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Während ihres Urlaubs auf Hawaii bittet man Gerichtsmedizinerin Dr. Jessica Coran, bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit einem Serienkiller zu helfen. Sie nennen ihn den Passat-Killer. Seine Opfer sind junge, schöne, hawaiianische Mädchen, seine Waffe eine lange, rasiermesserscharfe Klinge. Sein Vorgehen scheint überlegt, präzise, ritualistisch und beinahe religiös motiviert zu sein. Jessica hat bereits mit einigen Serienmördern Erfahrungen sammeln können, ist ihnen oft gefährlich nahe gekommen. Nun zwingen sie die Nachforschungen, tief in die Unterwelt Hawaiis abzutauchen, an Orte, wo auch ihre FBI-Marke sie nicht mehr beschützen kann …
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Seitenzahl: 668
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Die Fälle der Jessica Coran - Band 3
Robert W. Walker
übersetzt von Phillip Seedorf
Copyright © 2013 by Robert W. Walker All rights reserved. No Part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: PRIMAL INSTINCT Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Phillip Seedorf
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-445-6
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Hawaii, die Insel Oahu, am Rande von Honolulu, nahe des Kraters des Koko Head
01:35 Uhr, 12. Juli 1995
Er liefert eine schlechte Elvis-Imitation ab und schmachtet den Text von »Don’t be cruel!«, während es aus dem Lautsprecher seines Autoradios dröhnt, auf Hawaiis angesagtestem Rock-Sender, KBHT – »Hot Hawaii!« Kichernd unterbricht er sich selbst und sagt: »Zu spät, hey, Kelia Süße … zuuu spät für ›Don’t be cruel‹, oder, Baby?«
Sein eigener Kalauer und die Ironie des Elvis-Songs bringen ihn zum Lachen, er greift nach seiner Beifahrerin, hebt den entstellten Kopf von der blutverschmierten Brust und blickt in die leeren Augen des toten Mädchens, das er Kelia nennt. Einen Moment sinniert er über die Tatsache, dass ihre Hände fehlen, beide an den Handgelenken abgetrennt. Er kann sich nicht erinnern, sie abgeschnitten zu haben, oder, falls ja, ob er sich die Zeit genommen hat, die Hände auf Eis zu legen. Wenn nicht, wird er sich später darum kümmern, sobald er wieder zu Hause ist. Lopaka erinnert sich kaum an Dinge, die er während des Akts selbst tut; er kann sich die Einzelteile nur nach langen Phasen der Depression und wochenlangen Flashbacks zusammenstückeln. Wenn er sich, selbst Monate danach, die Hände des toten Mädchens ansieht, durchlebt er die ganze Erfahrung noch einmal, das Einzige, was ihm, abgesehen von einem weiteren Kill, Erleichterung von seiner Depression verschafft, wenn auch nur zeitweise. Und er glaubt nicht, dass die Götter wirklich ein Paar Hände vermissen werden.
Kelia, sagte er in Gedanken zu dem toten Mädchen neben sich, du bist so gut für mich, jetzt und für immer … ein berührender Gedanke mit Elvis als Untermalung, denkt er.
Bei Kelia hat er sich die ganze Nacht Zeit genommen und nun ist der Moment gekommen, sie auf die andere Seite zu schicken. Er ist sicher verborgen in der mondlosen hawaiianischen Nacht und dem schwarzen Innenraum des Buick. Wieder starrt er in die toten, leeren Augen. In den Abgrund zu starren, in die Iris des Todes, gehört dazu, sagt er sich.
Elvis wird abgelöst durch einen Neil-Diamond-Song: »You got the way to move me.« Der Cowboy singt im Gleichklang mit Diamond und seine heisere Stimme übertönt den sanften Gesang. »You got the way to move me … you got the way to move me … ahhhh, ahhhh, auuuuu!«
Die Passatwinde fegen schon seit Wochen über die Insel Oahu und die Hauptstadt Honolulu. Der kraftvoll streichelnde Wind, eine endlose, wirbelnde Brise, hatte hoch auf dem Gipfel des Mount Haleakala auf dem benachbarten Maui seinen Ausgang genommen und war mit voller Kraft hier angekommen. Doch dieser endlose Windhauch wird von den Touristen willkommen geheißen, denn man kann wunderbar unter freiem Himmel am Meer essen gehen, im Mondlicht am Strand und durch die Palmenalleen spazieren und sich auf dem Balkon lieben, ohne die nervenden Insekten, die vom Passat hinweggefegt werden. Es ist derselbe Wind, der ihm zu töten befiehlt, wieder und wieder.
In der trostlosen Finsternis eines mondlosen Himmels rüttelt der Wind an den Bäumen, die entlang des lavendelfarben beleuchteten Ala Moana Roadway stehen. Der Passat scheint den Wagen fast von der Straße heben und herumwirbeln zu wollen. Die Böen sind so stark, dass er beinahe den Eindruck hat, es sei der beißende Atem eines uralten, tyrannischen Inselgottes, vielleicht Kaneloa, den die christliche Tradition Satan nennt. Vielleicht will der große Kaneloa Lopaka wissen lassen, dass er seine nächtliche Arbeit gutheißt. Seelenvolle Stimmen tönen aus dem »langen« Wind, der von mauka herabweht, der Bergseite der Insel, wie immer zu dieser Jahreszeit, und sprechen deutlich von den kapus, den Tabus, die im Laufe der Zeit gebrochen wurden.
Er fährt auf die wartenden Lippen der hungrigen See zu, die die Überreste seines Opfers aufsaugen werden. Vielleicht ist es nicht der Wind, der ihm zu töten befiehlt, vielleicht ist es Gott.
Wo die kleinere Straße sich von der Interstate trennt, biegt er mit dem Wagen auf den Kalanianaole ein, laut Schild Highway 72, der Hauptverkehrsweg durch Honolulu und durch Oahus makai oder südliche Seeseite.
Zielstrebig, doch gleichzeitig wie im Traum, fährt er das steile Kliff hinauf, das über der Hanauma Bay liegt, fünfzehn Meilen südlich von Honolulu. Etwa drei Meilen weiter wird er an der südlichsten Spitze von Oahu angekommen sein, am Touristentreff namens Blow Hole, bei Tag häufig besucht, in der Nacht verlassen. Hier, am Spalt im vulkanischen Felsen, der in einem riesigen Vorsprung über den Pazifik ragt, wird er die Leiche des Mädchens ins Meer werfen.
Der Pazifik rollt mit solcher Kraft in den Eingang der Höhle dort, dass es das Wasser himmelwärts durch das sogenannte Blow Hole treibt, das dadurch wie das Atemloch eines Wals wirkt, und der beeindruckende Geysireffekt schleudert es über sieben Meter in die Höhe. Dieser spektakuläre Tanz zwischen Wasser und Land erzeugt in der Höhle eine solche Kraft, dass jedes Objekt, das man hineinwirft, wie etwa ein menschlicher Körper, sofort bis zur Unkenntlichkeit pulverisiert wird. Das zerstört auch praktischerweise in Minuten alle Beweise für sein Verbrechen, so wie früher schon.
Die Kleidung des Mädchens, zusammengebunden in einem weichen, blutigen Bündel, wird er anderswo entsorgen. Sie wird die Welt verlassen, wie sie sie betreten hat, ohne irgendetwas am Leib, das sie als die Hure und Prostituierte identifizieren konnte, die sie gewesen war. Eine Hure aus Honolulu.
»Ja«, murmelt er, während er auf den gleichmäßig asphaltierten Parkplatz rollt, von dem aus man das Blow Hole sehen kann, »der Passat hat aufgefrischt.«
Als er aus dem Auto steigt, fegt ihm der Wind zuerst wie ein verspieltes Haustier um die Beine, das ihn dazu ermuntern will, seine Arbeit zu Ende zu bringen, im nächsten Moment ist er in seinem Rücken wie die Hand eines wohlmeinenden Vaters, der ihm von hinten einen festen Schubs gibt. Wenn Kelia am Leben wäre und den Wagen umrunden würde, um zu ihm zu kommen, würde der Wind ihr Kleid so weit hochwehen, dass nichts verborgen bliebe. All die Huren auf Honolulu gestatten es dem Wind, die Ware freizulegen. Aber sie läuft nicht mehr, redet nicht mehr und schreit nicht mehr wie in der Nacht zuvor.
01:40 Uhr, Koko Head Road
Officer Alan Kaniola war auf Streife an der Waialae Road, dem alten Hauptverkehrsweg, der aus der Stadt in Richtung des südlichen Endes von Oahu hinausführt. Er hatte einen nicht besonders ungewöhnlichen Bericht über etwas erhalten, was nur ein Streit auf der Straße gewesen zu sein schien und eine mögliche Entführung. An einem Ort war ein Streit zwischen Mitfahrern in zwei verschiedenen Fahrzeugen über einen leichten Unfall ausgebrochen und an einer anderen Stelle am Ala Wai Boulevard, so der Bericht, war eine junge Frau grob und offensichtlich gegen ihren Willen in einen Wagen gezerrt worden. Man konnte davon ausgehen, dass es eine Streitigkeit zwischen Geliebten war oder eine Auseinandersetzung zwischen einer Hure und ihrem Zuhälter, aber wer wusste das schon? Es gab wenig, um den Wagen oder den Angreifer zu identifizieren, und das hörte sich nicht nach irgendeinem Zuhälter an, den Kaniola kannte. Das Auto wurde als unscheinbar beschrieben, dunkle Farbe, braun oder weinrot, leicht getönte blaue Scheiben, eine verschrammte Karosserie, aber ein getunter Motor, ein Wagen, der keine besonderen Merkmale aufwies.
Und hier hatte er also eine weinrote Limousine vor sich, einen schlecht gepflegten Buick, der in Richtung Koko Head fuhr, eine vulkanische Landzunge am südlichen Ende der Insel. Das Auto fuhr relativ schnell und irgendetwas daran weckte Kaniolas Neugier. Er gab seine Position per Funk durch und sagte der Zentrale, er folge einem verdächtig aussehenden Wagen, und während er es noch aussprach, fragte er sich, wie ein Auto wohl verdächtig aussehen konnte.
Er wurde von einem anderen Streifenpolizisten angefunkt. Thom Hilani, ebenfalls ein hawaiianischer Cop. Hilani war ein großer, kräftiger Motorradcop, und er hatte ebenfalls den zu schnell fahrenden Wagen bemerkt, der in Richtung Koko Head unterwegs war. Hilani schloss sich Kaniola an und sagte, er werde ihm Rückendeckung geben. Die Nacht war ruhig, abgesehen vom Knistern des Funkgeräts und dem Geräusch des Windes in den Kokospalmen und den Regenbäumen. Am Tag war die Strecke wunderschön, mit den blendend weißen Stränden und dem endlosen smaragdgrün-blauen Ozean unten in Hanauma Bay, die zwischen zwei Landzungen lag, die in den Pazifik ragten. Zu dieser Stunde wirkte die Strecke ganz anders. Es gab keine Straßenbeleuchtung, die dem Streifenwagen den Weg wies, während er sich den Berg hinaufschlängelte und die Lichter von Honolulu immer weiter hinter sich ließ. Kaniola mochte das Hinterland von Hawaii und kannte die Straßen in- und auswendig. Er war schon oft in den Bergen wandern gewesen.
Irgendwann verlor Alan Kaniola auf den gewundenen, aufwärts führenden Serpentinen von Koko Head den verfolgten Wagen aus den Augen. Auf dem Parkplatz, der einen Blick auf die Bucht und das berühmte Blow Hole bot, wäre er fast daran vorbeigefahren.
Er stoppte den Streifenwagen abrupt, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr gerade rückwärts, als Hilanis Motorrad um die Kurve kam und beinahe mit ihm kollidiert wäre. Hilani fluchte aus dem Funkgerät und drückte auf die Hupe. »Gib denen mal unsere Position durch, Hilani«, sagte Joe zu dem anderen Officer.
So viel zum Thema Überraschungsmoment, dachte Kaniola. Nachdem er mit Officer Hilani geredet hatte, bog Joe auf den Parkplatz, der am Tag mit Touristenbussen und Autos in allen Größen und Farben vollgestopft war, was das Parken dort zu einem gefährlichen Unterfangen machte. Hier kämpften normalerweise Busladungen von Touristen um den besten Platz am künstlich angelegten Pfad und dem Geländer, um das berühmte Blow Hole etwa 30 oder 40 Meter unter ihnen zu sehen, wobei ihre Kameralinsen von der Gischt beschlugen.
Die meisten Touristen waren schlitzäugige Japsen, lamentierte Kaniola. Wie die meisten Hawaiianer empfand er einen latenten Hass auf die Japaner und ihre Attacke auf Pearl Harbor, bei der viele Zivilisten und amerikanische Soldaten umgekommen waren. Kaniolas Großvater war eines der Opfer der Attacke gewesen, und die Geschichten, die sich um diesen Tag rankten, waren noch so frisch wie der Fang von gestern. Jungen Hawaiianern und Halb-Hawaiianern brachte man bei, sie sollten niemals den Verrat der Japaner vergessen, egal wie viel Trinkgeld sie gaben. Für hawaiianische Jungen und Mädchen, die halb Japaner waren, war das verwirrend.
Heutzutage war Hawaii so etwas wie das Rio de Janeiro der Südsee, ein Spielplatz für reiche Japaner, die jedes Jahr in größerer Zahl auf den Inseln einfielen. Japanische Paare heirateten sogar auf den Inseln und verbrachten ihre Flitterwochen dort, nur um die enormen Kosten einer Hochzeit in der Heimat zu sparen, denn wenn sie in Japan heirateten, mussten sie jedes einzelne Mitglied der häufig weitverzweigten Familien beider Partner einladen. Es war jedoch nicht unehrenhaft, nach Hawaii durchzubrennen … in letzter Zeit waren viele Grundstücke in die Fänge reicher japanischer Geschäftemacher gefallen und das hatte in großem Umfang den historisch bedingten wirtschaftlichen Würgegriff der Weißen auf die Ressourcen und den Reichtum Hawaiis abgelöst. Gleichzeitig gehörten den Ureinwohnern von Hawaii wenig oder gar keine bleibenden Werte in ihrer eigenen Heimat, sie waren größtenteils durch die englischen und amerikanischen haoles Jahrzehnte vorher entrechtet worden. Doch wie die meisten Hawaiianer gab Kaniola den Amerikanern und Briten den Vorzug gegenüber den Japsen. Alles in allem waren jedoch wenige Vollblut-Hawaiianer so glücklich, wie es in den Reiseführern und Birnbaum’s Guide to Paradise dargestellt wurde.
Viele fanden Trost im Alkohol und im Vergessen. Andere arbeiteten hart, um sich westliche Konsumgüter zu leisten, sich dem Lebensstil der Weißen anzupassen, und wenn schon nicht reich, dann wenigstens in der Lage zu sein, in einer immer gefährlicher werdenden Welt für die eigenen Kinder zu sorgen. Andere hielten den Humor der Ureinwohner, mitunter finster und bissig, für das beste Mittel gegen den westlichen Fortschritt, der seit langem Oahu und besonders Honolulu, das Miami des Südpazifik, in seinen Fängen hatte.
Alan Kaniola war zwei Jahre auf dem College gewesen, bevor er sich an der Polizeiakademie einschrieb, weil er sich selbst und seiner kleinen fünfköpfigen Familie einen gewissen Wohlstand sichern wollte. Normalerweise genoss er seine Arbeit und musste selten gegen irgendjemanden Gewalt anwenden. Die Autorität der Uniform genügte meist. Aber die Verbrechensrate von Honolulu stieg jedes Jahr und lag kaum noch unter der auf dem Festland. Wenn es nötig war, dann wurde er mit den toughesten Straßenkämpfern und den Seeleuten aus Pearl Harbor auch auf Augenhöhe fertig. Er mochte es besonders, amerikanische Seeleute und japanische Touristen festzunehmen, aber immer, wenn er das tat, rügten ihn seine Vorgesetzten, er sei zu hart mit ihnen umgesprungen. Vermutlich hatte ihn das zusammen mit seiner Abstammung darum gebracht, letzten Monat zum Detective befördert zu werden.
»Ist viel sicherer, einen Chinesen zu verhaften oder eine japanische Prostituierte«, hatte er einmal zu seinem Vater gesagt, der eine kleine Zeitung auf Hawaiianisch herausbrachte, die sich für den Schutz der Interessen der Eingeborenen und der Umwelt engagierte. Der Name war The Ala Ohana, Der Weg der Großfamilie, und sie war eine der letzten ihrer Art. Sein Vater war altmodisch und ein Träumer, immer das Gesicht dem Mond zugewandt, dachte Kaniola.
Alan nutzte den Suchscheinwerfer seines Streifenwagens, um das verlassen wirkende Fahrzeug in einen hellen Lichtstrahl zu tauchen, stieg behutsam aus dem Auto aus und bewegte sich langsam und mit der gebotenen Vorsicht auf den dunklen Buick zu. Es schien niemand darin zu sein. Thom Hilani trat auf die andere Seite des Wagens, beide Männer bewegten sich lautlos und schweigend.
Sie bemerkten gleichzeitig das Bündel verschmutzter Kleidung auf dem Rücksitz. Es waren auch mehrere dunkle Flecken auf einer Decke auf dem Beifahrersitz. Hilani wollte nach dem blutigen Bündel auf dem Rücksitz greifen, die Fenster waren weit geöffnet, aber der erfahrenere Cop hielt ihn zurück, nahm die Kleidung selbst in die Hand und roch das kupferne Aroma des purpurfarbenen Flecks. Ihm war sofort klar, es war Blut. So frisch, dass seine Hand feucht wurde. »Geh zurück zum Motorrad, Thom, und rufe Verstärkung. Ich glaube, wir haben vielleicht den Passat-Killer geschnappt.«
»Kein Scheiß, yeh, auwe, heh? Vielleicht, was? Da werden die okole-Löcher in der Zentrale aber Augen machen, verdammt, Mann!« Thom verfiel stets in den simplen Rhythmus des Pidgin-Englisch, wenn keine haole-Cops in der Nähe waren, die es hören konnten.
»Beeil‘ dich, hol‘ Hilfe, Thom. Der Kerl könnte bewaffnet sein.«
Ein Knall war zu hören und Hilani schlug so hart auf dem Boden auf, dass Alan Kaniola hören konnte, wie der Schädel seines Freundes brach. Kaniola versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der der Schuss gekommen war, aber die Schwärze um ihn herum war undurchdringlich und ihm wurde klar, dass er vor den Scheinwerfern seines eigenen Wagens als perfekte Silhouette erkennbar war. Er hechtete genau in dem Moment in Deckung, als der zweite Schuss ertönte.
Er wurde nicht getroffen. Wenn er nur an sein Funkgerät kommen und Hilfe rufen könnte. Die Entfernung zwischen dem Buick und seinem Funkstreifenwagen war zu groß. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen.
Der Killer war wohl irgendwo auf dem Fußweg zum Blow Hole. Wahrscheinlich entsorgte er die Überreste seiner Nachtschicht, eine Leiche. Guter Ort, um sich einer Leiche zu entledigen, dachte der Polizist. Verflucht cleverer Bastard. Er versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, konzentrierte sich auf den Beginn des Pfades und feuerte auf das, was der Umriss eines Mannes zu sein schien. Ein weiterer Schuss traf Kaniola in die rechte Schulter und die Wucht des Treffers riss ihm die Waffe aus der Hand. Hilflos lag er neben dem Fahrzeug des Verdächtigen, blutend und geschwächt, und umklammerte die blutige Kleidung, die er immer noch in der linken Hand hielt, presste sie in die Wunde und bemühte sich verzweifelt, nicht ohnmächtig zu werden.
Er hörte, wie sich die Schritte des Mannes näherten, und hinter der Stoßstange des Buick sah er ein Paar Stiefel mit silbernen Spitzen, die den Wagen umrundeten. Kaniola hatte kein Gefühl in der rechten Hand, trotzdem griff er nach der versteckten Waffe, die er um seinen Fußknöchel geschnallt trug. Seine Hand fühlte sich wie ein Stumpf an. Er konnte spüren, wie mit seinem Blut die Kraft den Körper verließ. Seine Fingerspitzen hatten gerade die zweite Waffe erreicht, als der Stiefel des Mannes brutal auf seine Hand trat.
Der Killer stand über ihm, grinsend, ein Lachen wie das Bellen eines Schakals platzte aus ihm heraus. Seine Gesichtszüge wirkten durch das Spiel von Licht und Schatten finster und verzerrt. Kaniola sah dem Mann in die dunklen, verstörenden Augen, und mit einem Funken Hoffnung stellte er sich vor, dass Thom aufstand, zielte und den Irren tötete. Stattdessen sah Kaniola einen Blitz, die Reflexion einer riesigen Zuckerrohrmachete. Die wuchtige Klinge schlitzte mit Leichtigkeit Kaniolas breiten dunklen Hals auf und bedeckte ihn und seinen Hemdkragen mit Blut.
Der Killer riss Kelias blutige Kleidung aus der verkrampften Faust des toten Cops und legte sie zusammen mit der großen Zuckerrohrmachete in die Sicherheit seines Wagens zurück. Er konnte nicht wissen, wie viele weitere Bullen unterwegs waren. Also sprang er schnell in den Wagen und steuerte ihn mit durchdrehenden Reifen vom Parkplatz. Die toten Cops überließ er ihren Göttern. Er hatte nicht gewollt, dass es so weit kam, aber sie hätten ihn nicht hierher verfolgen sollen. Sie hatten sich das selbst eingebrockt, sagte er sich.
Er drehte das Radio auf und suchte einen Sender, der sanfte hawaiianische Volksmusik spielte, so beruhigend und so real. Er vergaß den Vorfall mit den beiden Polizisten und durchlebte stattdessen in seinem Geist erneut, wie er das Mädchen hatte leiden lassen für das, was sie getan hatte.
Die große Zuckerrohrmachete war vor dem Glitzern ihrer kleinen, schwarzen, hawaiianischen Augen brutal, gigantisch und glänzend gewesen. Jetzt war kein Licht mehr in diesen Augen, nichts übrig von ihrem geschmeidigen kleinen Körper, den Beinen mit der samtweichen Haut oder dem frivolen Mundwerk, alles dank der See.
Nur noch eine Handvoll mehr, ermahnte er sich schweigend.
Aber ich will sie erlösen aus der Hölle und vom Tod erretten …
Hosea 13,14
Am folgenden Tag vor der Küste von Maui, am Unterwasserkrater des Molokini …
Schulen dicker kalas und malolos schossen zwischen den blauen Feuer- und Fächerkorallen hindurch, und als Jessica einen Finger ausstreckte, schlüpfte der wunderschöne, sternförmige kihikihi unter die hellsilbernen und gelbgoldenen Korallen, die in dem durchs Wasser gebrochenen Licht wie in einem Unterwasserwald leuchteten. Es gab etwa 650 verschiedene Fischarten in den Gewässern um Hawaii, und Jessica hatte das Gefühl, sie hatte alle davon heute Morgen gesehen, als sie vom Auslegerboot Ku’s Vision in den berühmten Molokini-Krater getaucht war, direkt südwestlich vor der Wailea-Küste auf der Insel Maui. Hier tauchte Jessica mit der vor Ort geliehenen Taucherausrüstung und ihr Geist war frei, ihr Körper fühlte sich lebendig an. Es war das Gefühl völliger Schwerelosigkeit und absoluter Freiheit, das sie begeisterte, zusammen mit der psychologischen Distanz von ihrer normalerweise finsteren Arbeit als Forensikerin beim FBI. Sie brauchte und wollte diesen Abstand. Sie war schon auf den Bahamas, den Florida Keys und Aruba tauchen gewesen, aber es gab nicht viel Vergleichbares wie in einem sanft gerundeten alten Vulkankrater zu tauchen, der unter dem Ozean verborgen war, um ein wenig Abstand von sich selbst zu gewinnen und die enorme Vielfalt des Lebens auf der Erde wahrzunehmen.
An der Oberfläche bildete eine halbmondförmige Spitze des Kraters die Insel Molokini. Weniger als eine Meile lang, war sie ein maritimer Zufluchtsort und ein beliebter Hafen für Taucher. Niemand, nicht einmal der neue Chef der Abteilung IV, Paul Zanek, konnte sie hier erreichen. Sie hatte sogar Jack Westfall aus ihren Gedanken verbannt, einen hart arbeitenden FBI-Neuling, für den sie Gefühle entwickelt hatte, kurz bevor er sich umbrachte. Jacks letzte Unterhaltung mit ihr war ein Hilfeschrei gewesen, den sie nicht gehört hatte.
»Warst du je in den Smokeys?«
»Den Smokey Mountains?«, hatte sie gefragt.
»Da kann man verloren gehen, richtiggehend verschluckt werden.«
»Ich gehe gern jagen und tauchen, Jack, und wenn ich nicht weg kann, dann auf den Schießstand.«
»Ich versuche wenigstens einmal im Jahr dahin zu kommen, in die Berge, meine ich …«, hatte er gesagt. »Dort gibt es das blaueste Blau.«
»Nimm mich das nächste Mal mit«, hatte sie ihn aufgefordert.
»Da kann man lebendig verschluckt werden. Man muss den Weg kennen. Menschen gehen jedes Jahr in den Bergen dort verloren. Meistens Kinder. Sie werden einfach … verschluckt.«
»Ich bin ständig mit meinem Dad jagen gegangen«, hatte sie ihm versichert. »Ich würde mich nicht verlaufen.«
»Ich kenne die Gegend, Jess. Und ich sage dir, jeder – wirklich jeder – kann sich dort verlaufen.«
Er hatte nicht über die verdammten Berge geredet, sondern über etwas Dunkleres, etwas Beängstigenderes, aber sie hatte es nicht gehört. Dann war es zu spät gewesen.
Hier war es ihr gelungen, Jack Westfall und Chief Zanek und alle anderen zu vergessen, sie hatte den Blick einfach durch diese Welt des Lichts und der Dunkelheit unter Wasser schweifen lassen, eine Welt, die vom selben Überlebensinstinkt regiert wurde wie die der Landtiere. Aber hier wirkte sogar der Kampf zwischen Jäger und Beute auf Leben und Tod ein wenig weicher, sanfter.
Sie sah die lebenden dünnen Polypen, die in ganzer Länge ausgestreckt nach Nahrung suchten und sich zwischen den Korallen eingenistet hatten. Die unglaublich vielen Farben, die von so vielen verschiedenen Meereslebewesen stammten, blendeten sie beinahe.
Zwischen den Hirnkorallen und den roten Korallen flitzten die Fische hindurch, tauchten hinab, stiegen wieder auf und fielen erneut, wie Vögel im Flug, in ihren vertrauten Korallenwald. Ein röhrenförmiger, schlanker Trompetenfisch – ein Einzelgänger – schwebte knapp über dem Grund, also näherte sich Jessica, um einen genaueren Blick auf ihn zu erhaschen. Neben einer Gruppe von Seefächern erhob sich eine vorher unsichtbar im Sand vergrabene Flunder und schwamm davon, aufgescheucht von dem Trompetenfisch oder von ihrer Gegenwart, das konnte sie nicht genau sagen. Wie ein Blatt in der Strömung des Ozeans fand die Flunder einen neuen Platz auf dem Meeresboden, bohrte sich in den Sand und verschwand wieder.
Ein Paar Meeresschildkröten schwebten vorbei und sie wandte ihre Aufmerksamkeit diesen verspielten Kreaturen zu. Sie schwammen wie in einem Ballett in perfekter Harmonie umeinander, ihre Bewegungen synchron wie bei einem Paar Delfinen.
Jessica wurde ein Teil des Lebens in dieser neuen Umgebung und ließ sich sanft von der Brandung hin- und herwiegen, die in das Kraterriff strömte und wieder hinaus.
Der Ozean war hier eine sonnendurchflutete Welt, selbst in zwölf Metern Tiefe, wo die Korallen das Licht einfingen und einem Regenbogen warmer Farbtöne reflektierten. Der große Krater, dessen Umrisse in Sonnenlicht und Schatten unter ihr erkennbar waren, wirkte wie ein kosmisches Symbol des nie endenden Kreislaufs des Lebens, ein Kreis ohne Anfang oder Ende, und doch gab es immer einen neuen Anfang und ein neues Ende, unablässig und für immer.
Wenn Jack Taucher statt Wanderer gewesen wäre. Wenn er nicht so viele ungelöste Fälle von verschwundenen Kindern in sich hineingefressen hätte. Eine Welt voller Wenns wartete auf sie an der Oberfläche.
Die Welt schloss wieder zu ihr auf, in dem Moment, als Dr. Jessica Coran in ihr Hotelzimmer im Wailea Elua Inn zurückgekehrt war, wo der Rezeptionist ihr eine kryptische Nachricht übergab, die folgendermaßen lautete: Dringend. 1-555-1411 anrufen.
Sie sah, dass es die Nummer des örtlichen FBI-Büros war. Sofort war ihr klar, irgendetwas musste vorgefallen sein. Sie hatte absichtlich kein Fernsehen geschaut oder Radio gehört. Was die Nachricht bedeuten mochte, wusste sie nicht, aber sie vermutete, irgendwie steckte Paul Zanek dahinter. Sie nahm sich Zeit beim Duschen und trocknete sich gemächlich die Haare. Dann zog sie legere weiße Hosen und einen babyblauen Pullover an, bevor sie zurückrief. Zanek, das FBI und der Rest der verdammten Welt konnten ruhig eine Stunde warten. Sie hatte noch mehrere Tage Urlaub, wieso also ließ man sie verflucht noch mal nicht einfach in Ruhe? Außer es war nicht Paul Zanek, sondern Alan Rychman, der versucht hatte, sie zu erreichen, um ihr zu sagen, dass er in einem Flieger saß und zu ihr unterwegs war. Konnte das sein?
Zwischen Freude und Ärger hin- und hergerissen wählte sie endlich die Nummer und landete in der Warteschleife. Sie fluchte und hätte fast aufgelegt, als sie eine Reihe von Klicks hörte. Man stellte sie zum Hauptgebäude des FBI auf Oahu in Honolulu durch und eine grummelige Stimme durchbrach die lange Stille und stellte sich als Chief Inspector James Kenneth Parry vor.
Chief, dachte sie, und war beeindruckt, dass sie der Leiter des Büros persönlich angerufen hatte. »Also, was kann ich für Sie tun, Inspector Parry? Sie haben ja mich angerufen, wenn Sie sich erinnern.«
»Wir wurden vor einiger Zeit informiert, dass Sie hier bei uns auf den Inseln sind, und als Sie nicht reagiert hatten …«
»Ich habe die Nachricht erst heute erhalten.«
»Wie auch immer, wir hatten schon nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
»Gut, dann lege ich jetzt auf und widme mich wieder meinem friedlichen und dringend nötigen Urlaub, wenn Sie nichts dagegen haben, Inspector?«
»Gestern wurden auf Honolulu zwei Cops ermordet«, sagte er mit Nachdruck.
Sie holte tief Luft. »Gab es einen Grund dafür oder war das ein Zufall?«
»Es schien auf den ersten Blick wahllos, aber es gibt Anhaltspunkte, die etwas anderes nahelegen.«
»Ach?«
»Zwei Officer, die ein verdächtiges Fahrzeug verfolgten, hatten sich über Funk gemeldet. Beide Officer wurden vor ihren Fahrzeugen erschossen und Reifenspuren wiesen auf einen dritten Wagen hin. Auf jeden Fall ist unser erfahrenster Forensiker wegen eines dreifachen Bypasses im Krankenhaus, und als wir die Akten durchgingen und in Washington um Hilfe baten, na ja, da gaben die uns Ihren Namen. Die sagten, Sie wären in der Nähe.«
»Haben Sie nicht eben gesagt, Sie hätten seit Tagen Nachrichten für mich hinterlassen. Was denn nun, Inspector?« Zanek, dachte sie, wütend darüber, dass er Parry gesagt hatte, wo sie war.
»Sorry«, sagte er. »Ich hab mich nicht deutlich ausgedrückt. Ich habe schon seit geraumer Zeit versucht, Ihre Unterstützung zu bekommen, Dr. Coran.«
»Egal«, sagte sie und atmete tief durch. »Sehen Sie, es wird einige Zeit brauchen, bis ich dort sein kann. Zwei Stunden Fahrt bis zum Flughafen auf der anderen Seite der Insel und Gott weiß, wann die Flüge gehen, aber mit meiner Dienstmarke komme ich vermutlich in einen Flieger nach Oahu. Schicken Sie jemanden zum Flughafen, der mich abholt?«
»Das kriegen wir besser hin. Wir können Ihnen ein Flugzeug zum Kahului-Airport schicken, das dort auf Sie wartet.«
»Nein, hören Sie. Ich hab sowieso einen Rückflug nach Honolulu gebucht und kann den genauso gut dafür verwenden. Das wird auch nicht viel länger dauern und so sparen wir den Steuerzahlern ein bisschen Kerosin.«
»Wenn Sie wollen. Auf jeden Fall wird Sie jemand in Honolulu am Flughafen treffen, und danke, Dr. Coran.«
»In der Zwischenzeit fasst niemand die Leichen an. Verstanden?«
»Sie sind im Leichenschauhaus unter Bewachung.«
»Dann sehen wir uns, wenn ich ankomme.«
»Es tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Urlaub störe, Dr. Coran, aber wir haben niemand anderes, an den wir uns wenden können.«
»In ganz Oahu und Honolulu? Was ist mit der Navy?«
»Niemand, der Ihre Spezialkenntnisse hat, Doktor, nein.«
»Was ist mit der Bundespolizei? Die müssen doch einen guten Forensiker haben.«
»Wir versuchen, das um jeden Preis im eigenen Haus zu halten.«
»Verstehe.«
Sie fand ihn ein wenig geheimnistuerisch, bis er sagte: »Und Polizistenmörder hasse ich wie die Pest.«
»Geht mir auch so. Dann sehen wir uns vermutlich irgendwann im Morgengrauen.«
Sie wollte gerade auflegen, als er noch hinzufügte: »Wir haben noch ein Problem, das die Stadt und die Insel heimsucht, falls Sie vielleicht davon gehört haben?«
»Nein, ich habe nichts gehört. Ich habe versucht, ein wenig abzuschalten: Kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung … ich war meistens nur tauchen und shoppen und habe mich entspannt.«
»Na ja, Doktor, es gab einige Entführungen. Niemand ist wieder aufgetaucht.«
»Entführungen? Was für Entführungen? Meinen Sie Kinder?«
»Könnte man sagen … einige waren zumindest noch halbe Kinder.«
»Mädchen?«
»Die örtliche Presse nennt ihn den Passat-Entführer. Auch wenn niemand glaubt, dass er sie irgendwo sammelt, einige sind jedenfalls der Ansicht, dass er eigentlich der Passat-Killer ist.«
»Unmöglich, so etwas geheimzuhalten, auch wenn es um die Ermittlungen geht, ich weiß.«
»Das ist schon früher passiert, auf die gleiche Art. Das Komische ist, dass wir keine einzige Leiche gefunden haben.«
»Dann wissen Sie nicht sicher, ob sie wirklich tot sind, und selbst wenn Sie den Kerl schnappen, brauchen Sie ein paar verdammt gute Indizien, damit man ihn ohne Leiche verurteilen kann.« Er schwieg einen Moment und ihr wurde klar, dass sie ihm gerade genau das erzählt hatte, was er schon wusste.
»Ich glaube, man kann wohl davon ausgehen, dass die Vermissten in dem Fall auch tot sind, Doktor. Auf jeden Fall ist der Mann sehr gründlich. Lässt keine Spuren von sich oder seinen Opfern zurück, überhaupt keine … bis vor kurzem.«
»Dann haben Sie etwas, womit man arbeiten kann, gut.«
»Wir denken, dass der Tod von Hilani und Kaniola damit zu tun haben könnte.«
»Ihre beiden Cops? Wieso glauben Sie das?«
»Das sage ich lieber nicht auf einer unverschlüsselten Leitung.«
»Okay, verstanden. Also was soll das heißen, dass er bisher keine Spuren hinterlassen hat? Haben Sie irgendwelche Hinweise?«
»Wie gesagt, will ich das lieber nicht über eine ungesicherte Leitung besprechen, Dr. Coran.«
Ein wenig paranoid, dachte sie. »Dann bis bald, Inspector Parry.«
Die Überfahrten von einer Insel zur nächsten zogen sich endlos hin, und Gepäck durch die Gegend zu schleifen und stundenlang zu reisen, statt die kostbaren Urlaubstage zu genießen, war nicht gerade ihre Vorstellung von Spaß, aber andererseits war sie ja nicht mehr im Urlaub. Zum Glück liebte sie das Fliegen und die alten Vögel von Aloha Airlines, wie die 737, in der Jessica nun saß, ratterten und hüpften durch die Aufwinde, dass man wusste – und zwar die ganze Zeit –, man war in der Luft. Parrys Jet war vermutlich ein Lear-Jet, und auch wenn sie die nicht schlecht fand, bevorzugte sie doch etwas, das eher der holprigen Fahrt auf einem Heuwagen entsprach, als sich zu fühlen wie eine Sardine in einem Greyhound-Bus am Himmel.
Das Flugzeug flog niedrig aus Richtung Osten auf Oahu zu, derselbe Kurs, den ihrer Vorstellung nach die japanischen Bomber genommen hatten, die die Schofield Barracks und Pearl Harbor bombardiert hatten. Lange bevor sie den Flickenteppich Pearl Harbor mit seinen Reihen von Kriegsschiffen weit unter sich sah, erblickte sie die riesige und weit ausgedehnte Metropole Honolulu, die Reihen protziger Hotels an den Stränden. Sie bemerkte winzige Surfbretter, Jachten und Segelboote vor der Küstenlinie von Waikiki. Diamond Head sah aus diesem steilen Winkel nicht anders aus als irgendein anderer Bergkrater. Es gab riesige Gebirgszüge auf beiden Seiten der Insel, dazwischen ein üppiges, tropisches Tal, und die Küstenlinie war – wie auf Maui – der teuerste Landstrich, auf dem sich alle Investments von außerhalb versammelt hatten.
Zwei Millionen Jahre bevor Oahu zur Perle des Pazifiks und Tummelplatz der Millionäre der Welt geworden war, bestand es aus zwei getrennten Inseln, mit dem Kooalu-Vulkan im Osten und dem Waianae-Vulkan im Westen. Jetzt waren diese beiden einst sehr aktiven Vulkane zwei stille Berggipfel, die nur die Mitarbeiter der US-Forstbehörde, eine Handvoll Wanderer, ein paar Soldaten und Angehörige der Luftwaffe bei Manövern zu Gesicht bekamen, und vielleicht der Passat-Killer.
Wie all die hawaiianischen Inseln war Oahu vor über tausend Jahren von den Marquesanern besiedelt worden, die den Pazifik in großen Ausleger-Kanus mit Strohdächern befuhren. Es folgten tahitische Immigranten, und als sie sich mit den Marquesanern vermischten, entstand eine eigene hawaiianische Kultur mit eigener Sprache, eigenen Traditionen und Ritualen.
Wie in allen Kulturen gab es finstere Götter, die einen Großteil des dörflichen Lebens und Sterbens kontrollierten. Es gab ein kompliziertes System von kapus oder Tabus, mit aufwendig gefertigten kahillis – aus Bambusstangen mit kreisförmig angeordneten Federn an der Spitze, die zu besonderen Gelegenheiten herumgetragen wurden – und kunstvoll gefertigte leis, deren Aussehen strikte Abgrenzung in der Gesellschaft symbolisierten, genau wie der elegante, mit Federn geschmückte Kopfschmuck der Aliʼi oder des Adels, die Monarchien jeder Insel symbolisierte. Ständig gab es kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Insulanern, Scharmützel und Menschenopfer, während die verschiedenen Häuptlinge versuchten, ihre Macht auszudehnen.
Seitdem sie auf den Inseln angekommen war, hatte Jessica eine Menge über die reichhaltige Geschichte gelernt, die stets als abwechslungsreich und außerordentlich bezeichnet wurde, ob vom Busfahrer, Portier, dem Kellner oder Fremdenführern. Sie hatte erfahren, dass im 18. Jahrhundert König Kamehameha, ein Häuptling der großen Insel Hawaii, einen ehrgeizigen Kriegszug gestartet hatte, um all die Inseln zu erobern. Er nahm Oahu 1795 ein, in einer der letzten und blutigsten Schlachten. Der Häuptling hatte lange Zeit einen schwunghaften Feuerwaffenhandel mit den westlichen Schiffen betrieben, die in Hawaii anlegten. Schießpulver und Steinschlossgewehre waren die neue schwarze Magie des Königs gewesen.
Als die Inseln unter einer Knute vereint waren, witterten die Händler reiche Erträge in Honolulu Bay, dem größten Tiefwasserhafen der Inselgruppe. Schiffe kamen von überall auf der Welt, besonders aus Europa und Amerika, und 1820 landeten Missionare aus Neuengland, begierig, die Eingeborenen zu zivilisieren und zum Christentum zu bekehren. Bald danach folgten die großen Walfangschiffe, gefüllt mit raubeinigen, streitlustigen Seeleuten. 1840 verfügte König Kamehameha III., dass Honolulu auf Oahu – der Versammlungsplatz – die dauerhafte Residenz des bis dahin nomadischen Königshofes sein sollte.
Es dauerte nicht lange, bis die adligen Damen von Hawaii Reifröcke trugen und die Männer Schulterstücke. Paläste und Sommerwohnsitze, in der Größe eines Herrenhauses in Georgia wurden in der feuchten Hauptstadt der Insel errichtet. Auf den Rasen spielten dieselben Hawaiianer Cricket und veranstalteten Abendkonzerte.
Wie immer bei einer solchen Vergangenheit hatte die Zeit alles bis auf ein paar wenige Überreste dieses Lebens ausgelöscht, sodass der Reichtum von Honolulu heute auf ganz andere Weise zur Schau gestellt wurde. Es sah für die meisten eher wie Miami in Florida aus, wenn man die grandiose Kulisse der vulkanischen Bergketten ignorierte, die es einrahmten. Das Flugzeug drehte bei und flog Richtung Osten, es hatte eine Kurve von 180 Grad beschrieben. Sie befanden sich im Landeanflug.
Jessicas Knöchel pochten, als das Flugzeug so schnell an Höhe verlor. Das Gefühl erinnerte sie an die Narben, die sie dort trug, da beide Achillessehnen von einem irren Killer durchtrennt worden waren, den sie hier hatte vergessen wollen. Ein Jahr lang hatte sie nun schon einen Stock benutzen müssen, aber dank der bemerkenswerten rekonstruktiven Chirurgie musste sie sich immer weniger auf das verdammte Ding stützen. Sie glaubte sogar insgeheim, dass es langsam an der Zeit war, den Stock loszuwerden.
Trotzdem hatte sie ihn als eine Art Krücke auf ihre Reise mitgenommen, weil sie damit gerechnet hatte, dass die alten Wunden noch schmerzen würden. Außerdem hing sie irgendwie an dem Stock, denn sie wusste, dass er ihr die Männer ein wenig vom Hals hielt, ein Vorteil, wenn man es mit einer neuen unbekannten Situation zu tun hatte, wie heute. Der Stock verlieh ihr ein etwas doktorhafteres Aussehen und sie fühlte sich ein wenig mehr so, wie andere Menschen sie sahen, wenn sie von ihren Leistungen bei früheren Fällen von Serienkillern erfuhren. Viele erwarteten so eine Art Medium, was sie sicher nicht war. Eigentlich brauchte sie keine Krücke, versicherte sie sich, aber ansonsten sahen die Menschen nur das Oberflächliche: Eine große, schlanke Frau mit wallenden kastanienbraunen Haaren und einer Figur wie eine Sanduhr statt eine ausgezeichnete Gerichtsmedizinerin, deren Ermittlungserfolge beim FBI bereits in den Lehrbüchern der Akademie aufgeführt waren. Außerdem wirkte der Stock fast schon tröstlich für sie, wie ein alter Freund. Er hatte einen eigenen Charakter entwickelt und war ein Geschenk von den Menschen gewesen, die sie am meisten schätzte und die alle im Labor in Quantico arbeiteten.
Das Flugzeug landete mit mehreren Hüpfern, die es durchschüttelten. Ein ständiger Wind wehte hier über der Rollbahn, aber sie waren kurz darauf mit einiger Geschwindigkeit auf dem Weg zum Terminal. Jessica wartete, bis all die anderen Passagiere ausgestiegen waren, bevor sie aufstand und sich auf den Weg in Richtung Ausgang machte.
Sie fragte sich, was wohl König Kamehameha von Reisen durch die Luft gehalten hätte. Gerade als sie mit ihrem Handgepäck und dem Stock, der auf den Boden klopfte, an der Kabinentür angekommen war, trat der Pilot aus dem Cockpit und lächelte sie freundlich an.
»Entschuldigen Sie die harte Landung.«
»Reden Sie keinen Unsinn«, erwiderte sie. »Ich habe jede Sekunde davon genossen.«
Der Pilot sah ihr leicht verdutzt hinterher, als sie mit ihrem Stock die Gangway hinab verschwand.
… denn nimmer ist Weibern zu trauen.
Homer, Die Odyssee
Der Flughafen von Honolulu war riesig und es herrschte Hochbetrieb. Reisende aus allen Teilen der Welt machten Hawaiis Ruf als Umschlagplatz des Pazifik alle Ehre. Abgesehen von den leis, die den Touristen vom Festland um den Hals gelegt wurden, und den vielen »alohas«, die sie um sich herum hörte, hätte man auch im OʼHare-Flughafen in Chicago sein können, aber ein kurzer Blick durch die Fenster auf die sich auftürmenden, stufenförmigen grünen Berge erinnerte sie an das Inselparadies vor den Türen des Flughafens. Ein großer Korridor des Terminals, durch den sie ging, verlief an der frischen Luft, sodass man nach draußen ging, um zur Gepäckhalle zu kommen. Aus diesem Grund war es ein sehr angenehmer Flughafen. Sie kam unterwegs an einem McDonaldʼs vorbei und überlegte, ob sie Zeit für einen schnellen Happen hatte, als sie eine männliche Stimme ihren Namen rufen hörte: »Dr. Coran! Dr. Jessica Coran?«
Sie drehte sich um und rechnete damit, den Leiter des FBI-Büros, Jim Parry, in Anzug und Krawatte dastehen zu sehen. Stattdessen trug der Mann, der ihren Namen gerufen hatte, ein buntes Hawaiihemd. Sein Gesicht war tiefbraun, die Gesichtszüge des Hawaiianers mit Sorgenfalten durchzogen, die für diesen Volksstamm eher uncharakteristisch waren, nach dem, was sie auf Maui gesehen hatte.
»Mein Name ist Joseph Kaniola. Mein Sohn wurde zusammen mit Officer Hilani ermordet.«
»Woher wussten Sie, dass ich …?«
»Ich bin Journalist. Es ist mein Job, so etwas zu wissen. Ich will nur wissen, ob Sie den Bastard kriegen werden, der meinen Jungen, Alan, getötet und meinen Enkelkindern den Vater genommen hat?«
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun«, sagte sie und umklammerte ihren Stock fester.
»Was ich so gehört habe, ist das einiges. Das ist alles, worum ich bitte.«
»Kaniola!«, rief ein zweiter Mann, der den trauernden Vater kannte. »Ich hab doch gesagt, lassen Sie uns unseren Job machen.« Der förmlicher aussehende Mann mit Anzug und Krawatte hielt Jessica die Hand hin und schüttelte ihre herzlich. »Ich bin Parry.«
»Schön, Sie zu treffen, Inspector.«
»Parry«, unterbrach Kaniola, »versprechen Sie mir, dass Sie nicht zulassen, dass die Cops in Honolulu die Sache unter den Teppich kehren!«
»Keine Chance, Mr. Kaniola. Aber geben Sie uns bitte die Zeit und den Freiraum, den wir brauchen, um uns an die Arbeit zu machen.«
»Mein Junge war da an etwas dran auf dem Koko Head. Er war ein schlauer Junge und er hatte nichts mit Drogen zu tun, wie es einige behauptet haben.«
»Wir kennen Ihre Meinung dazu, Mr. Kaniola … und jetzt, bitte …« Parry gab zwei Männern einen Wink, indem er in ihre Richtung sah, und sie intervenierten und geleiteten Kaniola davon. Der Protest des älteren Hawaiianers stieß auf taube Ohren und nur ein paar neugierige Passanten sahen ihn an.
»Ich bin – verdammt noch mal – nicht als Journalist hier! Ich bin als Vater hier!«
»Er hatte sicher noch keine Zeit, den Schock zu verarbeiten«, sagte Jessica zu Parry.
»Ich würde ihm ja noch länger die Hand halten, aber wer hat schon die Zeit dafür? Außerdem müssen wir unter vier Augen miteinander reden.«
Sie sah sich um. »Woran hatten Sie da gedacht?«
Er nahm sie mit in einen Bereich, der als privat gekennzeichnet war und wo ein paar Stewardessen herumstanden, Kaffee tranken und miteinander plauderten. Nachdem er ihnen seine Dienstmarke gezeigt hatte, bat er sie, ihnen kurz den Raum zu überlassen. Sie gehorchten mit ein paar verstohlenen Blicken und etwas Gemurmel. »Wir haben hier ein paar politische Probleme, wie in jeder größeren Stadt. Ich will nur, dass Sie wissen, unter welchem Druck wir von den kanakas stehen und weiter stehen werden.«
»Kanakas? Sie meinen die Hawaiianer?«
»Sie protestieren mittlerweile lautstark gegen den doppelten Standard, der ihrer Meinung nach herrscht …«
»Ihrer Meinung nach?«
»… wonach die Cops hier arbeiten, einer für Weiße und ein anderer für jede andere Rasse oder Gemischtrassige. Und jetzt, wo zwei hawaiianische Cops kaltblütig erschossen wurden … na ja, hier bricht bald die Hölle los und die Zeitung von Kaniola steckt mittendrin. Wie immer.«
»Der Bezirk und der Staat haben dasselbe öffentliche Image wie das Police Department von Honolulu?«
»In gewissem Umfang, leider ja.«
Sie musterte Inspector James Parry, einen großen Mann mit sandfarbenen, blonden Haaren, der es irgendwie geschafft hatte, in dieser sonnendurchfluteten Welt relativ hellhäutig zu bleiben. Sie vermutete, dass er erst seit kurzem der Chief des FBI hier war, denn er übernahm anscheinend immer noch einige Aufgaben selbst, wie sie vom Flughafen abzuholen. Er war auf nordische Art gutaussehend, glattrasiert, und nur die lockere Krawatte wirkte etwas nachlässig. Das charismatische Lächeln, das sich nur kurz zeigte, hätte sicher charmant gewirkt, wäre es von längerer Dauer gewesen und die Umstände anders.
Nachdem er ein paar Fotos aus der Tasche gezogen hatte, breitete er sie auf einem Tisch aus. Es waren Bilder junger Insulanerinnen. Alle lächelten breit in die Kamera, alle wirkten lebhaft und blinzelten wegen der hellen Sonne oder dem Blitzlicht. Alle hatten dunkle Haare, hübsche Gesichter, strahlend weiße Zähne, gebräunte glatte Haut. Eine sah so gesund und sorglos wie die andere aus. Jede hätte als Model für die Kataloge von Enoa oder irgendeiner anderen der dutzenden von hawaiianischen Reisegesellschaften arbeiten können. Es waren insgesamt neun Fotos.
»Sieben verschwanden letztes Jahr spurlos und dann hörte es einfach auf. Keine von ihnen wurde bis heute irgendwo gefunden.«
»Also gab es zwei in diesem Jahr?«
»Ja, das stimmt leider. Es fiel mit der Rückkehr des Passatwindes zusammen.«
»Aber Sie haben eine der Leichen gefunden, oder?«
»Na ja, nicht so ganz, nein.«
»Was meinen Sie mit nicht so ganz?«
»Wir haben ein … ein Stück, eine Gliedmaße …«
»Und«, sie holte tief Luft, »welchen Teil der Leiche haben Sie denn genau?«
»Den Großteil eines Arms.«
»Den Großteil eines Arms?«, wiederholte sie.
»Die Hand ist am Handgelenk abgetrennt.«
»Also haben Sie natürlich an mich gedacht«, sagte sie beim halbherzigen Versuch, witzig zu sein.
Er biss sich auf die Innenseite der Wange und sein Blick wanderte nach unten auf ihren Stock. »Ich versuche schon seit langem, D.C. davon zu überzeugen, jemanden wie Sie hier herzuschicken, aber da wir bisher kein physisches Beweisstück hatten, na ja, haben Ihre Vorgesetzten widerstrebend abgelehnt.«
Sie kratzte sich an der Schläfe, schnappte sich ihren Stock und stand auf, um hin- und herzugehen.
»Das hilft mir beim Nachdenken. Wo wurde der Arm gefunden?«
»Beim Blow Hole.«
»Wie bitte?«
»Das ist eine beliebte Touristenattraktion, die seit dem Fund vorübergehend abgesperrt ist.«
»Blow Hole?«, wiederholte sie.
Er erklärte den Namen und wo es lag. »Und an dieser Stelle wurden auch die Leichen von Hilani und Kaniola gefunden.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein paar Jugendliche, die da hochgefahren waren, um ein wenig im Auto rumzumachen. Das war in derselben Nacht. Sie berichteten, sie hätten einen Wagen in die entgegengesetzte Richtung davonjagen sehen, in Richtung Stadt. Auf das Nummernschild haben sie nicht geachtet und nichts gesehen, was den Wagen irgendwie hätte herausstechen lassen. Sie sahen die beiden uniformierten Männer im Licht der Scheinwerfer von Kaniolas Streifenwagen.«
»Beide vor Ort gestorben?«
»Ja.«
»Und der Arm? Haben den auch die Jugendlichen gefunden?«
»Nein, den fand man später.«
»Verstehe. Sie haben ihn gefunden … während Sie das Gebiet abgesucht haben?«
Er zögerte. »Wir sind ausgeschwärmt. Es gab keine Spuren, abgesehen von den Reifenspuren, die wir fotografiert hatten. Meine Männer durchkämmten die Gegend. Ich bin den Pfad zum Blow Hole hinabgegangen. Ich glaubte, der Kerl würde uns keine einzige Spur hinterlassen, gar nichts.«
»Und dann haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, er war nicht auf den Felsen. Ich schaute genau an dieser Stelle nach unten, sah nichts als den Geysir und ging dann wieder nach oben. Ich überlegte, ob der Killer wohl hier seine Leichen entsorgte, aber ich konnte es an nichts festmachen.«
»Wer hat dann den Arm entdeckt?«
»Bis dahin war es beinahe acht Uhr, also räumten wir den Bereich und ließen den ersten Touristenbus auf den Parkplatz fahren.«
»Ich verstehe.«
»Touristen – sind das größte Geschäft hier auf der Insel, wissen Sie, und, na ja, als sie zum Blow Hole gingen, um zu sehen, wie es Wasser speit … nun, Sie können sich den Rest ausmalen.«
»Das Teil kam aus dem Blow Hole geschossen?«
»So in etwa. Es landete auf den Felsen daneben. Wir mussten eine Sicherheitsleine anbringen und einen Kletterer holen, der den rutschigen Hang hinabkletterte.«
»Also könnte der Rest der Leiche und vermutlich auch all die anderen, in dieser Unterwasserhöhle beim Blow Hole begraben sein?«
»Vermutlich mittlerweile zu einer Art Gelee pulverisiert, aber wir hatten wenigstens einmal Glück.«
Sie zeigte auf die Fotos. »Also welches von den Mädchen ist das letzte, das verschwunden ist?«
»So sollte das nicht ablaufen; Sie sollten mir sagen, wer es ist, erinnern Sie sich? Ich gebe Ihnen Akten über jede der Frauen und Sie ordnen den Arm zu, wenn möglich. Ich will Ihre Entscheidung nicht beeinflussen. Das sähe vor Gericht nicht gut aus und wir werden diesen Bastard vor Gericht stellen – egal, welche Nationalität oder Hautfarbe er hat.«
»Meinen Sie, dass die Verbrechen irgendwie mit dem sozialen Klima hier zu tun haben? Dass unser Killer Hassverbrechen begeht?«
»Woher soll ich das wissen? Mit dem sozialen Klima vielleicht. Mit dem Klima auf jeden Fall. Zwischen April und August letztes Jahr, als die Passatwinde kamen. Was die Hassverbrechen angeht … das hab ich noch nie so wirklich verstanden, Doktor. Geschehen nicht alle Verbrechen aus Hass?«
»Ich nehme an, Sie haben recht, aber ich meinte rassistisch motiviert im Gegensatz zu sexuell motiviert oder aus einem allgemeinen Hass gegen Frauen.«
»Das wissen wir nicht«, sagte er einfach und sah ihr in die Augen. »Im Moment haben wir nur den Arm, zwei tote hawaiianische Cops und neun verschwundene hawaiianische Mädchen, manche gemischtrassig, einige japanisch. Und wir haben eine Insel voller Menschen unter Hochspannung, die Gerüchteküche brodelt jeden Tag und die Zeitungen tun ihr Übriges.«
»Sie wollen also, dass die Untersuchungen strikt unter Verschluss bleiben. Ich verstehe, Inspector.«
»Ich bin seit acht Jahren hier, zwei davon als Leiter des Büros. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Doktor. Ich verstehe weder die Polynesier noch die Asiaten auch nur ansatzweise, abgesehen davon, dass sie eine kalte, sachliche Justiz respektieren und verstehen. Auge um Auge sozusagen. Nun, neun ihrer Frauen sind verschwunden, und jetzt sind auch noch zwei ihrer Jungs tot. Sie wollen Gerechtigkeit und sie sehen die Navy in Pearl und sie sehen die großkotzigen Reichen auf dem Diamond Head, die ein Vermögen damit gemacht haben, ihnen das Land abzuschwatzen, und sie wenden sich an uns weiße Cops, um Gründe zu erfahren, und bald werden sie sich auch an uns wenden für Wiedergutmachung.«
»Können Sie jemanden mein Gepäck in den Rainbow Tower bringen lassen?«
»Sicher.«
»Dann kann ich mit Ihnen kommen und mir die Leichen und den Arm des Mädchens ansehen. Wie stehen unterdessen die Chancen, ein paar Taucher ins Wasser zu kriegen, die das Gebiet um das Blow Hole nach weiteren Leichenteilen absuchen können?«
Sein Lachen war nicht unfreundlich, das Lachen eines Insulaners, der verzweifelt versucht, die Logik eines malahini, eines Neuankömmlings, zu verstehen.
»Jeder Versuch, sich in die Nähe des Blow Hole zu begeben, könnte einen Taucher binnen Sekunden pulverisieren. Es ist ein gewaltiger Strudel, die Geschwindigkeit des Wassers beträgt mehr als 100 Meilen pro Stunde, und er beruhigt sich nie. Es gibt keine Möglichkeit, ein vulkanisches Loch in der See auszubaggern. Es war reines Glück, dass wir dieses eine Geschenk erhalten haben, bevor es wieder hineingespült worden wäre.«
»Die Chancen stehen also schlecht, dass dieses Loch irgendwelche weiteren Beweise ausspuckt?«
»Daran kann man ernsthaft zweifeln. Wir lassen es allerdings weiter abgesperrt und einer meiner Männer hält genau danach Ausschau.«
»Und der wartet auch auf eine mögliche Rückkehr des Killers?«
»Ich habe ein paar Teams darauf angesetzt, ja, aber da er die beiden toten Cops dort zurückgelassen hat, ist die Hoffnung gering, dass er dorthin zurückkehrt.«
»Dann bringen Sie mich bitte ins Leichenschauhaus. Ich sehe mal, was ich tun kann, um ein wenig Licht in die Sache zu bringen.«
»Mehr verlangen wir auch gar nicht.«
Auf dem Weg zum Leichenschauhaus versuchte sie Parry einzuschätzen. Er war so groß wie sie, hatte markante Gesichtszüge und durchdringende Augen. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch nur wenig, zweifellos eine Folge des jahrelangen Umgangs mit der Presse und der Öffentlichkeit bei Fällen, die Fingerspitzengefühl verlangen. Und da gab es vermutlich keine Steigerung zu diesem, dem schwierigsten Fall überhaupt: Ein Serienkiller, über den die Polizei so gut wie nichts wusste.
Später am selben Tag
Thom Hilani war von hinten durch den Kopf erschossen worden, die Kugel war an der Schädelbasis eingetreten, was man an dem sauberen, kleinen runden Loch erkennen konnte, und hatte am Austrittspunkt den Schädel explosionsartig verlassen, was ein etwa zehn Zentimeter großes Loch zwischen die Augen gerissen hatte. Das Zentrum der auswärts gerichteten Explosion hatte das weiche Gewebe des Frontallappens und die Augen in Mus verwandelt. Er war sofort beim Einschlag der Kugel gestorben, die große Abschürfung auf seiner Stirn und seinem Schädel war ein offensichtliches Zeichen, dass er wie ein gefällter Baum auf den Teer geknallt war, auf dem Vorsprung, der über die Hanauma Bay ragte. Zumindest hatte er nicht gelitten.
Jessicas geübte Augen verrieten ihr, dass der Killer etwas vom Schießen und von Munition verstand und dass er absichtlich etwas verwendet hatte, was man auf den Straßen Cop-Killer-Patrone nannte, die er aus einer Art Western-Revolver mit Kaliber .44 oder .45 verschossen hatte.
Eine gründliche Autopsie förderte sonst absolut nichts zutage, abgesehen davon, was Officer Hilani an diesem Abend in seiner Nachtschicht gegessen hatte.
Bei Kaniola war es anders. Er war angeschossen worden, aber nicht tödlich verwundet, und eine versteckte Einweg-Kanone war immer noch in ihrem Holster, das um seinen Fußknöchel geschnallt war. Parry hatte ihr versprochen, dass absolut nichts an den Leichen der beiden Männer verändert worden war, und vielleicht konnte man ihn beim Wort nehmen. Es war jedoch ungewöhnlich, dass andere Cops, Freunde, es nicht für nötig gehalten hatten, die illegale Notfallwaffe zu entfernen, die Cops in Situationen verwendeten, wo es nötig war, schnell eine Waffe neben einen Angreifer zu legen, um den Gebrauch tödlicher Gewalt zu rechtfertigen. Die zweite Waffe wurde auch als Back-up auf der Straße gesehen, wenn ein Cop die Kontrolle über seinen Dienstrevolver verlieren sollte.
Aufgrund des Wegs der Kugel, der durch Kaniolas rechte Schulter verlief und die in der Nähe des rechten Schulterblattes wieder ausgetreten war, hätte er Schwierigkeiten, die zweite Schusswaffe zu ziehen. Und wenn er sie erreicht hatte, dann war es ihm vielleicht nicht möglich, den nötigen Druck auszuüben, um sie abzufeuern.
Die tödliche Wunde, die Kaniola zugefügt worden war, war das Ergebnis einer riesigen Klinge, die ein ganzes Stück der Kehle herausgeschnitten, die Halsvene durchtrennt und beinahe den Kopf abgetrennt hatte. Ohne Instrumente schätzte Jessica, dass die Klinge zwischen fünf und sechs Zentimeter breit gewesen war, weswegen die Waffe eine Art Schwert oder Machete gewesen sein musste. In ihrem weißen Laborkittel, die Haare streng zurückgebunden, sah sie aus wie ein typischer Wissenschaftler. Sie drückte den Schalter des Aufnahmegeräts über ihrem Kopf und verkündete Zeit und Datum der Autopsie, den Namen des Verstorbenen und seine Identifikationsnummer im Leichenschauhaus, gefolgt von ihrem eigenen Namen, bevor sie mit der Autopsie von Joe Kaniolas Sohn anfing.
Immer wieder sah sie kurz Kaniolas Vater vor ihrem geistigen Auge, während sie arbeitete: Das ledrige Gesicht des Mannes, die Falten seiner Haut, die wie altes Pergament aussahen, die Krähenfüße wie gespachtelte Fugen auf einem alten Schiff. Sie vermutete, dass er Ende fünfzig war. Wahrscheinlich hatte er sein gesamtes Leben hart gearbeitet, damit es seine Kinder einmal besser hatten, und nun war eines davon zum Gegenstand ihres finsteren Handwerks geworden. Trotz allem, was Parry zu ihr oder dem alten Mr. Kaniola gesagt hatte, ging sie ziemlich sicher davon aus, dass sie den toughen Journalisten wiedersehen würde.
Sie fuhr fort, die beiden großen Wunden an Kaniolas Körper zu untersuchen. Nicht nur mussten sie genau in Augenschein genommen, sondern auch präzise vermessen und die Ergebnisse auf Band gesprochen werden, für alle, die nach ihr kamen oder sie bei dieser beschwerlichen Aufgabe ablösten. Wie lange hatte der Angreifer wohl über dem uniformierten Polizisten gestanden und sich an seiner Hilflosigkeit erfreut, bevor er das Pendel des Todes über seine Kehle rasen ließ? Hatte der Killer sich besonders daran erfreut, den Mann dann im Schock verkrampfen und verbluten zu sehen? Oder nahm er sich für derlei Vergnügen nur die Zeit bei den Frauen, die, wie Parry vermutete, seine bevorzugten Opfer waren?
Sie musste noch die Untersuchung der inneren Organe von Kaniola durchführen, ein großer, bärenstarker und stolz wirkender Mann, größer als sein Vater. Aber zuerst warf sie einen Blick auf die Hände, so wie sie es bei Hilani getan hatte, um zu sehen, ob vielleicht Hautfetzen oder Haare unter den Nägeln waren, was darauf hinwies, dass er mit seinem Killer gerungen, nach oben gegriffen und an ihm gezerrt hatte. Kaniolas linke Hand war mit dunklem Blut verschmiert, sein eigenes, wie sie annahm.
Sie sprach diese Entdeckung laut für das empfindliche Mikrofon über ihr aus, während sie arbeitete.
»Linke Hand blutverschmiert. Blut ist vermutlich das von Officer Kaniola, da er wahrscheinlich instinktiv nach seiner verwundeten Schulter greifen würde.«
Während sie diese Worte sagte, hörte sie die Stimme ihres Vaters in ihrem Hinterkopf: »Vermuten heißt nicht wissen.« Ihr Vater war der beste Gerichtsmediziner gewesen, der je eine Uniform getragen hatte, und er hatte sie immer wieder gewarnt, dass die hart erarbeitete Karriere von so manchem Pathologen aufgrund von voreiligen Schlüssen den Bach runtergegangen war. Vermutungen waren etwas für die Öffentlichkeit und Detektive, die nicht weiterwussten. Angenommen, das Blut auf Kaniolas linker Hand stammte von Kaniolas Killer. Angenommen, er war ebenfalls bei der Schießerei verletzt worden. Eine gewagte Vermutung, aber sie konnte nur mit einem Mikroskop beweisen, dass allein Kaniolas Blut auf seiner Hand war. Bisher hatte dieser Killer – wenn es Parrys Passat-Killer war – nicht mal ein Fitzelchen an Beweisen hinterlassen, um sich selbst zu belasten. Sie konnte Parry ziemlich beeindrucken, wenn Kaniola tatsächlich eine Hand auf das Monster gelegt hatte, das ihn ermordet hatte.
Sehr wahrscheinlich jedoch war es das eigene Blut des Officers, das seine Hände bedeckte. Trotzdem ergänzte Jessica schnell ihre Bemerkungen für die Aufzeichnungen, indem sie hinzufügte: »Sollte der Angreifer verletzt worden sein, dann könnte das Blut auf Officer Kaniolas Hand auch vom Angreifer stammen.«
Sie nahm Proben des Blutes und der Abschürfungen unter den Fingernägeln, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen, in der Hoffnung, dass das nicht umsonst war. In ihrer Erschöpfung kam ihr wieder einmal eine Bemerkung ihres Vaters in den Sinn: »Gründlichkeit ist ihr eigener Lohn.«
Sie streckte die langen Beine und den Rücken und gähnte über dem Seziertisch, dehnte sich, fühlte sich zu müde, um weiterzumachen. Ihr Assistent, ein Mann namens Dr. Elwood Warner, war einige Jahre jünger als sie, ein Pathologe vom Honolulu General, der für den Bundesstaat auf Abruf war. Ein zweiter Pathologe des County war etwas zu spät aufgetaucht und hatte sich entschuldigt. Er hatte Warner gebeten, für ihn dieselben Proben zu nehmen. Der Mann, ein gewisser Dr. Walter Marshal, hatte irgendwie mit dem Militär in Pearl Harbor zu tun. Das Militär hatte anscheinend gesteigertes Interesse an dem Fall der beiden toten hawaiianischen Cops – Boys hatte Marshal sie genannt. Besonders an den Blutproben war er interessiert. Offenbar war er überzeugt, die beiden Polizisten hätten was mit Drogen zu tun gehabt, und wollte das unbedingt beweisen, um weitere Beschwerden der kanakas aus der Gemeinde zu unterbinden, wonach Matrosen aus Pearl Harbor mit den Todesfällen zu tun hatten.
Offensichtlich wollten Marshal und die militärische Führungsriege aus Pearl Harbor den Hawaiianern klarmachen, die beiden Cops hätten mit einer Kobra geflirtet und diese Kobra hatte sie gebissen, was einzig und allein ihre eigene Schuld war. Es schien, weder das Militär noch die Bundespolizei oder die lokalen Gesetzeshüter wussten so viel wie Parry und er war vielleicht mit seinem Verdacht allein auf weiter Flur, dass es zwischen den toten Cops und den vermissten »Prostituierten« – so hatte man sie zumindest bezeichnet, wie Jessica mitbekommen hatte – eine Verbindung gäbe.
Der große Fund am Blow Hole hatte jedenfalls dazu geführt, dass einige Leute nun Parry ganz genau über die Schulter sahen, von ihr selbst abgesehen.
Der Chefpathologe von Honolulu City, Dr. Harold Shore, war normalerweise routinemäßig als Gerichtsmediziner beteiligt gewesen, wenn das FBI zu Fällen wie hier auf Oahu, hinzugezogen worden war, und er hatte einen tadellosen Ruf. Vor kurzem hatte er sich jedoch einer Operation am offenen Herzen unterziehen müssen und wurde nicht so bald zurückerwartet. Jessica war im Grunde der Ersatz für Shore. Wenn er sich aus dem Bett hätte erheben können, dann wäre Shore ohne Zweifel heute ebenfalls anwesend gewesen, um die Stadt und das Police Department von Honolulu zu repräsentieren. Der Mord an den beiden Cops hatte eine Menge verschiedener Behörden auf den Plan gerufen, wirkte wie ein Stich ins Hornissennest, riss mehrere alte Wunden auf und erinnerte die Menschen an reale wie eingebildete Fälle von Diskriminierung. »Wenn Sie zu müde sind, um weiterzumachen, Dr. Coran«, sagte Dr. Marshal, »dann übernehme ich gern für Sie.«
Jessica durchbohrte Marshal mit Blicken, aber unter ihrer Maske lächelte sie dünn. »Es geht mir gut, Doktor, und ich werde das hier zu Ende bringen.«
»Zwei Autopsien – an einem einzigen Tag? Das ist selbst nach Militärstandards hart, Doktor. Als Profis sind wir uns da, glaube ich, einig.«
Sie erkannte das typische Gebaren des Militärs, wenn sie es hörte. Marshal war anscheinend gern derjenige, der die Befehle gab, und er schien sich gar nicht wohl dabei zu fühlen, die zweite Geige für einen weiblichen Gerichtsmediziner zu spielen. »Ja, nun … wie dem auch sei, als Repräsentant der Regierung sollte ich besser weiter die Autopsie leiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Wir arbeiten beide für denselben Chef, Doktor«, erwiderte er unterkühlt. »Und da Dr. Shore nicht hier sein kann, bin ich auch als Vertreter des Honolulu Police Department hier.«
Marshal kam ihr vor wie ein Mann, der direkt aus einem Film der Dreißigerjahre mit William Powell und ZaSu Pitts entsprungen war. Seine Miene wirkte versteinert und die militärische Haltung, mit der er auftrat, machte eine Uniform überflüssig. Auch in seinem weißen Kittel wirkte er durch und durch militärisch.
»Sie sind ja offensichtlich für eine ganze Reihe an Auftraggebern hier, Dr. Marshal.«
Mit dem Skalpell in ihrer Hand arbeitete sie weiter.