches mit sich führen, sofort für Angst und Schrecken sorgt, ihr unfreundliches Gebaren, der knappe militärische Gruß und der argwöhnische Blick schon beim Betreten des Abteils, die Untersuchung des Gepäcks, das missmutige Blättern in den Pässen, dann schließlich das beinahe befreiende Knallen von Stempeln lassen mich ängstlich zu meinem Vater sehen. Auch er wirkt zurückhaltend, bleibt aber die Ruhe selbst, die sofort auf mich ausstrahlt, das Gefühl, dass mir an seiner Seite nichts geschehen kann.

Die technische Sensation der Reise erwartet mich in Brest, an der polnisch-sowjetischen Grenze. Als mein Vater mir vor unserer ersten Reise davon erzählte, war es für mich kaum vorstellbar, und auch in den späteren Jahren faszinierte es mich immer wieder: Hier wird, damals so wie heute, der gesamte Zug vom europäischen Schienenmaß (Spurweite 1435 mm) auf Räder der sowjetisch/russischen Spurweite (1520 mm) gestellt.

Während zu früheren Zeiten dazu alle Passagiere den Zug verlassen mussten, um mehrere Stunden lang im Bahnhofsgebäude zu warten, geschieht dieser Wechsel zu unserer Reisezeit in den 1980er Jahren schon bei voll besetzten Waggons – für die Reisenden, vor allem aber für die Kinder immer ein Erlebnis. Es ist für einen kurzen Moment so, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Dann wird das europäische »Untergestell« nach vorn herausgerollt und das sowjetische von hinten untergeschoben.

Schließlich erreichen wir Moskau, wo wir einen Zwischenstopp einlegen. Die Stadt in all ihrer Größe und Schönheit ist immer ein unfassbares Erlebnis für mich. Der Arbat, auch das Moskauer Saint-Germain genannt, früher Adels- und Nobelviertel, später beliebte Wohngegend für Künstler, der Rote Platz oder einfach nur das legendäre Kaufhaus GUM (Glawny Universalny Magasin – Hauptwarenhaus), wo sich Kundschaft aus beinahe allen Sowjetrepubliken zu drängen scheint –, ich sauge alles in mich auf.

Mit einem Porträt von mir im Gepäck, das Papa für ein paar Rubel von einem Straßenkünstler zeichnen ließ, geht es am nächsten Tag weiter in Richtung Kaukasus. Das Gebirge zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich über mehr als tausend Kilometer und sein höchster Gipfel, der Elbrus, ragt bis auf 5642 Metern in den Himmel. Mönchsgeier und Steinadler ziehen majestätisch ihre Kreise, und ich liege auf meinem Aussichtsposten, schaue, staune und träume. Angefüllt mit diesen Eindrücken kommen wir nach zwei weiteren Tagen Zugfahrt in Stawropol an. Die Begrüßung zwischen meinem Papa und meinem Opa ist herzlich und liebevoll. In meiner Erinnerung schauen sie sich auf dem Weg durch die Stadt immer wieder lange in die Augen, um ihre Verbundenheit zu beleben, oder sich einfach aufs Neue einer im anderen zu erkennen.

Erst viel später habe ich verstanden, wie wichtig unsere Besuche für meinen Großvater waren – für seinen Seelenfrieden.

Stawropol, die Stadt, in der er lebte, wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gegründet, als das russische Zarenreich seine südliche Grenze mit einer ganzen Reihe von Festungsstädten schützen wollte, und liegt an den Nordausläufern des Kaukasus, sanft eingebettet zwischen seinen Hügeln und Tälern. Der Überlieferung nach stieß man bei Grabungsarbeiten zum Bau der Festung auf ein steinernes Kreuz. Weil man in Russland zu dieser Zeit für neue Ansiedlungen oft griechische Ortsnamen wählte, soll es zu Stawropol, »Stadt des Kreuzes«, vom griechischen stavro (Kreuz) und polis (Stadt), gekommen sein.

Die Familie meines Vaters stammte eigentlich aus Dnjepropetrowsk in der Ukraine. Mein Großvater, 1905 geboren, kam über Orscha (Belarus) dorthin. Er und all seine jüdischen Freunde hatten ihre Heimat wegen des immer schlimmer um sich greifenden Antisemitismus verlassen und waren nun in der ganzen Welt verstreut. Opa lernte in Dnjepropetrowsk meine Oma Anja kennen, und 1932 kamen meine Tante Rosa und sieben Jahre später mein Papa Felix zur Welt. Später bei Kriegsbeginn musste Großvater als Offizier an der polnisch-sowjetischen Grenze dienen, und wie es bei Offizieren üblich war, seine ganze Familie mit dorthin nehmen.

Erst nach dem Krieg kamen sie nach Stawropol, damals eine geschundene Stadt. Stawropol war im Zweiten Weltkrieg von August 1942 bis Januar 1943 von deutschen Truppen besetzt. Viele Häuser sind bei schweren Kampfhandlungen in Schutt und Asche versunken, weitere beim Rückzug der deutschen Wehrmacht ab 1943 in Brand gesetzt worden. Nach dem Krieg wurde – wie in anderen zerstörten Ländern auch – versucht, die Stadt in aller Eile wieder aufzubauen, um Wohnraum für die Bevölkerung zu schaffen.

So wohnten auch meine Großeltern später in einem Neubauviertel, im Hochparterre der Uliza Dzerzhinskogo 176, einem Block mit verglasten Loggien, der zur Straße hin mit einem Streifen junger, inzwischen wohl hochgewachsener Bäume gesäumt war.

Opas erste Frau, meine »echte« Großmutter Anja, starb an Krebs, als ich sechs Jahre alt war. Ich habe nur wenige Erinnerungen an sie. Einige Zeit später heiratete er die 13 Jahre jüngere Bronislava-Jakovlevna (der Zweitname war ihr immer sehr wichtig), eine Russischlehrerin. Auch sie hatte im Zweiten Weltkrieg in der Armee gedient. Als Sanitäterin war sie mit ihrem Regiment bis nach Berlin marschiert. Wie mein Großvater mit hohen militärischen Auszeichnungen geehrt, arbeitete sie nach dem Krieg wieder als Lehrerin an einer Stawropoler Schule.

Mein Opa, Moses Jakob Kudrjawizki, der Einfachheit und sicher auch der Unauffälligkeit halber Michail genannt, war Buchhalter gewesen. Nach dem Krieg hat er als Sachverständiger für Qualitätssicherung in der Lederindustrie gearbeitet. Zu meiner Zeit aber lebte er längst als Pensionär. Bewahrt hatte er sich sein phänomenales Zahlengedächtnis und seine Liebe zur Mathematik. Wann immer es ging, bezog er mich in seine Zahlenspiele ein. Oft blieben wir dann an der Straße oder auf einer Brücke stehen und rechneten um die Wette: Bei allen Autos, die an uns vorbeikamen, bildeten wir blitzschnell die Quersumme der Zahlen auf dem Nummernschild. Er blieb zeitlebens unbesiegt.

Die Vorstellung, sich in seiner freien Zeit – noch dazu in den großen Ferien – mit Mathematikaufgaben zu beschäftigen, mag auf den ersten Blick wenig Faszination haben. Opa aber schaffte es, mich spielerisch dafür zu begeistern. Um auch physisch gesund und in Bewegung zu bleiben, brach er jeden Morgen in den nahe gelegenen Wald auf, und ich durfte ihn begleiten. Eigentlich fragte ich gar nicht um Erlaubnis, tatsächlich folgte ich ihm auf Schritt und Tritt, wie eine Klette hing ich an meinem Opa Mischa, wie ich ihn nannte.

Ich sehe uns noch, fast ununterbrochen in Gespräche vertieft, von der Uliza Dzerzhinskogo aus eine knappe halbe Stunde in den Wald laufen. In seiner Tiefe erreichten wir die Cholodniye Rodniki (Kalte Quellen), wo wir unter dem grünen Blätterdach alter Bäume ein von ihm vorgegebenes Frühsportprogramm absolvierten. Anschließend sprangen wir in das eiskalte klare Quellwasser, das mitten im Wald durch ein großes, mit Sandstein eingefasstes und blau gefliestes Bassin geleitet wurde.

Zurück in der Stawropoler Wohnung, versorgte uns Oma Bronja, mit einem üppigen Frühstück bestehend aus Blini, Würstchen, Bratkartoffeln und Kascha, einem einfachen Milchbrei. Unermüdlich umsorgte und bewirtete sie uns, vor allem mit ihren wunderbaren Pelmeni, kleine gefüllte Teigtaschen, von denen ich später als Pubertierender Unmengen verdrückte. Sogar nachts stellte sie mir Essen ans Bett, damit ich nicht verhungerte, wenn ich wach würde. Bronja hatte eine unbändige Energie und noch mehr Liebe in ihrem großen Herzen. Mit Bronja konnte Opa Mischa, der ja leider seine erste Frau verloren hatte, seine zweite große Liebe erleben, und für mich waren die beiden ein unschlagbares Team.

Die Liebe und Verbundenheit zu meinem Großvater in diesen Urlauben schienen unauslöschlich und hielten auch in Zeiten danach, wenn uns wieder beinahe dreitausend Kilometer trennten, unvermindert an. Das lag auch an den vielen Geschichten, die mir mein Opa abends auf dem Balkon erzählte, wenn er nach draußen ging, um zu rauchen. Ein Ritual, das sich mir für alle Zeiten eingeprägt hat. Gebannt beobachtete ich jede seiner Bewegungen, wenn er mit dem Daumen das kleine Metallrad an seinem Sturmfeuerzeug bewegte, und war beeindruckt, wenn ich die kräftige Flamme schlagen sah und für Sekunden den intensiven Geruch des Feuerzeugbenzins wahrnahm, der in einer kleinen, warmen Wolke zu mir herüberwehte.

Es hat ihn durch die Jahre des Krieges begleitet, und er benutzte es bis zu seinem Tode. So ging seine Generation mit den Dingen um.

Ich bin mir gar nicht sicher, ob und wie man Kindern heute von den Ereignissen berichten kann, die ich an diesen lauen Sommerabenden von meinem Opa hörte. Es waren nicht die abgewogenen, jahrzehnteweit entfernt scheinenden Schilderungen aus dem Krieg, wie man sie von sogenannten Zeitzeugen aus dem Fernsehen kennt; es waren unmittelbare Lebensberichte eines Menschen, so plastisch geschildert, dass sie vor meinem inneren Auge wie ein Film abliefen. Ausgelöst wurden diese Geschichten meist von meinen Fragen und vor allem den Fundstücken, die ich in den alten Schränken entdeckt hatte. Das Haus meiner Großeltern war für mich eine wahre Schatzkiste. Neugierig durchstöberte ich die Wohnung, vollgestellt mit alten Möbeln, und entdeckte in den Schränken und Schubladen immer wieder neue Dinge: ein altes Messer, Feldbesteck, eine seltsame ausziehbare Tasse, eine Feldflasche oder imposante Orden. Jedes Teil war wie ein kleiner Schatz, der eine Geschichte in sich barg.

Vielleicht war es für meinen Großvater auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung, die ich damit unbewusst in Gang setzte: das Reden über die Erlebnisse, die so tiefe Spuren und Narben auf der Seele hinterlassen hatten.

Mein Opa hatte die ganze Gewalt des Krieges erfahren, der auch Frauen und Kinder nicht verschont hatte, mit den Gefechten und Bombenangriffen und dem mörderischen Vordringen der Front, das viele Familien, auch seine eigene, zur Flucht zwang. Was mein Opa mir berichtete, war für mich, der ich 1975 geboren bin, also immerhin drei Jahrzehnte nach dem Krieg, auf eine Art unwirklich, auf die andere aber von brutaler Gegenwärtigkeit, denn mein geliebter Opa, neben dem ich abends auf dem kleinen Balkon stand, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib gespürt: die Geräusche und die Gerüche dieses Krieges, die er nie vergessen konnte und die er nun mit seinen Geschichten an mich weitergab. Das Rauchen dabei war Nebensache und medizinisch stark reglementiert. Der Arzt hatte Opa verordnet, sich eine einzige Zigarette über den gesamten Tag einzuteilen! Entsprechend oft wurde sie in Brand gesetzt und nach ein paar Zügen behutsam wieder ausgedrückt. Dazwischen war viel Zeit zum Erzählen. Nach dem Rauchen zogen Opa und ich uns in die behagliche Loggia zurück, wo unsere Gespräche fortgeführt wurden. Fragen hatte ich genug. Und er tauchte mit mir in die Vergangenheit ein.

Die Loggia war groß genug für ein Bett und einen Sessel. An den warmen Sommerabenden war es ein Glück für mich, dort auch schlafen zu dürfen. Die großen Fenster gaben mir das Gefühl, im Freien zu liegen.

Manchmal kam auch Papa zu uns heraus und setzte sich in den Sessel, oft aber schlief er schon nach wenigen Minuten ein. Wollte ich ihn dann wecken, damit auch er die Geschichten seines Vaters hören konnte, hielt dieser mich davon ab. Er setzte sich zu mir aufs Bett, und wir schauten seinen Sohn, meinen Papa, liebevoll an.

»Lass ihn nur schlafen, Lenn«, sagte er. »Du kriegst ihn jetzt sowieso nicht wach.« Ich widersprach ihm, aber Opa wusste es besser und schüttelte den Kopf: »Weißt du, als dein Papa noch viel kleiner war als du, ist er sogar während der Bombenangriffe immer tief und fest eingeschlafen.« Er ahmte leise das Geräusch der Stukas und Messerschmidts nach, und erstaunlicherweise musste ich wirklich keine Angst haben, dass Papa davon aufwachen könnte.

Als die Deutschen im Juni 1941 in der zweiten Phase des Zweiten Weltkriegs auch die Sowjetunion überfielen, Polen, Dänemark, Norwegen, die Benelux-Länder und Frankreich – der Balkan und Nordafrika waren bereits Kriegsschauplätze –, wurde mein Großvater aus seinem Zivilberuf an die Front einberufen. Er war 36 Jahre alt, sein Sohn, mein Vater, war zwei, die Tochter Rosa neun Jahre alt.

In unserer gemütlichen Loggia war es still geworden, ich hielt seine alte Feldflasche in meinen Händen. Großvaters Blick schweifte in die Ferne hinaus in das nächtliche Stawropol, er begann zu erzählen, und ich versuchte, mir den jungen Familienvater Michail vorzustellen, der nun eine Uniform trug und in den Krieg ziehen musste. Mit Feldbesteck und einer ausziehbaren Tasse in seinem Rucksack.

Mein Großvater steht im Hauptmannsrang. Als Verbindungsoffizier ist er mit einem Adjutanten zwischen sowjetischen Einheiten an der sowjetisch-polnischen Grenze unterwegs – zu Pferde. So kann er sich unauffälliger bewegen als mit einem Militärfahrzeug, ist leiser und mobiler. Nachts werden die zu bewältigenden Strecken zurückgelegt, tagsüber verstecken sie sich im Wald oder in Scheunen.

Die schnell vorrückenden deutschen Wehrmachtsverbände bringen ihn neben der Gefahr, bei Kampfhandlungen zu sterben, noch auf ganz andere Weise in eine lebensbedrohliche Lage: die Aussicht, als jüdischer Offizier den Deutschen in die Hände zu fallen!

Für meinen Opa als überzeugten Kommunisten und Mitglied der Kommunistischen Partei ist die Tatsache, Jude zu sein, weit in den Hintergrund getreten. Als er Kind war, spielten jüdische Rituale und Traditionen in seinem Leben noch eine Rolle. In Belarus lebte er mit seiner Familie in einem Schtetl, einer Siedlung mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Opa Mischa lernte Jiddisch und Hebräisch, schon allein durch die Feste, auf denen jüdische Lieder gesungen wurden. Erst später, als er Kommunist und durch das Militär automatisch umerzogen wird, spielt das alles keine Rolle mehr. Opa ist kein gläubiger Jude, aber er bleibt immer Jude, weil es seine Nationalität ist. Im sowjetischen Vielvölkerstaat tragen die Bürger nämlich in ihren Papieren einen Vermerk über ihre religiöse Herkunft. Können sowjetisch-nichtjüdische Soldaten, wenn sie sich ausgehungert und entkräftet ergeben, zu Anfang des Krieges noch hoffen, von den Deutschen nur entwaffnet und dann fortgeschickt zu werden, gibt es für jüdische Soldaten kein Erbarmen: Sie werden immer sofort und auf der Stelle erschossen oder erhängt.

So ist ziemlich schnell klar, wer keinesfalls aufgeben oder in Gefangenschaft geraten darf. Zwei Cousins meiner Mutter sollten später am eigenen Leib diese Erfahrung machen: Einem gelingt es, im buchstäblich letzten Moment vor der Gefangennahme seine Papiere zu vernichten. Er überlebt. Der andere, zu stolz dazu, wird von den Deutschen erschossen.

Ich lauschte atemlos Opas Berichten und fragte mich schon als kleiner Junge: Was hätte ich gemacht? Ich fühlte mich in diese jungen jüdischen Männer hinein, der eine stolz, der andere zu Recht voller Angst. Nicht ein einziges Mal habe ich über die monströsen Handlungen der Nazi-Deutschen nachgedacht, ich war mit meinen Gedanken immer bei meinen Leuten und damals überzeugt: Lieber würde ich sterben, als mich und meine Herkunft zu verleugnen! Heute, als Familienvater, denke ich anders: Warum wegen einer Formalie sterben? Ich bin ja deshalb nicht weniger Jude, nur weil ich etwas verschweige und dadurch mich und meine Familie beschütze.

Meine (unbewusste) Auseinandersetzung mit dem Holocaust begann sicherlich an jenen Stawropoler Abenden, später in der Schule und bei Besuchen im KZ Sachsenhausen trug ich Opas Geschichten in mir und hatte daher natürlich auch einen ganz anderen Zugang zu dieser grausamen Vergangenheit als andere Kinder in meiner Klasse. Die Opfer, von denen man dort sprach, das waren meine Leute. Ich war einer von ihnen.

Eines Abends, so erzählt mein Großvater weiter, reiten er und sein Adjutant auf ein Dorf zu. Vorsichtig nähern sie sich den ersten Häusern. Alles scheint ruhig, dann sehen sie im schimmernden Mondlicht einige Silhouetten, Männer, die rauchend an einer Hausecke stehen.

»Kto tam?«, wer ist da, ruft Opa von seinem Pferd herunter – und erkennt in der Dunkelheit zu spät, dass es sich um deutsche Wehrmachtssoldaten handelt.

Der Adjutant und er tragen wichtige militärische Unterlagen in ihren Meldetaschen. Sekundenschnell wenden sie die Pferde und galoppieren davon – heftig beschossen von den Deutschen. Offenbar hat die Frontlinie sich seit ihrem letzten Kontakt mit den eigenen Leuten weiter ins Landesinnere bewegt, so dass sie unwissentlich tief in deutsch besetztes Gebiet geraten sind.

Sie jagen die Pferde die ganze Nacht hindurch in Richtung der sowjetischen Linien. Die Tiere sterben am Morgen darauf an Erschöpfung. Mein Großvater und sein Adjutant überleben.

Noch heute schlägt mein Herz schneller, wenn ich an diese Geschichte denke. Die Todesangst, jeden Tag als allgegenwärtiges Gefühl, ist eine Vorstellung, die sich mir verschließt, aber ich ahne, wie tief es sich in die Seele einbrennt.

Großvater konnte auch diese Dinge ganz ruhig erzählen. Er hielt die Stimme gesenkt, zögerte, suchte nach einem Wort. In seiner Sachlichkeit wirkten die Erlebnisse noch eindringlicher, als wenn er große Gesten oder pathetische Worte benutzt hätte. Es schien, als müssten die Geschichten genau von diesem Pathos und Drama befreit werden, als wäre diese Reise in die Vergangenheit nur so möglich gewesen. War das Opas Form der Aufarbeitung? An nichts dergleichen habe ich früher natürlich gedacht. Aber heute stellen sich mir diese Fragen, wenn ich meine eigenen Geschichten erzähle. Wahrscheinlich mussten auch sie irgendwann vom Drama befreit werden. Doch bis dahin war es noch ein langer Weg.

Der kleine Lenn von damals war in Gedanken versunken, sah die erschöpften sterbenden Pferde vor sich und fragte sich, was gewesen wäre, wenn Opa und sein Gehilfe es nicht geschafft hätten. »Wollt ihr beide nicht mal ins Bett?« Oma Bronja brachte Tee und Matroschka-Kekse, die wunderbar nach Zitrone und Honig schmeckten. Doch ich schüttelte nur den Kopf.

Ich spürte, dass Opa Mischa noch mehr zu erzählen hatte. Er musste sich nur einen Moment sammeln, bevor er zu sprechen begann. Ich schaute in sein trauriges, aber konzentriertes Gesicht und hatte selbst als kleiner Junge das Gefühl, dass er mit jedem Wort kämpfte.

Als die Front immer weiter ins Landesinnere rückt, soll die Familie meines Großvaters von der polnisch-sowjetischen Grenze mit der Bahn in Richtung Osten evakuiert werden. Seine Frau Anja, die kleinen Kinder, Rosa und Felix, und seine Schwiegereltern müssen sich auf einen langen, beschwerlichen und vor allem gefährlichen Weg machen und ihr Haus und sämtliches Hab und Gut aufgeben. Doch die deutsche Luftwaffe, so hört man, soll jeden Zug angreifen, auch die, die weg von der Front führen. Von all dem ahnt Opa nichts, als er zum Politkommissar seiner Kompanie befohlen wird. Auf dem Weg dorthin ist er unruhig und geht im Kopf alle Möglichkeiten durch, die zu dieser Vorladung geführt haben könnten.

Gespräche mit dem Politkommissar können damals Auftakt der sonderbarsten Veränderungen im Militärleben sein; Soldaten, Unteroffiziere oder Offiziere werden urplötzlich versetzt oder verschwinden auf andere Weise spurlos. Denn der Politkommissar verkörpert in mancher Hinsicht mehr Macht als der militärische Kommandeur einer Einheit. Das ist eine feste Tradition in der sowjetischen Armee und hat einen simplen Grund: Nach der Oktoberrevolution dienten dort auch ehemals zaristische Offiziere. Weil die politische Führung ihnen nie richtig traute, gab sie jedem militärischen Kommandeur einfach einen Politkommissar zur Seite, der – ganz nach dem Lenin’schen Grundsatz »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!« – die Einhaltung der Parteilinie auch im Kriegsfall und bei allen militärischen Entscheidungen zu überwachen hat.

Mein Großvater betritt das Büro des Kommissars. Der erhebt sich und strafft den Rücken. Es ist sichtbar nicht das erste Gespräch dieser Art, das er zu führen hat. Er räuspert sich und sagt, um Sachlichkeit bemüht: »Genosse Kudrjawizki, ich muss dir eine traurige Mitteilung machen.«

Er sieht meinen Großvater an, aber dieser lässt keine Regung erkennen. Traurige Nachrichten im Kriegsfall, was wird das wohl sein?

»Der Zug, in dem deine Familie evakuiert werden sollte, ist auf freier Strecke von der deutschen Luftwaffe heimtückisch angegriffen und bombardiert worden.« Der Kommissar macht eine kurze Pause und versucht zu erkennen, wie die Worte auf meinen Großvater wirken. Als er sich wieder nicht rührt, fährt er mit gesenkter Stimme fort: »Alle Insassen des Zuges sind dabei umgekommen. Auch deine Familie.«

Stille im Raum. Jetzt ist mein Großvater wirklich unfähig zu irgendeiner Reaktion. Die beiden Männer stehen sich gegenüber. Der Politkommissar lässt einen angemessenen Moment verstreichen und sagt: »Wir werden den feigen faschistischen Horden dieses Verbrechen an deinen Leuten und an unserem sowjetischen Volk nicht verzeihen. Ich schwöre dir, dass wir sie bestrafen werden, wo immer sie sich verkriechen …«

Großvater ist sich nicht sicher, ob die Anteilnahme echt ist, oder sind es einfach die Worte, die er zu solchen Anlässen immer benutzt?

»Möchtest du etwas sagen, Genosse Kudrjawizki?«

Der Hauptmann Moses Jakob Kudrjawizki schüttelt wortlos den Kopf. Der Politkommissar nickt: »Dann geh jetzt und versieh weiter deinen Dienst, Genosse!«

Als mein Großvater das Büro des Politkommissars verlässt, ist sein Mund trocken, und das Gefühl, das ihm beinahe das Bewusstsein raubt, kommt langsam näher – jetzt, gerade mal Mitte dreißig, steht er ganz allein in der Welt und hat keinen Menschen mehr. Seine Frau, seine beiden kleinen Kinder, die Schwiegereltern – alle tot. Und was mit seinen Eltern ist, weiß Michail schon lange nicht mehr. Es gibt keine Verbindung. Zu niemandem.

An diese Geschichte erinnere ich mich besonders intensiv, und es kommt mir vor, als hätte ich sie erst gestern gehört. Noch heute habe ich seine Stimme im Ohr: »Und der Krieg«, sagte Opa traurig, »ging einfach immer weiter, als wäre das alles gar nicht geschehen. Keine Zeit zur Besinnung, kein Genesungsurlaub, keine Pause …«

Dann, Wochen später, mein Großvater hätte inzwischen bei mehreren gefährlichen Einsätzen sterben können, erreichte ihn eine neue Nachricht: Seine Angehörigen seien durch irgendeinen Zufall auf einen späteren Zug umgelenkt worden. Sie waren also gar nicht in dem von den Deutschen bombardierten Transport. Sie lebten.

Ich weiß nicht, ob es wiederum derselbe Politkommissar war, der ihm diese Wendung mitteilte. Meinen Großvater interessierte das in diesem Moment wohl auch nicht. Er war durch die Hölle gegangen, und nun fiel es ihm fast schwer zu glauben, dass seine Frau und seine beiden Kinder am Leben waren.

Oma Anjas Eltern, meine Urgroßeltern, überlebten nicht. Am Ende ihrer Kräfte weigerten sie sich, weiter Richtung Osten vor den Deutschen zu fliehen. Alles Flehen und Zureden halfen nicht. Sie blieben da, wo sie waren, auf dem Weg von der polnisch-sowjetischen Grenze Richtung Kasachstan.