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Felix wacht eines Morgens auf und um ihn herum ist es totenstill. Nach dem ersten Schock glaubt er an einem Hörsturz und macht sich auf dem Weg zum Arzt. Auf dem Weg dorthin fällt ihm auf, dass sich etwas verändert hat. Es ist auffällig ruhig auf den Straßen. Die Leute eilen mit verbissenen Gesichtern an ihm vorbei. Da er als junger Journalist in einer kleinen Redaktion arbeitet, ist Neugierde bei ihm ein berufliches Muss und so nimmt er sich vor, den Grund für die seltsamen Geschehnisse herauszufinden. Doch das gestaltet sich als äußerst schwierig, denn Chaos und Gewalt beherrschen immer mehr den Alltag. So ist es für ihn ein Trost und gleichzeitig eine Freude, als er seiner sympathischen Nachbarin Anja durch die seltsame Taubheit näherkommt und mit ihr die auf sie zukommenden Herausforderungen meistern kann.
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Seitenzahl: 650
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Anne Düpjohann
Felix, der Erbe des Herrschers
Roman
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel VIV
Ich sah auf meinen Wecker. Es war schon nach sieben Uhr! Mit Erschrecken stellte ich fest, dass er geläutet haben musste. Ich schüttelte verwundert meinen Kopf, denn normalerweise hörte ich ihn immer. Ich musste ziemlich fest geschlafen haben.
Rasch stand ich auf und ging ins Bad, komischerweise vernahm ich jedoch keinen Laut. Was war bloß los? Ich hörte weder das Rauschen der Klospülung noch das des Wasserhahnes.
War ich über Nacht taub geworden?
Ich schaute mein Spiegelbild an:
„Na Felix, du Schlafmütze, ich denke wir müssen heute den Turbo anwerfen, damit wir pünktlich zur Arbeit kommen!“, sprach ich es an, doch ich hörte nichts. Ich sah nur, wie sich meine Lippen bewegten.
Panik breitete sich so langsam in meinem Körper aus, mein Herz pochte vor Aufregung doppelt so schnell. Angst kroch bedrohlich durch meine Adern.
Ich versuchte mich zu beruhigen, doch das war nicht so leicht. Verzweifelt schüttelte ich meinen Kopf und fasste mich an die Ohren. Nichts - kein Geräusch! Totenstille!
Aber - es half jetzt auch nicht, sich verrückt zu machen. Es war sicherlich sinnvoller, mein Problem sachlich anzugehen. Vielleicht hatte ich über Nacht einen Hörsturz bekommen?
In einer Zeitschrift las ich vor einiger Zeit, dass es normalerweise keine bleibenden Schäden geben würde, wenn man ihn sofort behandelte. Ich beschloss, einen Arzt aufzusuchen.
Eilig aß ich eine Kleinigkeit und überlegte mir währenddessen, statt eines Facharztes zuerst meinen Hausarzt aufzusuchen, da er nur zehn Gehminuten von mir entfernt seine Praxis hatte. Außerdem war er der Vater meines besten Freundes. Vielleicht konnte er mir ja schon helfen, dann sparte ich mir den Gang zum Spezialisten.
Es war ein komisches Gefühl, als ich aus dem Haus trat und um mich herum totale Stille herrschte.
Immer wieder presste ich meine Handflächen auf meine Ohren, in der Hoffnung einen Druck aufzubauen, der meine Ohren dann veranlasste, ihren Dienst wieder aufzunehmen. Leider blieb mein Unterfangen ohne jeglichen Erfolg.
Auf dem Weg zum Arzt fiel mir auf, dass es auf der Straße sehr ruhig war. Genau genommen hatte ich überhaupt noch keine Autos auf den Straßen fahren sehen. Das war schon recht merkwürdig. Auch wenn unser Bürgermeister keine Mühen gescheut hatte, den Verkehr zu minimieren und durch sehr moderate Preise der öffentlichen Verkehrsmittel die Nutzung attraktiv zu gestalten, gab es natürlich immer noch genügend Gründe, das Auto zu nutzen.
Doch schnell trieben mich meine Gedanken wieder zu meinen streikenden Ohren.
Ich konnte mich nicht erinnern, in der letzten Zeit übermäßigen Stress ausgesetzt gewesen zu sein. Ich zerbrach mir den Kopf, aber mir fiel keine plausible Erklärung für meine Taubheit ein.
So in Gedanken versunken, erreichte ich die Praxis meines Hausarztes.
Eine Menschentraube stand vor der Tür. Jedoch herrschte eine Unruhe in der Menge, denn während sich ein Teil der Leute zur Tür drängten, schälte sich der andere Teil wieder aus der Masse hervor. Geschickt manövrierte ich mich durch sie hindurch, um die Tür zu erreichen. Empörte Blicke begleiteten mich, doch ich ignorierte sie. Da ich nicht gerade der Kleinste war, gelang es mir, über die Vordersten hinwegzusehen und erspähte einen handgeschriebenen Zettel, der an der Eingangstür befestigt war:
Wegen Krankheit geschlossen!
„Na super! Das fehlt mir gerade noch!“, dachte ich frustriert.
Auf den Gesichtern der anderen Leute spiegelte sich ebenfalls Ratlosigkeit wider.
„Müssen wir wohl zu einem anderen Arzt gehen“ sagte ich laut.
Doch die Umstehenden schauten mich nur verständnislos an. Zwar konnte ich mich nicht hören, ging aber davon aus, dass ich laut und deutlich gesprochen hatte.
„Oh man“, dachte ich. „Die Woche fängt ja gut an.“
Aber, egal, sollten sie doch denken, was sie wollen. Ich musste jetzt erst einmal sehen, dass ich einen Arzt fand, der meine Ohren untersuchte. Gott sei Dank war der nächste praktische Arzt auch nicht weit entfernt. Doch als ich mich der Praxis näherte, bot sich mir dasselbe Bild wie zuvor: Eine Menschenmenge stand unschlüssig vor der Tür.
„Ups“, dachte ich, „ der hat heute viel zu tun.“
Ich schaute in ratlose Gesichter. Während etliche Leute hilflos umherschauten und einfach nur dastanden, kamen andere mir schon wieder entgegen, sodass ich mir wieder den Weg zur Eingangstür bahnen musste. Als ich sie erreichte, war meine Überraschung groß, als ich auch hier ein Schild vorfand mit dem Text:
Wegen Krankheit geschlossen!
„Mein Gott, was ist denn heute bloß los“, fragte ich mich. Ich beschloss, nach Hause zurückzukehren und zum nächsten Krankenhaus zu fahren.
Ich überlegte, dass ich verrückt wäre, wenn ich das Auto in meinem Zustand nutzen würde!
Allerdings konnte ich es nicht lassen, mich trotzdem hineinzusetzen, um es zu starten.
„Wie startet man ein Auto, ohne zu hören, ob es läuft? Na ja, es vibriert, dass werde ich merken“, dachte ich und drehte den Zündschlüssel um. Doch ich spürte keinerlei Vibration. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass mein Auto vollkommen intakt war.
Ich stieg aus und legte meine Hand auf die Motorhaube. Keinerlei Erschütterungen. Nichts zu spüren, überhaupt nichts! Das Auto war stumm.
Ich zog den Zündschlüssel wieder ab und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich es wahrscheinlich sowieso nicht genutzt hätte, da es viel zu gefährlich war, sich taub mit einem Auto in den Straßenverkehr zu stürzen. Wenn man es gewohnt war, würde es vielleicht gehen. Man müsste sich sicherlich mehr konzentrieren, aber dazu grübelte ich im Moment zu sehr darüber nach, woher die Ursache für meine Taubheit kam.
So beschloss ich, bei meiner Nachbarin zu klingeln, um sie um Hilfe zu bitten. Aber niemand öffnete die Tür. Also versuchte ich es bei dem Nächsten. Doch auch dort machte keiner die Tür auf. Wahrscheinlich waren gerade heute alle extrem fleißig und früh zur Arbeit gefahren.
Gefahren?
Ich hatte doch überhaupt noch kein Auto auf der Straße fahren gesehen. Merkwürdig!
Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, stieg seufzend aufs Rad und machte mich auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus, das jedoch einige Kilometer entfernt war. Zum Glück zeigte sich der Mai in diesem Jahr von seiner besten Seite und die Sonne strahlte schon frühmorgens aufmunternd auf mich herunter, sodass man das Ganze unter einem sportlichen Aspekt betrachten konnte.
Ich fuhr eigentlich gerne Rad und wenn es nicht gerade wie aus Eimern schüttete, radelte ich oft zur Arbeit. Bei schönem Wetter unternahm ich ausgedehnte Radtouren, zurzeit leider meistens alleine, da mein bester Freund, Aaron, vor einem Jahr aus beruflichen Gründen nach Süddeutschland ziehen musste. Seine Eltern waren damals nicht besonders begeistert gewesen, dass er sich nicht in der Nähe einen Job als Informatiker gesucht hatte, aber letztendlich mussten sie sich damit abfinden. Genauso wie meine Eltern akzeptieren mussten, dass ich sie nicht in die USA begleiten wollte.
Aber Dank der heutigen Vielfalt der Kommunikationsmittel stand ich immer noch in regem Kontakt mit ihm. Das Gleiche galt natürlich auch für meine Eltern.
Ich beschloss, zur Sicherheit auf dem Bürgersteig zu fahren. Da sah ich, wie mir meine Nachbarin Anja tränenüberströmt entgegenkam.
Anja war erst vor einem halben Jahr in die Wohnung gegenüber eingezogen. Sie war schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihre dunklen Haare umspielten ihr hübsches, wenn auch verweintes Gesicht. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Also ungefähr mein Alter, denn ich war fünfundzwanzig. Allerdings hatten wir bislang noch keine Gelegenheit gehabt, uns richtig kennen zu lernen. Sie hatte sich kurz nach ihrem Einzug vorgestellt, als wir uns im Treppenhaus zufällig begegneten. Wir hatten zwar beschlossen, uns mal auf ein Bierchen zu treffen, aber wie das so ist, es fehlte einfach die Zeit.
Nach dem Aus meiner Beziehung vor einigen Monaten, meine Ex sprach damals von einer Beziehungspause, hatte ich mich in meiner Arbeit vergraben und alles andere ausgeblendet. „Seelische Erholung durch Arbeitsstress“, bezeichnete ich das insgeheim.
Nun stieg ich wieder ab und fragte sie, was los sei. Allerdings erkannte ich gleich bei der Frage, dass das etwas dumm von mir war, da ich ja ihre Antwort gar nicht hören konnte. Also fügte ich hinzu, dass ich zurzeit taub sei. Doch sie schüttelte nur mit dem Kopf und deutete auf ihre Ohren und sagte dabei etwas, was ich natürlich auch nicht verstand. Allmählich stieg in mir ein leiser Verdacht auf.
So deutete ich ihr an, mir zu folgen.
Als wir in meiner Wohnung waren, schrieb ich auf einen Zettel, was mit mir los war. Zu meiner großen Überraschung stellte sich heraus, dass sie genau dieselben Symptome hatte wie ich.
Ich schlug ihr vor, natürlich schriftlich, gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren. Vielleicht war es ein unbekannter Virus, der unser Gehör außer Gefecht gesetzt hatte.
Sie nickte erleichtert, glücklich, nicht allein mit ihrem Problem zu sein. Allerdings galt das auch für mich. So machten wir uns nun gemeinsam auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus. Es war die geräuschloseste Radtour, die ich jemals unternommen hatte.
Da wir beide nichts hörten, machte es wenig Sinn, sich zu unterhalten. Allerdings beunruhigte es mich sehr, was ich während der Fahrt sah – oder besser gesagt nicht sah. Auf den Straßen fuhr kein einziges Auto. Man sah vereinzelte Radfahrer, die mit versteinertem Gesicht in dieselbe Richtung fuhren wie wir.
Ich hatte das Gefühl, dass meine anderen Sinne durch den Hörverlust geschärft wurden. Ich nahm meine Umgebung viel intensiver wahr. Die jungfräulichen Blätter der Bäume, die sich vom Winde wiegen ließen, oder das satte Grün des Grases am Wegesrand.
Ich warf einen Blick zu Anja, die offensichtlich auch in Gedanken versunken war. Ich glaubte fast, ich hörte ihre Gedanken und ihren Wunsch, dass unsere Symptome harmlos wären. Ich seufzte innerlich und stimmte ihr zu. Auch ich hoffte dies sehnlich. Dann schüttelte ich den Kopf:
„Meine Güte“, dachte ich, „jetzt fange ich schon an zu fantasieren, und bilde mir ein, Anjas Gedanken wahrzunehmen!“
Endlich kam das Krankenhaus in Sicht, aber wir konnten es kaum glauben, was wir dort sahen.
Es war belagert von einer riesigen Menschenmenge. Tausende drängelten und schubsten sich gegenseitig weg. Hier und da wurden einige sogar handgreiflich, um sich zum Eingang des Krankenhauses durchzuschlagen.
Entgeistert schauten Anja und ich uns an. Dann schüttelte ich mit dem Kopf. Hoffnungslos! Ich deutete ihr an, dass ich umkehren wollte. Da kam mir eine Idee. Ich fragte ganz laut in die Runde, was denn hier los sei und warum hier ein derartiger Menschenauflauf herrsche.
Mir war schon klar, dass ich die Antworten nicht verstehen würde, aber darauf kam es mir auch gar nicht an.
Niemand reagierte auf meine Frage – so als hätte mich keiner gehört!
Genau das hatte ich mir gedacht. Meine Vermutung, dass alle Leute dasselbe Problem wie Anja und ich hatten, bestätigte sich damit.
Es konnte nicht sein, dass plötzlich alle auf einmal taub waren! So einen Virus gab es doch gar nicht! Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Das war doch äußerst seltsam.
Wir beschlossen, den Heimweg anzutreten, als wir sahen, wie sich jemand brutal durch die Menge boxte. Natürlich ließen sich das einige nicht gefallen und wehrten sich, worauf der Mann eine Pistole zog und in die Luft schoss.
Allerdings hatte das nicht den erwünschten Erfolg. Wie denn auch, wenn keiner den Knall hören konnte?
Daraufhin zielte dieser rabiate Mensch mit seiner Pistole auf einen kräftigen Mann, der ihm den Weg verstellt hatte. Doch plötzlich zitterte die Hand des Kriminellen, in der er die Waffe hielt. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze und seine Augen wurden glasig. Dann richtete er die Waffe auf seine Brust und drückte ab.
Ich hielt die Luft an. Was war denn da gerade passiert! Schockiert und entsetzt schaute ich zu dem Mann, der zu Boden gefallen war und regungslos liegenblieb.
Aus seiner Brust quoll Blut. Ich erschauderte und auch die umstehenden Menschen wichen entgeistert zurück. Keiner traute sich, zu dem am Boden liegenden zu gehen, um ihm zu helfen.
Verstört und zutiefst erschrocken blickte ich auf den am Boden liegenden Mann. Auch ich wäre am liebsten zurückgewichen und hätte Reißaus genommen, doch meine innere Stimme sagte mir, dass ich mich um ihn kümmern und mich nicht, wie alle anderen abwenden und wegschauen sollte. Ich sah in die Gesichter der anderen Menschen, deren Blicke nahezu paralysiert waren. Ich holte tief Luft und gab mir einen Ruck, um mich aus meiner Lethargie zu befreien. Langsam wurden meine Gedanken wieder klarer und mein Verstand diktierte mir, was ich tun sollte.
Da ich erst kürzlich einen Erste – Hilfe – Kursus absolviert hatte und wusste, wie man jemanden wiederbeleben konnte, gab ich meinem feigen Ich einen Stoß und kniete mich zu dem Verletzten, stellte aber bestürzt fest, dass er mit gebrochenen Augen ins Leere starrte.
Er war tot, daran gab es keinen Zweifel, trotzdem versuchte ich, seinen Puls zu fühlen. Keine Chance.
Warum hatte er sich auf einmal selbst erschossen?
Fassungslos schaute der kräftige Mann, der zuvor von dem am Boden liegenden bedroht worden war auf den Selbstmörder. Auch er begriff nicht, was hier geschehen war.
Ein Wahnsinniger?
Hilfesuchend sah ich ihn an und gab ihm zu verstehen, mir dabei zu helfen, den Mann von hier weg zu tragen, doch er schüttelte angewidert den Kopf und machte sich rasch davon.
Na toll! Und jetzt? Der Tote konnte hier schließlich nicht liegen bleiben.
Ich musterte die Menschenmasse, die vor dem Krankenhaus stand.
Unmöglich den Mann ins Krankenhaus zu schaffen. Sie bildeten eine undurchdringliche Mauer.
Ich wusste, dass es neben dem Krankenhaus eine Leichenhalle gab, darum forderte ich einige Männer auf, mir beim Transport des Toten zu helfen.
Doch es ist mitunter erstaunlich, wie viel Platz man selbst im dicksten Gedränge haben kann. Nach langer stummer Diskussion packten zwei weitere Männer mit an und wir schleppten ihn zur Halle. Gott sei Dank war sie geöffnet.
Wir legten ihn auf dem Boden ab. Als ich aus der Halle trat, zitterte ich am ganzen Körper, denn schließlich machte ich so etwas nicht jeden Tag.
Die anderen zwei Männer machten sich, ebenfalls sichtlich mitgenommen, davon.
Anja stand wartend vor der Leichenhalle. Sie war kreidebleich im Gesicht.
Sie hielt, weit von sich gesteckt, mit einem Taschentuch bedeckt, die Pistole in der Hand. Mit letzter Überwindung nahm ich sie ihr vorsichtig ab, ging noch einmal zurück und legte sie neben die Leiche. Als ich wieder draußen stand, wurde mir so richtig bewusst, was sich in den letzten Minuten alles ereignet hatte.
Mein Magen drehte sich um und der nächste Busch durfte sich mein Frühstück ansehen. Unweit der Halle gab es eine Bank, auf die ich mich setzte, um mich ein wenig zu erholen. Allerdings hatten wir beide das Bedürfnis, uns so schnell wie möglich von diesem Ort zu entfernen. Darum stand ich kurze Zeit später mit noch etwas wackeligen Beinen wieder auf, auch wenn mir noch übel und schwindelig war. Ich atmete ein paar Mal tief ein und redete meinem Körper gut zu, sich rasch wieder zu fangen, damit ich wieder mein Rad nutzen konnte. Als ich das Gefühl hatte, dass ich wieder in der Lage war, Rad zu fahren, holten wir unsere Fahrräder und entfernten uns rasch.
Der frische Fahrtwind tat mir gut und langsam erholte sich mein Körper von dem Schock. Es war für mich völlig unbegreiflich, was dort am Krankenhaus geschehen war. Doch nun tauchten tausend Fragen in meinem Kopf auf. Hätte ich nicht die Polizei benachrichtigen müssen?
Hätte ich überhaupt wegfahren dürfen?
Hatte ich überhaupt richtig gehandelt?
Hätte ich ihn nicht ins Krankenhaus bringen müssen, oder einen Arzt verständigen müssen? Aber wie?
Bei der Menschenmenge wäre ich niemals durchgekommen!
Ich schüttelte den Kopf.
Das war im Moment alles einfach zu viel!
Außerdem – wieso hatten wir eigentlich bei einer so großen Menschenmasse keine Polizisten gesehen?
Ich bremste mein Rad und stieg ab. Ich musste zur Polizei und den Vorfall melden. Ich konnte doch nicht einfach nach Hause fahren.
Ich war froh, dass ich mir zuhause einen Block und Stift eingesteckt hatte, denn so konnte ich Anja mitteilen, was ich vorhatte.
Sie nickte und deutete mir an, mich zu begleiten. Zu zweit radelten wir zur nächsten Polizeistation. Doch wie groß war unsere Überraschung als wir ankamen und das Schild lasen, das dort an der Tür angebracht worden war:
Diese Dienststelle ist zurzeit nicht besetzt!
*
„Na super! Die Welt steht Kopf und die Polizei macht frei, “ dachte ich.
Doch da öffnete sich die Tür der Polizeistation und ein Polizist trat heraus.
Ich sprach ihn sofort an, um ihm die Situation zu erklären, doch er schüttelte nur mit dem Kopf und deutete auf seine Ohren.
Ich zog meinen Block hervor und schrieb:
„Wir müssen reden! Am Krankenhaus hat sich jemand erschossen!“
Er schaute mich entsetzt an und signalisierte mir, einzutreten.
Erleichtert, endlich jemanden gefunden zu haben, der vielleicht helfen konnte, traten wir ein. Wider erwarten waren doch etliche Polizisten vor Ort, auch wenn sie etwas ratlos wirkten. Wieder bemühte ich meinen Block, um zu fragen, ob ich das, was geschehen war, nicht am PC widergeben könnte, da das schneller ging, als alles handschriftlich zu Papier zu bringen.
Er nickte und so setzte ich mich an einem PC und versuchte, die Geschehnisse vor dem Krankenhaus zu rekapitulieren.
Als ich fertig war, schaute er mich fassungslos an. Er antwortete - natürlich schriftlich – dass, aufgrund der plötzlich aufgetretenen Taubheit der Mitarbeiter sich viele krank gemeldet hatten und somit niemand zur Verfügung stand, der auf Streife gehen konnte. Auch sagte er, dass bereits jemand beauftragt worden sei, die fehlenden Polizisten herzubeordern. Aber, so erklärte er mir weiter, hätten sie noch ein erhebliches Problem mit den Fahrzeugen, da sie ihren Dienst verweigern würden und sich nicht starten ließen.
Weiter schrieb er, dass sich natürlich sofort Beamte um den Todesfall am Krankenhaus kümmern würden.
Offensichtlich hatte ich den Chef der Station erwischt, denn er winkte sofort einige Polizisten heran und deutete auf den Bildschirm. Diese lasen meinen Text. Natürlich tauchten genau die Fragen auf, die ich mir selbst schon gestellt hatte:
„Warum hatte ich keinen Arzt zur Hilfe geholt, oder ihn ins Krankenhaus geschafft?“
Ich erklärte, dass dies einfach nicht möglich gewesen sei, da eine Mauer aus Menschen den Eingang des Krankenhauses blockierten. Sie fragten mich auch, ob ich denn auch sicher gewesen sei, dass der Mann tot war. Ich nickte.
Nun legte man uns ein Formular vor, um unsere Personalien festzustellen.
Ich schrieb meinen Namen und Adresse auf: Felix Eligius, 25 Jahre, Radetzkystraße 1, Bietersbrück.
Danach gab ich Anja den Stift, die ebenfalls den Fragebogen ausfüllte: Anja Hintsche, 24 Jahre, Radetzkystraße 1, Bietersbrück.
Danach erkundigte ich mich nach dem Namen des Polizeibeamten.
Er schrieb: Markus Wolfmann und erklärte mir gleichzeitig, dass er diese Polizeidienststelle leitete.
In diesem Moment kam ein weiterer Polizist ins Büro und schaute die anderen betrübt an und schüttelte den Kopf.
Man konnte deutlich die Fragezeichen in den Gesichtern der anderen Polizisten sehen. Er wurde aufgefordert, sich an dem Computer zu setzen und aufzuschreiben, warum er seinen Auftrag nicht ausführen konnte.
Leider bat man uns, im Nebenraum Platz zu nehmen, sodass ich nicht mitbekam, was er schrieb. Nun erwachte der Reporter in mir. Bislang hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht, was hinter dieser ganzen Sache stecken könnte.
Aber so langsam beschlich mich der Verdacht, dass es eine größere Sache sein könnte. Vielleicht entwickelte sich diese merkwürdige allgemeine Taubheit zu einer Sensationsstory!
Viel konnte ich leider nicht aus den Reaktionen der Polizisten interpretieren, nur - dass sie nicht besonders erfreut über die Mitteilung waren, die der Polizist in dem Computer eintippte.
Danach kam Herr Wolfmann, zu mir und deutet an, ihm zu folgen.
Er schrieb am PC, dass wir mit zwei Beamten wieder zum Krankenhaus fahren sollten, um ihnen den Tatort zu zeigen.
Wenig begeistert schaute ich ihn an. Mit Grauen dachte ich an unser Erlebnis am Krankenhaus. Meine Nackenhaare stellten sich unwillkürlich wieder auf und Gänsehaut kroch über meine Arme. Mein Magen signalisierte meinem Gehirn Leere und aufkommende Übelkeit. Da ich vermutete, dass es Anja auch nicht besser erging, fragte ich, ob es nicht möglich sei, dass wir vorher etwas Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen bekommen könnten, um den Magen wieder etwas zu beleben.
Er nickte und eine nette Polizistin brachte uns kurz darauf Kaffee und belegte Brötchen. Während wir aßen, schrieb er mir, dass wir uns nach der Tatortsbesichtigung nach Hause begeben und die Wohnung nicht verlassen sollten, da man nicht wusste, was hinter dieser plötzlichen Taubheit stecke.
So nickte ich zwar, aber schließlich war ich mit Leib und Seele Reporter und würde mir sicherlich nicht die sich anbahnende Story entgehen lassen.
Aber das musste Wolfmann ja auch nicht unbedingt wissen. Ich versuchte, einige Informationen durch harmlose Fragen aus ihm herauszukitzeln, aber wenn man alles aufschreiben musste, kam das einfach nicht locker genug herüber und so gab er sich mit seinen Antworten auch sehr zugeknöpft.
Kurze Zeit später fuhren dann zwei für diesen Fall abkommandierte Polizisten, Anja und ich wieder zum Krankenhaus. Geplant war, dass ich ihnen erst die Stelle zeigen sollte, wo der Zwischenfall stattgefunden hatte und anschließend den Ort, wo ich den Toten mit den zwei Helfern abgelegt hatte.
Es bedeutete für uns beide eine ziemliche Überwindung, den Weg wieder zurück zu fahren. Schon als wir uns von weitem dem Krankenhaus näherten, sahen wir, dass immer noch viele Leute vor dem Krankenhaus warteten. Aber – irgendetwas hatte sich verändert.
Es herrschte eine bedrückte, angespannte Atmosphäre. Man sah viele Verletzte, einige saßen sogar auf dem Boden.
Man hatte den Eindruck, es hätte eine Massenschlägerei stattgefunden. Die Polizisten sahen entgeistert auf das Bild, das sich ihnen bot.
Anja und ich schauten uns ungläubig an. Was war hier bloß geschehen? Ich versuchte durch die Menge zu kommen, um den Polizisten den Tatort zu zeigen. In Begleitung der beiden Beamten machten uns die Leute zum Glück Platz und schauten uns dabei verwundert an, als wir auf die besagte Stelle zeigten. Ein großer Blutfleck erinnerte noch an die Tragödie.
Die Polizisten kreisten ihn mit Kreide ein. Die Umstehenden schauten uns neugierig und fragend an. Ich zog jedoch nur die Schultern hoch und schüttelte mit dem Kopf. Danach machten wir uns auf dem Weg zur Leichenhalle. Allerdings weigerte ich mich, sie noch mal zu betreten. Gott sei Dank bestanden die beiden auch nicht darauf. Sie verschwanden in der Leichenhalle und kamen einige Zeit später mit der in dem Taschentuch gewickelten Pistole wieder zurück.
Sie schrieben mir auf einen Zettel, dass der Mann in der Leichenhalle tatsächlich tot und außerdem ein alter Bekannter von ihnen sei, der seit geraumer Zeit steckbrieflich gesucht wurde.
„Aha“, dachte ich, „das hebt jetzt allerdings auch nicht wirklich mein Wohlbefinden und lässt das Grauen dieses Ortes verblassen.“
Ferner teilten sie uns mit, dass wir jetzt nach Hause fahren könnten. Nach Hause wollte ich noch nicht, aber erst einmal fort von diesem Ort.
Ich schrieb Anja, dass ich mich bei meinem Chef noch krank melden müsse und da das nicht telefonisch gehen würde, wollte ich das noch erledigen, bevor ich endgültig nach Hause fahre.
Sie nickte und deutete mir an, dass sie mich begleiten wolle.
So radelten wir zur Redaktion, die sich unweit der Polizeistation befand.
Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass die Redaktion geschlossen war, so wie viele andere Institutionen an diesem Tag. Denn als wir durch die Stadt fuhren, um zur Redaktion zu gelangen, hatten wir bemerkt, dass viele Läden geschlossen waren mit dem Hinweis auf eine plötzliche Krankheit.
Doch weit gefehlt!
Als ich gegen die Tür drückte, öffnete sie sich und wir gingen ins Büro meines Chefs.
Er schaute hoch, als ich die Tür aufmachte.
Demonstrativ schaute er auf seine Uhr und dann vorwurfsvoll auf mich.
Ich deutete auf meine Ohren, worauf er nickte und mir andeutete, zu ihm zu kommen und mich zu setzen.
Wie schon bei der Polizei, kommunizierten wir über den Computer. Seine erste Frage war doch allen Ernstes, warum ich einen halben Tag blau gemacht hätte.
Das war mal wieder typisch für ihn!
In seinen Augen ist man nur arbeitsunfähig, wenn man alle zehn Finger gebrochen hat. Ich seufzte und erzählte ihm mein morgendliches Erlebnis. Er nickte und schrieb:
„ Das wird eine gute Story!“, und instruierte mich dann, ich möge einen Artikel schreiben.
Wenn ich das fertig hätte, sollte ich alle Informationen, die bislang in die Redaktion gelangt waren, bearbeiten.
Außerdem sollte ich umgehend anfangen, zu recherchieren, was diese mysteriöse Taubheit ausgelöst hat. Und – so schnell wie möglich, dafür sorgen, dass meine Kollegen ebenfalls im Büro erscheinen, um ihre Arbeit aufzunehmen. Ich dachte:
„Der ist echt lustig! Klar, ich ruf sie an!“
Ich schaute ihn fragend an und deutete auf meine Ohren. Er zuckte mit den Schultern und schrieb: „Fahr bitte hin, sie sind leider per SMS nicht zu erreichen. Du weißt ja, wo sie wohnen!“
Ich nickte und schrieb dann:
„Okay, dann muss dass andere aber erst einmal warten. Sind denn überhaupt Leute in der Druckerei, die die Zeitung erstellen?“
Er nickte:
„ Hab ich alles schon organisiert! Jetzt fehlen mir nur noch die Journalisten, damit wir vereint beginnen können, der Sache auf den Grund zu gehen. Du weißt doch, die Konkurrenz ist groß! Die Zeitung, die als erstes die Story bringt, verdient durch eine höhere Auflage das meiste Geld!“
Mein Chef hatte diese Zeitung vor 10 Jahren gegründet und sie verkaufte sich recht gut. Es war zwar nur eine kleine Redaktion, außer mir gab es noch drei weitere fest angestellte Journalisten und Susi Block, unsere kaufmännische Angestellte, die sich halbtags um den Bürokram kümmerte, aber wir konnten uns nicht über mangelnde Arbeit beklagen. Allerdings hatte mein Chef jede Menge freie Journalisten in aller Welt, die ihn mit Stories belieferten. Für Erfolg versprechende Stories zahlte er gut und das machte sich durch eine gute Auflage bezahlt.
Ich wollte mich gerade auf dem Weg machen, als er auf Anja deutete.
Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihm, dass sie meine Nachbarin sei und nicht vom Fach.
Es sei reiner Zufall gewesen, dass wir den Morgen zusammen verbracht hätten. Er nickte enttäuscht. Vielleicht hatte er gehofft, schnell noch eine zusätzliche Kraft in die Arbeit mit einbinden zu können, denn schließlich konnte man nicht mit Sicherheit sagen, ob ich alle meine Kollegen zu Hause antreffen würde. Sie konnten sich genauso gut in irgendeiner Menschenmenge vor irgendeinem Krankenhaus oder einem Arzt, der zufällig doch arbeitete, befinden.
Ich hoffte allerdings, sie zu Hause anzutreffen. Vielleicht hatten sie dasselbe festgestellt wie ich, nämlich dass die Taubheit ein allgemeines Phänomen war.
Anja signalisierte mir, dass sie alleine nach Hause fahren wollte, da ich offensichtlich noch arbeiten müsste.
Ich nickte und fragte sie, ob ich sie begleiten solle, doch sie schüttelte mit dem Kopf. So trennten wir uns und ich schnappte mir wieder mein Fahrrad, um meine Arbeitskollegen zusammenzutrommeln.
Diesmal traute ich mich allerdings, die Straße zu nutzen, da sowieso kein einziges Auto zu sehen war.
Ich beschloss, langsam zu fahren, um einerseits so viele Eindrücke wie möglich von dieser ungewöhnlichen Lage in mich aufzusaugen, andererseits aber auch um unbeschadet an mein Ziel anzukommen, da man nie wissen konnte, was passieren würde.
Allerdings stellte ich fest, dass sehr wenig Leute unterwegs waren.
Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Kein Auto war weit und breit zu sehen. Da die großen Geschäfte geschlossen waren, wirkte sie nahezu wie eine Geisterstadt. Ich entdeckte eine kleine Bäckerei mit Lebensmittelbereich, die geöffnet hatte. Ich beschloss, mir belegte Brötchen und Getränke zu holen, da ich mit einem langen Abend in der Redaktion rechnete. Es war schon ein komisches Gefühl, den Laden zu betreten, ohne zu wissen, ob man mich jetzt würde hören können oder nicht.
Doch die Besitzerin hatte das Problem prima gelöst. Sie hatte eine große Schiefertafel beschriftet:
„ Bitte schreiben Sie ihre Wünsche auf!“
Ich holte mir einige Getränke und schrieb dann auf eine kleine Schiefertafel, die auf der Theke lag, was ich sonst noch kaufen wollte.
Als ich aus dem Laden heraustrat, bemerkte ich zwei Männer, die ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten und auf mich zukamen.
Nichts Gutes ahnend schnappte ich mir mein Fahrrad und wollte die Flucht antreten, als mir klar wurde, dass nicht ich das Ziel war, sondern die Bäckerei.
Die beiden ignorierten mich und betraten den Laden. Ich dachte an die ältere, nette Frau, die mich bedient hatte und stellte mein Fahrrad wieder ab und folgte den beiden.
Wollten die den Laden überfallen?
Irgendwie hatte ich den Eindruck, ich befände mich in einem schlechten Film!
Ich sah, wie die beiden direkt auf die Kasse zugingen, um die alte Dame, die sich ihnen in den Weg stellte, beiseite zu stoßen.
Doch dann weiteten sich meine Augen vor Erstaunen, als ich sah, wie ungeschickt sie sich anstellten. Irgendwie schaffte es der größere der beiden nicht, an die ältere Dame vorbeizukommen, obwohl sie sich ihm im Grunde genommen nur in den Weg gestellt hatte. Es schien so, als prallte er gegen eine unsichtbare Mauer.
Währenddessen beschäftigte sich der etwas kleinere Gauner vergeblich damit, Sachen in einem mitgebrachten Beutel zu verstauen.
Jedes Mal, wenn er zupacken wollte, griff er ins Leere. Die Situation war so grotesk, dass ich mir ein Lachen nicht verkneifen konnte.
Allerdings fragte ich mich doch, was mit den beiden los war, dass sie nicht in der Lage waren, ihren Plan auszuführen.
Nachdem die beiden festgestellt hatten, dass ihre Bemühungen vollkommen zwecklos waren, ergriffen sie die Flucht.
Vorsichtshalber hielt ich ihnen die Tür auf, damit sie nicht zu allem Überfluss noch in ihrer Tollpatschigkeit in die Scheibe stürzten.
Die alte Dame und ich schauten uns an und wir schüttelten den Kopf. Soviel Dummheit und Ungeschicklichkeit entschärfte die eigentlich ernsthafte Lage.
Obwohl das Ganze recht komisch war, fragte ich mich doch beklommen, was die Ursache ihres seltsamen Verhaltens war. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich konnte es mir selbst nicht erklären wieso, aber in meinem tiefsten Inneren sagte mir eine leise Stimme, dass es noch viel schlimmer werden wird. Bei diesem entsetzlichen Gedanken begann mein Herz aufgeregt zu pochen. Ich beruhigte mich und sagte mir, dass ich mir das alles nur einbildete. Doch dann drängten sich wieder die Bilder von heute Morgen am Krankenhaus im Vordergrund, dabei hatte ich sie halbwegs erfolgreich verdrängt. Eine Gänsehaut jagte über meine Arme. Was passierte hier bloß? Ich beruhigte mich, indem ich mir sagte, dass das sicherlich alles nur reiner Zufall sei. Wobei mein Gefühl vehement dagegen protestierte.
Ich atmete tief ein und schaute die alte Dame an. Sie schien relativ gelassen zu sein.
Da nun keine Gefahr mehr drohte, hob ich grüßend die Hand und setzte meinen Weg fort.
Meine Gedanken waren allerdings noch bei der alten Dame und den verhinderten Ganoven.
Die gespenstische Ruhe, die mich umgab, gepaart mit fast menschenleeren Straßen und Gassen, erinnerte mich an den letzten Horrorfilm, den ich gesehen hatte. Da bot sich den Zuschauern ein ähnliches Bild. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass im Film ein wahnsinniger Mörder sein Unwesen trieb und sich keiner mehr auf die Straßen traute. Trotzdem lief mir ein Schauer den Rücken herunter und ich wünschte mir, ich wäre zu Hause oder in der Redaktion, umgeben von Leuten und Normalität.
Ich trat kräftig in die Kette und erreichte nach einer halben Stunde mein Ziel. Ich hoffte inständig, dass Peter, mein Arbeitskollege, Zuhause war. Gott sei Dank hatte er eine Erdgeschosswohnung, sodass ich herumgehen und durch die Scheibe sehen konnte, und mich gegebenenfalls bemerkbar machen konnte, falls er da war.
Zu meiner großen Erleichterung sah ich ihn im Wohnzimmer sitzen, das Gesicht in die Hände gestützt. Ich zappelte und hopste vor dem Fenster hin und her, bis er den unruhigen Schatten bemerkte.
Er schaute hoch und sah mich traurig an. Ich bedeutete ihm, mir zu öffnen. Er nickte und stand auf. Blass öffnete er mir die Tür und deutete auf seine Ohren.
Da er mir damit nichts Neues erzählte, schrieb ich mein Anliegen gleich auf meinem Block, doch er schüttelte nur den Kopf.
Wieder schrieb ich in kurzen Worten, was geschehen war. Seine Augen weiteten sich und ich bemerkte eine gewisse Erleichterung, die sich bei ihm breit machte.
Er nahm meinen Block und antwortete mir, dass er mitkommen würde, er sich aber nur rasch umziehen wolle.
Zu zweit radelten wir zu unserem nächsten Kollegen Dennis. Gottlob wohnte er nur einen Steinwurf weit von Peter entfernt. Allerdings hatten wir hier kein Glück. Er wohnte in der zweiten Etage und wir hatten nicht die leiseste Idee, wie wir uns bemerkbar machen konnten. Glücklicherweise verließ zufällig jemand das Haus, sodass wir hineinschlüpfen konnten, um ihm eine Nachricht zu schreiben, die wir dann unter die Tür schoben.
Klaus Becker, der vierte im Bunde, wohnte einige Straßen von meiner Wohnung entfernt. Dort war vor einigen Jahren ein Neubaugebiet entstanden, in welchem er sich eine Doppelhaushälfte gebaut hatte. Seine Frau hatte in dem hier ebenfalls entstandenen Kindergarten Arbeit gefunden, nachdem sie einige Jahre Auszeit wegen ihren beiden Kindern genommen hatte. Inzwischen gingen die beiden aber in die Grundschule, sodass sie wieder angefangen hatte, zu arbeiten.
Leider trafen wir auch dort niemanden an, hinterließen aber ebenfalls eine Nachricht und fuhren dann zur Redaktion zurück.
Als wir an der Polizeistation vorbeikamen, bemerkte ich, dass dort nun ein reger Betrieb herrschte. Daher entschloss ich mich, noch einmal vorstellig zu werden, um zu versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen.
Ich deutete dies meinem Kollegen an.
Er nickte und zeigte auf die Redaktion und signalisierte mir, dass er gleich ins Büro gehen wolle.
Ich zweifelte zwar, dass ich viel Erfolg haben werde – aber:
“ Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, dachte ich mir und betrat entschlossen das Polizeigebäude.
Im Gegensatz zu heute Morgen, herrschte eine emsige Betriebsamkeit. Ich beschloss, mich an Herrn Wolfmann zu wenden. Vielleicht bekam ich ja was aus ihm heraus.
Ich zückte meinen Block und setzte mich auf einen der Stühle, die im Flur des Polizeigebäudes standen. Ich überlegte, welche Fragen ich ihm stellen konnte.
Nachdem ich etliche notiert hatte, steuerte ich sein Büro an und öffnete die Tür.
Klopfen machte ja nicht wirklich Sinn!
Er saß vor seinem Rechner und starrte so konzentriert auf seinem Bildschirm, dass er mich nicht bemerkte.
Ich begann mit meinen Armen hin und her zu winken, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Nach einiger Zeit gelang mir das auch und er starrte mich etwas verwirrt und fragend an.
Ich legte ihm meine schon vorgeschriebenen Fragen auf dem Tisch.
Erstaunt schaute er erst auf meinem Block und dann auf mich.
Ich ergänzte den Text durch die Erklärung, dass ich bei der Zeitung gleich nebenan arbeitete. In seinem Kopf ging gerade ein Kronleuchter an und er nickte begreifend.
Dann winkte er mich heran und wir kommunizierten, wie am Morgens, per PC.
Etwas erstaunt wollte er wissen, warum ich ihn nicht sofort beim ersten Besuch darauf aufmerksam gemacht habe, dass ich bei einer Zeitung arbeiten würde. Ich zuckte mit den Schultern und schrieb, dass es sicherlich dem Schock zuzuschreiben sei, den ich bei dem morgendlichen Erlebnis bekommen hatte. Verständnisvoll nickte er und schrieb, dass es gut sei, dass sich endlich jemand von der Presse bei ihm meldete, damit die Öffentlichkeit über einige Sachen informiert werden könnte.
Ich nickte und er schrieb dann, unsere Zeitung solle die Bevölkerung darauf hinweisen, dass sich im Moment so eine Art Virus ausbreitet, der Gehörlosigkeit verursachte.
Die Bürger sollten die Ruhe bewahren, denn es würde mit Hochdruck nach der Ursache geforscht.
Bis ein Resultat vorlag sollte die Bevölkerung versuchen - soweit es möglich war, ihren Alltag mit der gewohnten Normalität zu bewältigen.
Ich versprach, sofort mit meinem Chef darüber zu sprechen oder besser gesagt zu schreiben, um dann einen entsprechenden Artikel in die nächste Ausgabe zu setzen.
Als ich das Büro meines Chefs betrat, warf er mir einen Blick zu, der mich tödlich treffen sollte. Ich zeigte ihm mein strahlendes Lächeln und brachte ihn auf den neusten Stand. Widerwillig nickte er anerkennend und deutete mir dann an, mich endlich in mein Büro zu verkrümeln und mit meiner Arbeit zu beginnen.
Ich teilte mir das Büro mit meinen anderen Arbeitskollegen, die inzwischen vollzählig und brav an ihren Schreibtischen saßen und konzentriert auf ihre Bildschirme starrten.
Ich startete meinen PC und stellte fest, dass mein E-Mailfach buchstäblich überlief. Ich hoffte inständig, dass wenigstens die Hälfte Spam war, doch da wir einen guten Filter hatten, befürchtete ich, dass jede Menge Arbeit auf mich wartete.
Als erstes verfasste ich den von der Polizei gewünschten Bericht, den ich, als er fertig war, meinem Chef zuschickte. Er las wichtige Artikel oft noch mal durch, um sicher zu gehen, dass sich keine Fehlerteufel eingeschlichen hatten.
Danach kämpfte ich mich durch den Wust von Mails. Die freien Reporter waren gleichmäßig arbeitstechnisch auf uns vier verteilt. Jeder bekam von seinen Reportern das Neuste zu gemailt, was dann, wenn es brauchbar war, bearbeitet wurde und natürlich auch entsprechend provisionstechnisch abgerechnet werden musste. Gottlob gab es für die Abrechnung ein Programm, in dem man nur einen Code eingeben musste, sodass der Rest dann von unserer Dame bearbeitet werden konnte.
Ich wühlte mich durch die schier unendliche Anzahl der Mails. Dabei stellte ich verblüfft fest, dass sie, obwohl von unterschiedlichen Personen aus unterschiedlichen Ländern und Regionen gesandt, alle ähnlichen Inhalts waren. Überall schienen sich ähnliche Szenen abzuspielen, wie ich sie in unserer Stadt erlebte hatte.
Nur die Mails aus den kriegsgeplagten Ländern lasen sich wie eine Horrorgeschichte. Dort schien alles aus dem Ruder zu laufen.
Tote, Verletzte gepaart mit dem absoluten Chaos. Ich schüttelte den Kopf.
Das wurde immer verrückter! Ich stand auf und ging zu meinen Kollegen. Ich schrieb auf einen Zettel die Frage:
„Habt ihr auch Mails mit ähnlichem oder sogar gleichen Inhalt von euren Informanten erhalten?“
Sie nickten mir ratlos zu. Die ganze Sache wurde immer mysteriöser. Was steckte bloß dahinter?
Verwirrt setzte ich mich wieder an meinen Platz und starrte den PC an. Ich entschloss mich, einige Mails auszudrucken, um sie dann in Ruhe miteinander zu vergleichen.
Ich stellte fest, dass es viele Parallelen gab, denn der Verlust der Hörfähigkeit schien sich wie eine Seuche auszubreiten.
Die Berichte aus den Krisengebieten ähnelten sich insofern, dass sie alle eine hohe Selbstmordrate aufwiesen. Das komische hierbei war, dass auch Soldaten, die eigentlich die Terroristen bekämpfen sollten, sich ebenfalls erschossen.
Seltsamerweise versagten die Autos auch woanders auf der Welt ihren Dienst, die Flugzeuge ließen sich nicht starten und konnten nicht abheben und die Züge fuhren nicht.
In vielen Teilen der Erde war das Stromnetz sehr labil oder war ganz zusammengebrochen.
Besonders in den Krisengebieten herrschte das totale Chaos. Aber auch die großen Industrienationen wie Indien, China und die USA waren davon betroffen. Ich begann, die Berichte zusammenzufassen, als mir einfiel, dass meine Kollegen möglicherweise genau dieselben Meldungen bekamen.
Normalerweise hatte jeder seinen eigenen Bereich, den er zu bearbeiten hatte. Aber bei der auffälligen Ähnlichkeit der Vorkommnisse machte es sicherlich Sinn, die Texte aufeinander abzustimmen. Den gleichen Gedanken schienen die anderen auch zu haben, denn wir schauten fast gleichzeitig hoch.
Ich grinste. Es war schon lustig. Ein eingespieltes Team versteht sich auch ohne Worte. Wir einigten uns darauf, dass zwei an der Zusammenfassung der zugesandten Berichte arbeiteten und die anderen regionale Begebenheiten mit eigenen Erfahrungen wiedergeben sollten.
So erzählte Dennis, einer meiner Kollegen, dass sein Nachbar ihn morgens abgepasst hatte, als er seine Wohnung verließ, um ihn darum zu bitten, sein Hörgerät neu einzustellen. Jener Nachbar, ein älterer Herr, war recht schwerhörig und dachte, als er nichts mehr hören konnte, es läge an seinem Gerät. Dennis versuchte vergeblich ihm klarzumachen, dass es nicht sein Hörgerät war, was versagte.
Man stelle sich einen Dialog zwischen zwei Leuten vor, die sich nicht hören können, wovon der eine aber nicht wusste, dass der andere ihn nicht hören konnte. Wenn man der Zeichensprache nicht mächtig ist, ist dies ein äußerst schwieriges Unterfangen. Es endete dann auch damit, dass der Nachbar erbost und unverstanden wieder seines Weges ging.
Natürlich konnte man das nicht veröffentlichen, aber es lockerte die doch recht seltsame Situation, in der wir uns befanden etwas auf.
Auf einmal grinste Klaus, mein anderer Kollege und meinte, jetzt könnten seine Kinder ja ruhig Krach machen, ohne dass sich die Nachbarn beschwerten.
Ich nickte. In puncto Krach waren meine Nachbarn auch sensibel. Arbeitete ich länger und wollte dann noch meine Wohnung sauber machen, klopfte garantiert der untere Mieter mit dem Besen an die Decke, wenn es nach 22 Uhr war.
Dabei war es gar nicht so einfach, alles das, was Krach machte, bis 22 Uhr zu erledigen. Wenn man nach einem langen Arbeitstag noch etwas eingekauft hatte und dann nach Hause kam, war das Zeitfenster, Lärm in seiner Wohnung zu machen, schnell geschlossen.
Ich hatte recht spezielle „ nette“ Nachbarn. Ein älteres Ehepaar, beide Rentner. Sie war zwar nicht ganz so schlimm, aber er war ein absolutes Ekel.
Er stand morgens auf und marschierte nach dem Frühstück in die Stadt, um alle Verkehrsvergehen der Autofahrer zu notieren und zur Anzeige zu bringen. Gott sei Dank reagierte die Polizei nicht mehr auf seine Flut von Anzeigen.
Was ihn allerdings nicht daran hinderte, trotzdem weiterzumachen. Da im Moment keine Autos fuhren, war Ekel-Alfred- wie ich ihn getauft hatte, da ich immer an die TV Serie „ ein Herz und eine Seele“ dachte, wenn ich ihn sah, jetzt erst einmal arbeitslos. Ein Segen für die Menschheit!
Sie hingegen hatte trotz ihres Alters ein äußerst empfindliches Gehör und Lärm machte sie krank. Als ich daran dachte, musste ich auch grinsen. Jetzt wurde ihre Ruhe durch nichts gestört. Aber wahrscheinlich war ihr die totale Stille auch nicht recht.
Ich widmete mich wieder den unzähligen Mails, um daraus einen Bericht zu verfassen.
Ich war so vertieft in meiner Arbeit, dass ich erschrak, als mich jemand auf die Schulter klopfte.
Ich blickte hoch und sah meinen Chef einen Zettel in die Hand haltend worauf stand:
„Ist der Bericht fertig?“
Ich nickte und deutete ihm an, dass ich ihm den Bericht schon längst zugeschickt hatte. Stirnrunzelnd ging er zurück in sein Büro. Ich grinste in mich hinein. Offensichtlich hatte er seine ganzen Mails auch noch nicht abgearbeitet.
Ich schaute auf meine Uhr. 21 Uhr! Meine Güte, wie schnell die Zeit vergangen war!
Ich bedauerte insgeheim die Arbeiter in der Druckerei, die in der heutigen Nachtschicht sicherlich einen Megastress haben werden.
Ich beschloss, Feierabend zu machen. Meine anderen Kollegen befanden sich auch gerade in Aufbruchstimmung und so verließen wir gemeinsam die Redaktion.
Während der Arbeit hatte ich die Stille ausblenden können, doch als ich jetzt auf der Straße stand, prallte die ungewöhnliche Situation mit aller Macht auf mich ein. Ich schaute meine Arbeitskollegen an. Auch sie schienen dasselbe zu empfinden wie ich.
Bedrückt verabschiedeten wir uns tonlos und jeder machte sich auf dem Nachhauseweg.
Während ich radelte, musste ich die Gehörlosen bewundern, die ihr ganzes Leben in dieser Stille verbringen müssen.
Erst wenn man sich selbst in derselben Lage befand, verstand man, welch eine Herausforderung dies jeden Tag aufs Neue darstellte.
Allerdings konnte ich es mir einfach nicht erklären, warum sich diese Stille so plötzlich auf die Welt gelegt hatte. Warum bestimmte Dinge gar nicht oder nur eingeschränkt funktionierten. Es musste doch dafür einen logischen Grund geben. So etwas passierte doch nicht einfach so!
Aber – es war passiert!
Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um diese Frage.
Als ich meine Wohnungstür öffnen wollte, klebte eine Nachricht von Anja daran:
„ Bitte melde dich bei mir, wenn du wieder zuhause bist!“
Meine Laune hob sich schlagartig. Rasch betrat ich meine Wohnung und machte mich frisch.
Im Vorbeigehen aß ich schnell ein fertig gemachtes Brot.
Als ich bei ihr vor der Tür stand, las ich ihre Nachricht:
„Bitte einfach klingeln!“
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wie sie die denn hören wollte, aber ich folgte brav der Anweisung. Überrascht stellte ich fest, dass sie tatsächlich kurz darauf die Tür öffnete. Lächelnd bat sie mich mit einer einladenden Geste einzutreten. Sie sah es wohl an meinem Gesicht, dass ich sie fragen wollte, wieso sie das klingeln gehört hatte, darum deutete sie auf eine Lampe, die noch blinkte.
„Na, das ist ja mal genial!“, dachte ich.
Man muss sich nur zu helfen wissen.
Sie hatte ihren Laptop an und so begannen wir, darüber zu kommunizieren.
Sie erzählte mir, dass sie in einer Einrichtung für Gehörlose arbeitete. Da jene auf optische Hilfsmittel angewiesen waren, war ihr vor einiger Zeit die Idee gekommen, sich ebenfalls eine Alarmlampe zu kaufen und anzubringen. Diese Idee hatte sich jetzt bezahlt gemacht.
Sie erzählte mir, dass sie, nachdem wir uns getrennt hatten, nach Hause gefahren war. Eigentlich wollte sie verreisen, da sie vierzehn Tage Urlaub hatte. Doch aufgrund der merkwürdigen Vorkommnisse, habe sie sich entschlossen, das Reisebüro aufzusuchen, um ihre Reise zu stornieren, denn sie hatte eine Reiserücktrittsversicherung.
Jedoch hatte sie feststellen müssen, dass es geschlossen hatte.
Sie war erst unschlüssig, was sie machen sollte, aber da sie genug Zeit hatte und nicht den ganzen Tag in ihrer Wohnung hocken wollte, entschloss sie sich zum Flughafen zu radeln, um zu schauen, ob es überhaupt möglich war, die Reise anzutreten.
Ich pfiff zwischen die Zähne, denn der Flughafen lag außerhalb der Stadt und befand sich ungefähr dreißig Kilometer von unserer Wohnung entfernt.
Am Flughafen, so berichtete sie weiter, herrschte eine gähnende Leere. Nur einige Sicherheitspolizisten patrouillieren im Gebäude und schickten sie auch prompt wieder fort.
Danach war sie dann zu ihrer Arbeitsstelle gefahren, aber auch dort traf sie niemanden an. So war ihr Tag von wenig Erfolg gekrönt gewesen. Frustriert und müde war sie wieder nach Hause gefahren und hatte mir dann die Nachricht an die Tür geklebt, in der Hoffnung, dass ich ihr was Neues und Positives erzählen konnte.
Leider konnte ich das nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass meine Anwesenheit ihr Geborgenheit vermittelte.
Auch ich fühlte mich sehr wohl in ihrer Gegenwart.
Nun berichtete ich ihr, was ich am Nachmittag gemacht hatte und was ich durch die vielen Mails in Erfahrung gebracht hatte. Sie konnte sich, so wie ich, genauso wenig einen Reim aus den Geschehnissen des Tages machen.
Aber sie vermutete, dass hinter dem Ganzen eine große Macht steckte. Aber wer? Wer hatte einen Vorteil davon, die Welt in ein Chaos zu stürzen? Darauf wusste natürlich weder sie noch ich eine Antwort.
War es eine starke Terrororganisation, die versuchte, ein heilloses Durcheinander zu verursachen. War es doch ein Virus, der freigesetzt, den menschlichen Organismus angriff? Aber warum funktionierten die technischen Sachen nur bedingt. Ach man, das ergab doch alles keinen Sinn!
Ich seufzte. Anja sah mich so traurig an, dass ich impulsiv meinen Arm um sie legte.
Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust. Mein Herz klopfte vor Aufregung. Es war schon eine Weile her, dass sich ein Mädchen an mich gedrückt hatte. Ich atmete ihren berauschenden Duft ein. Meine Hand lag auf ihrer glatten und samtweichen Haut. Ich warf einen verstohlenen Blick auf ihr hübsches, leicht gebräuntes Gesicht, dass von ihren dunklen Haaren umspielt wurde. Sie wirkte so zerbrechlich, sodass sich in mir mein Beschützerinstinkt ausbreitete und ich das Bedürfnis hatte, sie vor allen Gefahren zu bewahren. So saßen wir still in trauter Umarmung. Ich traute mich nicht, mich zu rühren, um die romantische Stimmung nicht zu zerstören.
Doch irgendwann stieg in mir die Müdigkeit hoch und nahm gewaltsam von meinem Körper Besitz. Ich unterdrückte ein Gähnen, worauf Anja mich süß anlächelte und meinte, auch sie sei müde.
Der Tag war letztendlich für uns beide sehr aufregend und anstrengend gewesen. Nun forderte die Natur ihr Recht. So entschloss ich mich schweren Herzens in meine Wohnung zurückzukehren. Allerdings nicht ohne mich mit ihr am nächsten Abend zu verabreden. Sie strahlte mich glücklich an.
Erschöpft ließ ich mich einige Zeit später ins Bett fallen. Trotz des wirklich üblen Tages war mir leicht ums Herz. Die an und für sich schreckliche Erscheinung der Taubheit hatte Anja und mich näher gebracht. Wenigstens etwas Positives, was ich an diesem Tag verzeichnen konnte.
Flüchtig dachte ich an meine Wohnung, an der ich eigentlich noch Hand anlegen müßte, denn das Chaos war nicht mal mehr als geordnet zu bezeichnen, ganz zu schweigen von den Wollmäusen, die sich in den Ecken sehr wohl fühlten, aber das musste definitiv warten.
Ich brauchte jetzt unbedingt meinen Schönheitsschlaf.
Plötzlich hörte ich Vogelgezwitscher. Ich öffnete meine Augen und blinzelte, weil die Sonne mir direkt in die Augen schien.
Verwirrt schaute ich mich um. Ich befand mich auf einer grünen Wiese. Der warme Rasen schmiegte sich weich an meinen Füßen. Bei näherer Betrachtung erkannte ich den Stadtpark. In der Nähe befand sich ein Spielplatz, auf dem fröhlich lachende Kinder spielten.
Ich hörte sie lachen! Glücklich stellte ich fest, dass alle Geräusche wieder da waren.
Vergnügt machte ich mich auf dem Weg, um festzustellen, ob wirklich alles wieder so war, wie immer, als mir plötzlich ein Mann den Weg versperrte.
Erstaunt schaute ich ihn an, doch er hob sofort drohend ein Gewehr und machte Anstalten, auf mich zu schießen!
Was war das denn?
Woher kam er so unerwartet?
Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte so schnell ich konnte fort.
Ich hörte, wie die Kugeln neben mir einschlugen. Ich musste unbedingt die nächste Baumreihe erreichen, um Schutz vor den Kugeln zu finden.
Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht von der Stelle und die Bäume schauten mich traurig aus der Ferne an.
Panik stieg in mir auf. Ich hörte ihn wutentbrannt schreien, allerdings verstand ich seine Worte nicht.
Schweiß brach mir aus.
Angsterfüllt blickte ich mich um und bemerkte, dass alles um mich herum dunkel und grau geworden war und die Schüsse immer leiser wurden und zum Schluss ganz verstummten.
Plötzlich war ich umgeben von einer undurchdringlichen Dunkelheit und Stille.
Mit weit aufgerissenen Augen tastete ich mich vorwärts.
Der Boden unter meinen nackten Füssen fühlte sich glatt und kalt an.
Mit den Händen berührte ich Holz. Ich tastete mich weiter, mich verzweifelt fragend, wo ich mich befand.
Dann eine Wand. Ich fühlte eine Tapete. Ich tastete mich vorsichtig an der Wand entlang. Irgendwann berührte ich einen Schalter, den ich betätigte. Licht ging an.
Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich mich in meinem Schlafzimmer befand.
Offensichtlich hatte ich schlecht geträumt und zu allem Überfluss schlafgewandelt. Das war mir ja lange nicht mehr passiert! Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
Es war alles so real gewesen.
So furchtbar real.
Ich setzte mich auf mein Bett und dachte nach. Ich konnte mich an jede Einzelheit erinnern.
Aber wahrscheinlich war die Aufregung des vergangenen Tages doch zu groß gewesen, sodass mein Geist im Traum das Erlebte verarbeitet hatte.
Ich stand wieder auf und ging in die Küche, um mir etwas Wasser zum Trinken zu holen.
Mit dem Glas in der Hand wanderte ich ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür und
trat in die laue Mailuft hinaus.
Hell funkelten die Sterne wie kleine Fackeln am Himmel. Der Vollmond warf mit aller Kraft sein Licht auf die Erde. Mein Blick schweifte über die dunkle Straße.
Das Licht der Straßenlaternen flackerte unruhig und erlöschte kurz darauf gänzlich.
Verwundert runzelte ich die Stirn. Offenbar wollte die Stadt neuerdings nachts Strom sparen und schaltete die Straßenbeleuchtung aus. Ich schüttelte den Kopf und dachte:
„Wozu zahlen wir eigentlich soviel Steuern, wenn wir nachts unterwegs sind und uns im dunkeln nach Hause tasten müssen?“
Ich leerte mein Glas und ging wieder ins Schlafzimmer, um weiterzuschlafen.
Das war jedoch nicht so einfach, da der Alptraum meinen Adrenalinspiegel dermaßen aufgeputscht hatte, dass ich nun hellwach war.
Ich dachte über meinen Traum nach.
Die grüne Wiese, die lachenden und spielenden Kinder und dann der Mann mit dem Gewehr. Erst Harmonie und dann das totale Grauen. Wie passte das zusammen?
Ich schüttelte den Kopf, Gar nicht! Es war einfach nur ein blöder Traum. Ärgerlich drehte ich mich auf die andere Seite in der Hoffnung, endlich einzuschlafen.
Natürlich klappte es nicht.
Ich war einfach wach!
Seufzend stand ich wieder auf und holte mir ein Buch. Bei Einschlafproblemen half mir das Lesen immer.
Gerade hatte ich es mir im Bett wieder gemütlich gemacht und wollte anfangen zu lesen, als auch mein Licht flackerte und ausging.
Ich stöhnte innerlich. Heute schien alles gegen mich verschworen zu sein.
Ich krabbelte wieder aus meinem Bett, tastete mich an der Wand entlang zum Fenster und zog die Rollladen hoch.
Der Mond warf großzügigerweise sein Licht in mein Zimmer und erhellte es etwas. Natürlich reichte es nicht aus, um zu lesen.
Also beschloss ich, mich wieder hinzulegen, um vom Bett aus in den Himmel zu schauen.
Sterne faszinierten mich schon seit meiner Kindheit. Diese blitzenden, fernen Planeten lockten seit Menschengedenken Wissenschaftler an, die die Rätsel dieser fernen Welten lösen wollten.
So boten sie immer wieder Stoff zum Träumen.
Ich stellte mir vor, ich wäre auf einen fernen Planeten, auf dem es keine Krankheiten gab. Die Bewohner lebten glücklich und zufrieden miteinander. Hass und Gewalt wären ihnen fremd. Oh man! Welch heile Welt!
Ich dachte an unsere Erde, die voller machtgieriger Despoten war. Seufzend entdeckte ich einen hell leuchtenden Stern:
„ Könnte Sirius sein“, dachte ich und schloss die Augen.
Jedoch sah ich immer noch den hellen Punkt vor meinem inneren Auge. Um einschlafen zu können, konnte man Schäfchen zählen oder helle Sterne aufzählen. Ich entschloss mich für das letztere und ging in Gedanken alle von der Erde aus erkennbaren hellen Sterne durch: Sonne, Sirius, Canopus, Arcturus, Alpha Centauri, Wega, Capella………..
Die Sonne schien mir ins Gesicht und weckte mich mit ihren warmen, hellen Strahlen. Ich schlug die Augen auf. Ich horchte. War mein Hörvermögen zurückgekehrt? Es war still.
Nein, sah nicht so aus, denn sonst müsste ich die Vögel zwitschern hören können.
Okay, ein neuer Tag, um herauszufinden, warum diese unheimliche Stille um sich gegriffen hatte.
Ich stand auf und erledigte lustlos meine morgendliche Toilette. Meine Gedanken kreisten unermüdlich um die Frage, warum ich immer noch nichts hören konnte. Es war wenig tröstend, dass ich nicht allein mit diesem Problem war. Ich sah mein Antlitz im Spiegel an. Abgesehen davon, dass ich etwas müde wirkte, hatte ich nicht den Eindruck, dass ich krank aussah. Vielleicht gab es für alles eine harmlose Erklärung. Ich hoffte es sehr.
Ich ging in die Küche und machte mir mein Frühstück. Zu meiner Erleichterung hatte ich wieder Strom und konnte die Kaffeemaschine und den Toaster arbeiten lassen.
Allerdings stellte ich fest, dass ich dringend einkaufen musste.
Darum holte ich mir nach dem Frühstück mein Fahrrad aus dem Keller.
Als ich an meinem Auto vorbeikam, schaute ich es vorwurfsvoll an. Normalerweise erledigte ich grundsätzlich die Einkäufe mit dem Auto, aber das Luxusgefährt streikte ja, warum auch immer.
Obwohl es noch recht früh war, meine Uhr zeigte gerade mal 7.30 Uhr, war der Supermarkt, der circa fünf Fahrradminuten von mir entfernt war, brechend voll.
Zum Glück konnte ich noch einen der wenigen Einkaufswagen ergattern.
Die Leute hatten ihre Einkaufswagen hoch voll gepackt und an den Kassen bildeten sich Riesenschlangen.
Ich fuhr mit meinem Einkaufswagen die Regale ab und stellte fest, dass in den Regalen teilweise schon keine Waren mehr standen. Die Menschen deckten sich wohlweislich mit allem Notwendigen ein, da niemand mit Gewissheit sagen konnte, ob sich die Situation nicht noch verschlimmern würde.
So folgte auch ich dem Herdentrieb und füllte meinen Wagen mit reichlich Fertiggerichten, Nudeln und allem Haltbaren, was sich noch ergattern ließ.
Irgendwie füllte sich mein Einkaufswagen und war nach einiger Zeit genauso voll wie die der anderen Leute.
Nun steuerte ich noch die Schreibwarenabteilung an, besorgte mir eine Zaubertafel.
Damit konnte ich schnell das Geschriebene mit einem Schieber wieder entfernen.
Danach packte ich mir aus der Elektroabteilung noch eine Lampe ein, die ich mit der Klingel verbinden wollte, damit ich sah, wenn jemand vor der Tür stand.
Ich stellte mich an irgendeine Schlange an und wartete darauf, dass ich die Kasse irgendwann zu Gesicht bekam.
Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich meine Waren auf das Transportband packen. Ich beobachtete die Kassiererin, die sehr konzentriert auf die kleine Anzeige an der Kasse starrte, während sie blind die Waren packte und über den Scanner zog.
Na klar, sie konnte das Piepsen des Scanners nicht hören und war deshalb gezwungen zu schauen, ob der Preis angezeigt wurde, was dann gleichbedeutend mit dem Registrieren der Ware verbunden war. Wenn sie daneben griff, musste sie wieder auf das Band schauen, dann wieder auf das Display. Kein leichter Job!
Ich sortierte meine Ware so, dass es für sie leicht war, die Waren ohne Fehlgriff einzuscannen.
Als ich bezahlen musste, schluckte ich ein wenig. Mit soviel hatte ich eigentlich nicht gerechnet.
Ich zückte meine EC-Karte und bezahlte in der Hoffnung, dass diese Funktion noch möglich war.
Zu meiner großen Erleichterung klappte es.
Puh, Glück gehabt!
Ich schob mit meinem Wagen aus dem Kaufhaus heraus und schlug den Weg Richtung Parkplatz ein. Doch dann stutzte ich, als ich bemerkte, dass kein einziges Auto dort stand. Meins natürlich auch nicht!
Ich stöhnte innerlich. Oh man, ich hatte in meinem Kaufrausch völlig vergessen, dass ich mit dem Fahrrad gefahren war! Ich schob den Einkaufswagen zu meinem Fahrrad und schaute es ratlos an. Unschuldig stand es auf seinem Ständer. Lediglich eine Seitentasche am Gepäckträger wies daraufhin, dass man dort etwas, aber auch wirklich nur etwas darin verstauen konnte.
Das ging ja gar nicht!
Damit konnte ich auf keinen Fall den Einkauf transportieren. Dazu war es zuviel. Notgedrungen entschloss ich mich, den Einkaufswagen bis zu meiner Wohnung zu schieben.
Als ich mich damit auf dem Weg machte, stellte ich fest, dass ich nicht der einzige war, der den Einkaufswagen nach Hause schob. Das erklärte auch, warum so wenige Wagen zur Verfügung standen, als ich zum Supermarkt kam. Insgeheim hoffte ich, dass mir niemand Bekanntes begegnete. Sah schon irgendwie blöd aus, einen voll gepackten Einkaufswagen durch die Stadt zu schieben.
Ich fragte mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass mir ein bekanntes Gesicht über den Weg laufen würde. Ich gab mir selbst die Antwort: Sehr groß! Denn in dem Wohngebiet, in dem ich wohnte, herrschte eine gute Nachbarschaft. Jeder kannte jeden.
Ich schob den Einkaufswagen über den Bürgersteig. Blöderweise hatte ich einen erwischt, bei dem die Räder meinten, ihren Dienst nur nach Gutdünken auszuführen.
Andauernd verdrehten sie sich und es war etwas mühselig vorwärts zu kommen. Der Weg zu meiner Wohnung zog sich hin wie Kaugummi.
Zu meinem Glück traf ich keinen meiner Nachbarn, der sich über mich lustig machen konnte. Immerhin ein kleiner Trost.
Als ich endlich meine Wohnung erreicht hatte, war ich nass geschwitzt.
Mit Grauen dachte ich an den Rückweg, tröstete mich aber damit, dass der Wagen dann leer war und hoffentlich nicht so viele Probleme bereitete. Da ich keine Lust hatte, die ganzen Waren zum dritten Stock in meiner Wohnung zu schleppen, entschied ich mich, sie in meinem Kellerraum zu packen. Ich schob den Einkaufswagen ins Haus und parkte den Wagen direkt vor der Kellertreppe.
Natürlich blieb meine Packerei nicht unbeobachtet! Als erstes kreuzte Anja auf, die – zu meiner Überraschung – ebenfalls mit einem voll gepackten Einkaufswagen ankam.
Sie grinste mich an, als sie sah, dass sie das Gleiche gemacht hatte wie ich. Auch sie wollte die meisten Sachen in ihrem Keller verstauen und so half ich ihr, als ich meine Sachen verstaut hatte.
Nachdem wir fertig waren, präsentierte ich ihr meine Zaubertafel. Sie lächelte und zog ebenfalls eine aus ihrer Jackentasche.
„ Oh man“, dachte ich nur innerlich grinsend:„Zwei Doofe und ein Gedanke!“
Ich schrieb ihr, dass ich den Wagen zurückbringen und anschließend zur Arbeit fahren wolle. Sie nickte und schrieb zurück, dass sie auch vorhatte zur Arbeit zu fahren, um zu sehen, ob ihre Hilfe gebraucht würde.
Gemeinsam schoben wir die Einkaufswagen wieder zurück.
Als wir am Supermarkt ankamen, stürmten schon gleich Leute auf uns zu, um die Wagen zu ergattern. Etliche Hände reckten sich uns entgegen, einen Euro hochhaltend, um unsere Wagen zu erbeuten.
Ratlos schaute ich die Masse an.
Dann sah ich eine ältere, etwas gebrechlichere Dame im Hintergrund, die sehnsüchtig zuschaute, wie wir umringt wurden. Sicherlich traute sie sich nicht, sich in dem Gedränge zu mischen.
Während Anja ängstlich vom erstbesten den Euro entgegennahm und ihren Wagen abgab, schob ich ihn zielsicher zu der alten Dame.
Lächelnd übergab ich ihn ihr. Ein glückliches Lächeln legte sich auf ihr faltiges Gesicht. Sie wollte mir einen Euro geben, doch ich schüttelte den Kopf.
Ich hatte jede Menge Plastikchips, die ich immer nutzte, wenn ich einkaufen ging. Ich zog meine Zaubertafel heraus und schrieb eilig darauf:
„Ist ein Plastikchip drin, können sie behalten!“
Sie nickte dankbar und schob den Wagen in den Supermarkt.