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Wer auf die "Fatrasien" stößt, traut seinen Augen nicht. Wie kann es sein, dass diese surrealistisch anmutenden, erstaunlich modern wirkenden absurden Sprachspektakel im tiefsten Mittelalter entstanden sind? Eine tollkühne Fantasie hat hier um das Jahr 1290 reimend Dinge zusammengebracht, die nie und nimmer zusammengehören. Sind es Ausgeburten der Lachkultur, der Karnevalskunst, sind es hochbrisante Zaubersprüche, heilsame Beschwörungen oder purer Nonsens? Die unmögliche Poesie der "Fatrasien" gibt viele Rätsel auf. Ihr Name ist Verballhornung der "Fantasie"; alles kann mit allem verknüpft werden, Zartes und Krudes, Deftiges und Obszönes, die unverrückbaren Gesetze von Zeit und Raum sind außer Kraft gesetzt. Die anonymen "Fatrasien" aus der nordfranzösischen Stadt Arras sind nur in einer einzigen Handschrift des 13. Jahrhunderts aufbewahrt worden. Nach mehr als siebenhundert Jahren hat Ralph Dutli sie nun erstmals ins Deutsche übersetzt und legt damit eine bisher unbeachtete Wurzel der modernen Poesie frei.
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Seitenzahl: 107
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Ralph Dutli
Fatrasien
Ralph Dutli
Absurde Poesiedes Mittelalters
Frost ohne Kälte
verlieh zu Wucherzinsen
wenig für gar nichts.
Kein Lebewesen
spannte Saphire
aus dem Orient auf die Folter.
Schönwetter aus Regen und Wind
und hellichter Tag bei finstrer Nacht
lieferten sich ein Turnier;
auf einer Handvoll saubersten Drecks
schmolzen sie Kupfer in Dinant.
Jaler sans froidure
Prestoit a usure
Auques por noient.
Nule creature
Metoit em presure
Safirs d’Oriant.
Biau tans de pluie et de vent
Et cler jor par nuit oscure
Firent un tornoyement;
Sor plain poing de neste ordure
Fondoient coyvre a Dynant.
Dinant: Stadt an der Meuse im heutigen Belgien, im Mittelalter bekannt für ihre Kupferwaren.
Ein Käse aus Wolle
trägt eine Woche
hin zum Sankt-Remigius-Tag,
und eine Strohpuppe
rannte über die Seine
auf anderthalb Fürzen;
die Welt spaltete sich mittendurch.
Eine Käsemade mit angezapfter Vene
sagte zu ihnen: »Bei meiner Seele,
ich habe einen Scheffel Hafer
in den Arsch einer Ameise gesteckt.«
Fourmage de laine
Porte une semaine
A la Saint Remi,
Et une quintaine
Couroit parmi Saine
Sor pet et demi;
Li siecles parti parmi.
Uns suirons sainiez de vaine
Leur dit:«Par l’ame de mi,
J’ai repost un mui d’avaine
Dedenz le cul d’une fremi».
Sankt-Remigius-Tag: der 1. Oktober, zu Ehren von Saint Rémy (um 437 bis 530 n. Chr.), Bischof von Reims; wichtiger Zahltermin.
Ein Brettspiel
besingt einen Kerker
aus hingebungsvoller Liebe.
Ein fliegendes Schloss
nähte mit einer weichen Birne
einen Ofen wieder zusammen.
Sie wären von ihrem Turm gestürzt,
wäre nicht ein Strohballen gewesen,
der sich vor Tageslicht bewaffnete
für ein Würfelspiel,
das den höchsten Turm zu Fall brachte.
Uns giex de nipole
Chante une jaiole
De loial amour.
Uns chastiaus qui vole
D’une poire mole
Recousoit un four.
Ja cheïssent de lor tour,
Ne fust une palevole
Qui s’arma devant le jour
Por le gieu de la grimole,
Qui minoit la maistre tour.
Eine Wurst aus Glas
machte ihr Gepäck bereit,
um nirgendwohin zu gehen.
Ein Flame aus Burgund
pupste, um besser zu furzen,
Lateinisches auf griechisch,
und ein Furz auf hebräisch
machte Humpen aus Jouarre;
er stürzte sich in große Unkosten,
als ein kleines Bündel Stroh
ein neues Spiel begann.
Andoille de voirre
Aprestoit son oyrre
Por aler nuleu.
Uns Flamens d’Auçuerre
Vessoit por miex poirre
De latin en grieu,
Et uns pez fait en ebrieu
I faisoit hanas de Juerre;
Molt em faisoit grant aleu,
Qant uns petis faiz de fuerre
Commença un noviau geu.
Jouarre: Kleinstadt, 65 km östlich von Paris.
Zwei Wucherer-Ratten
träumten davon,
ein Liedchen zu dichten.
Drei Blaufußfalken
stopften einen Korb voll
mit den »Versen vom Tod«.
Ein Stummer sagt, sie täten unrecht,
denn der Schatten eines alten Böttchers,
der einschläft, um besser zu wachen,
schrie ihnen zu: »Legt eure Rüstung an
und liefert ein erbarmungsloses Turnier.«
Dui rat userier
Voloient songier
Por faire un descort.
Troi faucons lanier
Ont fait plain panier
Des Vers de la Mort.
Uns muiaus dit qu’il ont tort
Por l’ombre d’un viez cuvier
Qui por miex villier s’endort,
Qui cria: »Alez lacier
Por tornoier sanz acort«.
»Verse vom Tod«: von Hélinant de Froidmont, 1197, christliche Mahnung an den Tod in 50 Strophen zu 12 achtsilbigen Versen. Ein Dichter aus Arras, Robert Le Clerc, schuf 1267 ein gleichnamiges Werk mit 312 Strophen. Beide sind Vorläufer der Totentanz-Dichtung des Spätmittelalters. »Vers de la Mort«, ein Wortspiel: Die Pluralform »vers« bedeutet auch »Würmer«.
Ein Käse vom Kranich
niest in der Nacht
beim Bellen eines Hundes.
Ein Messer in Keulenform
springt auf und brüllt ihn an,
sagt ihm aber nichts.
Ein Mistkäfer segnet ihn,
als der Rücken eines Blutegels,
der einem Dachbalken die Beichte abnahm,
scheißen muss, so sehr prügelten sie ihn
laut Meinung der Ärzte.
Formaige de grue
Par nuit esternue
Sor l’abai d’un chien.
Uns coutiaus maçue
Saut et si le hue,
Si ne li dit rien.
Uns escharbos li dit bien,
Qant li dos d’une sansue,
Qui confessoit un mairien,
Ja chie, tant l’ont batue,
Dient cil fusicien.
Im Winkel einer Möse
sah ich einen Dachs
eine Goldstickerei weben,
und ein kleines Käppchen
lenkte die Landschaft Vermandois
mitten durchs Städtchen Laon.
Ich sagte ihnen auf schottisch:
»Könnte man fette Erbsen machen
aus den Hoden eines Schmetterlings?
Und aus dem Schwanz einer Weinbergschnecke
Schlösser und Glockentürme?«
En l’angle d’un con
La vi un taisson
Qui tissoit orfrois,
Et uns chapperon
Parmi Monloon
Menoit Vermendois.
Je lor dis en escoçois:
«Des coilles d’un papillon
Porroit on faire craz pois?
Et dou vit d’un limeçon
Faire chastiax et beffrois?»
Vermandois: Landschaft nördlich des Pariser Beckens. – Laon: Bischofsstadt auf einem Hügel in der Champagne, mit einer der ersten gotischen Kathedralen.
Ein Mörser aus Federn
trank den ganzen Schaum
des weiten Meeres aus,
aber ein Amboss,
der sehr mürrisch war,
tadelt ihn heftig.
Ein Kater fing an zu weinen
so sehr, dass das Meer Feuer fing.
An einem Donnerstag nach Abendbrot
wurde eine Feder gezwungen,
mit vier Säuen Hochzeit zu machen.
Uns mortiers de plume
But toute l’escume
Qui estoit en mer,
Ne mais une enclume
Qui molt iert enfrume
Si l’en va blamer.
Uns chas emprist a plorer
Si que la mer en alume.
Un Juedi aprés souper
La covint il une plume
Quatre truies espouser.
Ich sah einen Turm,
der auf einen Streich
bis zu den Wolken flog,
dann sah ich einen Halbtag
in einen Ofen kriechen,
vier Kranichen hinterher;
wenn nicht zwei Keulen
mit einer schweren Armbrust
zwei Nönnchen gefickt hätten,
wären vier zerschlissene Unterröcke
unwiederbringlich gestorben.
Je vi une tour
Qui a un seul tour
Vola duqu’a nues,
Si vi demi jour
Entrer en un four
Aprés quatre grues;
Se ne fussent deus maçues
Qui d’une arbaleste a tour
Orent deus nonnains foutues,
Mortes fussent sanz retour
Quatre cotes descousues.
Ich sah ein Kreuz
durch die Provinz um Arras reiten
auf einem Kochkessel,
und eine alte Hecke
lenkte die Landschaft Vermandois
mitten durch einen Stein.
Wäre nicht ein Kirchenfenster gewesen,
hätten zwei Weinbergschnecken, sogar drei,
zehn Engländer gezwungen,
von Paris bis nach Bayern
zu schreien: »Barbara und O-Gott-o-Gott«.
Je vi une crois
Chevauchier Artois
Sor une chaudiere,
Et une viez sois
Menoit Vermendois
Parmi une pierre.
Se ne fust une verriere,
Dui lymeçons, voire trois,
De Paris duqu’en Bauvere
Eüssent fait dix Anglois
Huchier: «Barbe et Godiere».
Barbara: jungfräuliche Märtyrerin und Heilige, im 3. Jahrhundert. Ein Fels tat sich auf, um sie aufzunehmen, als ihr Vater sie verfolgte. Schutzpatronin der Bergwerker und Steinmetzen.
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