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Beide Novellen handeln von modernen Frauen, die sich in einem Zwiespalt zwischen Liebe, Wünschen, Sehnsüchten und einem selbstbestimmten Leben befinden. Dieses Thema hat bis heute Nichts von seiner Aktualität verloren.
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Seitenzahl: 186
Lou Andreas-Salomé
Fenitschka
und Eine Ausschweifung
Impressum
Cover: Gemälde "Annie Gambart" von William Powell Frith
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015
ISBN/EAN: 9783958705531
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
www.nexx-verlag.de
Es war im September, der stillsten Zeit des Pariser Lebens. Die vornehme Welt steckte in den Seebädern, die Fremden wurden scharenweise von der drückenden Hitze vertrieben. Trotzdem drängte sich an den schwülen Abenden auf den Boulevards eine so vielköpfige Menge, dass sie der Hochsaison jeder andern Stadt immer noch genügt hätte.
Max Werner flanierte nach Mitternacht über den Boulevard St. Michel, als er in eine kleine Gesellschaft ihm bekannter Familien hineingeriet. Sie hatten mit durchreisenden Freunden ein Theater besucht und wollten nun diesen Herren und Damen ein wenig »Paris bei Nacht« zeigen – nämlich erst in einem charakteristischen Nachtcafé des Quartier Latin einkehren und dann, im Morgengrauen, um die Stunde, wo die Stadt schläft, den interessanten Trubel bei den Hallen betrachten, wenn der verödete Platz sich mit den Marktleuten belebt, die ihre Waren vom Lande einfahren und sie ausbreiten.
Nach einigem Zögern und Schwanken von Seiten der Damen entschied man sich für das Café Darcourt, das um diese Stunde schon überfüllt war mit den Grisetten und Studenten des Quartier, und besetzte ein paar der kleinen Marmortische draußen, die auf dem Trottoir, mitten unter den Passanten, an den weitgeöffneten, hellerleuchteten Fenstern entlang standen.
Max Werner kam neben eine junge Russin zu sitzen, die er zum ersten Mal sah – ihren langklingenden Namen überhörte er bei der Vorstellung, doch wurde sie von den anderen einfach als »Fenia« oder »Fénitschka« angeredet. In ihrem schwarzen nonnenhaften Kleidchen, das fast drollig unpariserisch ihre mittelgroße ganz unauffällige Gestalt umschloss und eine beliebte Tracht vieler Züricher Studentinnen sein sollte, machte sie zunächst auf ihn keinerlei besonderen Eindruck. Er musterte sie nur näher, weil ihn im Grunde alle Frauen ein wenig interessierten, wenn nicht den Mann, dann mindestens den Menschen in ihm, der seit einem Jahre doktoriert hatte und nun ein brennendes Verlangen besaß, in der Welt der Wirklichkeit praktisch Psychologie zu lernen, ehe er von einem Katheder herab welche las: was ihm einstweilen noch keine begehrenswerte Zukunft schien.
An Fenia fielen ihm nur die intelligenten braunen Augen auf, die jeden Gegenstand eigentümlich seelenoffen und klar – und jeden Menschen wie einen Gegenstand – anschauten, sowie der slawische Schnitt des Gesichtes mit der kurzen Nase: einer von Max Werners Lieblingsnasen, die da vernünftigen Platz zum Kusse lassen – was eine Nase doch gewiss tun soll.
Aber dieses geradezu blass gearbeitete, von Geistesanstrengungen zeugende Gesicht forderte so gar nicht zum Küssen auf.
Anfangs sprachen sie kaum miteinander, denn im Innern des Lokals, neben demselben Fenster, an dessen Außenseite sie saßen, spielte sich eine erregte Szene ab, die aller Aufmerksamkeit auf sich zog. Dort befanden sich zwei Pärchen am Tisch, die ihre Unterhaltung mit Scherzreden und Neckereien begannen und damit endeten, sich fürchterlich zu zanken.
Das eine der beiden Mädchen – wenig schön und am Verblühen, aber trotzdem ein unverwüstlich graziöses Pariser Köpfchen – wurde schließlich vom Gegenpaar mit einer Flut hässlicher Schmähreden überschüttet, ohne dass ihr eigener Begleiter ihr auch nur im mindesten beigestanden hätte. Vielmehr stimmte er bei jedem erneuten Angriff johlend in das brutale Gelächter der beiden andern ein, das sich bald auch auf die benachbarten Tische fortpflanzte, wo neben den erhitzten halbbezechten Männern die geputzten Genossinnen des misshandelten Geschöpfs mit lärmender Schadenfreude ihre Konkurrentin niederjubelten.
Durch die schwere, dumpfe, vom Tabakrauch und vom Dunst der Menschen, Gasflammen und Getränke erfüllte Luft des Lokals schallten die rohen Stimmen laut bis zu dem Tisch draußen hinüber, an dem es ganz still geworden war. Auf den Gesichtern der Damen prägten sich deutlich Mitleid, Ekel, Entrüstung und eine gewisse Verlegenheit darüber aus, einer solchen Situation beizuwohnen; eine von ihnen knüpfte furchtsam ihren Schleier fester. Niemand aber war so benommen von dem, was er sah, wie Fenia.
Sie hatte von allem Anfang an mit sachlichem Interesse um sich geblickt, jede Einzelheit, die ihr auffiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber wurde sie ganz sichtlich von einer so intensiven Anteilnahme erfüllt, dass sie zuletzt – offenbar ganz unwillkürlich, wie außerstande länger passiv zu verharren – sich langsam erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausstreckte, als müsse sie eingreifen oder Halt gebieten. Im selben Augenblick ward sie sich ihrer spontanen Bewegung bewusst, hielt sich zurück und errötete stark, wodurch sie plötzlich ganz lieb und kindlich und ein wenig hilflos aussah.
Während sie aber so dastand, traf ihr Blick den der Grisette, die in ihrer Ratlosigkeit und Verlassenheit angefangen hatte zu weinen, so dass große Tränen ihr über die heißen geschminkten Wangen rollten und ihre Lippen sich konvulsivisch verzogen. Unter dem langen, eigentümlichen Blick, den sie mit Fenia austauschte, veränderte sich der Ausdruck des weinenden Gesichts; von Fenias Augen schien eine Hilfe, eine Liebkosung, eine Aufrichtung auszugehen, etwas, was die Einsamkeit dieses getretenen Geschöpfes aufhob. Man konnte vom Tisch aus deutlich den Stimmungswechsel auf ihren Zügen verfolgen, denn sie saß fast grade gegenüber am Fenster. Ein Danken, Staunen, Nachsinnen – ein momentanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und deren Schmähreden ließ ihre Tränen versiegen, und sie achtete kaum noch darauf, dass das Paar neben ihr sich erhob, um fortzugehen, und auch ihr Begleiter seinen schäbigen Zylinder vom Wandhaken abhob.
Da stieß er sie brutal mit dem Ellenbogen an und forderte sie auf, sich zu beeilen.
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte im Pariser Argot, die man draußen nicht deutlich vernehmen konnte, die aber eine äußerst deutliche Gebärde der Geringschätzung und Ablehnung begleitete. Er machte eine verdutzte Miene und rief dadurch neues Gelächter hervor. Diesmal jedoch galt es ihm, dem Geprellten, der mit wütendem Gesicht das Lokal verließ.
Das Mädchen nahm ihr fadenscheiniges Seidenmäntelchen von der Stuhllehne, hing es um und schaute dabei mit einem stolzen und leuchtenden Blick zu Fenia hinüber, die unbeweglich stehen geblieben war – eine ganz wunderlich ernste, ergriffene Gestalt inmitten der verschleierten Damen und der buntgekleideten, lachenden Dämchen umher.
Gleich darauf sah man ihren Schützling aus der Tür treten und am Tisch vorüberkommen. Aber da geschah etwas allen ganz Unerwartetes: denn neben Fenia blieb das Mädel stehen, öffnete die Lippen, wie um sie anzusprechen, und plötzlich, mit einer impulsiven Bewegung, deren Natürlichkeit eine mit sich fortreißende Anmut besaß, streckte sie Fenia beide Hände entgegen.
Diese ergriff die dargebotenen Hände und schüttelte sie mit herzhaftem Druck. Einige Augenblicke lang standen sie da und lächelten einander an wie Schwestern, während alle verblüfft, interessiert, amüsiert um die beiden herum saßen. Dann entfernte sich das Mädchen mit einer Kopfneigung gegen die andern und verschwand im vorüberhastenden Menschenstrom.
Man lachte über das kleine Drama, man scherzte über Fenias »Erfolg« und neckte sie nicht wenig. Sie selbst war sehr einsilbig geworden.
Eine der Damen missverstand ihren ernsthaften Gesichtsausdruck und bemerkte:
»Ja, chérie, eine ziemlich unerbetene und unbequeme Freundschaft! Sie könnte Ihnen eines schönen Tages recht peinlich werden, wenn dies Wesen Sie irgendwo auf der Straße wiedertrifft und Sie auf das intimste begrüßt – zur Überraschung derer, die vielleicht mit Ihnen gehen.«
»Das brauchen Sie nicht zu befürchten«, widersprach Max Werner rasch, »ich wette darauf, dass dieses Mädchen ohne merkbaren Gruß an Ihnen vorübergehen wird, falls es Ihnen je begegnet. Anderswo würden Sie vielleicht von ihrer Dankbarkeit verfolgt werden – die Französin würde es für eine schlechte Dankbarkeit halten, Sie eventuell dadurch zu kompromittieren. Das ist der französische Takt – der Takt einer alten Kultur, die allmählich bis in alle Schichten eines Volkes durchdringt und ihm seine fast instinktive Intelligenz gibt.«
»Ich würde sie aber gern wiedersehen!« sagte Fenia leise.
»Um was zu tun?«
»Ich weiß es nicht. Aber was mich vorhin so entsetzte, das war das Gefühl, als ob diese Mädchen gleichmäßig sowohl von den Männern wie von den Genossinnen preisgegeben würden – als ob sie geradezu wie in Feindesland lebten. – Ich habe noch nie so viel höhnische Verachtung gesehen wie in den Mienen der Männer – so viel höhnische Schadenfreude wie in den Blicken der andern Mädchen. – Und das ist hier im Lokal, wo sie sozusagen bei sich ist, unter den Ihrigen. – Außerhalb nun erst! – Oh ich denke mir, ein solches armes Ding muss nach einer freundlichen, einfach menschlichen Berührung lechzen.«
»Das ist richtig. Manchmal sind sie sehr dankbar dafür. Ich hab es mitunter auch schon bestätigt gefunden.«
»Sie?« Fenia heftete voll Interesse ihre hellbraunen Augen auf ihn. Sie war ganz und gar bei der Sache.
»Warum nicht ich?«
»Weil ich mir vorstelle, dass solche Mädchen einem jeden Mann mit Misstrauen begegnen – müssen sie nicht annehmen, er wolle von ihnen etwas ganz andres als ihr Vertrauen?«
»Donnerwetter!« dachte er und sah sich Fenia genauer an. Dieser Grad von Unbefangenheit, womit sie über so heikle Dinge mit einem ihr ganz fremden Manne sprach, hier, in Paris, in der Nacht, in diesem Café – und dabei ein Ausdruck in ihren Mienen, als unterhielten sie sich über fremdländische Käfer.
Waren Grisetten, junge Männer, Nachtcafés und Liebesabenteuer ihr wirklich dermaßen fremdländische Käfer?
»Diese Annahme würde ihr Vertrauen dem Manne gegenüber vermutlich gar nicht beeinträchtigen«, entgegnete er inzwischen Fenia auf ihre Frage, »denn dass er neben seiner menschlichen Anteilnahme vielleicht auch von ihnen als – als Frauen etwas empfangen will, das halten sie für ganz natürlich. Das Gegenteil würde wohl gar ihre Eitelkeit kränken und keinesfalls ihr Selbstbewusstsein heben.«
Er blickte bei seinen Worten um sich, ob der kleinen Gesellschaft, die längst zu andern Gesprächsstoffen übergegangen war, die Unterhaltung vernehmbar sei, und beugte sich näher zu Fenia, um mit gedämpfter Stimme fortfahren zu können.
»Es ist auch gar nicht so verwunderlich, wie es Ihnen vielleicht scheint«, bemerkte er, »denn Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich dabei nur um eine diesen Wesen ganz geläufige Verkehrsform handelt – um eine so gewohnte und geläufige, dass sie in ihr unwillkürlich alles und jedes zum Ausdruck bringen, auch Seelenregungen der Freundschaft, Dankbarkeit oder Sympathie, die in die sinnliche Äußerungsform nicht genau hineinpassen. Es ist eben ihre Art von Sprache geworden.«
Auch die vertrauliche Nähe, in der er das zu Fenia sagte und sie gleichsam mit sich isolierte, störte sie augenscheinlich nicht; sie senkte den Kopf und schien nachzudenken.
Nach einer kurzen Pause fragte sie lebhaft:
»Sie meinen also, auch diese Mädchen hegen oft rein kameradschaftliche Gesinnungen Männern gegenüber und äußern sie nur – nur – sozusagen nur falsch? Das kann ich mir schwer vorstellen. Denn wenn es auch die ihnen gewohnteste Sprache ist, worin sie alles und jedes ausdrücken – alle Menschen haben doch verschiedene Bezeichnungen für total verschiedene Dinge.«
»Glauben Sie? Ich meinerseits glaube viel eher, dass auch in unsern Ständen sich eine ganz ähnliche Beobachtung machen lässt. Unsre Mädchen und Frauen werden so daran gewöhnt, mit den Männern ihrer Umgebung eine rein konventionelle, ganz unsinnliche Verkehrsform zu üben, dass sie in dieser Sprache auch das noch ausdrücken, was ganz und gar nicht so abstrakt gemeint ist. Wie manches Mädchen meint mit einem Mann nichts als Geistesinteressen und Seelenfreundschaft zu teilen, während sie – oft unbewusst – nichts andres begehrt als seine Liebe, seinen Besitz. – Für eine kleine Grisette ist die menschliche Anteilnahme eines Mannes das bei weitem seltenere, gewissermaßen ausgeschlossene – für die Dame unsrer Gesellschaft ist es das rücksichtslose Sich-Ausleben des Weibes.«
Kaum hatte er diese Tirade vorgebracht, als unglücklicherweise die Gesellschaft aufbrach. Mitten im Stühlerücken und Durcheinanderreden fasste eine von den Damen Fenia unter den Arm und schnitt ihm ihre Antwort ab. Es ging nicht mehr über ein höchst uninteressantes Geschwätz aller mit allen hinaus.
Dennoch flanierte er neben ihnen her durch die nächtlichen Straßen, machte im »Chien qui fume« das unvermeidliche Nachtessen von Zwiebelsuppe und Austern mit und beschaute sich mit den andern in der Frühdämmerung durch die breiten Spiegelfenster des Restaurants das großartig malerische Bild der Wareneinfuhr in die Hallen. Dabei erfuhr er von einem russischen Journalisten, der Fenias Eltern gekannt hatte, wenigstens etwas vom äußern Umriss ihres Lebens. Von Geburt war sie Moskowitin, begleitete aber schon früh ihren erkrankten Vater, einen ehemaligen Militärarzt, nach Süddeutschland und der Schweiz, wo sie ihre Universitätsstudien begann – und nach seinem Tode mit Hilfe von mühsamem Nebenerwerb, Stundengeben und Übersetzungen aller Art hartnäckig fortsetzte. In Zürich schien sie mit lauter ihr befreundeten Männern zusammen zu studieren – einer von ihnen hatte sie in den Herbstferien auch hierher, nach Paris, begleitet, war dann aber nach Russland abgereist.
Kam daher dieser merkwürdig schwesterliche, geschlechtslose Anstrich, den sie sich gab, als gäbe es für sie auf der Welt nur lauter Brüder? Oder war es nicht viel wahrscheinlicher, dass dies unendlich unbefangene Betragen nur den äußeren Deckmantel abgab für ein ganz freies Leben? Sie musste doch schon recht viel von der Welt und den Menschen kennen – mehr als eines der wohlbehüteten jungen Mädchen unsrer Kreise.
Immer wieder schweiften seine Augen und seine Gedanken zu ihr hinüber, von der er argwöhnte, sie halte sich eine höchst kluge und gelungene Maske vor. Steckte nicht hinter diesem Nonnenkleidchen, das unter den andern Toiletten fast auffiel, etwas recht Leichtgeschürztes – hinter diesem offenen, durchgeistigten Gesicht nicht etwas Sinnenheißes, worüber sich nur ein Tölpel täuschen ließ? – Spielte nur seine eigene Phantasie ihm einen Streich, oder erinnerte Fenia nicht an die Magerkeit, Geistigkeit und stilisierte Einfachheit einer modern präraphaelitischen Gestalt, die so keusch ausschauen will und doch geheimnisvoll umblüht wird von verräterisch farbenheißen, seltsam berauschenden Blumen ...?
Jedenfalls ging etwas Aufregendes von Fenia über ihn aus und reizte ihn stark, trotz der Abneigung, die ihm damals jede studierende oder gelehrte Frau einzuflößen pflegte. Ja, er nahm's fast als Beweis, dass Fenia nur zum Schein eine solche sei.
Beim Verlassen des Restaurants wurde noch der Vorschlag laut, die lange Nachtschwärmerei mit einer Fahrt in den Bois de Boulogne abzuschließen, aber ein vielstimmiges Gähnen protestierte dagegen. Übrigens ließ sich auch an keiner Straßenecke ein Fiaker blicken. Endlich entschloss man sich, zu Fuß den Heimweg anzutreten, jeder Herr begleitete eine der Damen nach Hause, und Max Werner gelang es, Fenia auf seinen Anteil zu bekommen.
Schon drang die Sonne durch den Morgennebel und übergoss Paris mit jenem köstlichen Frührotschein, den die feuchte Luft über den Ufern der Seine erzeugt.
»Das ist ganz herrlich!« rief Fenia und blieb mitten auf der Straße stehen, setzte aber sogleich sehr prosaisch hinzu:
»Wenn ich jetzt eine Tasse starken Kaffee bekommen könnte! Dann brauchte ich mich zu Hause nicht erst niederzulegen, und der Tag wäre nicht verloren.«
»Sie sehen nicht müde aus, sondern ganz wunderbar klaräugig«, bemerkte er und sah sie an, »es wird Ihnen offenbar leicht, eine Nacht nicht auszuruhen.«
Sie nickte.
»Ich bin's gewöhnt«, sagte sie, »ich habe vorzugsweise nachts bei den Büchern gesessen. Wenn's um einen her so still ist –«
»Das klingt doch wirklich rein wahnsinnig, wenn man ein junges Mädchen so etwas sagen hört«, erwiderte er fast gereizt, denn es missfiel ihm heftig, »ich, so wie ich hier stehe, bin eben erst der Bücherstudiererei entlaufen wie dem ärgsten aller Frondienste. Und Sie – ein Weib – spannen sich freiwillig hinein.«
»Warum soll denn das ein Frondienst sein?« sie blickte erstaunt auf – »das, was unsern Gesichtskreis erweitert, uns das Leben aufschließt, uns selbständig macht –? Nein, wenn irgendwas in der Welt einer Befreiung gleicht, so ist es das Geistesstudium.«
»Sie ist imstande und benutzt diesen Heimweg – mitten auf der Straße, im Morgennebel – zu einem philosophischen Disput über den Wert des Geistesstudiums für das Leben!« dachte er fast erbittert und entgegnete im Brustton seiner festesten Überzeugung:
»Aber, mein Fräulein! da irren Sie sich nun wirklich! Es ist im Gegenteil das Beschränkendste, Einschränkendste, was es auf der Welt gibt! Und eigentlich versteht sich das ja von selbst. Die Wissenschaft führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all seinen Farben, all seiner Fülle, seiner widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit, völlig vorbei – sie erhascht von alledem nur eine ganz blasse, dünne Silhouette. Je reiner, je strenger und sicherer ihre Erkenntnismethoden sind, desto bewusster und größer dann auch ihr Verzicht auf das volle, das wirkliche Erfassen selbst des kleinsten Lebensstückchens. ... Deshalb ist der Wissenschaftler, der ihr dient, an so viel Selbstkasteiung gebunden, an so viel bloße Schreibtischexistenz und geistige Bleichsucht.«
Während er redete, überlegte er sich zugleich, dass der Weg bis zu Fenias Hotel sehr kurz sei, und machte deshalb auf alle Fälle einen Umweg, obwohl der Himmel sich bezog. Sie bemerkte auch gar nichts davon, weder von der Himmelstrübung noch vom Umweg.
»Für uns Frauen – für uns, die wir erst seit so kurzem studieren dürfen, ist es durchaus nicht so, wie Sie da sagen«, widersprach sie, ganz eingenommen von ihrer Sache; »für uns bedeutet es keine Askese und keine Schreibtischexistenz. Wie sollte das auch möglich sein! Wir treten ja damit nun grade mitten in den Kampf hinein – um unsre Freiheit, um unsre Rechte – mitten hinein in das Leben! Wer von uns sich dem Studium hingibt, tut es nicht nur mit dem Kopf, mit der Intelligenz, sondern mit dem ganzen Willen, dem ganzen Menschen! Er erobert nicht nur Wissen, sondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen. Was Sie von der Wissenschaft sagen, klingt so, als sei sie nur noch die geeignetste Beschäftigung für Greise, für abgelebte Menschen. Aber vielleicht seid nur ihr greisenhaft. Bei uns begeistert sie die Starken, die Jungen, die Frischen!«
»Ja, wissen Sie denn, was das beweisen würde, wenn es wirklich so ist?« fragte er ärgerlich und studierte dabei mit verliebtem Wohlgefallen den Ansatz des braunen Haares an ihren Schläfen, der eine reizende kleine Linie bildete; »es beweist einfach, dass Ihr Geschlecht zurück ist, dass es da lebt, wo wir vor Jahrhunderten standen. Etwa da, wo wir für jede wissenschaftliche Erkenntnis auf den Scheiterhaufen gerieten, oder mindestens in öffentlichen Verruf. Damals hatte allerdings das Leben für die Wissenschaft noch etwas verdammt Charakterstählendes und zog die ganze Existenz eines Menschen in die abstraktesten Erkenntnisfragen hinein. Aber solange das so ist, ist auch die feinste geistige Kultur noch nicht möglich – die Kultur von heute, die über den Dingen schwebt – und von der die Frauen nichts wissen, wenn sie studieren.«
»Aber wenn sie nicht studieren?« fragte sie spottend.
»Jawohl. Dann bekommen sie durch den Mann eine Ahnung davon.«
»Bitte – wo sind wir?« unterbrach ihn Fenia und blieb stehen.
»Werden Sie nicht böse! Im Eifer des Gefechts sind wir von der kürzesten Heimweglinie abgewichen. ... Aber ich wusste wohl: hier muss schon ein kleines Lokal offen sein, wo Sie Kaffee bekommen können«, fügte er schnell hinzu und führte sie ein paar Schritte weiter – »ich konnte nicht vergessen, dass Sie so schmerzlich nach Kaffee verlangten.«
Das kleine Café, vor dem sie standen, wurde allerdings grade geöffnet. Aber auf so frühe Besucher war es noch keineswegs eingerichtet. Der Besen, der drinnen über die Dielen fuhr, fegte ihnen mächtige Staubwolken entgegen, und die Stühle standen noch friedlich auf die Tische gestülpt da, wie während der Nachtzeit.
»Ich glaube, es ist noch weit nach meinem Hotel«, meinte Fenia bedenklich – »ist nicht jetzt ein Fiaker …«
»Nach Ihrem Hotel ist es freilich ein wenig weit«, fiel er ihr schnell in die Rede, »aber wenn Sie ... –, ich kann es gar nicht ertragen, dass Sie um den ersehnten Kaffee kommen. Sie müssen jetzt ja noch viel durstiger sein. Ich weiß einen Ort, wo Sie selbst um diese frühe Stunde ganz vorzüglichen bekommen.«
»Wo denn? Ganz nah?«
»Ganz nah. Keine zehn Häuser weit. Denn wir sind hier zwar etwas entfernt von Ihrem Hotel, aber desto näher bei dem meinen. Und meine Hotelwirte sind auf die merkwürdigsten Kaffeestunden eingerichtet. Gehen wir hin. Ich lasse dann von dort einen Fiaker besorgen.«
»Bei mir wird, glaub ich, der Speisesaal nicht so früh aufgemacht«, meinte Fenia etwas verwundert, »aber wenn es so ist – gehen wir meinetwegen.«
Ihre einfache Bereitwilligkeit irritierte ihn beinahe. Die mit ihr durchwachte Nacht hatte seine verliebte Neugier bis zu nervöser Erregung aufgereizt. Wie, wenn er sie gar nicht in den allgemeinen Speisesaal führte? konnte sie denn das wissen? Höchst wahrscheinlich war dieser wirklich noch nicht auf. Aber seine eignen Zimmer lagen daneben.
Eine Art von stiller Wut kam über ihn, seine Unklarheit über dieses Mädchen quälte ihn. War es wohl möglich, dass sie einem wildfremden jungen Menschen so weit entgegenkam, sich ihm so arglos anvertraute, wenn das alles nicht bloßes Raffinement war? Lachte sie etwa im stillen über ihn? Oder von welchem fernen Stern war sie auf das Pariser Pflaster gefallen?
Ach, er war noch sehr jung damals! Die Weiber taxierte er ganz besonders deshalb noch ziemlich falsch, weil er Angst hatte, für einen leichtgläubigen Dummkopf gehalten zu werden. Und was die studierenden Frauen betraf, gegen die er eine solche Abneigung besaß, so musste er sich gestehen, dass er sie eigentlich noch nicht kannte, denn die Frauen seiner intimeren Bekanntschaft gehörten ganz und gar nicht zu dieser Rasse.
Er führte Fenia in das Hotel garni, wo er wohnte, ließ sie einige Stufen hinaufsteigen und öffnete im breiten Korridor die Tür zu einem Zimmer neben dem Speisesaal.
Es war nicht sein Zimmer, sondern eine momentan unbesetzte große, helle Hinterstube mit Saloneinrichtung, die er zu benutzen pflegte, wenn bei ihm aufgeräumt wurde. Als sie eintraten, kratzte jedoch nebenan sein kleiner weißer Spitz, den er einer alten Straßenverkäuferin abgehandelt hatte, aufgeregt über die lang erwartete Rückkunft seines Herrn, unter leisem Gewinsel an der Tür. Max Werner ließ ihn herein, und er schoss unter freudigstem Wedeln und Bellen auf Fenia und ihn zu, als gehörten sie zusammen.
Fenia war zaudernd stehengeblieben, nicht recht begreifend, wo sie sich hier befand. Sie bückte sich unwillkürlich zu dem Hund nieder, der sich indessen zwischen ihnen hingesetzt hatte und sie befriedigt ansah, richtete sich aber ebenso rasch weder auf und wollte etwas sagen, als ihr Blick Max Werners Gesicht traf.
Er hatte sie ohne irgendeine klare Absicht hier hereingeführt. Wie sie jedoch nun wirklich dastand, in diesem Zimmer, in dieser völligen Abgeschlossenheit mit ihm allein, in diesem schlafenden Hotel, auf dessen Gängen es noch so totenstill war, dass man hinter den halbgeschlossenen Fensterjalousien das vergnügte Zwitschern eines Spatzen im Hofe hörte – da – ja, als Fenia da aufschaute, sah sie ihn zitternd vor Erregung über sie geneigt, ganz nahe über ihrem Gesicht, und im Begriff, sie mit beiden Armen zu umfassen.
Sie schrie nicht auf. Sie zuckte nur zurück, bückte sich schnell, um den Schirm aufzunehmen, der ihr bei der Begrüßung des Hundes entglitten war, und wandte sich zur Tür.
»Wie schade!« sagte sie dabei.
Es entfuhr ihr fast bedauernd, zugleich im Ton außerordentlichen Erstaunens.
Er stand einen Augenblick verdutzt da.