FBI - Die Fälle der Jessica Coran (Bundle) - Robert W. Walker - E-Book
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FBI - Die Fälle der Jessica Coran (Bundle) E-Book

Robert W. Walker

4,3

Beschreibung

FBI - Die Fälle der Jessica Coran Drei spannende Romane in einem Bundle zum kleinsten Preis! ★★★★★ "Meisterhaft." [Clive Cussler] ★★★★★ "Raffiniert." [San Francisco Examiner] ★★★★★ "Geht unter die Haut." [Publisher's Weekly]   Band 1: BLUT - Der Vampirkiller von Wisconsin Dr. Jessica Coran ist eine Expertin, wenn es darum geht, in die Gedankenwelt von Mördern und Gewaltverbrechern einzudringen. Als Gerichtsmedizinerin beim FBI glaubte sie, bereits alles gesehen zu haben – bis zu jenem Tag in Wisconsin. Als sie das Erste seiner Opfer sah … Der Vampirkiller von Wisconsin Er foltert seine Opfer auf besonders bestialische Weise – indem er sie vollständig ausbluten lässt. Die Zeitungen nennen ihn bereits den Vampir-Killer. Und er schreibt Liebesbriefe an jene Ermittlerin des FBI, die für ihn Jäger und Beute zugleich ist: Dr. Jessica Coran.   Band 2: DIE KLAUE - Der Kannibale von New York Kaum dass FBI-Agentin Dr. Jessica Coran den gefährlichsten Serienmörder des Landes fassen konnte, wird sie auch schon nach New York beordert. Dort treibt erneut ein Serienkiller sein Unwesen, eine Art moderner Jack the Ripper mit kannibalistischen Zügen. Doch dieser ist gerissener, als irgendjemand ahnt. Er weiß, dass man ihm dicht auf den Fersen ist. Und so beginnt ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei und FBI …   Band 3: MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii Während ihres Urlaubs auf Hawaii bittet man Gerichtsmedizinerin Dr. Jessica Coran, bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit einem Serienkiller zu helfen. Sie nennen ihn den Passat-Killer. Seine Opfer sind junge, schöne, hawaiianische Mädchen, seine Waffe eine lange, rasiermesserscharfe Klinge. Sein Vorgehen scheint überlegt, präzise, ritualistisch und beinahe religiös motiviert zu sein. Jessica hat bereits mit einigen Serienmördern Erfahrungen sammeln können, ist ihnen oft gefährlich nahe gekommen. Nun zwingen sie die Nachforschungen, tief in die Unterwelt Hawaiis abzutauchen, an Orte, wo auch ihre FBI-Marke sie nicht mehr beschützen kann …

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Inhaltsverzeichnis

FBI – Die Fälle der Jessica Coran
Band 1 – Der Vampirkiller von Wisconsin
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Band 2 – Die Klaue
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Band 3 – Machete – Der Passat-Killer von Hawaii
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Über den Autor

FBI – Die Fälle der Jessica Coran

Band 1 – Der Vampirkiller von Wisconsin

Robert W. Walker

Copyright © 2012 by Robert W. Walker All rights reserved. No Part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

Impressum

Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Philipp Seedorf Lektorat: Johannes Laumann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-769-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

Kapitel 1

Das Böse ist leicht und hat unendlich viele Formen.

– BLAISE PASCAL, Les Provinciales (1656-57)

Als sich die krumme Tür der Hütte quietschend öffnete, schien eine Art stinkender Geist am Sheriff und seinem Deputy vorbeizuschweben. Dahinter lag eine schwarze Gruft. Aber es war nur die abgestandene, verbrauchte Luft, die Enge. Der Gestank hing immer noch schwer und fast wie eine greifbare Präsenz im Raum. Der Strahl der Taschenlampe huschte über die dunkle Leere, ohne irgendetwas deutlich sichtbar zu machen.

War der Ort mit toten Ratten gefüllt? War ein Waschbär durch ein Loch gekrochen, hatte einen Wurf Junge geboren und dann darin gestorben, die verhungernden Jungen unversorgt? Sheriff Calvin Stowell hatte sich entschieden, dem einsamen Verlauf eines alten Holzwegs zu folgen, Endstation war das alte Risley-Haus. Es war die letzten Jahre nicht bewohnt gewesen, der alte Mann war gestorben, seine Familie in alle Winde zerstreut. Nur das Land selbst hatte noch einen Wert – verschiedene wertvolle Harthölzer wuchsen dort – aber selbst das Land wirkte verlassen.

»Hier stinkt was, Calvin«, sagte Lumley im Wagen des Sheriffs.

Die Polizei von Wekosha hatte das Gebiet um die Baker’s Road in westlicher Richtung bis nach Three Forks abgesucht und sich mit der State Patrol getroffen, die sich vom See her nach Osten bewegt hatte. Vorher hatten sie vergeblich entlang der Old Market Road und bei Boyd’s Anglercamp und Killough Cove gesucht, wo die Familie der vermissten Frau aktuell lebte, aber die Suche hatte nichts ergeben. Stowell hatte aus einem Gefühl heraus, weil er sich an das alte vergessene Risley-Haus erinnerte, kommentarlos eine andere Richtung eingeschlagen. Als ob es vorherbestimmt gewesen wäre, hatte das schwache, verblassende Licht der Taschenlampe einen großen Schatten vor einer Wand enthüllt. Den ganzen Abend waren Stowells Männer entlang des Hawk’s Ridge ausgeschwärmt, diverser miteinander verbundener Hügel, die sich mit den Felsen der Gegend zu einer Halbmondform erhoben – ein gigantischer, schlafender Gulliver in Fötusstellung. Die Männer hatten sich durch verschlungene Dornensträucher gekämpft, durch Dickicht aus Weymouth-Kiefern und Banks-Kiefern. Sie waren auf windschiefe Hütten tief im Wald gestoßen und hatten deren Bewohner aufgeschreckt.

Die Suche hatte in der Nacht zuvor begonnen, sodass Stowell und die anderen zögerten, sie heute Nacht schon aufzugeben. Sie arbeiteten sich weit in die dunkle Wildnis von Wisconsin vor. Entlang des trostlosen Chippewa Creek zeigten sie Bilder des Copeland-Mädchens herum. Gelegentlich sahen sie etwas aus der Ferne im Wasser schwimmen, das man leicht für ein Stück Kleidung oder eine Leiche halten konnte. Der ständige falsche Alarm zehrte an ihren Nerven und die kollektive Frustration entlud sich in einer gereizten Stimmung. Alle standen kurz vorm Explodieren. Die Frustration stieg, die Hoffnung schwand.

Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe Dorfbewohner hatte sich in dieser Nacht der Suche angeschlossen. Die Geste hatte sie alle enger zusammengeschweißt – die gemeinsame Sorge verbindet, dachte Stowell – jedoch hatte das zusätzliche Personal ihnen bisher nicht viel gebracht. In der Zwischenzeit tickte die Uhr erbarmungslos für Annie Copeland. Besonders die Cops konnten nicht anders, als vom Schlimmsten auszugehen, nämlich dass »Candy«, wie Freunde und Verwandte sie nannten, nicht länger unter den Lebenden weilte. Vermutlich lag ihre Leiche in einem nicht sehr tiefen Grab auf irgendeinem Feld, wo sie eines Tages, vielleicht erst in Monaten, von einem Jagdhund gefunden werden würde, der stehen blieb, um an ihrem Kadaver zu schnüffeln.

Es war schon so oft passiert, und Stowell hatte es selbst in Fremont gesehen. Während seiner Zeit als County Deputy in dieser nördlichsten Ecke des Staates, waren mehrere junge Frauen von zwei Verrückten entführt, vergewaltigt und verstümmelt worden. Sie hatten ihre abgetrennten Köpfe in leeren Farbeimern aufbewahrt und ihre toten Körperöffnungen für sexuelle Handlungen benutzt, an die er nicht einmal denken wollte.

Diese alte Hütte besaß dieselbe widerliche Aura, dachte Stowell. Er machte sich auf das gefasst, was der Gestank und der Schatten signalisierten. Lumley hatte instinktiv seine Waffe gezogen, der lange Lauf der 45er Remington bohrte sich fast in Stowells Rücken, der als Erster über die Schwelle getreten war. Stowell fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag auf den Kopf verpasst – der Schatten an der Wand stammte von einem Leichnam, der seltsam friedlich mitten im Raum von der Decke baumelte – der Torso hing mitsamt Kopf und Haaren nach unten. Sein Mund wurde trocken, während seine Augen einzelne Teile dieser Collage des Horrors registrierten; so viele Details: ein Arm, direkt auf dem Boden darunter, eine Brust war abgeschnitten und fehlte, entweder verbarg sie sich irgendwo im Dunkeln oder der Irre hatte sie mitgenommen.

Es war unerträglich, viel zu viel, als dass die Augen es erfassen, der Geist es verarbeiten könnte. Stowells Magen revoltierte, ihm wurde schwindelig, eine flattrige Benommenheit überwältigte ihn fast. Lumley und er hatten alles gesehen, die vom Tod erfüllte Luft im Raum geatmet, alles in sich aufgenommen.

Das entstellte Gesicht war unverkennbar jenes von Candy Copeland. Ihre Glieder und Geschlechtsorgane waren mit grässlichen Wunden übersät. Verstümmelung.

Stowell stürmte nach draußen, an dem erstarrten Lumley vorbei, der seine große Knarre sinnlos auf die Leiche gerichtet hatte. Er kämpfte darum, die Magensäure drin zu behalten, zusammen mit dem Red-Devil-Kautabak, den er den ganzen Abend gekaut hatte. Lumley rannte nach ihm zur Tür raus, wie ein Kind, das man in einem Spukhaus zurückgelassen hatte; er nahm tiefe Atemzüge, als wolle er seine Lunge von dem Gestank reinigen, der darin festhing.

Ein paar Minuten später ging Stowell wieder rein. Er stellte sich vor die Leiche und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die furchtbare klaffende Wunde, die beinahe den Kopf abgetrennt hatte. Um die Wunde war eine Menge getrocknetes Blut, aber seltsamerweise keines auf dem Boden. Zuerst dachte Stowell, die Dunkelheit habe das purpurfarbene Blut verborgen, das durch die uralten Bodenbretter geflossen war. Aber als er auf die Knie ging und den Boden mit der Taschenlampe genauer untersuchte, sah er in der dicken Dreckschicht, durch die der Killer, Lumley und er gegangen waren, nur Fußspuren. Er fluchte. Sie hatten den Tatort bereits in Mitleidenschaft gezogen. Dass das Blut um die Leiche herum fehlte, erschien ihm sehr wichtig und verblüffend. Es erinnerte ihn an etwas, das er vor einigen Wochen gelesen hatte, im True-Crime-Magazin oder der Police Gazette – vielleicht war es auch eines dieser FBI-Bulletins gewesen, in die er einen Blick geworfen hatte. Es war ein Fahndungshinweis von einem Typen vom FBI, irgendein hohes Tier in ihrem psychologischen Profiling-Team, ein Kerl namens Button oder Buntline oder Boutine. Ja, das war es – Boutine.

Das FBI hatte sich dafür interessiert, ob irgendeine Abteilung im Land – besonders im Mittleren Westen – auf irgendwelche Morde mit Verstümmelungen gestoßen war, bei denen sehr wenig Blut gefunden wurde. Daran musste Sheriff Stowell denken, als er den Boden unter der aufgehängten Leiche sah. Fast war er dankbar dafür, dass er nun etwas anderes hatte, worauf er sich konzentrieren konnte, als die klaffenden Wunden, die Verwesung und die menschlichen Überreste vor ihm.

Lumley blieb an der Tür, nur sein rechter Fuß ragte über die Schwelle. »Soll ich mal die anderen anfunken, Calvin? Ihnen Bescheid sagen?«

Lumleys Stimme klang hohl, aber Calvin Stowell war trotzdem froh, die Worte zu hören. »Ja, sag ihnen, dass wir sie gefunden haben … die Suche ist vorbei.«

Seine Waffe hatte Lumley wieder eingesteckt. Er schnappte sich nun das lärmende Funkgerät, das von seinem Gürtel baumelte. Es war das einzige Geräusch gewesen, das die absolute Stille gestört hatte.

»Sag Melvin, er soll Chief Wright hier rausschicken. Es ist sein Fall.«

»Aber wir sind recht weit von Wekosha weg, Sheriff, und es ist immer noch in unserer Jurisdiktion und …«

»Hol ihn einfach her!«, schrie Stowell. Seine Taschenlampe war auf den Mann gerichtet und schuf eine schwarze Silhouette seines massigen Deputy in der Tür.

»Wenn Sie meinen, Sir.«

»Und die sollen Marge sagen, sie soll das FBI alarmieren.«

»FBI?«

»Hast du was an den Ohren, Junge?«

»Nein, Sir, aber das FBI? Wir können das Dreckschwein kriegen! Das muss ihr Zuhälterfreund gewesen sein. Scarborough.«

»Das wissen wir nicht, Lumley. Und jetzt tu, was ich dir gesagt habe.«

Stirnrunzelnd trat Lumley aus der Tür und schlenderte zwischen die Büsche vor dem Haus, von wo aus er die Anrufe erledigte. Stowell richtete seine großen, traurigen Augen wieder auf den dunklen Schemen, der neben ihm hing, und sagte mit zärtlicher Stimme: »Niemand kann dir jetzt mehr wehtun, Candy. Und wir haben dich gefunden … wir haben dich gefunden.«

Draußen fiel plötzlich ein Schuss. Stowell raste zur Tür, seine eigene Waffe sprang ihm fast in die Hand und seine Augen suchten nach einer Gefahr. Doch er sah nur Junior Lumley auf der Lichtung stehen, die Waffe im Anschlag. »Da hat sich was bewegt, Sheriff. In den Büschen«, sagte er mit zittriger Stimme.

Stowell ging zu der Stelle. Lumleys Kugel hatte ein streunendes Tier niedergestreckt, das nun vor Schmerzen wimmerte. Das Wimmern klang nicht nach einem Hund. Der Klagelaut steigerte sich plötzlich zu einem lauten, gruseligen Kreischen, bevor er verstummte und alles wieder ruhig war.

»Vorsichtig, Sheriff … vorsichtig«, warnte Lumley hinter ihm.

Stowell trat mit dem Fuß nach dem toten Opossum. Dessen rasiermesserscharfe Zähne waren deutlich zu sehen, weil es das Maul in einer erstarrten Grimasse des Schmerzes verzogen hatte. Stowell biss die Zähne zusammen und versuchte, seinen Ärger zu kontrollieren. Zu Lumley gewandt sagte er streng: »Du steckst jetzt diese verdammte Wumme ein und lässt sie dort, Junior.«

»Aber, Sheriff …«

»Geh zu dem gottverdammten Wagen zurück, damit du den anderen den Weg zeigen kannst.«

»Sie bleiben hier bei der Leiche?«

»Geh, Junior, geh!«

»Ich gehe, Calvin, ich geh ja schon!«

Lumley verschwand über den Holzweg. Stowell rief ihm hinterher: »Und wenn die anderen hier sind, dann nennst du mich Sheriff, Junior! Sheriff!« Manchmal hätte Calvin Stowell den Sohn seiner Schwester am liebsten erwürgt.

Er sah wieder auf das tote Opossum am Boden und die kleine Blutlache auf der Erde, die im Kontrast zu dem unbesudelten Boden unter der Leiche des Copeland-Mädchens stand. War sie woanders getötet und erst später hierhergetragen worden? Aber wieso sollte man sie an den Fersen aufhängen, damit jeder, der vorbeikam, ihre Leiche sehen konnte? Und wenn sie woanders zerstückelt worden war, wo sollte das gewesen sein? Ohne Zweifel wäre dort alles voller Blut. Der Rundbrief des FBI hatte auf einen Killer hingewiesen, der das Blut der Leiche mitnahm, aus welchen abgefuckten rituellen oder vampirischen Gründen auch immer.

Einige Stunden später.

Der Anblick des Leichnams in seiner unnatürlichen, umgedrehten Position, der in der Mitte des Tatorts hing, ließ Jessica Coran unkontrolliert zittern. Als das Eis in ihren Venen langsam aufzutauen begann, wurde sie für einen Moment wütend auf Otto Boutine. Er hatte ihr nicht gesagt, dass es so erschütternd sein würde. Er hatte sie nicht auf das ganze hässliche Ausmaß an Brutalität vorbereitet, das an der Leiche zu sehen sein würde. Aber es wäre vielleicht sinnlos gewesen, es auch nur zu versuchen; vielleicht konnte tatsächlich niemand einen darauf vorbereiten, da zu stehen und sich auf einen derart diabolischen Anblick zu konzentrieren.

Aber sie musste sich konzentrieren. Es war ihr Job. Dafür war sie über den halben Kontinent gereist. »Alles klar, Jessica?«, fragte Boutine neben ihr.

Alle im Raum starrten sie plötzlich an. Die Männer waren wohl neugierig, wie sie auf etwas reagieren würde, das ihrer Ansicht nach nicht geeignet war für die Augen einer Frau.

»Ja ja, alles klar, Otto.« Sie versuchte sich trotz des Horrors vor ihr zusammenzureißen, doch eine Stimme in ihrem Kopf schrie: Renn! Renn weg, Mädchen! Vielleicht war sie noch nicht bereit für die Verantwortung, vielleicht hatte sie Ottos Vertrauen gar nicht verdient. Aber eine zweite Stimme in ihrem Inneren, die sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte, sagte ruhig: Steh deinen Mann, Jess.

Als sie erneut den verstümmelten Arm ansah, der fast unmittelbar unter der zerfetzten Schulter lag, aus der er gekommen war, zögerte sie erneut. Der Anblick der verstümmelten Brust und der Vagina war wie ein Schlag in den Magen. Sie ging zu der Wand, an der dicke, massive Zedernscheite aufgeschichtet waren. Sie versuchte ein wenig Trost zu finden, indem sie das Zedernholz anfasste, glatt und hart und sauber.

Otto legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter und flüsterte: »Ich denke, du gehst besser noch mal raus und kommst wieder rein, Jess. Ich begleite dich.«

»Gib mir nur eine Minute, okay?«

Otto nickte und strich eine Locke seiner langen, graumelierten Haare aus dem Gesicht. »Sicher … sicher …«

Sie war froh, dass er nicht sah, wie die nächste Welle der Desorientierung über sie hinwegspülte. Ihr Gleichgewichtssinn schien in ihrem Kopf Achterbahn zu fahren. Fenster und Türen waren geöffnet worden, aber der Geruch der relativ frischen Leiche im Raum hing wie eine schwere Nebeldecke über dem Ort. Nach den ersten Tagen der Zersetzung war Verwesungsgeruch leichter zu ertragen, aber der erste Eindruck, der an einen Rehkadaver erinnerte, der vor einer Jagdhütte an einem Baum hängt, füllte das Hirn mit urtümlichen Eindrücken von Blut und Tod. Nicht einmal das Licht des Stromaggregats der Polizei konnte den düsteren Horror dessen vertreiben, was hier passiert war.

Aber es war eine Tatsache, dass der Mord noch nicht lange her war, der Ottos Aufmerksamkeit erregt und dafür gesorgt hatte, dass sie in einen Jet in Richtung Wekosha, Wisconsin, gestiegen war, zusammen mit dem besten psychologischen Profiler des ganzen Landes. Es war die Aussicht, einen Tatort vor sich haben, der noch nicht durch Verwesung oder den Zahn der Zeit zerstört worden war – oder durch die Dämlichkeit irgendeiner örtlichen Polizeibehörde, die nicht dafür gewappnet war, mit Fällen von sexueller Verstümmelung durch einen möglichen Serientäter umzugehen.

Otto hatte so eine Ahnung, dass dieser Tod in der Kleinstadt Wekosha einige Gemeinsamkeiten mit früheren Fällen aufwies, die sich über den gesamten Mittleren Westen erstreckten; Fälle, die andere längst zu den Akten gelegt hatten, Boutine aber immer noch schlaflose Nächte bereiteten. Alles Morde, bei denen das FBI nur wenig Hinweise hatte.

Ihr Job hier bestand darin, das Verbrechen rechtsmedizinisch zu rekonstruieren, als eine Art »Negativ« des Bösen, das hier vorbeigekommen war. Daraus ließe sich vielleicht ein klares Bild des Killers ermitteln, vielleicht auch nicht.

Die Hüttenwände, der Boden, die Decke, die Objekte im Raum, all das half schweigend und barg Geheimnisse, die allein sie der Welt verständlich machen konnte. Sie musste die unsichtbaren, mikroskopischen Beweise aus dem größeren, schockierenden Gesamtbild extrahieren, das sich ihnen bot.

Es war keineswegs der erste Leichnam eines Folteropfers, den sie gesehen hatte, aber irgendwie war hier, in freier Wildbahn, alles ein wenig anders. Der Leichnam wurde nicht in einem ordentlich verschlossenen Sack mit Reißverschluss in ein hell erleuchtetes forensisches Labor geliefert und es gab keine Wasserschläuche oder Operationstische aus rostfreiem Stahl. Stattdessen baumelte hier ein verstümmelter Körper an seinen Fersen mit einem Seil befestigt von der Decke, die Kleidung zerfetzt und verstreut, die Haare ein gruseliges Flechtwerk, die blutlosen Glieder wie die einer Schaufensterpuppe.

Es ist etwas anderes, wenn man weiß, dass man stirbt … wenn man auf furchtbare Weise stirbt … wenn das eigene Leiden verlängert wird …

Sie hatte den Blick abgewandt und sah nun wieder nach oben auf die Leiche. Die Zähne zusammenbeißend zwang sie sich, stark zu sein. Woher sie es wusste, konnte sie nicht sagen, aber ihr war klar, dass das Opfer langsam gestorben war, sich seines schrecklichen Schicksals voll bewusst.

Zu wissen, dass der eigene Tod unmittelbar bevorsteht …

Ein beengter Raum. Keine andere Frau zu sehen, außer ihr und der Leiche, die leicht hin und her schaukelte, weil irgendwer sie berührt hatte oder dagegengestoßen war.

Flüstern, unverständliche Unterhaltungen, abgestandene uralte Gerüche, eine dunkle Höhle … eine schreckliche Art zu sterben.

In all dem Lärm und dem Durcheinander aus örtlichen Gesetzeshütern und Bundesbeamten, hier in Wekosha, Wisconsin, wollte Dr. Jessica Coran, Rechtsmedizinerin aus Quantico, Virginia, aus den Labors des FBI, am liebsten ganz wie im Film melodramatisch allen befehlen, sofort den Raum zu verlassen, damit sie mit ihren Ermittlungen beginnen konnte. Aber sie wusste, das hätte wenig Sinn, sie würde damit nur die lokalen Gesetzeshüter verärgern, und der Tatort war sowieso schon kontaminiert, also schluckte sie nur und sagte: »Ich werde die Kooperation von jedem hier brauchen. Kann ich mich darauf verlassen, Otto?«

»Wird gemacht, Dr. Coran«, sagte Boutine mit mehr als genug Eifer für sie beide. Seine donnernde Stimme erschreckte die anderen. Der Chief der Abteilung IV, Psychologisches Profiling von Verstümmelungsmorden beim FBI, Otto Boutine, war ein kräftiger Mann mit einem trügerischen, katzenartigen Dauergrinsen. Er hatte durchdringende graue Augen, die anderen wie ein Schwert durchs Herz fuhren, wenn er Befehle gab. Mit einem glänzenden Cross-Füller, den er seit seiner Ankunft nervös durch die Finger hatte wirbeln lassen, wies er in Richtung Tür. »Verlassen Sie bitte alle den Raum, damit Dr. Coran ihre Arbeit tun kann. Falls sie Ihre Hilfe braucht, wird sie darum bitten.«

Die anderen gingen mit dem ein oder anderen Räuspern hinaus, manche davon eine Oktave höher als nötig. Während sie nach draußen auf die wackelige Veranda traten, sagte sie zu Otto: »Lass mich nur nicht ganz allein, okay?«

Er sah an ihrem flehentlichen Blick: Sie bat ihn nicht nur wegen des Protokolls, welches forderte, dass ein Zeuge die ganze Zeit an ihrer Seite war. Die Bitte war durchaus persönlich.

»Also, was ist dein erster Eindruck?«, fragte er etwas verlegen.

»Ist noch zu früh, um irgendetwas zu sagen, abgesehen von der Tatsache, dass der örtliche Medizinmann angepisst ist.«

»Ja, den Eindruck hatte ich auch. Hoffte wohl, er darf als Erster ran.«

»Jeder könnte sie für tot erklären. Nein, der will nur die Leiche fürs Begräbnis hübsch verpacken, den Angehörigen weiteres Leid ersparen. Das ist zumindest das, was er draußen gesagt hat.«

»Also, wo fangen wir an, jetzt, wo sie uns gehört?«

»Es ist zu dunkel hier drin«, sagte sie.

»Stimmt wohl, aber besser kriegen wir es mit den Generatoren nicht hin.«

»Die Jungs sollen ihre Autos herbringen und mit den Scheinwerfern durch die Fenster und die Tür leuchten. Verdammt, wo bleiben die Kerle aus Milwaukee mit den Sachen, die wir angefordert haben?«

»Die sind auf dem Weg. Sollten sie zumindest sein.«

Sie ging zu ihrer schwarzen Tasche und begann ihr Handwerkszeug auszubreiten: Objektträger, kleine Döschen, Plastiktüten, Schildchen, Pinzetten, spezielle Skalpelle und Spritzen. Den langen beigefarbenen Mantel zog sie aus, dann legte sie ihre Schürze, Handschuhe und Gesichtsmaske an. Aus der Innentasche des Mantels holte sie eine kleine Schachtel, ließ den Deckel aufschnappen und entnahm ihr ein Skalpell. Otto sah sie fragend an. Sie bemerkte die Neugier in seinem Blick.

»Das gehörte meinem Vater. Ist wohl ein bisschen Aberglaube, aber es hilft mir in so einem Moment.«

»Sicher, sicher«, sagte er.

Sie näherten sich der Leiche erneut und Otto sagte: »Ziemlich eindeutig, wenn ich mir das so anschaue.«

»Was ist eindeutig?«

»Wir haben hier ein Folteropfer Stufe neun.«

»Ein Folt 9 …« Ihre Stimme zitterte.

»Beinahe kein Blut, abgesehen von dem um die Wunden herum.«

»Du hast ja schon ein paar von der Sorte gesehen, ich nicht. Lass mich erst mal meine Arbeit machen, okay?«

»Aber Jess, das ist doch offensichtlich, oder nicht?«

»Für mich ist nichts offensichtlich. Ich hab nicht den Ruf, Offensichtliches in meine Berichte zu schreiben. Jetzt lass mich arbeiten. Das wird eine Weile dauern.«

Es war ihr nicht unbeträchtlicher Ruf, auf den Boutine zählte. Er hatte sich hier auf einen schmalen Grat begeben, der sie beide einiges kosten könnte. Unter anderem ihre Karrieren. Aber es war Boutines Vorschlag gewesen, also hatte sie ihn nicht in Zweifel gezogen. Vor ein paar Wochen war er in ihr Labor gekommen und hatte ihr etwa tausend Fragen gestellt, angefangen damit, wie viele Liter Blut der menschliche Körper enthielt, und damit endend, wie man diese Liter am besten abzapfen konnte. In der Zwischenzeit hatte Jessica davon gehört, dass es Streit zwischen Boutine und seinem Boss, Chief William Leamy gegeben hatte. Es ging um Personalstärke, Gelder und Zeit. Also hatte er sie »rekrutiert«, im Bemühen, seine investigativen Kräfte im Hauptquartier auszubauen und sein eigenes Team zu erweitern, indem er eine forensische Expertin seiner Profilergruppe hinzufügte. Es war ein Manöver und noch nicht der große Coup. Sie hatte sich entschlossen, solches Gerangel um Positionen und Macht Otto zu überlassen, und sich auf ihre eigene Partie Schach zu konzentrieren – und die spielte sie mit dem Killer. Die Partie war hiermit eröffnet.

Nachdem sie die Leiche eine Stunde untersucht hatte, brach sie ihr Schweigen gegenüber Otto. »Sie … die Verstümmelungen fanden erst statt, nachdem sie tot war.«

County Sheriff Stowell kam gerade herein und meinte: »Gott sei Dank, dann musste sie wenigstens nicht leiden.«

»Falsch. Sie hat beträchtlich gelitten«, erwiderte Jessica. Dann wandte sie sich an Otto: »Ich werde später mehr über die Waffen wissen, die der Killer verwendet hat, nachdem ich die Gelegenheit hatte, das Gewebe unter dem Mikroskop zu betrachten.«

»Wie kannst du sicher sein, dass sie schon tot war, bevor sie verstümmelt wurde?«, fragte Otto. »Das fehlende Blut?«

»Ja, zum einen.«

»Der Killer hat hinterher sauber gemacht«, schlug Stowell vor.

»Nie im Leben hätte er das komplett von Wänden, Decke und Boden abgekriegt«, meinte sie. »Außerdem, mal abgesehen von den Fußspuren ist die Staubschicht auf dem Boden unversehrt. Nein, der hat sich einen Scheiß darum geschert, hier auch nur ein Fitzelchen sauber zu machen.«

»Wo ist dann das verdammte Blut?«

Sie und Otto sahen sich an. Otto kauerte neben Jessica am Boden, warf einen Blick auf Stowell und sagte: »Diese Information ist streng vertraulich, Sheriff.«

»Absolut … absolut.«

Sie und Otto steckten die Köpfe zusammen. Otto war offensichtlich aufgeregt. »Also hat der Bastard ihr das Blut abgezapft?«

»Ein langsamer und qualvoller Tod.«

»Wie hat er das gemacht?«

»Vielleicht mit Schläuchen … kann ich jetzt noch nicht sagen … aber es war kontrolliert, sehr kontrolliert.«

»Und die Verstümmelung hinterher? Um etwas zu vertuschen?«

»Rein kosmetisch. Damit wir was zu tun haben.«

»Das kannst du alles ohne Tests oder Mikroskope sagen? Ist das so offensichtlich?«

»Na ja, offensichtlich nicht.«

»Keine Zweifel?«

»Nein. Schau … schau genau hin, hier.« Mit einer Pinzette öffnete sie den grauenvollen blutverschmierten Schnitt in der Kehle der toten Frau. Blut war hinabgetropft und in einer ungewöhnlichen Form auf ihrem Kinn und Mund getrocknet. »Die Wunde ist fürchterlich, aber sie wurde ihr zugefügt, nachdem sie tot war und das Blut … nun, das muss wohl aufgebracht worden sein …«

»Aufgebracht?«

»Aufgebracht, hinterher draufgeschmiert.«

»Dann müsste er im Blut Fingerabdrücke hinterlassen haben.«

»Nicht, wenn er Handschuhe verwendet hat – und ich glaube, wir haben es hier mit einem sehr kontrollierten Killer zu tun.«

»Du meinst also, er ist ein durchtriebener Bastard?«

»Auf gewisse Weise, ja. In anderer Hinsicht auch dämlich. Als würden wir ihm abkaufen, dass sie an diesen Wunden gestorben ist. Das Komische ist, dass es am Hals eine Verfärbung unter dem Blut gibt, möglicherweise ein Würgemal oder etwas anderes, das an ein paar Stellen das Gewebe verfärbt hat.« Sie deutete mit dem Finger darauf.

»Also ist es so, wie ich vermutet habe«, sagte er. Ein Folt 9.

»Kannst du mir vielleicht einen Kaffee besorgen, schwarz?«, fragte sie. »Ich muss hier noch einiges erledigen.«

»Doktor, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Das könnte für uns beide ein Durchbruch sein.«

»Erst mal langt mir der Kaffee. Und vielleicht eine heiße Dusche danach. Und ein bisschen Verständnis von Gott.«

»Für den Kaffee und die Dusche kann ich sorgen, aber Letzteres? Da musst du dir selbst helfen, Mädchen.«

Sie sah ihm nach, wie er davonging. Dann wandte sie sich wieder dem Leichnam zu. Sie konzentrierte sich auf das Weiße in den Augen des Mädchens, da sie in ihren Höhlen nach oben gerollt waren. Eine natürliche Reaktion bei Todesangst. Das Weiße ihrer Augäpfel war mit fast unsichtbaren, winzigen kleinen roten Punkten gesprenkelt, die man bei guter Beleuchtung und Vergrößerung viel besser hätte sehen können, aber Jessica hatte schon früher die untrüglichen Anzeichen einer Strangulation bemerkt, und das passte ebenfalls ins Bild. Alles deutete auf den Hals als die Öffnung hin, durch die der Killer sein Opfer hatte ausbluten lassen. Unter dem kosmetischen Schlitz im Hals, den der Irre verursacht hatte, gab es noch weitere Anzeichen für die tatsächliche Todesursache, da war sie sich sicher. Aber wie hätte sie das hier und jetzt unter diesen Bedingungen feststellen können? Das war unmöglich.

Wo blieb der verdammte Kaffee?

Jessica Coran schreckte zusammen. Eines der Augen der Toten hatte gezuckt und seine normale Position wieder eingenommen, die Pupille war auf sie gerichtet. Das tote Mädchen hatte wunderschöne, tiefblaue Augen gehabt.

Kapitel 2

»Mal angenommen, du hast recht«, hatte Chief Inspector Leamy, Ottos Boss, am Tag vorher gesagt, »und es gibt einen Serienkiller, der sich mit literweise Blut seiner Opfer davonmacht, Otto, was zur Hölle, denkst du, macht der Kerl damit?«

»Er könnte es für alles Mögliche verwenden. Bei früheren Fällen wurde es für Zeremonien, Rituale, satanische …«

»Du glaubst doch nicht, dass das hier was mit irgendeinem Kult zu tun hat, oder? Sondern dass es ein einzelner Verrückter ist, stimmt’s?«

Leamy lehnte sich in dem gepolsterten Ledersessel nach vorn, wippte leicht und wartete auf Ottos Antwort.

»Ich gebe mal einen fundierten Tipp ab: Er trinkt es. Aber was immer er damit macht, darin baden oder seine Wände damit streichen, der Bastard hat irgendein verkorkstes Verlangen danach und er will es frisch und direkt aus seinem Opfer abgepumpt.«

»Woah, das ist aber eine steile These, Otto. Niemand in der forensischen Abteilung sieht das so wie du. Bei jedem denkbaren Szenario glauben die Leute vor Ort, dass die Leiche vom Tatort entfernt und das Opfer woanders abgeschlachtet wurde, was das fehlende Blut erklärt. Du stellst hier eine ziemlich gewagte Theorie in den Raum – und deswegen soll das Bureau eine groß angelegte Jagd nach diesem Kerl starten, möglicherweise auf Grundlage falscher Annahmen?«

»Du bezahlst mich doch für meine Vorstellungskraft und Intelligenz. Bill, hab ich dich jemals enttäuscht?« Leamy zögerte. Er wollte etwas sagen, aber stattdessen kaute er nur auf der Lippe herum.

»Sag schon, hab ich?«

Leamy lehnte sich noch weiter über den Schreibtisch und sah Otto kalt an. »Du weißt genauso gut wie ich, Otto, dass nur einer ordentlich Mist bauen muss, und die da oben werden für uns beide ein neues Plätzchen finden, wo wir unsere Dienstzeit runterreißen können. Erinnerst du dich noch an Colin Armory? Weißt du noch, wo der geendet ist?«

Otto hasste diese Seite an Bill Leamy: Der Mann hatte hart gearbeitet, um dahin zu kommen, wo er jetzt war, und er wollte kein Risiko eingehen. Was er gerade gesagt hatte, war die nackte Wahrheit. Aufgrund der Rezession hatte es radikale Budgetkürzungen gegeben – wenn Otto jede Menge Leute und ein kleines Vermögen für eine Ermittlung wollte, dann sollte die besser ein paar Resultate erzielen, oder Boutine bekam einen Tritt in den Arsch – und nicht Leamy.

Leamy fragte Boutine unvermittelt nach seiner Frau – eine höfliche Floskel, die der Mann in letzter Zeit ein wenig zu oft gebraucht hatte – und die Unterhaltung wurde oberflächlich und unergiebig. Boutines Frau lag im Krankenhaus im Koma. Die Folge eines Aneurysmas.

Otto war mittlerweile überzeugt, dass diverse Fälle, zwischen denen bisher keine Verbindung hergestellt worden war, doch etwas miteinander zu tun hatten. Dass der Killer eine Vorliebe für Blut hatte und dass es die seltene Sorte Killer war, der Folter der Stufe neun brauchte, nämlich Blut abzuzapfen und zu trinken, um sich seinen Kick zu holen.

Heute Abend war das erste Mal gewesen, dass er in letzter Zeit ein Folt 9 aus erster Hand gesehen hatte. Als Neuling im ersten Jahr, damals im Einsatz in Kalifornien, hatte er einmal die Hinterlassenschaften eines anderen Blutsaugers gesehen. Und jetzt wusste er tief im Innersten, mit jeder Faser seines Körpers, dass der Tatort, den er sich heute angesehen hatte, sehr viel Gemeinsamkeiten mit diesem furchtbaren Fall in Kalifornien aufwies. Der Killer hätte fast James P. Childers’ Schüler sein können, doch der Schweinehund war 1997 in der Gaskammer gestorben, wofür nicht zuletzt Boutine verantwortlich gewesen war. Childers hatte allerdings so deutliche und offensichtliche Spuren hinterlassen, dass es einem fast vorkam, als wollte er gestoppt werden. Das schien bei diesem neuen Psychopathen hier nicht der Fall zu sein.

Und der Kerl lieferte das volle Folterprogramm, da konnte man fast überall auf den FBI-Checklisten ein Häkchen machen: Folter Stufe eins und zwei beinhaltet Verstümmelung der Sexualorgane; Zerstückelung ist Folter Stufe drei bis fünf. Die einzigen Grausamkeiten, an denen er nicht interessiert schien, waren Folter Stufe sechs bis acht: Ausweiden und Kannibalismus. Aber es gab keinen Zweifel, der Mistkerl genoss es, seinen Opfern das Blut abzuzapfen, langsam und mit extremer Sorgfalt, damit nicht ein Milliliter unnötig verschwendet wurde. Boutine konnte natürlich danebenliegen. Das Blut konnte aus anderem Grund abgezapft worden sein, und der Killer hatte es vielleicht doch nicht wie einen Softdrink gierig hinuntergeschluckt, aber sein Gefühl sagte ihm etwas anderes.

Otto war sich sicher: Jessicas Ermittlungsergebnisse würden nicht nur seiner Theorie Glaubwürdigkeit verleihen, sondern genau wie er würde auch sie bald ihren hart verdienten Ruf aufs Spiel setzen. Auch wenn sie relativ jung und noch nicht lange bei der Abteilung war, hatte sich Dr. Coran schon den Ruf erworben, besonders gründlich zu sein und ohne Rücksicht auf Verluste zu ihren Überzeugungen zu stehen. Sie hatte nichts mit dem Mann gemein, den man für die Position übergangen hatte, die sie nun bekleidete. Dr. Zachary Raynack hätte niemals gesehen, was für Otto die offensichtlichen Anzeichen eines Folt-9-Killers waren.

»Nenn es eine Ahnung«, hatte Otto schließlich am Tag davor zu Leamy gesagt.

Leamy war aufgestanden, nie ein gutes Zeichen. »Man verwettet nicht sein Haus aufgrund einer Ahnung, Otto. Gerade du solltest das wissen. Bist du sicher, dass diese Sache mit deiner Frau …«, Leamy zögerte, »… nicht dein Urteilsvermögen beeinträchtigt, was Dinge angeht, die …«

»Da musst du dir keine Sorgen machen, Bill. Wirklich nicht!« Otto hoffte, seine feste Stimme, die ein wenig wütend klang, würde Leamy überzeugen, was ihn anging. Es war offensichtlich, dass Leamys geschwätziger Golfpartner, Dr. Raynack, ihm schon einen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Otto versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken, dass sich Leamy und Quantico seinetwegen Sorgen machten. Er konzentrierte sich stattdessen auf Jessica Coran, deren orchestrierte Sammlung von Beweisen für die lokalen Gesetzeshüter wie Science Fiction wirken musste. Ihre Instrumente und ihr Vorgehen entsprachen dem neuesten Stand der Wissenschaft, und sie hatte das Ruder in die Hand genommen, genau wie erwartet. Sie hatte die bulligen Polizisten bereits auf Händen und Knien, damit sie das Linoleum unter dem Waschbecken in der Ecke und die Bodendielen unter dem Kopf des Opfers herausrissen. Auch wenn nirgends eine Spur von Blut zu sehen war, wusste sie, dass zumindest Spuren davon unter einem Elektronenmikroskop immer noch zu sehen sein würden, selbst nachdem sie gründlich weggewaschen und weggeschrubbt worden waren. Wenn der Killer sich auch nur ritzen würde, während er die Leiche zerhackte, dann würde sie Spuren seines Blutes in der Spüle, auf den Fliesen oder den Bodenbrettern finden, glaubte Otto. Er hatte gerüchtehalber gehört, dass sie liebevoll die »Leichenfledderin« genannt wurde. Raynack hingegen war in der Abteilung bekannt als der »Rattenmann«.

Otto sah ihr genau zu. Dr. Coran war seiner Meinung nach ein sehr angenehmer Anblick. Er erinnerte sich daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ihm war die Luft weggeblieben. In dieser Umgebung war sie natürlich ein starker, unübersehbarer Kontrast zu der von Männern dominierten Szenerie, aber selbst in einem Raum voller gut aussehender Frauen würde sie seiner Meinung nach noch herausstechen. Jessica hatte langes, kastanienfarbiges Haar, das eine wilde Mähne bildete, wenn sie es nicht zurückband. Ihr seidiger Teint wirkte vor dem marineblauen Anzug mit der weißen Spitzenbluse makellos, doch jetzt lag die Kostümjacke draußen im Auto auf ihrem Mantel und war von einer Leinenschürze ersetzt worden, die ihren Minirock bedeckte. Das lenkte jedoch nicht von ihrer schlanken Figur ab. Otto sah, wie Stowell und so manch anderer ihr ab und zu einen Blick zuwarfen.

Großartige Gene, machte er sich klar. Mit 17 war sie ein großes und gertenschlankes Mädchen gewesen mit einer erstaunlichen Grazie für ihr Alter. Sie war so groß wie ihr Vater und hatte sein wissendes Glitzern in den Augen, dazu die rauchige Stimme ihrer Mutter und deren hohe Wangenknochen. Sie hatte diese charakteristische Die-Arbeit-geht-vor-Einstellung, die ihren Vater beim Militär so unersetzlich gemacht hatte. Boutine hatte Dr. Oswald Coran als einen der besten medizinischen Ermittler kennengelernt, den er je getroffen hatte, so wie auch jeder andere, der mit dem Mann zu tun gehabt hatte – darunter Familienangehörige vermisster Soldaten, Senatoren, Generäle und Präsidenten. Coran hatte einige kontroverse Autopsien geleitet, seine Expertise war sehr gefragt, wenn es darum ging, Zweifel bei einer Ermittlung auszuräumen – beispielsweise vor zwei Jahren, als zwei Senatoren binnen einer Woche durch Flugzeugabstürze ums Leben kamen.

Oswald Coran war an einer lähmenden Krankheit gestorben, die ihm durch Muskelschwäche die Kontrolle über seine Glieder genommen hatte. Nur sein Geist war unversehrt geblieben, gefangen in einem nutzlosen, verwelkten Körper. Für einen solchen Mann war das wie eine Höllenstrafe gewesen. Es gab Gerüchte, sein plötzlicher Tod sei das Ergebnis von Sterbehilfe gewesen, aber dem wurde nie nachgegangen. Tragischerweise starb Jessicas Mutter bei einem Autounfall, kurz bevor ihr Vater krank wurde. Irgendwie hatte Jessica es überstanden und ihre Assistenzzeit am Bethesda Marinekrankenhaus beendet, an dem ihr Vater Chef der forensischen Abteilung gewesen war.

Laut Jessicas Vater achtete die Navy im Gegensatz zur Army darauf, dass ihre medizinischen Praxiskräfte die nötige Ausbildung bekamen. Er bestand darauf, dass sie entweder bei der Navy oder auf einer medizinischen Privatschule ausgebildet wurde. Sie wählte Letzteres, aber als »Navy-Spross« war ihr Leben von Entwurzelung, Veränderung und ständigen Brüchen geprägt. Trotz ihres sanften Äußeren war sie deswegen sehr tough und hatte keinen Schimmer, wie umwerfend sie aussah. Ihre Vorstellung von Schönheitspflege bestand darin, die Haare zusammenzubinden und ein wenig Parfüm aufzulegen – mehr brauchte sie auch gar nicht zu tun.

Sie hielt sich in dieser Nacht zurück, überließ Boutine die Führung, aber jeder der Anwesenden wusste, dass sie das Sagen hatte, dass sich etwas verändert hatte, als sie sich an die Arbeit machte. Charisma, der X-Faktor, was immer es war, das die Menschen um sie herum beeindruckte – sie hatte jede Menge davon. Otto wusste, er hatte nicht viel mehr als die Fähigkeit, andere einzuschüchtern und zu verängstigen.

Er hatte sie bei der Zeremonie getroffen, als man ihren Vater zum Chef der forensischen Abteilung in Bethesda gemacht hatte. Damals war sie vielleicht 16 oder 17 gewesen. Seitdem war sie noch hübscher geworden.

Unvermittelt stand sie auf und streckte die Beine aus, die sich schon verkrampft hatten, weil sie die ganze Zeit in der Hocke saß. Sie drehte sich um und bemerkte, dass er Löcher in die Luft starrte. Fast höflich fragte sie: »Bist du am Tagträumen, Otto? Ausgerechnet jetzt?«

Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, und schoss zurück. »Abwehrmechanismus.« Ob sie auch nur ahnte, dass sie Gegenstand seiner Gedanken war?

»Hilf mir mal«, sagte sie. »Ich brauche die Pinzette, die ich drüben bei meiner Tasche gelassen habe, und noch ein Reagenzglas, bitte.«

Er steckte seine nicht entzündete Pfeife ein und nickte: »Sicher, sicher … sonst noch was?«

Otto spürte, wie die anderen Männer sie ansahen. Vermutlich waren sie auf ihn neidisch. Nicht weil er schon so lange beim FBI war oder so viel erreicht hatte, sondern weil er sie persönlich und beruflich kannte.

»Die Familie hat ein Recht darauf, dass das zu einem Abschluss gebracht wird«, sagte Dr. Samuel Stadtler in ihr Ohr. Der grauhaarige, verkniffen aussehende örtliche Pathologe trieb sich schon seit Stunden am Rand des Tatorts herum und nervte den Sheriff mit seinem Gerede, weil er von Jessica in keiner Weise darum gebeten worden war, zu helfen.

»Es könnte eine Weile dauern, bevor ich Ihnen die Leiche übergeben kann, Dr. Stadtler«, sagte sie ihm. »Und ich will bei der Autopsie dabei sein, verstehen Sie?«

»Ich verstehe mehr, als Sie glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Zum Beispiel weiß ich, dass Mord das Federal Bureau of Investigation normalerweise nicht interessiert. Ich weiß, dass Stowell Sie dazugeholt hat, und ich weiß, wie Sie arbeiten, nämlich ohne einen Gedanken an die Familie zu verschwenden.«

Otto trat dazwischen, als er das hörte und merkte, wie all die andern Polizisten begierig darauf warteten, dass es zum Showdown zwischen dem alten Landarzt und der jungen Ärztin kommen würde. Otto sagte: »Das ist jetzt Sache der Bundespolizei, Dr. Stadtler …«

Aber Jessica schnitt ihm das Wort ab und baute sich direkt vor Dr. Stadtler auf. »Und Sie können entweder kooperieren oder von dem Fall komplett abgezogen werden. Es liegt an Ihnen.«

»Ich habe hier die Zuständigkeit, Doktor«, blaffte Stadtler sie an.

»Nein, nein, haben Sie nicht. Außer, wenn uns die Behörden hier zum Gehen auffordern, erst dann«, konterte sie. »Und jetzt, Sir, schlage ich vor, da Sie sich ja so viel Sorgen um die Familie machen, setzen Sie sich mit ihnen zusammen und helfen ihnen, mit ihrer Trauer fertig zu werden.«

Stadtlers Gesicht war rot angelaufen und er fand keine Worte, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Er sah sich nach Unterstützung um, aber als er keine fand, marschierte er hinaus. Sie hörte, wie er sein Auto anließ, und dann das Holpern und Knirschen des rollenden Wagens auf dem mit Unkraut überwachsenen Waldweg.

Otto drehte sich zu ihr und sagte: »Du wirst noch häufiger feststellen, dass die Leute vor Ort sich von uns bedroht fühlen, wenn wir hinzugezogen werden.«

»Gott, ich hoffe, ich hab nicht alles noch schlimmer gemacht.«

»Nein, nein, wie du mit ihm umgegangen bist, war wie aus dem Lehrbuch.«

Sie lächelte das erste Mal an diesem Abend. Ottos Stirn war eines seiner beeindruckendsten Merkmale, da sie so dominierend und breit war. Sein mächtiger Schädel ging in einen sanft schmaler werdenden Kiefer und ein markantes Kinn über. Er hatte ein langes Gesicht mit einer Vielzahl an verschiedenen Ausdrücken, die alle ein ums andere Mal schwer zu lesen waren. Er war groß, fast schon majestätisch; seine aufrechte Haltung und zupackende Art machten stets Eindruck. Und jetzt durchdrangen Ottos Augen, eine Mischung aus Stahlblau und Schneeweiß, den Nebel ihrer Müdigkeit, und für einen Moment sah sie den Schmerz hinter diesen Augen, den Geist eines Dämons, vielleicht auch zwei oder drei. Dämonen, die Sorgenfalten in sein Gesicht meißelten. Sorgen, denen er keinen Ausdruck verleihen konnte.

»Werd mal besser hier fertig«, sagte er und wandte die Augen von ihrem durchdringenden Blick ab, als versuchte er, der Frage darin zu entgehen.

»Ja, richtig.«

Boutine wandte sich wieder den anderen Männern zu, die er an der kurzen Leine hielt und sie zurück zur Arbeit befahl. Er sagte ihnen genau, was Dr. Coran wollte und brauchte, bis er allen so auf die Nerven gegangen war, dass eine missmutige Stille das überfüllte kleine Todesloch einhüllte. Otto trat nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.

Jedem hier war dieses Mordopfer nahegegangen, hatte sie auf eine Art und Weise berührt, wie niemand je berührt werden wollte. Sie bemerkte erst jetzt, wie sehr es Otto mitgenommen hatte.

Die Vorstellung, dass in dieser Welt jemand existierte, der ihr alles Blut aussaugen wollte, es trinken und dann wieder rauspissen, dieser Gedanke allein erschütterte die FBI-Frau in einem verborgenen Teil ihrer Seele, der für Ängste reserviert war, die sie für lange ausgemerzt gehalten hatte.

Aber die Psyche hielt nichts von Fair Play, nicht mal gegenüber sich selbst.

Otto Boutine hatte in seiner langen Karriere beim FBI in der Abteilung für psychologisches Profiling schon Foltermorde in all ihren Facetten gesehen, und als Berater, bevor eine solche Abteilung überhaupt existiert hatte. Tatsächlich hatten sogar die meisten seiner Fälle mit irgendeiner Form körperlicher Verstümmelung aufgewartet. Er war der hauseigene Spezialist für Verstümmelungsmorde, der Experte, der Ben »Obi-Wan« Kenobi der Verstümmelung. Manchmal sorgte er sich darüber, sein Leben so zu verbringen. Einen Großteil seiner wachen Zeit – und manchmal selbst seiner Träume – hatte er in den Gedankenwelten der brutalsten Killer verbracht, die je der Justiz zugeführt worden waren, mehr als mit seiner Frau, die ihm jetzt entglitt, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Seitdem er mit dem Bureau zusammenarbeitete, hatte er gelernt, wie ein Mann zu denken, der zu den größten Gräueltaten fähig war, die man sich vorstellen konnte, aber das hier, das Ergebnis einer Folter Stufe neun, war geistig nicht leicht auszuloten.

Intellektuell konnte er die Tatsache akzeptieren, dass es zwischen 300 und 400 sogenannte echte Vampire gab, die das Land durchstreiften. Und auch wenn alle von ihnen ein unheiliges Verlangen nach dem Geschmack von Blut hatten, wurden nur wenige davon tatsächlich zu Serienkillern. Die meisten entschieden sich für andere und sicherere Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Aber emotional betrachtet hatte Otto große Schwierigkeiten, sich die Geisteswelt eines Menschen vorzustellen, der tatsächlich dazu fähig war, einem anderen Menschen das Blut abzuzapfen. Der langsame Sterbeprozess war so peinigend, so abscheulich, dass diese Art Verbrechen die Liste des FBI über die schlimmsten Foltermorde anführte.

Es war schwierig, wie ein Mörder zu denken, erst recht wie ein sadistischer, perverser Killer; und nun auch noch wie ein Mann, der glaubte, ein Kind Satans zu sein, eine Art Zombie! Dass er zum Überleben nicht nur menschliches Blut brauchte, sondern den reichhaltigen, warmen, zu Kopf steigenden Cocktail eines frischen Kills? Das war selbst für einen Mann von Boutines Expertise schwierig. Dennoch hatte er sich in die Ermittlungen gestürzt wie jemand, der beschlossen hat, in einem Kanu die Niagarafälle hinabzufahren – egal, was Raynack sagte, und trotz Leamys Warnung. Hatte es etwas mit Marilyn zu tun? Hatte Leamy irgendwie gespürt, dass er sich nach einem Fall sehnte, der ihn aus Washington rausbrachte, fort von dem blassen Schatten einer Frau, die in einem Koma dahindämmerte, der er nicht länger dabei zusehen konnte? Oder lag es nur daran, dass dieser Folt 9 das war, worum sich seine gesamte Karriere drehte? Ein grausames und menschliches Phantom zu stoppen, an das allein er glaubte: Eine kranke Kreatur der Dunkelheit, die frisches Blut eines anderen zu sich nahm, damit sie – zumindest psychologisch – übernatürliche Macht über Leben und Tod bekam? War es tatsächlich möglich, dass der satanische Bastard an seine eigene blutige Unsterblichkeit glaubte? Der Vampir-Komplex; die Fixierung, die zu Menschen wie Marquis de Sade geführt hatte und zu Frauen, die ihre Schönheit bewahren wollten, indem sie im Blut von Jungfrauen badeten. Menschliche Neunaugen, die nach dem Blut anderer gieren.

Aber es war das erste Mal, dass er das Resultat einer solchen wahnsinnigen Fantasie tatsächlich vor sich hatte.

Er starrte wieder auf den blutleeren Leichnam, der verkehrt herum von den Balken der uralten Blockhütte in Wekosha, Wisconsin, hing. Die örtlichen Gesetzeshüter hatten sie verständigt, sobald ihnen klar geworden war, was sie da vor sich hatten – einen Fall von Verstümmelung ohne Blut, genau wie es das Fax beschrieben hatte.

Jessica Coran war wie ein Fels in der Brandung des Schreckens. Eine erstaunliche Lady, hoch kontrolliert, mit einem brillanten medizinischen Verstand und unglaublichem Können. Er wusste, er musste sich mit den Superlativen zurückhalten, wenn er in seinem Bericht ihren Einsatz vor Ort beschrieb. Er durfte sie nicht wie Johanna von Orleans oder Mutter Theresa aussehen lassen, aber er war beeindruckt und sein Bericht würde das zeigen. Er ging zu ihr, fasste sie am Arm und fragte: »Wie läuft’s?« Sie war seit Stunden voll im Einsatz. Es dämmerte bald.

»Bin gleich fertig.« Ihre nuschelige Stimme sagte alles.

»Du wirst ein wenig Schlaf brauchen vor der Autopsie. Und es wird bald hell.«

Eine Autopsie konnte Stunden dauern, und eine schwierige – die hier würde mit Sicherheit schwierig werden – sogar bis zu acht Stunden.

»Lass die nicht ohne mich anfangen, Chief.«

Er nickte und wechselte das Thema. »Ist schon ’ne Weile her, dass ich einen gesehen habe, der so schlimm war, das muss ich zugeben.« Sie glaubte, ein leichtes Zittern in Boutines Stimme zu hören. Für einen Moment sahen sie sich an, der Blick aus seinen glänzenden grauen Augen bohrte sich wie Pfeile ungehindert in ihre tiefen blau-grünen Augen. Es entstand eine stille Verbindung zwischen ihnen. Ihr wurde zum ersten Mal klar, dass er von der abscheulichen Tat genauso mitgenommen war wie sie; gleichzeitig fragte sie sich, wie sie auch nur einen Moment etwas anderes hatte annehmen können. Ja, Otto war Otto, so förmlich, so muskulös, aus hartem Holz geschnitzt. Vorhin hatte er gewirkt, als würde er über den Dingen stehen, als hätte er alles unter Kontrolle. Nützliche Verhaltensweisen, die sie diese Nacht verbissen nachzuahmen versucht hatte. Dabei hatte sie sich wie eine Katze gefühlt, die ihre Fänge tief in die Beute geschlagen hat, ängstlich darauf bedacht, keinen Millimeter nachzugeben, weil sie fürchtete, den Kampf mit sich selbst zu verlieren.

Doch sie sah den Schmerz in seinen Augen.

Es war nur ein kurzes Auflodern und sie war schon todmüde, aber die flackernde Glut eines Moments der Schwäche war sichtbar gewesen. Die grausige Natur des Falls hatte ihn in seiner Seele getroffen, genau wie sie auch. Er hatte sofort versucht, das Gefühl zu ersticken, und wie gewöhnlich war die Glut schnell erloschen, wieder durch Stahl ersetzt, und sie hörte mit halbem Ohr seine Anweisungen.

»Zeit, dass wir hier fertig werden, damit du noch ein paar Stunden Schlaf kriegst.«

Sie nickte, sagte nichts. Aber irgendwie wusste sie, die Verbindung, die an diesem grausigen Tatort zwischen ihnen entstanden war, würde Bestand haben.

Doch dann wirkte er wieder rein professionell; ließ die Maske des Chiefs erneut über seine Stirn sinken, als wäre er nicht daran interessiert, solche Gefühle mit ihr zu teilen. Auch ohne dass ein Wort darüber fiel, musste sie an seine invalide Frau denken, die mittlerweile seit einem Monat im Bethesda Marinehospital im Koma lag, Opfer eines Aneurysmas. Sie erinnerte sich wieder daran: Niemand kam Boutine je besonders nahe. Otto erzählte anderen nur ansatzweise, was in seinem Leben vorging, und ließ niemanden nahe an sich heran, erst recht nicht einen Neuling in der Abteilung.

Er war nur hier, um für das Bureau ein Auge darauf zu haben, wie sie sich im Einsatz schlug. Er arbeitete an einer Neuaufstellung seines Profiling-Teams und sie war ein zentraler Teil dieser Umstrukturierung. Da hatte er nicht um den heißen Brei herumgeredet und ihr genau gesagt, wie seine Pläne für sie aussahen. Nirgends in diesen Plänen war vorgesehen, seine Gefühle mit ihr zu teilen, auch wenn es spontan und unabsichtlich geschah.

Bis zu diesem Morgen hatte Dr. Jessica Coran wie am Fließband gearbeitet, in der relativ freundlichen, sauberen und sicheren Umgebung des »Ladens«. Aber jetzt sollte sie für die Nachbearbeitung dieses Falls ihr eigenes Fließband anlegen. Dieses Mal würde sie das Gesamtbild zu Gesicht bekommen. Und das tat sie; sie hatte es genau vor der Nase.

Kapitel 3

Jessica hatte die Hoffnung aufgegeben, die ausgefeilte Ausrüstung zum Sichern von Fingerabdrücken zu erhalten, die ihnen das Einsatzbüro in Milwaukee versprochen hatte. Sie hätte vielleicht einige Ergebnisse erzielen können mit einem ultravioletten Bildsystem, welches das Licht an einem Tatort 700.000 Mal verstärkte. Aber sie musste mit dem zurechtkommen, was sie hatte: Einem Stromgenerator und ein paar Scheinwerfern, die durch die Fenster und die Tür leuchteten. Sie versuchte, das Beste daraus zu machen. Außerdem standen die Chancen eher schlecht, an dem schon schwer beeinträchtigten Tatort einen Fingerabdruck des Killers zu finden. Sie hatte gesehen, dass jemand tatsächlich eines der Körperteile des toten Mädchens aufgehoben und zu ihr zurückgebracht hatte. Es lag unter ihr wie eine Opfergabe, und sehr wahrscheinlich war das nicht der Killer gewesen, sondern jemand, dem die grauenvolle Szene nahegegangen war.

Trotzdem war sie pro forma alles durchgegangen, hatte die beste Technologie eingesetzt, die ihr zur Verfügung stand, den MAGNA-Brush. Eine geniale Erfindung, klein genug, um ihn in der Brusttasche herumzutragen. Der MAGNA machte es möglich, von allen möglichen Materialien Fingerabdrücke zu nehmen, selbst wo es mit herkömmlichen Methoden nicht gelang. Die Leute vor Ort hatten ihre eigenen konventionellen Methoden, um Fingerabdrücke zu sichern, und die kamen ihr wie aus der Steinzeit vor.

Alles würde warten müssen, bis sie nach Quantico zurückkam, wo Flüssigkeiten und Flecken vom Tatort sowie Fasern identifiziert werden konnten und die DNA-Tests ihnen vielleicht weiterhalfen. Aber solche Tests dauerten ihre Zeit.

Die lokalen Gesetzeshüter wurden langsam unruhig und hätten gern den Leichnam abgenommen und die Pforten dieses Hauses des Todes verschlossen. Sie konnte es ihnen nicht vorwerfen. Es war einer dieser grundlegenden Instinkte, das Verlangen, das hilflose Opfer irgendwie wieder herzurichten, das Geschehene so weit wie möglich ungeschehen zu machen oder zumindest den hilflosen Körper des Opfers wieder in eine natürlichere Pose zu bringen; sie wollten, dass jemand ihre Wunden säuberte, nicht Maß nahm, hineinstach, Gewebeproben entnahm. Sie wollten diesen hässlichen Anblick beseitigen.

Mit dem Bedürfnis, sauber zu machen und alles aufzuräumen, ging die Illusion einher, es sei nicht nur hilfreich, sondern auch moralisch geboten.

Ihr Vater hatte ihr davon erzählt; er hatte es ungezählte Male selbst gesehen – und sie mittlerweile auch. Aber er hatte sie auch gelehrt, dass solche Bedürfnisse natürlich und gut waren, obwohl sie oft Schaden anrichteten, weil sie Beweise und die erwünschte Integrität eines Tatorts zerstörten. Diese menschlichen Bedürfnisse erfüllten für die Lebenden sicher einen Zweck; dienten dazu, die Szene »abzuschwächen«, aber glücklicherweise war Ottos Anweisung befolgt worden, vor ihrem Eintreffen die Leiche nicht anzufassen, so erstaunlich das auch schien. Wieder einmal hatte sie den Sheriff im Verdacht, einen Mann namens Stowell. Sie wusste, in den Augen dieser Männer wirkte sie hart, vielleicht sogar pervers, weil sie sie so lange davon abhielt, den Leichnam von seiner stillen Qual, seinen Fesseln und der unnatürlichen Position zu befreien. Ähnlich wie die gut gemeinte Absicht, die bei Flugzeugabstürzen so viele Probleme machte, wenn die Opfer einer brennenden Boeing 707 zu schnell aufgehoben und in ordentliche kleine Reihen gelegt wurden. Das war ein wahrer Albtraum für die medizinische Spurensicherung, wenn es um die Identifizierung der Leichen ging.

Sie war einmal zu einem solchen Fall hinzugezogen worden, bei dem schrecklichen Absturz des Pan-Am-Fluges 929. Ihr erster Fall mit einer solchen Menge an Toten, der große Anstrengungen erforderte. Verstümmelte und verbrannte Leichen zu identifizieren, abgerissene Gliedmaßen zuzuordnen, die über ein Trümmerfeld von etwa 150 Metern verteilt lagen, war an sich schon genug Herausforderung für jeden forensischen Spezialisten. Sie war damals medizinische Untersuchungsassistentin am Washington Memorial gewesen und hatte Bereitschaftsdienst, als die Nachricht von dem Absturz hereinkam. Solch eine Ankündigung ist wie die Einladung zu einer Studentenparty, und innerhalb einer Stunde waren alle Straßen, die zur Absturzstelle führten, verstopft gewesen mit Polizisten, die gerade keinen Dienst hatten, Reportern, Kamera-Crews, Voyeuren aller Art. Jeder, der auch nur die kleinste Ausrede dafür hatte, vor Ort sein zu müssen, hatte sich eingefunden, inklusive Politikern, die Interviews geben wollten.

Feuerwehrautos und Krankenwagen säumten den Weg, dazu mehr Cops als überhaupt nötig gewesen wären. Das furchtbare Geheimnis zwischen all dem Chaos und der Verwirrung war das Plündern, das normalerweise der örtlichen Bevölkerung angelastet wurde. Auf einem viel genutzten Flughafen wie Dulles International waren die Ersten vor Ort diejenigen, deren Job es war, die Überlebenden zu retten und die Leichen derer zu schützen, die gestorben waren. Beim Pan-Am-Crash waren die Ersten vor Ort die Port Authority Police gewesen, gefolgt vom WPD, den Feuerwehrmännern und den medizinischen Notfallteams, Krankenpflegern, Ärzten, Bestattern und dann den Menschen, die in der Nähe wohnten. Es wurde so viel geplündert, dass es schon nicht mehr feierlich war.

Die Verwandten der Getöteten waren in einer unmöglichen Position, kafkaesk in ihren albtraumhaften Ausmaßen. Sie wussten, die Polizei, die Feuerwehr und die Notarzt-Teams hatten so schnell wie möglich versucht, ihre geliebten Angehörigen zu retten oder zu identifizieren. Wie konnten sie da eine fehlende Brosche, einen verlorenen Diamanten oder eine verlorene Geldbörse hinterfragen? Ohne Aufzeichnungen gab es keine Möglichkeit, jemanden zu beschuldigen oder überhaupt zu beweisen, dass etwas gestohlen worden war.

Pan-Am 929 war ein »reicher« Flug gewesen. Er kam aus Buenos Aires und die Passagierliste las sich wie das Who-is-Who von Washington, D.C. Aber bis Jessica dort angekommen war, hatte es wie eine Flugzeugladung Obdachloser ausgesehen. Ein weiterer Grund, wieso man alle Leichen in eine Reihe legte, nahm sie an, damit man sie nach Ringen und anderen Dingen durchsuchen konnte – Dinge, die rasch die verbrannten und verstümmelten Überreste identifizieren konnten.

Sie hörte einen Polizisten zu einer völlig aufgelösten jungen Frau sagen: »Sie behaupten also, Ihre Mutter hat immer diesen Ring getragen? Aber können Sie beschwören, dass Sie ihn an ihrer Hand gesehen haben, als sie in Buenos Aires an Bord gegangen ist?«

Ein Erzbischof auf seinem Weg zurück nach Rom über D.C. war gefunden worden. Die Leiche war intakt, aber sein Ring aus Gold mit Amethysten und sein Kreuz waren zusammen mit seiner Rolex spurlos verschwunden. Ein Police Lieutenant hatte wütend befohlen, dass den Leichen alle Brieftaschen und Schmuckstücke unter den wachsamen Augen seiner Männer abgenommen und diese Gegenstände mit einer Nummer versehen wurden, die den Nummern entsprachen, die sie den Leichen gegeben hatten. Dann wurden sie in Plastiktüten verpackt und in die Asservatenkammer der Polizei überführt, damit nichts mehr gestohlen werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt waren Jessica und andere Gerichtsmediziner am Ort des Geschehens eingetroffen, weil sie mit dem Verkehr in der Rushhour zu kämpfen gehabt hatten. Bis dahin war nicht mehr viel des persönlichen Eigentums der Opfer übrig, und den Leichen, alle ordentlich nummeriert, aufgereiht und mit einer grünen Plane bedeckt, waren alle Gegenstände abgenommen worden, anhand derer man sie hätte identifizieren können.

Als Gerichtsmedizinerin war es Jessicas Hauptaufgabe, unkenntliche Leichname zu identifizieren. Am einfachsten, schnellsten und schmerzlosesten geschah das mithilfe persönlicher Gegenstände und der Passagierliste mit den Platznummern für jeden Fluggast. An der unberührten »makellosen« Unfallstelle konnte die Gerichtsmedizinerin Verletzungsbilder zuordnen und bewerten, wie Körperteile verteilt waren. Damit konnte sie im Detail rekonstruieren, was passiert war und wieso der Kopf des einen Passagiers abgetrennt und ein anderer völlig intakt war.

Während sie sich mit den Leichen an der Unglücksstelle beschäftigte, war Jessica schmerzlich bewusst gewesen, dass einflussreiche Leute des FBI ein Auge auf sie hatten, während sie darauf wartete, für die Akademie zugelassen zu werden. Die Tragödie von Flug 929 war so etwas wie ihre Feuerprobe geworden. Zwei der Passagiere an Bord hatten für das Bureau gearbeitet. Sie hatte die Zulassung zur Akademie erhalten, aber behielt sich das Recht vor, ein wenig Groll auf alle zu hegen, die in der ein oder anderen Form von der Tragödie profitiert hatten, inklusive ihr selbst, egal wie hochtrabend ihre Ambitionen gewesen waren.

Jetzt in Wekosha, Wisconsin, mit nur einer einzigen Leiche, um die sie sich kümmern musste, erwartete man von ihr alle Antworten. Ohne die notwendige Zeit im Labor konnte sie aber nicht mehr tun als Stowell oder Lumley: spekulieren. Allerdings war zumindest eine Sache klar. Zweifellos hatte der Killer das tote Mädchen buchstäblich »gemolken« und ihr sämtliches Blut abgezapft. Sie stellte sich eine gewaltige Vampirfledermaus vor, die an der Kehle des Mädchens hing und ihr Leben mit einer ekelhaften Zunge und Reißzähnen aufleckte.

Otto kam von draußen zurück und sah wieder kontrolliert und gefasst aus. Er streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen, da sie vor dem Hals der Leiche gekniet hatte.

»Ich hab alles, was ich brauche«, sagte sie. »Wir können gehen.«

Lumley tropfte ein wenig Spucke und Tabak aus dem Mund, als er losplatzte: »Sie meinen, wir können sie jetzt losschneiden?« Er klang sarkastisch und spröde.

Sheriff Stowell warf ihm einen strengen Blick zu.

Jessica entgegnete nur: »Ja, aber seien Sie vorsichtig und behutsam. Wir wollen ja nicht, dass dabei Wunden entstehen, die hinterher zu Verwirrung führen.«

»Wir werden vorsichtig sein«, sagte einer der Cops aus Wekosha.

Jessica ging schnell hinaus, sie konnte es kaum erwarten, die klare, kühle Luft in der freien Natur Wisconsins zu atmen. Sie füllte ihre Lunge damit, während ihre Ausrüstung und Beweisstücke ins Auto geladen wurden.

Die Stille der Nacht schien fast undurchdringlich, kroch wie kaltes Blei in ihre Knochen. Die Dunkelheit des tiefen Waldes war komplex und geheimnisvoll. Es war ein isolierter Ort, sowohl friedlich als auch gefährlich. Sie musste an die unzähligen Jägercamps denken, die sie mit ihrem Vater bei der Jagd auf Rotwild besucht hatte. Das Endergebnis der Jagd war ein ausgeweideter Kadaver, und als sie das angestrengte Stöhnen und den Lärm der Männer im Innern hörte, die das tote Mädchen von ihren Fesseln losmachten, dachte sie an den Horror, den sie irgendwie für all diese Stunden zur Seite geschoben hatte. Sie konnte Männern wie Lumley kaum einen Vorwurf machen, dass sie sie ansahen, als wäre sie ein Ghul.

»Wir können los, Jess.« Otto brachte ihren Mantel vom Wagen und legte ihn über ihre Schultern. »Du zitterst«, sagte er.

»Danke. Hab gar nicht gemerkt, wie kalt es ist.«

Wenige Augenblicke später lehnte sie sich in die weichen, sauberen Polster hinten in Stowells Polizeiwagen. Stowell griff ins Handschuhfach und bot ihr einen Schluck aus einer Flasche Jack Daniel’s an. Sie nahm zögerlich einen, aber erst, nachdem Otto zustimmend genickt hatte.

Sheriff Stowell wendete den Wagen und wäre fast in einen Graben gefahren, bevor er auf den überwucherten Waldweg steuerte, der sie wieder zum Highway bringen würde. Otto nahm ihr den Whisky ab und trank selbst zwei Schlucke, bevor er ihn mit einem »Danke« an Stowell zurückgab.

»Sheriff Stowell hat zugesagt, die grausameren Aspekte des Verbrechens unter Verschluss zu halten, Jess«, sagte Otto, während sie eigentlich nur in sanftem Schlummer wegdösen wollte, jetzt wo der Wagen sacht über den Waldweg schaukelte.

»Gut«, brachte sie heraus.

»Aber ich hab ihm als Gegenleistung was versprochen.«

Sie blinzelte, ihre Neugier war geweckt: »Er bekommt einen ausführlichen Bericht, sobald ich …«

»Er will wissen, ob sie vor der Verstümmelung sexuell missbraucht wurde.«

Stowell selbst sagte: »Candy war kein schlechter Mensch. Sie hat es nicht verdient, so zu sterben.«

»Sie kannten sie?«

»Sie hatte Vorstrafen.«

»Prostitution?«

»Ja.«

»Kannten Sie sie daher?«

»Ich hab manchmal außerhalb der Arbeit Zeit mit ihr verbracht; ihr einen Job besorgt; sie dazu gebracht, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Und jetzt das …«