Fesseln des Todes - Ana Dee - E-Book

Fesseln des Todes E-Book

Ana Dee

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Beschreibung

Mella Lindström erwacht nach einem schweren Segelunfall, der sie beinahe das Leben gekostet hätte, aus dem Koma. Sie kann sich an jene verhängnisvolle Nacht nicht erinnern, alles ist wie ausgelöscht. Durch einen komplizierten Bruch ihres Unterschenkels ist sie an den Rollstuhl gefesselt und muss ihren Alltag neu ordnen. Nach dem Krankenhausaufenthalt kehrt sie zu ihrer Tochter und ihrem Mann in die Villa zurück und hat mit den Erinnerungslücken zu kämpfen. Einár ist wütend auf sie, weil sie in jener stürmischen Nacht aufs Meer gefahren ist und sich dem Risiko ausgesetzt hat. Auch Mella kann ihr Verhalten nicht nachvollziehen und begibt sich auf die Suche nach Antworten. Aber je mehr sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, desto gefährlicher wird es für sie und auch ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich dramatisch. Sie ahnt, dass alles miteinander verwoben ist und kommt Geheimnissen auf die Spur, die nie gelüftet werden sollten. Jemand trachtet ihr nach dem Leben und sie befürchtet, den Wettlauf gegen die Zeit zu verlieren.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Fesseln des Todes

SCHWEDEN-KRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Die Währung wurde diesmal in Euro und nicht in Kronen angegeben, um das Umrechnen zu erleichtern.

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Mella Lindström – Ehefrau von EinárEinár Lindström – Ehemann von MellaTilda Lindström – Einárs MutterHelge Lindström – Einárs VaterLilla Lindström – Tochter von MellaTove Lund – Beste Freundin von MellaAgnes Stehn – HaushaltshilfeKarin Fredricson – Galeristin

KapitelEins

Mella Lindström hatte das Gefühl, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Blinzelnd schlug sie die Augen auf, weil das grelle Deckenlicht sie blendete. Die Umgebung konnte sie nur verschwommen wahrnehmen und ein monotoner Signalton echote in den Ohren. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen und zwei Personen, ganz in Weiß gekleidet, betraten im Eilschritt den Raum.

„Sie ist endlich aufgewacht und weilt wieder unter den Lebenden“, sagte eine weibliche Stimme.

„Wunderbar. Willst du ihren Mann verständigen?“

„Das werde ich gleich im Anschluss machen, sobald ich die Vitalfunktionen überprüft habe.“

Mella verstand nichts von dem, was die Personen da redeten. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, umgeben von einem dichten Nebel, der sich schützend über sie gelegt hatte. Friedlich schloss sie die Augen und wartete darauf, dass der tiefe Schlaf sie erneut in eine andere Welt forttragen würde. Doch ihre Augenlider wurden geöffnet und ein Lichtstrahl blendete sie erneut.

„Alles bestens, sie reagiert auf äußere Reize“, sagte die weibliche Stimme.

Was hatte das zu bedeuten? Mella leckte sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Sie verspürte einen quälenden Durst und verlangte nach belebendem Wasser, aber nur ein unverständlicher Laut verließ ihre Kehle.

„Sie müssen sich noch einen Moment gedulden“, fuhr die Stimme fort. „Nachdem der Arzt Sie untersucht hat, werden wir uns um Sie kümmern.“

Mella dämmerte, dass sie sich in einem Krankenhaus befand, aber der Grund dafür will ihr nicht einfallen. Hatte sie einen Unfall gehabt oder eine schwere Krankheit? Was war nur los mit ihr, dass es ihr so schwerfiel, selbst die einfachsten Gedanken zu beenden?

Die Untersuchung erlebte sie wie in Trance und anschließend durfte sie ihre ersten Schlucke trinken. Danach wurde es wieder still. Alles schien in Ordnung zu sein, das beruhigte sie ein wenig. Sie starrte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand, deren Sekundenzeiger rastlos seine Runden drehte. Inzwischen war ihr Blick klarer geworden, während in ihrem Kopf noch immer ein dichter Nebel waberte.

Kurz darauf betrat ein Mann das Krankenzimmer, der sterile Kleidung trug. Mella strengte sich an, um wenigstens den Kopf zu heben. Es kostete sie eine Menge Kraft und sie fragte sich, warum sie in diesem desolaten körperlichen Zustand war.

„Hallo Liebling, ich bin so dankbar, dass du endlich aufgewacht bist.“ Der Mann beugte sich zu ihr herunter, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr liebevoll eine Strähne hinters Ohr. „Du siehst so wahnsinnig blass aus“, sagte er mit einem betroffenen Gesichtsausdruck.

„Wer … wer bist du?“, stammelte sie irritiert.

„Aber Mella, erkennst du mich denn nicht? Ich bin Einár, dein Ehemann.“

Sie stieß einen undefinierbaren Laut aus. Ja, dieser Mann kam ihr bekannt vor, aber sie wusste ihn nicht einzuordnen.

„Der behandelnde Arzt hat mich schon vorgewarnt, dass du unter einer kurzzeitigen Amnesie leiden könntest.“ Er griff zärtlich nach ihrer Hand, in der eine Kanüle steckte. „Ich kann gar nicht ausdrücken, wie leid es mir tut, dich in diesem Zustand zu sehen. Du musst ganz schnell wieder gesund werden.“

Seine Worte klangen abgedroschen. Dennoch spürte sie, dass er es ernst meinte.

„Was … ist … passiert?“

Das Sprechen fiel ihr unglaublich schwer, aber sie wollte unbedingt wissen, was geschehen war.

„Du hast einen Unfall gehabt“, sagte Einár.

Also doch. Dieser Gedanke war sehr beunruhigend.

„Wie?“

Einár hielt noch immer ihre Hand.

„Du bist mit dem Segelboot rausgefahren.“

„Segelboot?“

„Ja, du hast erst vor Kurzem einen Segelschein gemacht. Leider hast du bei deinem ersten Tripp das stürmische Wetter und die raue See völlig unterschätzt.“

Sie war verunsichert, weil sie eher mit einem Autounfall gerechnet hatte.

„Bin ich … bin ich schwer verletzt worden?“

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Seit sie aufgewacht war, konnte sie ihre Beine nicht mehr spüren.

„Dein linker Unterschenkel wird von einem Fixateur zusammengehalten, außerdem hast du einige Prellungen und Quetschungen erlitten. Aber die Ärzte sind zuversichtlich, dass du nach deiner vollständigen Genesung wieder ohne Probleme laufen kannst.“

Sie atmete erleichtert auf – keine Querschnittslähmung, was für ein Glück.

„Ich bin genauso froh wie du, dass du so glimpflich davongekommen bist. Nicht auszudenken, wenn die Seenotrettung dich nicht so schnell aufgespürt hätte.“

Ein dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht. Er beugte sich nach vorn und strich ihr über die Wange.

„Wir kriegen das hin, keine Sorge. Ich werde jemanden einstellen, der dir zur Hand gehen wird und dich unterstützt, bis du wieder fit genug bist.“

„Danke.“

„Übrigens, ich soll dir von Lilla ganz liebe Grüße ausrichten. Sie vermisst ihre Mami sehr und kann es kaum erwarten, dass du wieder bei uns bist.“

Lilla.

Bei diesem Namen durchströmte Mella eine wohlige Wärme. Blonde Locken, blaue Augen, süßer Schmollmund – Lilla, ihre sechsjährige Tochter, ihr geliebtes kleines Mädchen.

„Wie schön, du erinnerst dich.“

Einár strahlte.

„Ja“, hauchte sie.

„Jetzt bin ich aber erleichtert“, lachte er und sie bemerkte die Grübchen, die ihrem Mann ein beinahe spitzbübisches Aussehen verliehen. Er war hochgewachsen und drahtig, dennoch hatte er sich den Charme eines Jungen bewahrt. Sein dunkles Haar war an den Schläfen ergraut, was seine Attraktivität in keiner Weise minderte. Mella ahnte, warum sie sich ausgerechnet in diesen Mann verliebt hatte.

„Warum schaust du mich so an?“, fragte er.

„Nichts“, lächelte sie.

„Es ist schön, dass du dich wieder erinnern kannst, das macht es leichter. Als ich gesehen habe, wie du in den OP-Saal geschoben wurdest …“ Er winkte ab. „Du bist nur noch ein Hauch deiner selbst gewesen und ich hatte schon die Befürchtung, dass du es nicht schaffen könntest.“

Sie schluckte. Einár wirkte ernsthaft betroffen.

„Schhhh, du musst nichts sagen.“ Er warf einen verstohlenen Blick auf seine teure Armbanduhr. „Liebling, ich muss zurück in die Firma. Aber ich verspreche dir, gleich morgen früh noch einmal vorbeizuschauen.“

Einár erhob sich, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. Dann war sie wieder allein. Noch immer klafften riesige Erinnerungslücken in ihrem Kopf. Aber sie war froh, sich wenigstens Mann und Kind ins Gedächtnis rufen zu können. Immerhin ein kleiner Anfang.

Mella stieg in die schwarze Limousine mit dem Firmenlogo, die Einár samt Chauffeur geschickt hatte. Sie war enttäuscht, weil sie gehofft hatte, dass ihr Mann selbst kommen würde, um sie abzuholen. Aber das hatte er – trotz seiner Versprechungen – nicht getan. Die Firma schien an erster Stelle zu stehen, was sie bedauerte. Aber man konnte im Leben nicht alles haben und sie war schon zufrieden damit, dass die Genesung so zügig voranschritt. Der Fixateur würde ihr noch eine Weile erhalten bleiben, bis der Knochen zusammengewachsen war.

Der Chauffeur startete den Motor und der Wagen setzte sich in Bewegung. Mella öffnete das Seitenfenster und genoss es, wie der Fahrtwind ihr durchs Haar wirbelte. Es war ein angenehm warmer Sommertag und sie hatte sich darauf gefreut, das Krankenhaus verlassen zu können. Endlich wieder etwas mehr Privatsphäre. Aber der Hauptgrund war natürlich Lilla, die sie so schmerzlich vermisst hatte. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Tochter wieder in die Arme zu schließen.

Der Fahrer steuerte die Limousine zu einer hübschen Villa am Stadtrand. Es handelte sich um ein gepflegtes, fast schon luxuriöses Anwesen und jeder Spaziergänger konnte erahnen, dass hier Menschen mit dem nötigen Kleingeld wohnten. Mella war sich dessen gar nicht bewusst gewesen, sie hatte einfach nur zurück nach Hause gewollt.

Der Chauffeur stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür.

„Einen Moment bitte“, sagte er, als Mella aussteigen wollte.

Eine Frau um die fünfzig eilte aus dem Haus und schob einen Rollstuhl vor sich her.

„Herzlich willkommen“, sagte sie und schob das Gefährt direkt neben den Wagen.

„Vielen Dank.“

Mella nahm umständlich Platz und ließ sich zum Haus schieben. Es war ihr unangenehm und der Ärger auf Einár wuchs. Diese Frau war ihr fremd, er hatte sie garantiert während ihrer Abwesenheit eingestellt.

Eine Rampe führte die Stufen hinauf in den Eingangsbereich der Villa. Mella staunte, wie schön dieser gestaltet war. Eine mit Stuck verzierte Decke und ein moderner Kronleuchter standen in einem passenden Kontrast. Einár musste ein Vermögen hingeblättert haben, fuhr es ihr durch den Kopf. Warum hatte sie nie einen Blick für diese Dinge gehabt? Weil Geld ihr im Grunde genommen nichts bedeutete?

Sie wurde ins Wohnzimmer geschoben und nahm in einem der weichen und bequemen Sessel Platz. Die große Fensterfront öffnete den Blick in den Garten. Traumhaft, dachte Mella bei diesem Anblick. Der Gärtner schien ein Händchen dafür zu haben. Die Farben Weiß und Grün dominierten, er hatte die Stauden und Sträucher passend arrangiert. Dennoch wirkte die Anordnung wie dem Zufall überlassen. Ein weißer Pavillon lud zu romantischen Sommerabenden ein.

„Ich bin übrigens Agnes“, stellte sich die Fremde vor.

„Wer ich bin, das wissen Sie sicher schon“, entgegnete Mella.

„Ja, natürlich. Ihr Mann hat mich eingestellt, damit ich Ihnen zur Hand gehen kann. Ich bin eine gute Köchin und werde die Mahlzeiten nur mit frischen Zutaten zubereiten.“

„Wunderbar.“ Mella schaute sich um. „Wo steckt eigentlich meine Tochter?“

„Sie nimmt Klavierunterricht.“

„Ach ja?“

Mella schien in den sechs Wochen ihrer Abwesenheit eine Menge verpasst zu haben. Außerdem hatte Einár ihr wohl die Hälfte nicht erzählt. Das war nicht weiter schlimm, aber sie war enttäuscht, ihre Tochter noch nicht sehen zu können. Einár hätte wenigstens an diesem Tag den Unterricht ausfallen lassen können. Das sorgte für zusätzlichen Unmut.

„Lilla wird gleich hier sein, der Chauffeur ist schon unterwegs.“

Es behagte Mella ganz und gar nicht, rund um die Uhr betreut zu werden. Wo blieb da die lang ersehnte Privatsphäre?

„Sehen Sie, er kommt schon zurück.“

Mella hörte das vertraute Trappeln kleiner Füße, die durch das Haus hallten.

„Mami, Mami, endlich bist du wieder da.“

Fliegende Zöpfe und zarte Ärmchen, die sich um ihren Hals schlangen. Der Geruch von Sonne und Eis und ein klebriger Kindermund, der ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

„Komm her, mein Spätzchen, wie sehr ich dich doch vermisst habe“, sagte Mella und umarmte ihre Tochter. Sie sog den vertrauten Geruch in sich auf und ohne es zu wollen, schossen ihr Tränen in die Augen. Nicht auszudenken, wenn sie diesen waghalsigen Bootstrip nicht überlebt hätte.

Aus der Küche kam ein köstlicher Duft und Mella lief das Wasser im Munde zusammen. Wenn das Essen genauso gut schmeckte, wie es roch, war Agnes tatsächlich eine Meisterin ihres Faches.

„Mäuschen, du wäscht dir jetzt bitte deine klebrigen Hände und den Mund. Ich werde ein ernstes Wörtchen mit dem Chauffeur reden müssen, der dir das Eis gekauft hat.“

„Das war Elin, die Klavierlehrerin. Sie hatte das Eis noch im Kühlschrank“, klärte Lilla sie auf.

„Na gut, dann eben mit Elin.“

Lilla zog einen Flunsch.

„Du bist immer noch so streng wie früher“, sagte sie enttäuscht.

„Findest du das schlimm?“

Erneut flogen die Zöpfe, als Lilla verneinte.

„Gut. Dann sehen wir uns gleich in der Küche wieder.“

„Ja, Mama.“

Mella hievte sich umständlich vom Sessel in den Rollstuhl. Sie konnte zwar auf Krücken gehen, aber nur unter Schmerzen. Das Bein musste geschont werden, bis der Trümmerbruch restlos ausgeheilt war. Der externe Fixateur würde sie noch eine Weile begleiten und deshalb hatte sie sich eine bequeme Hose übergezogen, die sich an den Seiten mit Druckknöpfen öffnen ließ.

Obwohl Mella im Krankenhaus fleißig mit dem Rollstuhl geübt hatte, stellte das Fahren in der Wohnung sie vor neue Herausforderungen. Überall standen teure Möbelstücke herum und mit Ach und Krach schaffte sie es gerade bis zur Tür, wo sie mit dem Hinterrad hängenblieb. Ungeduldig rangierte sie vor und zurück, bis es passte. Frustriert betrachtete sie die Schwielen an den Handflächen, die sich trotz der Handschuhe gebildet hatten.

„Das riecht aber köstlich“, sagte Mella, als sie endlich die Küche erreicht hatte.

„Vielen Dank. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen auch so gut“, erwiderte Agnes.

„Mit Sicherheit.“

Mella umrundete den gedeckten Tisch, bis sie ihren Platz erreicht hatte.

„Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber …“

„Aber nicht doch, Ihr Mann hat mich extra dafür eingestellt.“

„Dann sind Sie ein wahres Multitalent“, sagte Mella anerkennend.

„Vielen Dank.“

Agnes errötete leicht und stellte das Essen auf den Tisch. Lilla kam wie ein geölter Pfeil um die Ecke geschossen.

„Nicht so schnell, mein Mäuschen“, ermahnte Mella ihre Tochter.

Lilla schnaufte leise, um ihrem stillen Protest Ausdruck zu verleihen, und setzte sich neben ihre Mutter.

„Hmmm, das schmeckt wieder gut“, sagte Lilla, nachdem sie die ersten Bissen hastig verschlungen hatte.

Obwohl es keinen Grund dafür gab, versetzten diese Worte Mella einen Stich. Sie fühlte sich nutzlos und an den Rollstuhl gefesselt. Unzufriedenheit machte sich breit. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie wusste, dass sie sich absichtlich nie so einem Risiko aussetzen würde. Aber niemand konnte ihr eine Antwort darauf geben, warum sie bei Sturm raus aufs Meer gesegelt war. Als einzige Zeugin dieses Unglücks fehlte ihr jegliche Erinnerung daran.

„Schmeckt es Ihnen nicht?“, fragte Agnes.

„Doch, doch“, versicherte Mella.

Sie fühlte sich grenzenlos erschöpft und doch so voller Energie zugleich. Was war nur mit ihr los?

„Mami, darf ich mit Inga von nebenan spielen?“, fragte Lilla und riss sie aus ihrer Grübelei.

„Ja, aber in zwei Stunden bist du wieder zurück.“

„Mache ich.“

Lilla umarmte ihre Mutter und flitzte mit fliegenden Zöpfen zur Tür hinaus.

„Ich werde mich kurz zurückziehen, um mich auszuruhen“, sagte Mella, bis ihr einfiel, dass das gemeinsame Schlafzimmer im obersten Stockwerk lag.

„Ihr Mann hat Ihr Büro umgeräumt und ein Bett hineinstellen lassen“, sagte Agnes und wischte sich die feuchten Hände am Handtuch ab. „Soll ich Sie begleiten?“

„Nein, nicht nötig“, antwortete Mella und rollte aus der Küche.

Sie durchquerte den Flur und drückte die Klinke herunter. Ihr Blick wanderte forschend durch den Raum. Der Schreibtisch stand nun direkt vor dem Fenster und das Bett an der Stirnseite. Es gab keine Stolperfallen und der Teppich, der vorher das Parkett bedeckt hatte, war verschwunden. Verträumt betrachtete Mella die Fotodrucke, die nun über dem Bett hingen und Erinnerungen wurden wach. Dunkle Wälder und tiefe Seen, das war ihre Leidenschaft. Sie hatte viele Reisen quer durch Schweden unternommen, um verwunschene Orte auf die Leinwand zu bannen.

Ein Bild zog sie ganz besonders in den Bann. Der Nebel tanzte über den See, wie ein ruheloser Geist in den frühen Morgenstunden der hellen Mittsommernacht und schien wie eine Brücke zwischen den Dimensionen zu sein. Mella erinnerte sich an diese traumhaft schönen Nächte, in denen die Sonne am Horizont ruhte.

Sie mochte die zarten Farben eines erwachenden Sommertages. Diese Zeit hatte ihren ganz besonderen Reiz für faszinierende Glücksmomente, die im Hier und Jetzt des jeweiligen Augenblicks entstanden. Mella liebte ihren Job. Die Fotografie begleitete sie schon von Kindesbeinen an und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mit der rosafarbenen Kinderkamera Blumen, Käfer und Schmetterlinge eingefangen hatte.

Sie riss sich von den Fotografien los und rollte in das angrenzende Badezimmer. Dort war ein bodentiefer Spiegel zusätzlich angebracht worden und sie erhaschte einen Blick auf ihr Ebenbild. Rötlich schimmerndes, lockiges Haar, das in weichen Wellen auf ihre Schultern fiel, grüne Katzenaugen und Sommersprossen auf einer hellen, fast durchscheinenden Haut. Sie war eine, auf ihre ganz eigene Art und Weise, attraktive Frau.

Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, rollte sie zum Bett, streifte sich die Sneaker von den Füßen und streckte sich auf der Matratze aus. Einár kannte ihren Geschmack und hatte ein weiches Bett mit vielen, dazu passenden Kissen ausgesucht. Es war sehr bequem und behaglich und als sie nach oben schaute, fiel ihr Blick auf das Bücherregal.

Sie setzte sich wieder auf und zog ein Buch heraus, um lustlos darin herumzublättern. Nein, ein Liebesroman war definitiv nicht die passende Lektüre für ihre miese Stimmung. Sie stellte das Buch zurück, schloss die Augen und gab sich ihren Gedanken hin, ohne zur Ruhe zu kommen. Mal war die Position zu unbequem, dann schwitzte sie oder das Geräusch eines vorbeifahrenden Fahrzeugs hinderte sie am Einschlafen.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und beschloss, sich in den Garten zurückzuziehen. Sie öffnete den Schrank und sah, dass Einár die Aktenordner gegen ihre Wäsche ausgetauscht hatte. Sie konnte sich glücklich schätzen, mit so einem Mann verheiratet zu sein. Er hatte wirklich an alles gedacht.

Sie rollte zu ihrem Schreibtisch und öffnete mit einem Schlüssel die oberste Schublade. Nacheinander nahm sie alle Gegenstände heraus. Zum Beispiel die Festplatten, auf denen die Fotografien zur Sicherheit doppelt abgespeichert waren. Dann die bunten Datensticks, die Lilla ganz besonders spannend fand. Ganz hinten lag ihr Tagebuch, das sie völlig vergessen hatte.

Neugierig schlug sie die ersten Seiten auf und begann zu lesen. Noch immer litt sie unter großen Erinnerungslücken und das Tagebuch war geradezu perfekt dafür geeignet, diese zu schließen.

KapitelZwei

Erinnerungen

Heute ist ein ganz besonderer Tag, weil ich einen lukrativen Auftrag an Land ziehen konnte. Ich soll Einár Lindström, den bekannten Firmenchef, für einige Tage begleiten. Er möchte für die Website des Unternehmens neue Pressefotos, und ausgerechnet ich habe die Zusage erhalten. Jetzt bin ich natürlich aufgeregt, weil ich normalerweise nur Naturaufnahmen mache.

Aber ich will mein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Meine Fotografien sind inzwischen landesweit bekannt und erzielen auf einigen Auktionen sogar bis zu zwanzigtausend Euro. Davon kann man gut leben, wobei ich einen Großteil dieses erwirtschafteten Geldes wieder in die Fotoausrüstung stecke. Ich erfülle mir damit auch einen Kindheitstraum, quer durch Skandinavien zu reisen, um Landschaftsaufnahmen zu machen. Mir hat es besonders die morgendliche Stimmung angetan, wenn die Nebelschleier der Nacht sich erst mit der aufgehenden Sonne verflüchtigen.

Geprägt von der Vorfreude öffne ich den Kleiderschrank, um etwas Passendes für den ersten Arbeitstag herauszusuchen. Mein Blick fällt auf die bunten Kleider, die Jeans und die derben Wanderschuhe. Hm, ich werde wohl Shoppen gehen müssen, denn ich besitze kein einziges Businessoutfit fürs Büro. Das war bisher auch nicht nötig gewesen, wo ich doch eher in morastigen Sümpfen gewatet und nicht im Fahrstuhl gefahren bin. Aber für das fürstliche Gehalt, das Einár Lindström mir zahlen möchte, will ich mich auch nicht lumpen lassen und im passenden Look erscheinen.

Ich schlage enttäuscht die Schranktüren wieder zu und rufe Tove, meine beste Freundin, an.

„Hej, hej, wie geht es dir?“, frage ich.

„Es könnte nicht besser sein“, antwortet Tove. „Und selbst?“

„Ich habe einen richtig fetten Auftrag ergattert“, berichte ich mit einem Anflug von Stolz in meiner Stimme.

„Glückwunsch“, antwortet Tove. „Und jetzt erzähl.“

„Du kennst doch sicher Einár Lindström, ich soll ihn portraitieren.“

„Den Firmenboss?“

„Genau. Und aus diesem Grund brauche ich ein passendes Outfit“, sage ich.

„Ich soll dich also auf deiner Shoppingtour begleiten?“, fragt Tove.

„So siehts aus. Hast du Zeit?“

„Für dich immer. Wann willst du los?“

„Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt.“

Tove lacht.

„Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.“

„Perfekt.“

Tove hat sich selbst übertroffen und stand schon zehn Minuten später vor meiner Tür.

„Ready?“

„Klar“, nicke ich.

„Genügend Geld dabei?“

Ich seufze. „Wird schon reichen.“

Wir steigen in den Wagen, fahren zur Westfield Mall of Scandinavia und durchstöbern die Geschäfte. Zwischendurch gönnen wir uns einen Cappuccino und haben nach zwei Stunden vier Outfits zusammen.

„Damit wirst du sicher punkten“, lächelt Tove verschmitzt, als wir zum Wagen zurücklaufen.

„Das will ich doch hoffen“, erwidere ich. „Nicht ganz mein Stil, aber ich werde hoffentlich nicht negativ auffallen.“

„Du doch nicht.“

Tove ist durch und durch Optimistin und es tut mir ausgesprochen gut, mit ihr befreundet zu sein. Ihre fröhliche Art ist ansteckend und vertreibt die Melancholie, die mich hin und wieder befällt. Viel zu oft hinterfrage ich den Sinn des Daseins, während Tove mit Leichtigkeit durchs Leben wandelt.

„Erde an Mella, du wolltest losfahren“, sagt Tove.

„Entschuldige, ich bin mit meinen Gedanken wieder woanders gewesen.“

„Das habe ich gemerkt. Gefällt dir dieser Einár Lindström vielleicht?“

Tove wirft mir einen wissenden Seitenblick zu.

„Wie bitte? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“

Ich manövriere den Wagen aus der Parklücke und fädele mich in den Verkehr ein.

„Ich habe Lindström vorhin gegoogelt, er scheint ein begehrter Junggeselle zu sein.“

„Jetzt geht aber deine Fantasie mit dir durch“, schimpfe ich. „Er zahlt mir ein großzügiges Honorar, und nur daran bin ich interessiert.“

„Hört, hört, welch dramatische Wendung“, scherzt Tove.

„Ja, die Zeiten ändern sich“, erwidere ich. „Ich verfolge ganz andere Ziele.“

„Aha, und welche?“

„Ich will mich an die Nordlichter heranwagen.“

„Die Nordlichter? Aber du liebst doch eher die zarten Farbtöne.“

„Das soll eine Ausnahme bleiben. Ich habe sogar schon einen Guide gebucht, der mich an die schönsten Stellen führen wird, wenn es soweit ist.“

„Na dann, gutes Gelingen. Ich bin trotzdem gespannt, wie Lindström auf dich reagieren wird.“

Tove zwinkert mir verschwörerisch zu und ich muss lachen.

„Irgendwann, aber nicht jetzt“, antworte ich und quetsche meinen Wagen in eine Parklücke vor dem Haus. „Und jetzt lass uns nach oben gehen, damit wir mit einem Gläschen auf meinen neuen Auftrag anstoßen können.“

Tove hat nichts dagegen einzuwenden und so lassen wir den Tag mit netten Gesprächen über Gott und die Welt und einem Glas Wein ausklingen.

Heute werde ich nun für einige Tage Einár Lindström begleiten. Nervös zupfe ich an dem Rock herum, der einige Zentimeter über dem Knie endet. Nicht, dass ich meine Beine verstecken müsste, die vielen Wanderungen in unwegsamer Natur haben sich bezahlt gemacht. Aber für meinen Geschmack ist der Rock definitiv zu kurz.

Ich drehe mich noch einige Male um die eigene Achse und stoße einen tiefen Seufzer aus. Mit dem Outfit bin ich nicht zu einhundert Prozent zufrieden. Aber ich habe schon alle vier durchprobiert und die Zeit drängt. Wenn ich mich jetzt noch einmal umziehe, werden meine hochgesteckten Haare garantiert darunter leiden. Außerdem will ich nicht zu spät kommen, ein No-Go am ersten Arbeitstag.

In Eile schnappe ich mir meine Tasche mit der Fotoausrüstung und hetze die Stufen hinunter. Ich bin so nervös, dass ich den Motor mehrmals abwürge. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr die Aufregung mir zusetzt und meine Hände zittern leicht. Natürlich sind mir Portraitfotos nicht fremd, aber das hier ist eine ganz andere Hausnummer.

Wie fremdgesteuert durchquere ich die Stockholmer Innenstadt, um an das andere Ende zu gelangen. Beeindruckt stehe ich vor dem modernen Kubus, der rundum von bodentiefen Fensterfronten umgeben ist. Er wirkt ein wenig fremd und futuristisch, wie aus einer anderen Welt. Die Glastüren gleiten lautlos auf, als ich das Foyer betrete. Man erwartet mich bereits.

„Frau Mella Anders?“, werde ich gefragt und nicke zustimmend. „Kommen Sie bitte.“

Die Angestellte läuft schnurstracks in Richtung Aufzüge und wir fahren in die oberste Etage. Überall unverputzte Betonwände, Glas und Stahl. Die Firma scheint im Aufwind zu sein. Vor Lindströms Büro kommen wir zum Stehen.

„Sie können gleich eintreten, ich habe sie bereits angekündigt.“

Meine Nervosität steigert sich mit jedem Herzschlag. Einár Lindström erhebt sich, umrundet den Schreibtisch, um mir zur Begrüßung die Hand zu reichen.

„Herzlich willkommen“, sagt er und mustert mich. „Ich muss gestehen, dass Sie in meiner Vorstellung ganz anders ausgesehen haben.“

„Ach ja?“, antworte ich ein wenig perplex.

„Sie tragen doch sonst immer bunte Kleider und wirken jetzt so förmlich. Ich hatte mich schon auf den frischen Wind im Team gefreut.“

„Oh.“

Mehr bringe ich nicht zustande. Mit dieser Kritik gleich zu Beginn habe ich nicht gerechnet.

„Aber Sie sind schließlich nicht hier, um sich von mir Ihren Kleidungstil vorschreiben zu lassen.“ Er lächelt sanft. „Wie wäre es, wenn ich gleich im Anschluss an unser Gespräch auf der Dachterrasse posiere und Sie ein paar Probeaufnahmen schießen?“

„Sehr gern“, antworte ich und bin froh, dass er sich wichtigeren Dingen zuwendet. Ich folge ihm auf die Dachterrasse, die mit viel Grün gestaltet wurde.

„Was meinen Sie? Ist dieser Spot geeignet, um mich ins rechte Licht zu rücken?“

Er zwinkert mir in seiner überaus charmanten Art fröhlich zu und ich muss unwillkürlich an Tove denken. Dieser Mann hat etwas an sich, das man mögen muss – knallharter Geschäftsmann und verschmitzter Junge zugleich.

„Wie wäre es hier?“, fragt er.

„Nein, die Sonne strahlt Ihnen direkt ins Gesicht, das kann unter Umständen unvorteilhaft wirken“, gebe ich zu bedenken.

„Wollen Sie etwa behaupten, dass ich nicht attraktiv genug bin?“

„Doch, doch“, verbessere ich mich hastig, bis mir einen Atemzug später klar wird, dass er nur einen Scherz gemacht hat. Dieser Mann bringt mich aus der Balance, und das gleich am ersten Tag. „Geben Sie mir einfach eine Minute, damit ich die Lichtverhältnisse prüfen kann“, bitte ich.

„Selbstverständlich, heute sind Sie der Boss.“

Es dauert nicht lange, bis ich eine geeignete Stelle gefunden habe.

„Wenn Ihre Krawatte sitzt, können wir loslegen“, sage ich und meine anfängliche Scheu ist verflogen.

„Mit einer guten Portion Humor können Sie mich immer begeistern“, antwortet er und ich atme auf.

Das Eis scheint gebrochen, was es mir leichter macht, seinen wahren Charakter mit der Kamera einzufangen. Ich gebe Anweisungen und korrigiere seine Posen, die hin und wieder ein wenig zu gestellt wirken.

„Kann ich jetzt einen Blick auf die Aufnahmen werfen?“, fragt er ungeduldig und unterbricht meine konzentrierte Arbeit.

„Aber sicher.“

Ich halte ihm das Display der Kamera unter die Nase.

„Nein, nein, nein … stopp, das finde ich gut“, kommentiert er die Aufnahmen und ich treffe eine erste Vorauswahl. „Ich habe schon gewusst, warum ich mich für Sie entschieden habe“, sagt er. „Sie können meine Schokoladenseite am besten zur Geltung bringen.“

Sein Lob freut mich und meine Bedenken haben sich in Luft aufgelöst. Allerdings bemerke ich seinen nervösen Blick auf die Uhr.

„Die Arbeit ruft“, sagt er entschuldigend. „Morgen werde ich den gesamten Tag mit dem Wagen unterwegs sein und ich möchte, dass Sie mich begleiten. Ich erwarte Sie um sieben in meinem Büro.“

Bevor ich etwas erwidern kann, hat er sich abgewendet und lässt mich auf der Dachterrasse allein zurück. Nicht besonders höflich, aber er kann es sich leisten, denke ich.

Am nächsten Morgen erscheine ich unausgeschlafen in seinem Büro. Den ganzen Tag wie eine Klette an ihm zu hängen, bereitet mir Unbehagen. Aber ich werde es schon überstehen. Er begrüßt mich überschwänglich.

„Ich hätte Ihnen gern noch einen Kaffee angeboten, aber wir müssen los.“

Der Fahrstuhl bringt uns in die unterste Etage und wir steigen in eine Limousine mit getönten Scheiben. Der Chauffeur ist freundlich, aber kurz angebunden und ich nehme neben Einár Lindström auf dem Rücksitz Platz.

„Wie wäre es mit einem Foto?“, fragt er unvermittelt.

„Die Lichtverhältnisse sind nicht optimal und ich müsste vorn sitzen“, erkläre ich. Er gibt dem Chauffeur ein Zeichen, rechts ranzufahren, und ich tausche die Sitze.

„Besser so?“, fragt er.

„Ich versuche es.“

Die ersten Aufnahmen sind zu dunkel und ich helfe mit einem zusätzlichen Licht aus. Zum Glück habe ich über Nacht den Akku aufgeladen. Einár Lindström ist zufrieden. Dennoch werden es anstrengende Stunden und ich kann erahnen, was er tagtäglich für ein Arbeitspensum bewältigen muss. Reichtum und Erfolg haben ihren Preis und ich bin überglücklich, mich für den Beruf der Fotografin entschieden zu haben. Ich kann mir meine Zeit frei einteilen und inmitten der Natur zur Ruhe kommen. Wer kann das schon von sich behaupten?

Während wir unterwegs gewesen sind, habe ich immer wieder Lindströms verstohlenen Blick in meine Richtung bemerkt. Echtes Interesse oder Neugier? Ich weiß es nicht. Noch nicht. Auch ich finde ihn interessant, und das ganz sicher nicht seines Geldes wegen. Das erarbeite ich mir selbst.

Zumindest war das heutige Fotoshooting ein voller Erfolg und ich bin mit meiner Arbeit zufrieden. Die Fotos spiegeln einen sympathischen, aber auch sehr erfolgreichen Geschäftsmann wider. Am Ende des Tages tritt Einár Lindström an mich heran.

„Wie wäre es, wenn wir diesen erfolgreichen Tag mit einem Glas Wein ausklingen lassen? Ich würde einen Tisch reservieren.“ Er mustert mich aufmerksam, weil ich nicht sofort antworte. „Sie müssen sich aber nicht verpflichtet fühlen“, fügt er hinzu.

„Das tue ich nicht“, erwidere ich, während die Gedanken hinter meiner Stirn rotieren. Soll ich? Oder soll ich nicht? „Ich nehme Ihre Einladung an“, höre ich mich sagen, obwohl ich vorhatte, sein Angebot abzulehnen.

„Wunderbar.“ Er wirft einen Blick auf seine sündhaft teure Armbanduhr. „Wissen Sie was? Wir lassen uns gleich in mein Lieblingsrestaurant chauffieren. Ein Anruf genügt und wir können losfahren.“

Die dunkle Limousine durchquert die Stockholmer Innenstadt und wir plaudern ganz entspannt auf dem Rücksitz. Lindström fragt nach meiner Arbeit und dem Grund, warum ich Fotografin geworden bin. Ich genieße es, dass Lindström ernsthaftes Interesse an mir und meiner Arbeit zeigt. Er hingegen gibt nur wenig von sich preis und will wahrscheinlich auf Nummer sicher gehen. Die Presse stürzt sich teilweise wie Aasgeier auf das Leben der Reichen und Schönen und Zurückhaltung ist angebracht.

---ENDE DER LESEPROBE---