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Tag und Nacht habe Mandelstam die »Divina Commedia" gelesen, erinnert sich Anna Achmatowa; er konnte ganze Passagen auf Italienisch auswendig. Sein »Gespräch über Dante" ist gewiss der wichtigste Essay überhaupt im Werk Ossip Mandelstams. In kühnen Metaphern nähert sich Mandelstam darin dem Werk Dantes und erkundet das dynamische Wesen der Poesie. Sein Essay ist ein Versuch über Bewegung, Gehen und Denken, über das Unterwegssein im Wort. Er ruft unüberhörbar auch nach einer politischen Lesart, ist Vertiefung in das Los eines Verbannten, verschwörerischer Geheimcode zwischen verfemten Dichtern, letztlich ein Versuch, die »Obertöne der Zeit" zu hören und Dantes Gesänge als »Gerät zum Einfangen der Zukunft" für die moderne Dichtung zu gewinnen. Ralph Dutli, einer der besten Kenner Mandelstams, untersucht diesen zentralen Text in dessen Werk und gibt neue Anregungen zur Erkundung der Strahlkraft des großen Dichters und Philosophen Dante Alighieri in der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 53
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Göttinger Sudelblätter
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Herausgegeben von
Thorsten Ahrend und
Thedel v. Wallmoden
Ralph Dutli
Dantes Gesänge –Gerät zum Einfangender Zukunft
Ossip Mandelstams»Gespräch über Dante«
»Der Stein ist das impressionistische Tagebuch
des Wetters, angesammelt in Millionen
unruhigster Jahre.«
O. M.
Die Halbinsel Krim, am 18. April 1933. Ossip Mandelstam trifft mit seiner Frau Nadeschda in Staryj Krym ein, einer alten Stadt der Tatarenkhane im Südosten der Krim. Die erneute Begegnung mit diesem Landstrich war ein Schock für den Dichter. Hunger und Terror bestimmten die Zeit. Die Auswirkungen der von Stalin im Rahmen des ersten Fünfjahrplanes vorangetriebenen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft waren verheerend. Am 1. Februar 1930 hatte er die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« angeordnet und damit unvorstellbare Not über die Bauern der Ukraine gebracht. Die Entkulakisierung traf nicht nur die Großbauern (Kulaken), die als »Konterrevolutionäre« entweder sofort erschossen oder von ihren konfiszierten Höfen vertrieben und nach Sibirien deportiert wurden. Auch mäßig begüterte Mittelbauern und sogar Kleinbauern wurden von der Vernichtungswelle erfasst, damit die von den offiziellen Stellen vorgegebenen »Orientierungszahlen« erfüllt wurden.
Die verbliebenen Bauern sollten mit der »Hungerwaffe« zum Kolchosbeitritt gezwungen werden. Die Durchführung lag bei der Geheimpolizei GPU, verstärkt durch Liquidierungskommandos, euphemistisch als »Arbeiterbrigaden« bezeichnet, bewaffnetem städtischem Mob und aus den Gefängnissen rekrutierten Kriminellenschwadronen, die vor keiner Gewalttat zurückschreckten. Es war das planmäßig entfesselte Chaos.
Die einstige Kornkammer Russlands hatte im 19. Jahrhundert die halbe Welt mit Weizen versorgt. Jetzt war die Landwirtschaft ruiniert. Das Massaker verursachte in der Sowjetunion auf Jahrzehnte hinaus Versorgungsprobleme. Der »Holodomor« (deutsch: »Tötung durch Hunger«) traumatisierte die Ukraine dauerhaft: Noch während der »Orangen Revolution« 2004 und des Euromajdan 2013/2014 in Kiew war die Erinnerung an den »Hunger-Holocaust« akut, als das unermessliche Unheil, das vom stalinistischen Sowjetrussland ausgegangen war.
Den Erschießungen, Deportationen und Aushungerungskampagnen fielen Millionen Menschen zum Opfer. Es war »die größte menschliche Katastrophe, die jemals einem Volk in Friedenszeiten von seiner eigenen Regierung bereitet worden ist«, schreibt der Historiker Günther Stökl;[1] der britische Historiker Robert Conquest beziffert die Gesamtopferzahl auf 14,5 Millionen Menschen. Nach glaubwürdigen Berichten kam es zu vielen Fällen von Kannibalismus: Eltern, die die Leichen ihrer getöteten oder verhungerten Kinder aßen (Spiegel-Online 20. Januar 2007: »Als Stalin die Menschen zu Kannibalen machte«).
In welchem Inferno sind wir? Es ist das Jahr 1933. Doch der Dante-Leser wird hellhörig, erkennt die Parallele, eine der schockierendsten Passagen in Dantes Inferno und die berühmteste Stelle der Weltliteratur, die von Kannibalismus handelt. Sie findet sich am Ende des 32. und zu Anfang des 33. Gesangs des Inferno. Wir sind im neunten und untersten Kreis der Hölle, in jener gewaltigen Eiswüste, wo »tausende Gesichter, blau von der Kälte«, ausharren müssen. Dort trifft Dante auf Ugolino della Gherardesca aus Pisa, der gerade wütend am blutigen Schädel des Erzbischofs Ruggieri degli Ubaldini nagt. Der Jenseitsreisende will verstehen, was er als verstörendes Geschehen vor sich sieht.
Da sagte ich: »O du, du beweist so bestialisch deinen Hass auf den, an dem du herumnagst, sag mir, warum.« […] Den Mund hob der Sünder von dem tierischen Fraß und wischte ihn ab an den Haaren des Kopfes, den er von hinten zernagt hatte.[2]
Der Kannibale stellt sich vor: »Ich war Graf Ugolino, musst du wissen«, und verkündet dem Fragenden: »So wirst du mich in Tränen reden sehen« (Inferno 33, 9). Er berichtet, wie er von Erzbischof Ruggieri mit zweien seiner Söhne (Gaddo und Uguccione) und zwei Enkeln (Brigata und Anselmuccio) in den Hungerturm von Pisa geworfen wurde. Die Tore zum Verlies wurden vernagelt (und eine historische Quelle will wissen, dass die Schlüssel im März 1289 in den Arno geworfen und die Gefangenen dem Hungertod überlassen wurden). Ugolino schildert das Grauen der letzten Tage, den Schmerz, zusehen zu müssen, wie ein Kind nach dem andern am Hunger stirbt. »Und wenn du hier nicht weinst, wann willst du weinen?« (Inferno 33, 42), fragt der Gepeinigte den Neugierigen.
Bevor sie sterben, bitten Ugolinos Kinder ihren Vater, er solle ihre Körper essen.
Als ein schwacher Lichtstrahl einfiel in das schreckliche Verlies und ich auf vier Gesichtern mein eignes Bild erblickte, da biss ich mir vor Schmerz in beide Hände, und sie, weil sie dachten, ich täte dies aus Hunger, standen sofort auf und sagten: »Vater, es tut uns viel weniger weh, wenn du von uns isst. Du hast uns bekleidet mit diesem elenden Fleisch. Nimm es dir wieder.«
Und nach der Schilderung des Todes aller Kinder folgt diese erschütternde Passage:
Drauf begann ich, schon blind, über jeden hinzutasten. Zwei Tage rief ich noch nach ihnen, als sie schon tot waren. Dann übermannte mich der Hunger mehr noch als der Schmerz.[3]
Ugolinos Bericht endet in einem der berühmtesten Verse der Commedia: »Dann war der Hunger stärker als der Schmerz« (Inferno 33, 75). Ein absichtsvoll zweideutiger Satz, der viel Kommentatorentinte fließen ließ: Will Ugolino sagen, dass er aus Hunger die Leichen seiner Kinder aß, oder meint er schlicht, dass er schließlich auch selbst am Hunger starb?
Die erste, Grauen erweckende Möglichkeit scheint Dante selbst zu suggerieren, weil er Ugolino kannibalisch an Ruggieris Schädel nagend vorführt. Er lässt den Leser teilhaben an einer schrecklichen Rache, gewährt Ugolino die Möglichkeit, seine Verzweiflung und väterliche Sorge um seine Kinder, aber auch den Anlass für seinen »tierischen Fraß« verständlich zu machen.
Von Inferno zu Inferno. Als Mandelstam im April 1933 auf der hungergeplagten Krim eintrifft, trägt er sich bereits mit seinem wichtigsten und umfangreichsten Essay, betitelt Gespräch über Dante. Auch er wird der Ugolino-Episode Aufmerksamkeit widmen, aber nicht dem Skandalon von Ugolinos Kannibalismus, sondern – den musikalischen Qualitäten von Dantes Werk. Mandelstam beschwört Solopartien, Arien und Ariosos, ein Violoncello-Largo. Den 33. Gesang des Inferno findet er »in die Klangfarbe eines Violoncello gehüllt, die dickflüssig und schwer ist wie bitter gewordener, vergifteter Honig«.[4]
Mandelstam betont einmal mehr den für ihn wichtigsten Sinn, den Gehörsinn. Zur Erinnerung: Seiner autobiographischen Prosa hatte er den Titel Das Rauschen der Zeit (1925) gegeben. Dantes Hunger-Drama wird für ihn zum Violoncello-Largo, und offenbar ist für den russischen Dichter – schon im Eröffnungskapitel des Gesprächs über Dante – noch ein ganz anderer Hunger bei Dante am Werk:
Großartig ist der Vershunger der alten Italiener, ihr raubtierhafter, jugendlicher Appetit auf Harmonie, ihr sinnliches Verlangen nach dem Reim – il disio!
Der Mund arbeitet, ein Lächeln bewegt den Vers, klug und fröhlich röten sich die Lippen, und die Zunge schmiegt sich zutraulich an den Gaumen. (GD, 115f.)